Johanna Spyri: Heidi's Lehr- und Wanderjahre Eine Geſchichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Textgrundlage: 1. Auflage; Gotha, 1880. Quelle: Deutſches Textarchiv Der Text iſt in der hier vorliegenden Faſſung frei von rechtlichen Anſprüchen Dritter. Er unterliegt nicht einer Creative Commons Lizenz, ſondern kann gemäß der Gemeinfreiheit weiterverwendet werden. Hörbuch: https://archive.org/details/heidis_lehrjahre_0710 Anime-Serie: http://www.heidi.ne.jp (japaniſch) 1. Zum Alm-Oehi hinauf. Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieſer Seite groß und ernſt auf das Thal herniederſchauen. Wo der Fußweg zu ſteigen anfängt, beginnt bald Haideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht ſteil und direkt zu den Alpen hinauf. Auf dieſem ſchmalen Bergpfade ſtieg am hellen, ſonnigen Junimorgen ein großes, kräftig ausſehendes Mädchen dieſes Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, deſſen Wangen ſo glühend waren, daß ſie ſelbſt die ſonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammendroth durchleuchteten. Es war auch kein Wunder, das Kind war trotz der heißen Juniſonne ſo verpackt, als hätte es ſich eines bitteren Froſtes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber ſeine natürliche Geſtalt war, konnte man nicht erſehen, denn es hatte ſichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rothes Baumwollentuch um und um gebunden, ſo daß die kleine Perſon eine völlig formloſe Figur darſtellte, die, in zwei ſchwere, mit Nägeln beſchlagene Bergſchuhe geſteckt, ſich heiß und mühſam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Thal aufwärts mochten die Beiden geſtiegen ſein, als ſie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und „im Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden faſt von jedem Hauſe aus angerufen, einmal vom Fenſter, einmal von einer Hausthüre und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in ſeinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, ſondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne ſtill zu ſtehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerſtreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Thür: „Wart' einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehſt.“ Die Angeredete ſtand ſtill, ſofort machte ſich das Kind von ihrer Hand los und ſetzte ſich auf den Boden. „Biſt du müde, Heidi?“ fragte die Begleiterin. „Nein, es iſt mir heiß“, entgegnete das Kind. „Wir ſind jetzt gleich oben, du mußt dich nur noch ein wenig anſtrengen und große Schritte nehmen, dann ſind wir in einer Stunde oben“, ermunterte die Gefährtin. Jetzt trat eine breite, gutmüthig ausſehende Frau aus der Thür und geſellte ſich zu den Beiden. Das Kind war aufgeſtanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die ſofort in ein lebhaftes Geſpräch geriethen über allerlei Bewohner des „Dörfli“ und vieler umherliegenden Behauſungen. „Aber wohin willſt du eigentlich mit dem Kind, Dete?“ fragte jetzt die neu Hinzugekommene. „Es wird wohl deiner Schweſter Kind ſein, das hinterlaſſene.“ „Das iſt es“, erwiderte Dete, „ich will mit ihm hinauf zum Oehi, es muß dort bleiben.“ „Was, beim Alm-Oehi ſoll das Kind bleiben? Du biſt, denk' ich, nicht recht bei Verſtand, Dete! Wie kannſt du ſo Etwas thun! Der Alte wird dich aber ſchon heimſchicken mit deinem Vorhaben!“ „Das kann er nicht, er iſt der Großvater, er muß Etwas thun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt und das kann ich dir ſchon ſagen, Barbel, daß ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten laſſe um des Kindes willen; jetzt ſoll der Großvater das Seinige thun.“ „Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann ſchon“, beſtätigte die kleine Barbel eifrig; „aber du kennſt ja den, was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem ſo kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo willſt du denn hin?“ „Nach Frankfurt“, erklärte Dete, „da bekomm' ich einen extra guten Dienſt. Die Herrſchaft war ſchon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und ſie beſorgt, und ſchon damals wollten ſie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt ſind ſie wieder da und wollen mich mitnehmen und ich will auch gehn, da kannſt du ſicher ſein.“ „Ich möchte nicht das Kind ſein“, rief die Barbel mit abwehrender Geberde aus. „Es weiß ja kein Menſch, was mit dem Alten da oben iſt! Mit keinem Menſchen will er Etwas zu thun haben, Jahr aus Jahr ein ſetzt er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit ſeinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, ſo weicht ihm Alles aus und muß ſich vor ihm fürchten. Mit ſeinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart ſieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, daß man froh iſt, wenn man ihm nicht allein begegnet.“ „Und wenn auch“, ſagte Dete trotzig, „er iſt der Großvater und muß für das Kind ſorgen, er wird ihm wohl Nichts thun, ſonſt hat er's zu verantworten, nicht ich.“ „Ich möchte nur wiſſen“, ſagte die Barbel forſchend, „was der Alte auf dem Gewiſſen hat, daß er ſolche Augen macht und ſo mutterſeelenallein da droben auf der Alm bleibt und ſich faſt nie blicken läßt. Man ſagt allerhand von ihm, du weißt doch gewiß auch Etwas davon, von deiner Schweſter, nicht, Dete?“ „Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, ſo käme ich ſchön an!“ Aber die Barbel hätte ſchon lange gern gewußt, wie es ſich mit dem Alm-Oehi verhalte, daß er ſo menſchenfeindlich ausſehe und da oben ganz allein wohne und die Leute immer ſo mit halben Worten von ihm redeten, als fürchteten ſie ſich, gegen ihn zu ſein, und wollten doch nicht für ihn ſein. Auch wußte die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Oehi genannt wurde, er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von den ſämmtlichen Bewohnern ſein; da aber alle ihn ſo nannten, that ſie es auch und nannte den Alten nie anders als Oehi, was die Ausſprache der Gegend für Oheim iſt. Die Barbel hatte ſich erſt vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheirathet, vorher hatte ſie unten im Prättigau gewohnt, und ſo war ſie noch nicht ſo ganz bekannt mit allen Erlebniſſen und beſondern Perſönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war dieſe geſtorben und die Dete war nach dem Bade Ragatz hinübergezogen, wo ſie im großen Hôtel als Zimmermädchen einen guten Verdienſt fand. Sie war auch an dieſem Morgen mit dem Kinde von Ragatz hergekommen; bis Mayenfeld hatte ſie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und ſie und das Kind mitnahm. Die Barbel wollte aber dies Mal die gute Gelegenheit, Etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen laſſen; ſie faßte vertraulich die Dete am Arm und ſagte: „Von dir kann man doch vernehmen, was wahr iſt und was die Leute darüber hinaus ſagen; du weißt, denk' ich, die ganze Geſchichte. Sag' mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten iſt und ob der immer ſo gefürchtet und ein ſolcher Menſchenhaſſer war.“ „Ob er immer ſo war, kann ich, denk' ich, nicht präzis wiſſen, ich bin jetzt ſechsundzwanzig und er ſicher ſiebenzig Jahr alt, ſo hab' ich ihn nicht geſehen, wie er jung war, das wirſt du nicht erwarten. Wenn ich aber wüßte, daß es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, ſo könnte ich dir ſchon allerhand erzählen von ihm, meine Mutter war aus dem Domleſchg und er auch.“ „A bah, Dete, was meinſt denn?“ gab die Barbel ein wenig beleidigt zurück, „es geht nicht ſo ſtreng mit dem Schwatzen im Prättigau, und dann kann ich ſchon etwas für mich behalten, wenn es ſein muß. Erzähl' mir's jetzt, es muß dich nicht gereuen.“ „Ja nu, ſo will ich, aber halt' Wort!“ mahnte die Dete. Erſt ſah ſie ſich aber um, ob das Kind nicht zu nah ſei und Alles anhöre, was ſie ſagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu ſehen, es mußte ſchon ſeit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt ſein, dieſe hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete ſtand ſtill und ſchaute ſich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn faſt bis zum Dörfli hinunter überſehen, es war aber Niemand darauf ſichtbar. „Jetzt ſeh' ich's“, erklärte die Barbel, „ſiehſt du dort?