Johanna Spyri: Heidi's Lehr- und Wanderjahre 10. Eine Großmama. Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hauſe Seſemann ſichtbar, man konnte deutlich bemerken, daß die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hauſe mitzuſprechen hatte und daß Jedermann großen Reſpekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf geſetzt, und Sebaſtian raffte eine Menge von Schemeln zuſammen und ſtellte ſie an alle paſſenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin ſie ſich auch ſetzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Muſterung der Dinge ſehr aufrecht durch die Zimmer, ſowie um anzudeuten, daß, wenn auch eine zweite Herrſchermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöſchen ſei. Jetzt rollte der Wagen vor das Haus und Sebaſtian und Tinette ſtürzten die Treppe hinunter; langſam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn ſie wußte, daß auch ſie zum Empfang der Frau Seſemann zu erſcheinen hatte. Heidi war beordert worden, ſich in ſein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn die Großmama würde zuerſt bei Klara eintreten und dieſe wohl allein ſehen wollen. Heidi ſetzte ſich in einen Winkel und repetirte ſeine Anrede. Es währte gar nicht lange, ſo ſteckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidi's Zimmerthür und ſagte kurz angebunden wie immer: „Hinübergehen in's Studierzimmer!“ Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede ſei, aber es dachte, die Dame habe ſich nur verſprochen, denn es hatte bis jetzt immer erſt den Titel nennen gehört und nachher den Namen, ſo hatte es ſich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher Stimme entgegen: „Ach, da kommt ja das Kind! Komm' 'mal her zu mir und laß dich recht anſehen.“ Heidi trat heran, und mit ſeiner klaren Stimme ſagte es ſehr deutlich: „Guten Tag, Frau Gnädige.“ „Warum nicht gar!“ lachte die Großmama. „Sagt man ſo bei euch? Haſt du das daheim auf der Alp gehört?“ „Nein, bei uns heißt Niemand ſo“, erklärte Heidi ernſthaft. „So, bei uns auch nicht“, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. „Das iſt Nichts! In der Kinderſtube bin ich die Großmama; ſo ſollſt du mich nennen, das kannſt du wohl behalten, wie?“ „Ja, das kann ich gut“, verſicherte Heidi, „vorher hab' ich ſchon immer ſo geſagt.“ „So, ſo, verſtehe ſchon!“ ſagte die Großmama und nickte ganz luſtig mit dem Kopfe. Dann ſchaute ſie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf und Heidi guckte ihr auch ganz herzhaft in die Augen, denn da kam etwas ſo Herzliches heraus, daß es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi ſo, daß es ſie unverwandt anſchauen mußte. Sie hatte ſo ſchöne weiße Haare und um den Kopf ging eine ſchöne Spitzenkrauſe, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg und bewegten ſich immer irgendwie, ſo als ob ſtets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz beſonders anmuthete. „Und wie heißt du, Kind?“ fragte jetzt die Großmama. „Ich heiße nur Heidi; aber weil ich ſoll Adelheid heißen, ſo will ich ſchon Acht geben —“ Heidi ſtockte, denn es fühlte ſich ein wenig ſchuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unverſehens rief: „Adelheid!“ indem es ihm noch immer nicht recht gegenwärtig war, daß dieß ſein Name ſei, und Fräulein Rottenmeier war eben in's Zimmer getreten. „Frau Seſemann wird unſtreitig billigen“, fiel hier die eben Eingetretene ein, „daß ich einen Namen wählen mußte, den man doch ausſprechen kann, ohne ſich ſelbſt geniren zu müſſen, ſchon um der Dienſtboten willen.“ „Wertheſte Rottenmeier“, entgegnete Frau Seſemann, „wenn ein Menſch einmal Heidi heißt und an den Namen gewöhnt iſt, ſo nenn' ich ihn ſo, und dabei bleibt's!“ Es war Fräulein Rottenmeier ſehr genierlich, daß die alte Dame ſie beſtändig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war Nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und dieſe ging ſie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz ſcharf und geſund und ſie bemerkte, was im Hauſe vorging, ſobald ſie es betreten hatte. Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara ſich zur gewohnten Zeit nach Tiſch niederlegte, ſetzte die Großmama ſich neben ſie auf einen Lehnſtuhl und ſchloß ihre Augen für einige Minuten, dann ſtand ſie ſchon wieder auf, denn ſie war gleich wieder munter und trat in's Eßzimmer hinaus; da war Niemand. „Die ſchläft“, ſagte ſie vor ſich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Thüre. Nach einiger Zeit erſchien dieſe und fuhr erſchrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Beſuch. „Wo hält ſich das Kind auf um dieſe Zeit, und was thut es? das wollte ich wiſſen“, ſagte Frau Seſemann. „In ſeinem Zimmer ſitzt es, wo es ſich nützlich beſchäftigen könnte, wenn es den leiſeſten Thätigkeitstrieb hätte; aber Frau Seſemann ſollte nur wiſſen, was für verkehrtes Zeug ſich dieſes Weſen oft ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Geſellſchaft kaum erzählen könnte.