“ und ſie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. „Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Gaißen-Peter und ſeinen Gaißen. Warum der heut' ſo ſpät hinauffährt mit ſeinen Thieren? Es iſt aber grad' recht, er kann nun zu dem Kinde ſehen und du kannſt mir um ſo beſſer erzählen.“ „Mit dem nach ihm Sehen muß ſich der Peter nicht anſtrengen“, bemerkte die Dete; „es iſt nicht dumm für ſeine fünf Jahre, es thut ſeine Augen auf und ſieht, was vorgeht, das hab' ich ſchon bemerkt an ihm, und es wird ihm einmal gut kommen, denn der Alte hat gar Nichts mehr, als ſeine zwei Gaißen und die Almhütte.“ „Hat er denn einmal mehr gehabt?“ fragte die Barbel. „Der? Ja das denk' ich, daß er einmal mehr gehabt hat“, entgegnete eifrig die Dete, „eins der ſchönſten Bauerngüter im Domleſchg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war ſtill und ordentlich. Aber der Aeltere wollte Nichts thun, als den Herrn ſpielen und im Land herumfahren und mit böſem Volk zu thun haben, das Niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verſpielt und verzecht, und wie es herauskam, da ſind ſein Vater und ſeine Mutter hinter einander geſtorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch am Bettelſtab war, iſt vor Verdruß in die Welt hinaus, es weiß kein Menſch wohin, und der Oehi ſelber, als er Nichts mehr hatte, als einen böſen Namen, iſt auch verſchwunden. Erſt wußte Niemand wohin, dann vernahm man, er ſei unter das Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man Nichts mehr von ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erſchien er wieder im Domleſchg mit einem halb gewachſenen Buben und wollte dieſen in der Verwandtſchaft unterzubringen ſuchen. Aber es ſchloſſen ſich alle Thüren vor ihm und Keiner wollte mehr Etwas von ihm wiſſen. Das erbitterte ihn ſehr; er ſagte: in's Domleſchg ſetze er keinen Fuß mehr, und dann kam er hieher in's Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muß eine Bündtnerin geweſen ſein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er mußte noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Menſch und wohl gelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute Keiner, man ſagte auch, er ſei von Neapel deſertirt, es wäre ihm ſonſt ſchlimm gegangen, denn er habe Einen erſchlagen, natürlich nicht im Krieg, verſtehſt du, ſondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtſchaft, da meiner Mutter Großmutter mit ſeiner Großmutter Geſchwiſterkind geweſen war. So nannten wir ihn Oehi, und da wir faſt mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt ſind vom Vater her, ſo nannten ihn dieſe Alle auch Oehi, und ſeit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der ‚Alm- Oehi’.“ „Aber wie iſt es dann mit dem Tobias gegangen?“ fragte geſpannt die Barbel. „Wart' nur, das kommt ſchon, ich kann nicht Alles auf einmal ſagen“, erklärte Dete. „Alſo der Tobias war in der Lehre draußen in Mels, und ſo wie er fertig war, kam er heim in's Dörfli und nahm meine Schweſter zur Frau, die Adelheid, denn ſie hatten ſich ſchon immer gern gehabt, und auch wie ſie nun verheirathet waren, konnten ſie's ſehr gut zuſammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und ſchlug ihn todt. Und wie man den Mann ſo entſtellt nach Haus brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte ſich nicht mehr erholen, ſie war ſonſt nicht ſehr kräftig und hatte manchmal ſo eigne Zuſtände gehabt, daß man nicht recht wußte, ſchlief ſie, oder war ſie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias todt war, begrub man auch die Adelheid. Da ſprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schickſal der Beiden, und leiſe und laut ſagten ſie, das ſei die Strafe, die der Oehi verdient habe für ſein gottloſes Leben, und ihm ſelbſt wurde es geſagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm in's Gewiſſen, er ſollte doch jetzt Buße thun, aber er wurde nur immer grimmiger und verſtockter und redete mit Niemandem mehr, es ging ihm auch Jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Oehi ſei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und ſeither iſt er dort und lebt mit Gott und Menſchen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich, es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter ſtarb und ich im Bad drunten Etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Urſel oben im Pfäfferſerdorf an die Koſt. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und flicken verſtehe, und früh im Frühling kam die Herrſchaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will; übermorgen reiſen wir ab und der Dienſt iſt gut, das kann ich dir ſagen.“ „Und dem Alten da droben willſt du nun das Kind übergeben? Es nimmt mich nur Wunder, was du denkſt, Dete“, ſagte die Barbel vorwurfsvoll. „Was meinſt du denn?“ gab Dete zurück. „Ich habe das Meinige an dem Kind gethan, und was ſollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann Eines, das erſt fünf Jahr alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehſt du eigentlich, Barbel, wir ſind ja ſchon halb Wegs auf der Alm.“ „Ich bin auch gleich da, wo ich hin muß“, entgegnete die Barbel; „ich habe mit der Gaißen-Peterin zu reden, ſie ſpinnt mir im Winter. So leb' wohl, Dete, mit Glück!“ Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb ſtehen, während dieſe der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige Schritte ſeitwärts vom Pfad in einer Mulde ſtand, wo ſie vor dem Bergwind ziemlich geſchützt war. Die Hütte ſtand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und daß ſie in einer kleinen Vertiefung des Berges ſtand, war gut, denn ſie ſah ſo baufällig und verwittert aus, daß es auch ſo noch ein gefährliches Darinnenwohnen ſein mußte, wenn der Föhnwind ſo mächtig über die Berge ſtrich, daß Alles an der Hütte klapperte, Thüren und Fenſter und alle die morſchen Balken zitterten und krachten. Hätte die Hütte an ſolchen Tagen oben auf der Alm geſtanden, ſie wäre unverzüglich in's Thal hinabgeweht worden. Hier wohnte der Gaißen-Peter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Gaißen holte, um ſie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um ſie da die kurzen kräftigen Kräuter freſſen zu laſſen bis zum Abend; dann ſprang der Peter mit den leichtfüßigen Thierchen wieder herunter, that, im Dörfli angekommen, einen ſchrillen Pfiff durch die Finger und jeder Beſitzer holte ſeine Gaiß auf dem Platz. Meiſtens kamen kleine Buben und Mädchen, denn die friedlichen Gaißen waren nicht zu fürchten, und das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit Seinesgleichen verkehrte, ſonſt lebte er nur mit den Gaißen. Er hatte zwar daheim ſeine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen ſehr früh fort mußte und am Abend vom Dörfli ſpät heimkam, weil er ſich da noch ſo lang als möglich mit den Kindern unterhalten mußte, ſo verbrachte er daheim nur gerade ſo viel Zeit, um am Morgen ſeine Milch und Brod und am Abend ebendaſſelbe herunterzuſchlucken und dann ſich auf's Ohr zu legen und zu ſchlafen. Sein Vater, der auch ſchon der Gaißen-Peter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demſelben Berufe geſtanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von Jedermann um des Zuſammenhangs willen die Gaißen-Peterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Großmutter. Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und ſich nach allen Seiten umgeſehen, ob die Kinder mit den Gaißen noch nirgends zu ſehen ſeien; als dieß aber nicht der Fall war, ſo ſtieg ſie noch ein wenig höher, wo ſie beſſer die ganze Alm bis hinunter überſehen konnte und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen großer Ungeduld auf dem Geſicht und in den Bewegungen. Unterdeſſen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wußte viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüſchen für ſeine Gaißen zu nagen war; darum machte er mit ſeiner Heerde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erſt war das Kind mühſam nachgeklettert, in ſeiner ſchweren Rüſtung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anſtrengend. Es ſagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit ſeinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und herſprang, bald auf die Gaißen, die mit den dünnen, ſchlanken Beinchen noch leichter über Buſch und Stein und ſteile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal ſetzte das Kind ſich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, ſtand wieder auf, zog ſein rothes, dickes Halstuch weg, machte ſein Röckchen auf, zog es ſchnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Baſe Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit Niemand es tragen müſſe. Blitzſchnell war auch das Alltagsröcklein weg und nun ſtand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausſtreckend. Dann legte es ſchön Alles auf ein Häufchen, und nun ſprang und kletterte es hinter den Gaißen und neben dem Peter her, ſo leicht als nur Eines aus der ganzen Geſellſchaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgeſprungen kam, zog er luſtig grinſend das ganze Geſicht auseinander und ſchaute zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider liegen ſah, ging ſein Geſicht noch ein wenig mehr auseinander, und ſein Mund kam faſt von einem Ohr bis zum andern; er ſagte aber Nichts. Wie nun das Kind ſich ſo frei und leicht fühlte, fing es ein Geſpräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und mußte auf vielerlei Fragen antworten, denn das Kind wollte wiſſen, wie viele Gaißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort thue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder ſammt den Gaißen oben bei der Hütte an und kamen der Baſe Dete zu Geſicht. Kaum aber hatte dieſe die herankletternde Geſellſchaft erblickt, als ſie laut aufſchrie: „Heidi, was machſt du? Wie ſiehſt du aus? Wo haſt du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft auf den Berg und dir neue Strümpfe gemacht und Alles fort! Alles fort! Heidi, was machſt du, wo haſt du Alles?“ Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und ſagte: „Dort!“ Die Baſe folgte ſeinem Finger. Richtig, dort lag Etwas und oben auf war ein rother Punkt, das mußte das Halstuch ſein. „Du Unglückstropf!“ rief die Baſe in großer Aufregung; „was kommt dir denn in den Sinn, warum haſt du Alles ausgezogen? Was ſoll das ſein?“ „Ich brauch' es nicht“, ſagte das Kind und ſah gar nicht reuevoll aus über ſeine That. „Ach du unglückſeliges, vernunftloſes Heidi, haſt du denn auch noch gar keine Begriffe?“ jammerte und ſchalt die Baſe weiter; „wer ſoll nun wieder da hinunter, es iſt ja eine halbe Stunde! Komm', Peter, lauf' du mir ſchnell zurück und hol' das Zeug, komm' ſchnell und ſteh' nicht dort und glotze mich an, als wärſt du im Boden feſtgenagelt.“ „Ich bin ſchon zu ſpät“, ſagte Peter langſam und blieb, ohne ſich zu rühren, auf demſelben Flecke ſtehen, von dem aus er, beide Hände in die Taſchen geſteckt, dem Schreckensausbruch der Baſe zugehört hatte. „Du ſtehſt ja doch nur und reißeſt deine Augen auf und kommſt, denk' ich, nicht weit auf die Art“, rief ihm die Baſe Dete zu, „komm' her, du mußt etwas Schönes haben, ſiehſt du?“ Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich ſprang er auf und davon auf dem geradeſten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte ſie auf und erſchien damit ſo ſchnell, daß ihn die Baſe rühmen mußte und ihm ſogleich ſein Fünfrappenſtück überreichte. Peter ſteckte es ſchnell tief in ſeine Taſche und ſein Geſicht glänzte und lachte in voller Breite, denn ein ſolcher Schatz wurde ihm nicht oft zu Theil. „Du kannſt mir das Zeug noch tragen bis zum Oehi hinauf, du gehſt ja auch den Weg“, ſagte die Baſe Dete jetzt, indem ſie ſich anſchickte, den ſteilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Gaißen-Peter's emporragte. Willig übernahm dieſer den Auftrag und folgte der Voranſchreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um ſein Bündel geſchlungen, in der Rechten die Gaißenruthe ſchwingend. Das Heidi und die Gaißen hüpften und ſprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelſtunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorſprung des Berges die Hütte des alten Oehi ſtand, allen Winden ausgeſetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Ausſicht weit in's Thal hinab. Hinter der Hütte ſtanden drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeſchnittenen Aeſten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felſen, erſt noch über ſchöne, kräuterreiche Höhen, dann in ſteiniges Geſtrüpp und endlich zu den kahlen, ſteilen Felſen hinan. An die Hütte feſt gemacht, der Thalſeite zu, hatte ſich der Oehi eine Bank gezimmert. Hier ſaß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf ſeine Kniee gelegt und ſchaute ruhig zu, wie die Kinder, die Gaißen und die Baſe Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den Andern überholt worden. Heidi war zuerſt oben; es ging gerade aus auf den Alten zu, ſtreckte ihm die Hand entgegen und ſagte: „Guten Abend, Großvater!“ „So, ſo, wie iſt das gemeint?“ fragte der Alte barſch, gab dem Kinde kurz die Hand und ſchaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter ſeinen buſchigen Augenbraunen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur ein Mal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbraunen, die in der Mitte zuſammengewachſen waren und ausſahen wie eine Art Geſträuch, war ſo verwunderlich anzuſehen, daß Heidi ihn recht betrachten mußte. Unterdeſſen war auch die Baſe herangekommen ſammt dem Peter, der eine Weile ſtille ſtand und zuſah, was ſich da ereigne. „Ich wünſche Euch guten Tag, Oehi“, ſagte die Dete, hinzutretend, „und hier bring' ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn ſeit es jährig war, habt Ihr es nie mehr geſehen.“ „So, was muß das Kind bei mir?“ fragte der Alte kurz, „und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannſt gehen mit deinen Gaißen, du biſt nicht zu früh, nimm meine mit!“ Der Peter gehorchte ſofort und verſchwand, denn der Oehi hatte ihn angeſchaut, daß er ſchon genug davon hatte. „Es muß eben bei Euch bleiben, Oehi“, gab die Dete auf ſeine Frage zurück. „Ich habe, denk' ich, das Meinige an ihm gethan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an Euch ſein, das Eurige auch einmal zu thun.“ „So“, ſagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt dir nachzuflennen und zu winſeln, wie kleine Unvernünftige thun, was muß ich dann mit ihm anfangen?“ „Das iſt dann Eure Sache“, warf die Dete zurück; „ich meine faſt, es habe mir auch kein Menſch geſagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich ſchon für mich und die Mutter genug zu thun hatte. Jetzt muß ich meinem Verdienſt nach und Ihr ſeid der Nächſte am Kind; wenn Ihr's nicht haben könnt, ſo macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nöthig haben, noch etwas aufzuladen.“ Die Dete hatte kein recht gutes Gewiſſen bei der Sache, darum war ſie ſo hitzig geworden und hatte mehr geſagt, als ſie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Oehi aufgeſtanden; er ſchaute ſie ſo an, daß ſie einige Schritte zurückwich; dann ſtreckte er den Arm aus und ſagte befehlend: „Mach', daß du hinunterkommſt, wo du heraufgekommen biſt, und zeig' dich nicht ſo bald wieder!“ Das ließ ſich die Dete nicht zwei Mal ſagen. „So lebt wohl, und du auch, Heidi“, ſagte ſie ſchnell und lief den Berg hinunter in Einem Trab bis in's Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb ſie vorwärts, ſo wie ein wirkſamer Dampf. Im Dörfli wurde ſie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind ſei; ſie kannten ja Alle die Dete genau und wußten, wem das Kind gehörte, und Alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Thüren und Fenſtern tönte: „Wo iſt das Kind? Dete, wo haſt du das Kind gelaſſen?“ rief ſie immer unwilliger zurück: „Droben beim Alm-Oehi! Nu, beim Alm-Oehi, Ihr hört's ja!“ Sie wurde aber ſo maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: „Wie kannſt du ſo etwas thun!“ und: „Das arme Tröpfli!“ und: „So ein kleines Hülfloſes da droben laſſen!“ und dann wieder und wieder: „Das arme Tröpfli!“ Die Dete lief, ſo ſchnell ſie konnte, weiter und war froh, als ſie Nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber ſie ſagte ſich zur Beruhigung, ſie könne dann ja eher wieder etwas für das Kind thun, wenn ſie nun viel Geld verdiene, und ſo war ſie ſehr froh, daß ſie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem ſchönen Verdienſt kommen konnte. 2. Beim Großvater. Nachdem die Dete verſchwunden war, hatte der Oehi ſich wieder auf die Bank hingeſetzt und blies nun große Wolken aus ſeiner Pfeife; dabei ſtarrte er auf den Boden und ſagte kein Wort. Derweilen ſchaute das Heidi vergnüglich um ſich, entdeckte den Gaißenſtall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war Nichts darin. Das Kind ſetzte ſeine Unterſuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Aeſte ſo ſtark, daß es ſauſte und brauſte oben in den Wipfeln. Heidi blieb ſtehen und hörte zu. Als es ein wenig ſtiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es dieſen noch in derſelben Stellung erblickte, wie es ihn verlaſſen hatte, ſtellte es ſich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Großvater ſchaute auf. „Was willſt jetzt thun?“ fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm ſtand. „Ich will ſehen, was du drinnen haſt, in der Hütte“, ſagte Heidi. „So komm'!“ und der Großvater ſtand auf und ging voran in die Hütte hinein. „Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit“, befahl er im Hereintreten. „Das brauch' ich nicht mehr“, erklärte Heidi. Der Alte kehrte ſich um und ſchaute durchdringend auf das Kind, deſſen ſchwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da drinnen ſein konnten. „Es kann ihm nicht am Verſtand fehlen“, ſagte er halblaut. „Warum brauchſt du's nicht mehr?“ ſetzte er laut hinzu. „Ich will am liebſten gehen wie die Gaißen, die haben ganz leichte Beinchen.“ „So, das kannſt du, aber hol' das Zeug“, befahl der Großvater, „es kommt in den Kaſten.“ Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Thür auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da ſtand ein Tiſch und ein Stuhl daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer andern hing der große Keſſel über dem Heerd; auf der andern Seite war eine große Thür in der Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da hingen ſeine Kleider drin und auf einem Geſtell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem andern einige Teller und Taſſen und Gläſer und auf dem oberſten ein rundes Brod und geräuchertes Fleiſch und Käſe, denn in dem Kaſten war Alles enthalten, was der Alm-Oehi beſaß und zu ſeinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi ſchnell heran und ſtieß ſein Zeug hinein, ſo weit hinter des Großvaters Kleider als möglich, damit es nicht ſo leicht wieder zu finden ſei. Nun ſah es ſich aufmerkſam um in dem Raum und ſagte dann: „Wo muß ich ſchlafen, Großvater?“ „Wo du willſt“, gab dieſer zur Antwort. Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und ſchaute jedes Plätzchen aus, wo am ſchönſten zu ſchlafen wäre. In der Ecke vorüber des Großvaters Lagerſtätte war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein friſcher, duftender Heuhaufen oben und durch eine runde Lücke ſah man weit in's Thal hinab. „Hier will ich ſchlafen“, rief Heidi hinunter, „hier iſt's ſchön! Komm' und ſieh' einmal, wie ſchön es hier iſt, Großvater!“ „Ich weiß ſchon“, tönte es von unten herauf. „Ich mache jetzt das Bett“, rief das Kind wieder, indem es oben geſchäftig hin- und herfuhr, „aber du mußt heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.“ „So, ſo“, ſagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter ſeinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das mußte ſo Etwas ſein, wie ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen mußte, war das Heu hoch aufgeſchichtet, und das Geſicht kam ſo zu liegen, daß es gerade auf das offene, runde Loch traf. „Das iſt recht gemacht“, ſagte der Großvater, „jetzt wird das Tuch kommen, aber wart' noch“, — damit nahm er einen guten Wiſch Heu von dem Haufen und machte das Lager doppelt ſo dick, damit der harte Boden nicht durchgefühlt werden konnte, „ſo, jetzt komm' her damit.“ Heidi hatte das Leintuch ſchnell zu Handen genommen, konnte es aber faſt nicht tragen, ſo ſchwer war's; aber das war ſehr gut, denn durch das feſte Zeug konnten die ſpitzen Heuhalme nicht durchſtechen. Jetzt breiteten die Beiden miteinander das Tuch über das Heu und wo es zu breit und zu lang war, ſtopfte Heidi die Enden eilfertig unter das Lager. Nun ſah es recht gut und reinlich aus, und Heidi ſtellte ſich davor und betrachtete es nachdenklich. „Wir haben noch etwas vergeſſen, Großvater“, ſagte es dann. „Was denn?“ fragte er. „Eine Decke; denn wenn man in's Bett geht, kriecht man zwiſchen das Leintuch und die Decke hinein.“ „So, meinſt du? Wenn ich aber keine habe?“ ſagte der Alte. „O dann iſt's gleich, Großvater“, beruhigte Heidi, „dann nimmt man wieder Heu zur Decke“, und eilfertig wollte es gleich wieder an den Heuſtock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm. „Wart' einen Augenblick“, ſagte er, ſtieg die Leiter hinab und ging an ſein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen, ſchweren, leinenen Sack auf den Boden. „Iſt das nicht beſſer als Heu?“ fragte er. Heidi zog aus Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinanderzulegen, aber die kleinen Hände konnten das ſchwere Zeug nicht bewältigen. Der Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da ſah Alles ſehr gut und haltbar aus, und Heidi ſtand ſtaunend vor ſeinem neuen Lager und ſagte: „Das iſt eine prächtige Decke und das ganze Bett! Jetzt wollt' ich, es wäre ſchon Nacht, ſo könnte ich hinein liegen.“ „Ich meine, wir könnten erſt einmal etwas eſſen“, ſagte der Großvater, „oder was meinſt du?“ Heidi hatte über dem Eifer des Bettens alles Andere vergeſſen; nun ihm aber der Gedanke an's Eſſen kam, ſtieg ein großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar Nichts bekommen, als früh am Morgen ſein Stück Brod und ein paar Schlücke dünnen Kaffee, und nachher hatte es die lange Reiſe gemacht. So ſagte Heidi ganz zuſtimmend: „Ja, ich meine es auch.“ „So geh' hinunter, wenn wir denn einig ſind“, ſagte der Alte und folgte dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Keſſel hin, ſchob den großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, ſetzte ſich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz davor hin und blies ein helles Feuer an. Im Keſſel fing es an zu ſieden und unten hielt der Alte an einer langen Eiſengabel ein großes Stück Käſe über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war. Heidi hatte mit geſpannter Aufmerkſamkeit zugeſehen; jetzt mußte ihm etwas Neues in den Sinn gekommen ſein; auf einmal ſprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem Topf und dem Käſebraten an der Gabel zum Tiſch heran; da lag ſchon das runde Brod darauf und zwei Teller und zwei Meſſer, Alles ſchön geordnet, denn das Heidi hatte Alles im Schrank gut wahrgenommen und wußte, daß man das Alles nun gleich zum Eſſen brauchen werde. „So, das iſt recht, daß du ſelbſt etwas ausdenkſt“, ſagte der Großvater und legte den Braten auf das Brod, als Unterlage; „aber es fehlt noch Etwas auf dem Tiſch.“ Heidi ſah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und ſprang ſchnell wieder an den Schrank. Da ſtand aber nur ein einziges Schüſſelchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten ſtanden zwei Gläſer; augenblicklich kam das Kind zurück und ſtellte Schüſſelchen und Glas auf den Tiſch. „Recht ſo, du weißt dir zu helfen; aber wo willſt du ſitzen?