“ „Das würde ich gerade auch thun, wenn ich ſo da drinnen ſäße, wie dieſes Kind, das kann ich Ihnen ſagen, und Sie könnten zuſehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Geſellſchaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, daß ich ihm einige hübſche Bücher gebe, die ich mitgebracht habe.“ „Das iſt ja gerade das Unglück, das iſt es ja eben“, rief Fräulein Rottenmeier aus und ſchlug die Hände zuſammen. „Was ſollte das Kind mit Büchern thun? In all dieſer Zeit hat es noch nicht einmal das ABC erlernt, es iſt völlig unmöglich, dieſem Weſen auch nur Einen Begriff beizubringen; davon kann der Herr Candidat reden! Wenn dieſer treffliche Menſch nicht die Geduld eines himmliſchen Engels beſäße, er hätte dieſen Unterricht längſt aufgegeben.“ „So, das iſt merkwürdig, das Kind ſieht nicht aus wie Eines, das das ABC nicht erlernen kann“, ſagte Frau Seſemann. „Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für einmal die Bilder in den Büchern anſehen.“ Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken, aber Frau Seſemann hatte ſich ſchon umgewandt und ging raſch ihrem Zimmer zu. Sie mußte ſich ſehr verwundern über die Nachricht von Heidi's Beſchränktheit und gedachte, die Sache zu unterſuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Candidaten, den ſie zwar um ſeines guten Charakters willen ſehr ſchätzte; ſie grüßte ihn auch immer, wenn ſie mit ihm zuſammentraf, überaus freundlich, lief dann aber ſehr ſchnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Geſpräch mit ihm verwickelt zu werden, denn ſeine Ausdrucksweiſe war ihr ein wenig beſchwerlich. Heidi erſchien im Zimmer der Großmama und macht die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern ſah, welche die Großmama mit gebracht hatte. Auf einmal ſchrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick ſchaute es auf die Figuren, dann ſtürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den Augen und es fing gewaltig zu ſchluchzen an. Die Großmama ſchaute auf das Bild. Es war eine ſchöne, grüne Weide, wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen Gebüſchen nagten. In der Mitte ſtand der Hirt, auf einen langen Stab geſtützt, der ſchaute den fröhlichen Thierchen zu. Alles war wie in Goldſchimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen. Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. „Komm', komm', Kind“, ſagte ſie in freundlichſter Weiſe, „nicht weinen, nicht weinen.“ Das hat dich wohl an Etwas erinnert; aber ſieh', da iſt auch eine ſchöne Geſchichte dazu, die erzähl' ich heut' Abend. Und da ſind noch ſo viele ſchöne Geſchichten in dem Buch, die kann man alle leſen und wiedererzählen. Komm', nun müſſen wir Etwas beſprechen zuſammen, trockne ſchön deine Thränen, ſo, und nun ſtell' dich hier vor mich hin, daß ich dich recht anſehen kann; ſo iſt's recht, nun ſind wir wieder fröhlich.“ Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu ſchluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur ſagte ſie von Zeit zu Zeit ermunternd: „So, nun iſt's gut, nun ſind wir wieder froh zuſammen.“ Als ſie endlich das Kind beruhigt ſah, ſagte ſie: „Nun mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Candidaten in den Unterrichtsſtunden, lernſt du auch gut und kannſt du 'was? „O nein“, antwortete Heidi ſeufzend, „aber ich wußte ſchon, daß man es nicht lernen kann.“ „Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinſt du?“ „Leſen kann man nicht lernen, es iſt zu ſchwer.“ „Das wäre! Und woher weißt du denn dieſe Neuigkeit?“ „Der Peter hat es mir geſagt und er weiß es ſchon, er muß immer wieder probiren, aber er kann es nie lernen, es iſt zu ſchwer.“ „So, das iſt mir ein eigner Peter, der! Aber ſieh', Heidi, man muß nicht Alles nur ſo hinnehmen, was Einem ein Peter ſagt, man muß ſelbſt probiren. Gewiß haſt du nie recht mit all' deinen Gedanken dem Herrn Candidaten zugehört und ſeine Buchſtaben angeſehen.“ „Es nützt Nichts“, verſicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabänderliche. „Heidi“, ſagte nun die Großmama, „jetzt will ich dir Etwas ſagen: du haſt noch nicht leſen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt haſt; nun aber ſollſt du mir glauben, und ich ſage dir feſt und ſicher, daß du in kurzer Zeit leſen lernen kannſt, wie eine große Menge von Kindern, die geartet ſind wie du und nicht wie der Peter. Und nun mußt du wiſſen, was nachher kommt, wenn du dann leſen kannſt — du haſt den Hirten geſehn auf der ſchönen grünen Weide —, ſobald du nun leſen kannſt, bekommſt du das Buch, da kannſt du ſeine ganze Geſchichte vernehmen, ganz ſo, als ob ſie dir Jemand erzählte, Alles, was er macht mit ſeinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge begegnen. Das möchteſt du ſchon wiſſen, Heidi, nicht?