“ Auf dem einzigen Stuhl ſaß der Großvater ſelbſt. Heidi ſchoß pfeilſchnell zum Heerd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und ſetzte ſich drauf. „Einen Sitz haſt du wenigſtens, das iſt wahr, nur ein wenig weit unten“, ſagte der Großvater; aber von meinem Stuhl wärſt auch zu kurz, auf den Tiſch zu langen; jetzt mußt aber einmal Etwas haben, ſo komm'!“ Damit ſtand er auf, füllte das Schüſſelchen mit Milch, ſtellte es auf den Stuhl, und rutſchte den ganz nah an den Dreifuß hin, ſo daß das Heidi nun einen Tiſch vor ſich hatte. Der Großvater legte ein großes Stück Brod und ein Stück von dem goldenen Käſe darauf und ſagte: „Jetzt iß!“ Er ſelbſt ſetzte ſich nun auf die Ecke des Tiſches und begann ſein Mittagsmahl. Heidi ergriff ſein Schüſſelchen und trank und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durſt ſeiner langen Reiſe war ihm wieder aufgeſtiegen. Jetzt that es einen langen Athemzug, denn im Eifer des Trinkens hatte es lange den Athem nicht holen können, und ſtellte ſein Schüſſelchen hin. „Gefällt dir die Milch?“ fragte der Großvater. „Ich habe noch gar nie ſo gute Milch getrunken“, antwortete Heidi. „So mußt du mehr haben“, und der Großvater füllte das Schüſſelchen noch einmal bis oben hin und ſtellte es vor das Kind, das vergnüglich in ſein Brod biß und dann von dem weichen Käſe darauf ſtrich, denn der war, ſo gebraten, weich wie Butter, und das ſchmeckte ganz kräftig zuſammen, und zwiſchen durch trank es ſeine Milch und ſah ſehr vergnüglich aus. Als nun das Eſſen zu Ende war, ging der Großvater in den Gaißenſtall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi ſah ihm aufmerkſam zu, wie er erſt mit dem Beſen ſäuberte, dann friſche Streu legte, daß die Thierchen darauf ſchlafen konnten; wie er dann nach dem Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke zurecht ſchnitt und an einem Brett herum hackte und Löcher hinein bohrte und dann die runden Stöcke hinein ſteckte und aufſtellte; da war es auf einmal ein Stuhl, wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi ſtaunte das Werk an, ſprachlos vor Verwunderung. „Was iſt das, Heidi?“ fragte der Großvater. „Das iſt mein Stuhl, weil er ſo hoch iſt; auf einmal war er fertig“, ſagte das Kind noch in tiefem Erſtaunen und Bewunderung. „Es weiß, was es ſieht, es hat die Augen am rechten Ort“, bemerkte der Großvater vor ſich hin, als er nun um die Hütte herum ging und hier einen Nagel einſchlug und dort einen und dann an der Thür etwas zu befeſtigen hatte und ſo mit Hammer und Nägeln und Holzſtücken von einem Ort zum andern wanderte und immer etwas ausbeſſerte oder wegſchlug, je nach dem Bedürfniß. Heidi ging Schritt für Schritt hinter ihm her und ſchaute ihm unverwandt mit der größten Aufmerkſamkeit, zu und Alles, was da vorging, war ihm ſehr kurzweilig anzuſehen. So kam der Abend heran. Es fing an ſtärker zu rauſchen in den alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und ſauſte und brauſte durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi ſo ſchön in die Ohren und in's Herz hinein, daß es ganz fröhlich darüber wurde, und hüpfte und ſprang unter den Tannen umher, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt. Der Großvater ſtand unter der Schopfthür und ſchaute dem Kinde zu. Jetzt ertönte ein ſchriller Pfiff. Heidi hielt an in ſeinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben herunter kam es geſprungen, Gaiß um Gaiß, wie eine Jagd und mitten drin der Peter. Mit einem Freudenruf ſchoß Heidi mitten in den Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde von heute Morgen einen um den andern. Bei der Hütte angekommen, ſtand Alles ſtill und aus der Heerde heraus kamen zwei ſchöne, ſchlanke Gaißen, eine weiße und eine braune auf den Großvater zu und leckten ſeine Hände, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend zum Empfang ſeiner zwei Thierlein that. Der Peter verſchwand mit ſeiner Schaar. Heidi ſtreichelte zärtlich die eine und dann die andere von den Gaißen und ſprang um ſie herum, um ſie von der andern Seite auch zu ſtreicheln, und war ganz Glück und Freude über die Thierchen. „Sind ſie unſer, Großvater? Sind ſie beide unſer? Kommen ſie in den Stall? Bleiben ſie immer bei uns?“ So fragte Heidi hinter einander in ſeinem Vergnügen, und der Großvater konnte kaum ſein ſtätiges „Ja, ja!“ zwiſchen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Gaißen ihr Salz aufgeleckt hatten, ſagte der Alte: „Geh' und hol' dein Schüſſelchen heraus und das Brod.“ Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater gleich von der Weißen das Schüſſelchen voll und ſchnitt ein Stück Brod ab und ſagte: „Nun iß und dann geh' hinauf und ſchlaf'! Die Baſe Dete hat noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da ſeien Hemdlein und ſo etwas darin, das liegt unten im Kaſten, wenn du's brauchſt; ich muß nun mit den Gaißen hinein, ſo ſchlaf' wohl!“ „Gut' Nacht, Großvater! Gut' Nacht — wie heißen ſie, Großvater, wie heißen ſie?“ rief das Kind und lief dem verſchwindenden Alten und den Gaißen nach. „Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli“, gab der Großvater zurück. „Gut' Nacht, Schwänli, gut' Nacht, Bärli“, rief nun Heidi noch mit Macht, denn eben verſchwanden Beide in den Stall hinein. Nun ſetzte ſich Heidi noch auf die Bank und aß ſein Brod und trank ſeine Milch; aber der ſtarke Wind wehte es faſt von ſeinem Sitz herunter; ſo machte es ſchnell fertig, ging dann hinein und ſtieg zu ſeinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher ſo feſt und herrlich ſchlief, als nur Einer im ſchönſten Fürſtenbett ſchlafen konnte. Nicht lange nachher, noch eh' es völlig dunkel war, legte auch der Großvater ſich auf ſein Lager, denn am Morgen war er immer ſchon mit der Sonne wieder draußen, und die kam ſehr früh über die Berge hereingeſtiegen in dieſer Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind ſo gewaltig, daß bei ſeinen Stößen die ganze Hütte erzitterte und es in allen Balken krachte; durch den Schornſtein heulte und ächzte es wie Jammerſtimmen, und in den alten Tannen draußen tobte es mit ſolcher Wuth, daß hie und da ein Aſt niederkrachte. Mitten in der Nacht ſtand der Großvater auf und ſagte halblaut vor ſich hin: „Es wird ſich wohl fürchten.“ Er ſtieg die Leiter hinauf und trat an Heidi's Lager heran. Der Mond draußen ſtand einmal hell leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden Wolken darüber hin und Alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondſchein eben leuchtend durch die runde Oeffnung herein und fiel gerade auf Heidi's Lager. Es hatte ſich feuerrothe Backen erſchlafen unter ſeiner ſchweren Decke, und ganz ruhig und friedlich lag es auf ſeinem runden Aermchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn ſein Geſichtchen ſah ganz wohlgemuth aus. Der Großvater ſchaute ſo lange auf das friedlich ſchlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken kam und es dunkel wurde, dann kehrte er auf ſein Lager zurück. 3. Auf der Weide. Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufſchlug, kam ein goldner Schein durch das runde Loch hereingefloſſen auf ſein Lager und auf das Heu daneben, daß Alles golden leuchtete ringsherum. Heidi ſchaute erſtaunt um ſich und wußte durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm Alles in den Sinn, woher es gekommen war, und daß es nun auf der Alm beim Großvater ſei, nicht mehr bei der alten Urſel, die faſt Nichts mehr hörte und meiſtens fror, ſo daß ſie immer am Küchenfeuer oder am Stubenofen geſeſſen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen müſſen oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte ſehen konnte, wo es war, weil ſie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen. So war es ſehr froh, als es in der neuen Behauſung erwachte und ſich erinnerte, wie viel Neues es geſtern geſehen hatte und was es heute wieder Alles ſehen könnte, vor Allem das Schwänli und das Bärli. Heidi ſprang eilig aus ſeinem Bett und hatte in wenig Minuten Alles wieder angelegt, was es geſtern getragen hatte, denn es war ſehr wenig. Nun ſtieg es die Leiter hinunter und ſprang vor die Hütte hinaus. Da ſtand ſchon der Gaißen-Peter mit ſeiner Schaar und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, daß ſie ſich der Geſellſchaft anſchlöſſen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Gaißen guten Tag zu ſagen. „Willſt mit auf die Weide?“ fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freuden. „Aber erſt waſchen und ſauber ſein, ſonſt lacht Einen die Sonne aus, wenn ſie ſo ſchön glänzt da droben und ſieht, daß du ſchwarz biſt; ſieh, dort iſt's für dich gerichtet.“ Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Waſſer, der vor der Thür in der Sonne ſtand. Heidi ſprang hin und patſchte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unterdeſſen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: „Komm' hieher, Gaißengeneral, und bring' deinen Haberſack mit!“ Verwundert folgte Peter dem Ruf und ſtreckte ſein Säcklein hin, in dem er ſein mageres Mittageſſen bei ſich trug. „Mach' auf!“ befahl der Alte und ſteckte nun ein großes Stück Brod und ein ebenſo großes Stück Käſe hinein. Der Peter machte vor Erſtaunen ſeine runden Augen ſo weit auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl die Hälfte ſo groß wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl drinnen hatte. „So, nun kommt noch das Schüſſelchen hinein“, fuhr der Oehi fort, „denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur ſo von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du melkſt ihm zwei Schüſſelchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommſt; gib Acht, daß es nicht über die Felſen hinunterfällt, hörſt du?“ Nun kam Heidi hereingelaufen. „Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?“ fragte es angelegentlich. Es hatte ſich mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Waſſerzuber aufgehängt hatte, Geſicht, Hals und Arme in ſeinem Schrecken vor der Sonne ſo erſtaunlich gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater ſtand. Er lachte ein wenig. „Nein, nun hat ſie Nichts zu lachen“, beſtätigte er. „Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommſt, da gehſt du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fiſch; denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man ſchwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.“ Nun ging es luſtig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblaſen; dunkelblau ſchaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten drauf ſtand die leuchtende Sonne und ſchimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und ſchauten ihr fröhlich entgegen. Heidi ſprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, rother Himmelsſchlüſſelchen bei einander, und dort ſchimmerte es ganz blau von den ſchönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblättrigen, goldenen Cyſtusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all den flimmernden, winkenden Blümchen vergaß Heidi ſogar die Gaißen und auch den Peter. Es ſprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es roth und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Schaaren von den Blumen und packte ſie in ſein Schürzchen ein, denn es wollte ſie alle mit heim nehmen und in's Heu ſtecken in ſeiner Schlafkammer, daß es dort werde wie hier draußen. So hatte der Peter heut' nach allen Seiten zu gucken und ſeine kugelrunden Augen, die nicht beſonders ſchnell hin- und hergingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut bewältigen konnte, denn die Gaißen hatten es wie das Heidi, ſie liefen auch dahin und dorthin und er mußte überallhin pfeifen und rufen und ſeine Ruthe ſchwingen, um wieder alle die Verlaufenen zuſammenzutreiben. „Wo biſt du ſchon wieder, Heidi?“ rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme. „Da“, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter Niemand, denn Heidi ſaß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen beſät war; da war die ganze Luft umher ſo mit Wohlgeruch erfüllt, daß Heidi noch nie ſo Liebliches eingeathmet hatte. Es ſetzte ſich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zügen ein. „Komm' nach“, rief der Peter wieder. „Du mußt nicht über die Felſen hinunterfallen, der Oehi hat's verboten.“ „Wo ſind die Felſen?“ fragte Heidi zurück, bewegte ſich aber nicht von der Stelle, denn der ſüße Duft ſtrömte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen. „Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm' jetzt! Und oben am höchſten ſitzt der alte Raubvogel und krächzt.“ Das half. Augenblicklich ſprang Heidi in die Höhe und rannte mit ſeiner Schürze voller Blumen dem Peter zu. „Jetzt haſt genug“, ſagte dieſer, als ſie wieder zuſammen weiter kletterten, „ſonſt bleibſt du immer ſtecken, und wenn du alle nimmſt, hat's morgen keine mehr.“ Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schürze ſchon ſo angefüllt, daß da wenig Platz mehr geweſen wäre, und morgen mußten auch noch da ſein. So zog es nun mit dem Peter weiter und die Gaißen gingen nun auch geregelter, denn ſie rochen die guten Kräuter von dem hohen Weideplatz ſchon von fern und ſtrebten nun ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit ſeinen Gaißen und ſein Quartier für den Tag aufſchlug, lag am Fuße der hohen Felſen, die, erſt noch von Gebüſch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und ſchroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp zogen ſich Felſenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte Recht, davor zu warnen. Als nun dieſer Punkt der Höhe erreicht war, nahm Peter ſeinen Sack ab und legte ihn ſorgfältig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in ſtarken Stößen daher gefahren, und den kannte Peter und wollte ſeine koſtbare Habe nicht den Berg hinunterrollen ſehen; dann ſtreckte er ſich lang und breit auf den ſonnigen Weideboden hin, denn er mußte ſich nun von der Anſtrengung des Steigens erholen. Heidi hatte unterdeſſen ſein Schürzchen losgemacht und ſchön feſt zuſammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantſack in die Vertiefung hineingelegt und nun ſetzte es ſich neben den ausgeſtreckten Peter hin und ſchaute um ſich. Das Thal lag weit unten im vollen Morgenglanz; vor ſich ſah Heidi ein großes, weites Schneefeld ſich erheben hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon ſtand eine ungeheuere Felſenmaſſe und zu jeder Seite derſelben ragte ein hoher Felſenthurm kahl und zackig in die Bläue hinauf und ſchaute von dort oben ganz ernſthaft auf das Heidi nieder. Das Kind ſaß mäuschenſtill da und ſchaute ringsum, und weit umher war eine große, tiefe Stille, nur ganz ſanft und leiſe ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die golden ſtrahlenden Cyſtusröschen, die überall herumſtanden auf ihren dünnen Stengelchen und leiſe und fröhlich hin- und hernickten. Der Peter war entſchlafen nach ſeiner Anſtrengung und die Gaißen kletterten oben an den Büſchen umher. Dem Heidi war es ſo ſchön zu Muth, wie in ſeinem Leben noch nie. Es trank das goldne Sonnenlicht, die friſchen Lüfte, den zarten Blumenduft in ſich ein und begehrte gar Nichts mehr, als ſo da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte ſo oft und ſo lange zu den hohen Bergſtöcken drüben aufgeſchaut, daß es nun war, als haben ſie alle auch Geſichter bekommen und ſchauten ganz bekannt zu ihm hernieder, ſo wie gute Freunde. Jetzt hörte Heidi über ſich ein lautes, ſcharfes Geſchrei und Krächzen ertönen, und wie es aufſchaute, kreiſte über ihm ein ſo großer Vogel, wie es nie in ſeinem Leben geſehen hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidi's Kopf. „Peter! Peter! erwach'!“ rief Heidi laut. „Sieh', der Raubvogel iſt da, ſieh'! ſieh'!“ Peter erhob ſich auf den Ruf und ſchaute mit Heidi dem Vogel nach, der ſich nun höher und höher hinaufſchwang in's Himmelblau und endlich über grauen Felſen verſchwand. „Wo iſt er jetzt hin?“ fragte Heidi, das mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Vogel verfolgt hatte. „Heim in's Neſt“, war Peter's Antwort. „Iſt er dort oben daheim? O wie ſchön ſo hoch oben! Warum ſchreit er ſo?“ fragte Heidi weiter. „Weil er muß“, erklärte Peter. „Wir wollen doch dort hinaufklettern und ſehen, wo er daheim iſt“, ſchlug Heidi vor. „O! O! O!“ brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verſtärkter Mißbilligung hervorſtoßend, „wenn keine Gaiß mehr dort hinkann und der Oehi geſagt hat, du dürfeſt nicht über die Felſen hinunterfallen.“ Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein ſo gewaltiges Pfeifen und Rufen anzuſtimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen ſollte: aber die Gaißen mußten die Töne verſtehen, denn eine nach der andern kam heruntergeſprungen und nun war die ganze Schaar auf der grünen Halde verſammelt, die Einen fortnagend an den würzigen Halmen, die Andern hin- und herrennend und die Dritten ein wenig gegeneinanderſtoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgeſprungen und rannte mitten unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeſchreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durcheinander ſprangen und ſich luſtig machten, und Heidi ſprang von einem zum andern und machte mit jedem ganz perſönliche Bekanntſchaft, denn jedes war eine ganz beſondere Erſcheinung für ſich und hatte ſeine eignen Manieren. Unterdeſſen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin waren, ſchön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen Stücke auf Heidi's Seite und die kleinen auf die ſeinige hin, denn er wußte genau, wie er ſie erhalten hatte. Dann nahm er das Schüſſelchen und melkte ſchöne, friſche Milch hinein vom Schwänli und ſtellte das Schüſſelchen mitten in's Viereck. Dann rief er Heidi herbei, mußte aber länger rufen, als nach den Gaißen, denn das Kind war ſo in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge und Erluſtigungen ſeiner neuen Spielkameraden, daß es Nichts ſah und Nichts hörte außer dieſen. Aber Peter wußte ſich verſtändlich zu machen, er rief, daß es bis in die Felſen hinauf dröhnte, und nun erſchien Heidi und die gedeckte Tafel ſah ſo einladend aus, daß es darum herumhüpfte vor Wohlgefallen. „Hör auf zu hopfen, es iſt Zeit zum Eſſen“, ſagte Peter: „jetzt ſitz' und fang' an.“ Heidi ſetzte ſich hin. „Iſt die Milch mein?“ fragte es, nochmals das ſchöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend. „Ja“, erwiderte Peter, „und die zwei großen Stücke zum Eſſen ſind auch dein und wenn du ausgetrunken haſt, bekommſt du noch ein Schüſſelchen vom Schwänli und dann komm' ich.“ „Und von wem bekommſt du die Milch?“ wollte Heidi wiſſen. „Von meiner Gaiß, von der Schnecke. Fang' einmal zu eſſen an“, mahnte Peter wieder. Heidi fing bei ſeiner Milch an, und ſo wie es ſein leeres Schüſſelchen hinſtellte, ſtand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von ſeinem Brod ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peter's eignes Stück geweſen, das nun ſchon ſammt der Zubehör faſt zu Ende war, reichte es dieſem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käſe und ſagte: „Das kannſt du haben, ich habe nun genug.“ Peter ſchaute das Heidi mit ſprachloſer Verwunderung an, denn noch nie in ſeinem Leben hätte er ſo ſagen und Etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, daß es dem Heidi Ernſt ſei; aber dieſes hielt erſt feſt ſeine Stücke hin, und da Peter nicht zugriff, legt' es ſie ihm auf's Knie. Nun ſah er, daß es ernſt gemeint ſei, er erfaßte ſein Geſchenk, nickte in Dank und Zuſtimmung und hielt nun ein ſo reichliches Mittagsmahl, wie noch nie in ſeinem Leben als Gaißbub. Heidi ſchaute derweilen nach den Gaißen aus. „Wie heißen ſie alle, Peter?“ fragte es. Das wußte dieſer nun ganz genau und konnte es um ſo beſſer in ſeinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing alſo an und nannte ohne Anſtoß eine nach der andern, immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit geſpannter Aufmerkſamkeit der Unterweiſung zu, und es währte gar nicht lange, ſo konnte es ſie alle von einander unterſcheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Beſonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben mußten, man mußte nur Allem genau zuſehen, und das that Heidi. Da war der große Türk mit den ſtarken Hörnern, der wollte mit dieſen immer gegen alle andern ſtoßen, und die meiſten liefen davon, wenn er kam, und wollten Nichts von dem groben Kameraden wiſſen. Nur der kecke Diſtelfink, das ſchlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht aus, ſondern rannte von ſich aus manchmal drei, vier Mal hinter einander ſo raſch und tüchtig gegen ihn an, daß der große Türk öfters ganz erſtaunt daſtand und nicht mehr angriff, denn der Diſtelfink ſtand ganz kriegsluſtig vor ihm und hatte ſcharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer ſo eindringlich und flehentlich meckerte, daß Heidi ſchon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es tröſtend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt ſprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte ſeinen Arm um den Hals des Gaißleins und fragte ganz theilnehmend: „Was haſt du, Schneehöppli? Warum rufſt du ſo um Hülfe?“ Das Gaißlein ſchmiegte ſich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz ſtill. Peter rief von ſeinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu ſchlucken: „Es thut ſo, weil die Alte nicht mehr mitkommt, ſie haben ſie verkauft nach Mayenfeld vorgeſtern, nun kommt ſie nicht mehr auf die Alm.“ „Wer iſt die Alte?“ fragte Heidi zurück. „Pah, ſeine Mutter“, war die Antwort. „Wo iſt die Großmutter?“ rief Heidi wieder. „Hat keine.“ „Und der Großvater?“ „Hat keinen.“ „Du armes Schneehöppli du“, ſagte Heidi und drückte das Thierlein zärtlich an ſich. „Aber jammere jetzt nur nicht mehr ſo, ſiehſt du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann biſt du nicht mehr ſo verlaſſen, und wenn dir Etwas fehlt, kannſt du nur zu mir kommen.“ Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt ſeinen Kopf an Heidi's Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdeſſen hatte Peter ſein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu ſeiner Heerde und zu Heidi heran, das ſchon wieder allerlei Betrachtungen angeſtellt hatte. Weitaus die zwei ſchönſten und ſauberſten Gaißen der ganzen Schaar waren Schwänli und Bärli, die ſich auch mit einer gewiſſen Vornehmheit betrugen, meiſtens ihre eignen Wege gingen und beſonders dem zudringlichen Türk abweiſend und verächtlich begegneten. Die Thierchen hatten nun wieder begonnen nach den Büſchen hinaufzuklettern, und jedes hatte ſeine eigne Weiſe dabei, die einen leichtfertig über Alles weghüpfend, die andern bedächtlich die guten Kräutlein ſuchend unterwegs, der Türk hie und da ſeine Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübſch und leicht hinan und fanden oben ſogleich die ſchönſten Büſche, ſtellten ſich geſchickt daran auf und nagten ſie zierlich ab. Heidi ſtand mit den Händen auf dem Rücken und ſchaute dem Allem mit der größten Aufmerkſamkeit zu. „Peter“, bemerkte es jetzt dem wieder auf dem Boden Liegenden, „die ſchönſten von allen ſind das Schwänli und das Bärli.“ „Weiß ſchon“, war die Antwort. „Der Alm-Oehi putzt und wäſcht ſie und giebt ihnen Salz und hat den ſchönſten Stall.“ Aber auf einmal ſprang Peter auf und ſetzte in großen Sprüngen den Gaißen nach, und das Heidi lief hinterdrein, da mußte Etwas begegnet ſein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter ſprang durch den Gaißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felſen ſchroff und kahl weit hinabſteigen und ein unbeſonnenes Gaißlein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterſtürzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte geſehen, wie der vorwitzige Diſtelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben ſprang das Gaißlein dem Rande des Abgrunds zu. Peter wollte es eben packen, da ſtürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Thierleins erwiſchen und es daran feſthalten. Der Diſtelfink meckerte voller Zorn und Ueberraſchung, daß er ſo am Bein feſtgehalten und am Fortſetzen ſeines fröhlichen Streifzugs gehindert war, und ſtrebte eigenſinnig vorwärts. Der Peter ſchrie nach Heidi, daß es ihm beiſtehe, denn er konnte nicht aufſtehen und riß dem Diſtelfink faſt das Bein aus. Heidi war ſchon da und erkannte gleich die ſchlimme Lage der Beiden. Es riß ſchnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt ſie dem Diſtelfink unter die Naſe und ſagte begütigend: „Komm', komm', Diſtelfink, du mußt auch vernünftig ſein! Sieh', da kannſt du hinabfallen und ein Bein brechen, das thut dir furchtbar weh.