“ Heidi hatte mit geſpannter Aufmerkſamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen ſagte es jetzt, tief Athem holend: „O, wenn ich nur ſchon leſen könnte!“ „Jetzt wird's kommen und gar nicht lang wird's währen, das kann ich ſchon ſehn, Heidi, und nun müſſen wir 'mal nach der Klara ſehn, komm', die ſchönen Bücher nehmen wir mit.“ Damit nahm die Großmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer. — Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgeſcholten und ihm geſagt hatte, wie ſchlecht und undankbar es ſich erweiſe durch ſein Fortlaufenwollen und wie gut es ſei, daß Herr Seſemann Nichts davon wiſſe, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, daß es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Baſe geſagt hatte, ſondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verſtanden, daß Herr Seſemann es ſehr undankbar von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte ſich aus, daß die Großmama und Klara auch ſo denken würden. So durfte es keinem Menſchen ſagen, daß es heimgehen möchte, denn daß die Großmama, die ſo freundlich mit ihm war, auch böſe würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verurſachen. Aber in ſeinem Herzen wurde die Laſt, die darinnen lag, immer ſchwerer; es konnte nicht mehr eſſen und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einſchlafen, denn ſobald es allein war und Alles ſtill ringsumher, kam ihm Alles ſo lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenſchein darauf und die Blumen, und ſchlief es endlich doch ein, ſo ſah es im Traum die rothen Felſenſpitzen am Falkniß und das feurige Schneefeld am Cäſaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausſpringen aus der Hütte — da war es auf einmal in ſeinem großen Bett in Frankfurt, ſo weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft ſeinen Kopf in das Kiſſen und weinte lang, ganz leiſe, daß Niemand es höre. Heidi's freudloſer Zuſtand entging der Großmama nicht. Sie ließ einige Tage vorübergehen und ſah zu, ob die Sache ſich ändere und das Kind ſein niedergeſchlagenes Weſen verlieren würde. Als es aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen ſchon ſehen konnte, daß Heidi geweint hatte, da nahm ſie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube, ſtellte es vor ſich hin und ſagte mit großer Freundlichkeit: „Jetzt ſag' mir, was dir fehlt, Heidi, haſt du einen Kummer?“ Aber gerade dieſer freundlichen Großmama wollte Heidi nicht ſich ſo undankbar zeigen, daß ſie vielleicht nachher gar nicht mehr ſo freundlich wäre; ſo ſagte Heidi traurig: „Man kann es nicht ſagen.“ „Nicht? Kann man es etwa der Klara ſagen?“ fragte die Großmama. „O nein, keinem Menſchen“, verſicherte Heidi und ſah dabei ſo unglücklich aus, daß es die Großmama erbarmte. „Komm', Kind“, ſagte ſie, „ich will dir 'was ſagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menſchen ſagen kann, ſo klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verſtehſt du, nicht wahr? Du beteſt doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankſt ihm für alles Gute und bitteſt ihn, daß er dich vor allem Böſen behüte?“ „O nein, das thu' ich nie“, antwortete das Kind. „Haſt du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das iſt?“ „Nur mit der erſten Großmutter habe ich gebetet, aber es iſt ſchon lang, und jetzt habe ich es vergeſſen.“ „Siehſt du, Heidi, darum mußt du ſo traurig ſein, weil du jetzt gar Niemanden kennſt, der dir helfen kann. Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man kann ſo jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm Alles ſagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns ſonſt gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.“ Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenſtrahl: „Darf man ihm Alles, Alles ſagen?“ „Alles, Heidi, Alles.“ Das Kind zog ſeine Hand aus den Händen der Großmama und ſagte eilig: „Kann ich gehn?“ „Gewiß! Gewiß!“ gab dieſe zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in ſein Zimmer, und hier ſetzte es ſich auf ſeinen Schemel nieder und faltete ſeine Hände und ſagte dem lieben Gott Alles, was in ſeinem Herzen war und es ſo traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen laſſe zum Großvater. Es mochte etwas mehr als eine Woche verfloſſen ſein ſeit dieſem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der Frau Seſemann ſeine Aufwartung zu machen, indem er eine Beſprechung über einen merkwürdigen Gegenſtand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, ſtreckte ihm Frau Seſemann ſogleich freundlich die Hand entgegen: „Mein lieber Herr Candidat, ſeien Sie mir willkommen! ſetzen Sie ſich her zu mir, hier“ — ſie rückte ihm den Stuhl zurecht —; „ſo, nun ſagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch nichts Schlimmes? Keine Klagen?“ „Im Gegentheil, gnädige Frau“, begann der Herr Candidat, „es iſt Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen Vorausſetzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige Unmöglichkeit ſein müſſe, was dennoch jetzt wirklich geſchehen iſt und in der wunderbarſten Weiſe ſtattgefunden hat, gleichſam im Gegenſatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden —“ „Sollte das Kind Heidi etwa leſen gelernt haben, Herr Candidat?“ ſetzte hier Frau Seſemann ein. In ſprachloſem Erſtaunen ſchaute der überraſchte Herr die Dame an. „Es iſt ja wirklich völlig wunderbar“, ſagte er endlich, „nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründlichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das ABC nicht erlernt hat, ſondern auch und beſonders, daß es jetzt in kürzeſter Zeit, nachdem ich mich entſchloſſen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu laſſen und ohne alle weitergreifenden Erläuterungen nur noch ſozuſagen die nackten Buchſtaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, ſozuſagen über Nacht das Leſen erfaßt hat, und dazu ſogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie mir bei Anfängern noch ſelten vorgekommen iſt. Faſt ebenſo wunderbar aber iſt mir die Wahrnehmung, daß die gnädige Frau gerade dieſe fernliegende Thatſache als Möglichkeit vermuthete.“ „Es geſchehen viele wunderbare Dinge im Menſchenleben“, beſtätigte Frau Seſemann und lächelte vergnüglich; „es können auch einmal zwei Dinge glücklich zuſammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können Nichts ſchaden, Herr Candidat. Jetzt wollen wir uns freuen, daß das Kind ſo weit iſt, und auf guten Fortgang hoffen.“ Damit begleitete ſie den Herrn Candidaten zur Thür hinaus und ging raſch nach dem Studierzimmer, um ſich ſelbſt der erfreulichen Nachricht zu verſichern. Richtig ſaß hier Heidi neben Klara und las dieſer eine Geſchichte vor, ſichtlich ſelbſt mit dem größten Erſtaunen und mit einem wachſenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den ſchwarzen Buchſtaben Menſchen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geſchichten wurden. Noch an demſelben Abend, als man ſich zu Tiſche ſetzte, fand Heidi auf ſeinem Teller das große Buch liegen mit den ſchönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, ſagte dieſe freundlich nickend: „Ja, ja, nun gehört es dir.“ „Für immer? Auch wenn ich heimgehe?“ fragte Heidi, ganz roth vor Freude. „Gewiß, für immer!“ verſicherte die Großmama, „morgen fangen wir an zu leſen.“ „Aber du gehſt nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi“, warf Klara hier ein; „wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du erſt recht bei mir bleiben.“ Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in ſeinem Zimmer ſein ſchönes Buch anſehen, und von dem Tage an war es ſein Liebſtes, über ſeinem Buch zu ſitzen und immer wieder die Geſchichten zu leſen, zu denen die ſchönen, bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun lieſt uns Heidi vor“, ſo war das Kind ſehr beglückt, denn das Leſen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geſchichten laut vorlas, ſo kamen ſie ihm noch viel ſchöner und verſtändlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch ſo Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am liebſten beſchaute Heidi immer wieder ſeine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er ſo vergnüglich, auf ſeinen langen Stab gelehnt, daſtand, denn da war er noch bei der ſchönen Heerde des Vaters und ging nur den luſtigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Träbern, die er allein noch zu eſſen bekam. Und auf dem Bilde ſchien auch die Sonne nicht mehr ſo golden, da war das Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geſchichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hauſe heraus und lief dem heimkehrenden, reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtſam und abgemagert in einem zerriſſenen Wams daherkam. Das war Heidi's Lieblingsgeſchichte, die es immer wieder las, laut und leiſe und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch ſo viele ſchöne Geſchichten in dem Buch, und bei dem Leſen derſelben und dem Bilderbeſehen gingen die Tage ſehr ſchnell dahin, und ſchon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreiſe beſtimmt hatte. 11. Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der andern ab.