“ Das Gaißlein hatte ſich ſchnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefreſſen. Derweilen war der Peter auf ſeine Füße gekommen und hatte den Diſtelfink an der Schnur erfaßt, an welcher ſein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfaßte dieſe von der andern Seite und ſo führten die Beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Heerde zurück. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er ſeine Ruthe und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Diſtelfink wich ſcheu zurück, denn er merkte, was begegnen ſollte. Aber Heidi ſchrie laut auf: „Nein, Peter, nein, du mußt ihn nicht ſchlagen, ſieh', wie er ſich fürchtet.“ „Er verdient's“, ſchnurrte Peter und wollte zuſchlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüſtet: „Du darfſt ihm Nichts thun, es thut ihm weh, laß ihn los.“ Peter ſchaute erſtaunt auf das gebietende Heidi, deſſen ſchwarze Augen ihn ſo anfunkelten, daß er unwillkürlich ſeine Ruthe niederhielt. „So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käſe gibſt“, ſagte dann der Peter nachgebend, denn eine Entſchädigung wollte er haben für den Schrecken. „Allen kannſt du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht“, ſagte Heidi zuſtimmend, und Brod gebe ich dir auch ganz viel, wie heute, aber dann darfſt du den Diſtelfink nie, gar nie ſchlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß.“ „Es iſt mir gleich“, bemerkte Peter, und das war bei ihm ſo viel als eine Zuſage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche Diſtelfink ſprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Heerde hinein. So war unvermerkt der Tag vergangen, und ſchon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi ſaß wieder am Boden und ſchaute ganz ſtill auf die Blauglöckchen und die Cyſtusröschen, die im goldnen Abendſchein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felſen droben fingen zu ſchimmern und zu funkeln an, und auf einmal ſprang Heidi auf und ſchrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! Alle Berge brennen und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O ſieh'! ſieh'! der hohe Felſenberg iſt ganz glühend! O der ſchöne, feurige Schnee! Peter, ſieh' auf, ſieh', das Feuer iſt auch beim Raubvogel! ſieh' doch die Felſen! ſieh' die Tannen! Alles, Alles iſt im Feuer!“ „Es war immer ſo“, ſagte jetzt der Peter gemüthlich und ſchälte an ſeiner Ruthe fort, „aber es iſt kein Feuer.“ „Was iſt es denn?“ rief Heidi und ſprang hierhin und dorthin, daß es überallhin ſehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, ſo ſchön war's auf allen Seiten. „Was iſt es, Peter, was iſt es?“ rief Heidi wieder. „Es kommt von ſelbſt ſo“, erklärte der Peter. „O ſieh', ſieh'“, rief Heidi in großer Aufregung, „auf einmal werden ſie roſenroth! Sieh' den mit dem Schnee und den mit den hohen, ſpitzigen Felſen! wie heißen ſie, Peter?“ „Berge heißen nicht“, erwiderte dieſer. „O wie ſchön, ſieh' den roſenrothen Schnee! O, und an den Felſen oben ſind viele, viele Roſen! O, nun werden ſie grau! O! O! Nun iſt Alles ausgelöſcht! Nun iſt Alles aus, Peter!“ Und Heidi ſetzte ſich auf den Boden und ſah ſo verſtört aus, als ginge wirklich Alles zu Ende. „Es iſt morgen wieder ſo“, erklärte Peter. „Steh' auf, nun müſſen wir heim.“ Die Gaißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt angetreten. „Iſt's alle Tage wieder ſo, alle Tage, wenn wir auf der Weide ſind?“ fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Verſicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterſtieg. „Meiſtens“, gab dieſer zur Antwort. „Aber gewiß morgen wieder?“ wollte es noch wiſſen. „Ja, ja, morgen ſchon!“ verſicherte Peter. Nun war Heidi wieder froh' und es hatte ſo viele Eindrücke in ſich aufgenommen und ſo viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, daß es nun ganz ſtill ſchwieg, bis es bei der Almhütte ankam und unter den Tannen den Großvater ſitzen ſah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und am Abend ſeine Gaißen erwartete, die von dieſer Seite herunterkamen. Heidi ſprang gleich auf ihn zu und Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Gaißen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: „Komm' dann morgen wieder! Gute Nacht!“ Denn es war ihm ſehr daran gelegen, daß das Heidi wiederkomme. Da rannte das Heidi ſchnell wieder zurück und gab dem Peter die Hand und verſicherte ihn, daß es wieder mitkomme und dann ſprang es mitten in die davonziehende Heerde hinein und faßte noch einmal das Schneehöppli um den Hals und ſagte vertraulich: „Schlaf' wohl, Schneehöppli, und denk' dran, daß ich morgen wiederkomme und daß du nie mehr ſo jämmerlich meckern mußt.“ Das Schneehöppli ſchaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und ſprang dann fröhlich der Heerde nach. Heidi kam unter die Tannen zurück. „O Großvater, das war ſo ſchön!“ rief es, noch bevor es bei ihm war, das Feuer und die Roſen am Felſen und die blauen und gelben Blumen und ſieh', was ich dir bringe!“ Und damit ſchüttete Heidi ſeinen ganzen Blumenreichthum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Großvater hin. Aber wie ſahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte ſie nicht mehr. Es war Alles wie Heu und kein einziges Kelchlein ſtand mehr offen. „O Großvater, was haben ſie?“ rief Heidi ganz erſchrocken aus, „ſo waren ſie nicht, warum ſehen ſie ſo aus?“ „Die wollen draußen ſtehen in der Sonne und nicht in's Schürzchen hinein“, ſagte der Großvater. „Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum hat der Raubvogel ſo gekrächzt?“ fragte Heidi nun angelegentlich. „Jetzt gehſt du in's Waſſer und ich in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir hinein zuſammen in die Hütte und eſſen zu Nacht, dann ſag' ich dir's.“ So wurde gethan, und wie nun ſpäter Heidi auf ſeinem hohen Stuhl ſaß vor ſeinem Milchſchüſſelchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit ſeiner Frage: „Warum krächzt der Raubvogel ſo und ſchreit immer ſo herunter, Großvater?“ „Der höhnt die Leute aus dort unten, daß ſie ſo Viele zuſammenſitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und jedes ſeinen Weg und auf eine Höhe ſteigen, wie ich, ſo wär's euch wohler!“ Der Großvater ſagte dieſe Worte faſt wild, ſo daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der Erinnerung. „Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“ fragte Heidi wieder. „Die haben Namen“, erwiderte dieſer, „und wenn du mir einen ſo beſchreiben kannſt, daß ich ihn kenne, ſo ſage ich dir, wie es heißt.“ Nun beſchrieb Heidi den Felſenberg mit den zwei hohen Thürmen genau ſo, wie es ihn geſehen hatte, und der Großvater ſagte wohlgefällig: „Recht ſo, den kenn' ich, der heißt Falkniß. Haſt du noch einen geſehen?“ Nun beſchrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer geſtanden hatte und dann roſenroth geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloſchen daſtand. „Den erkenn' ich auch“, ſagte der Großvater, „das iſt der Cäſaplana; ſo hat es dir gefallen auf der Weide?“ Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie ſchön es geweſen und beſonders von dem Feuer am Abend, und nun ſollte der Großvater auch ſagen, woher es gekommen war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt. „Siehſt du“, erklärte der Großvater, „das macht die Sonne, wenn ſie den Bergen gute Nacht ſagt, dann wirft ſie ihnen noch ihre ſchönſten Strahlen zu, daß ſie ſie nicht vergeſſen, bis ſie am Morgen wiederkommt.“ Das gefiel dem Heidi und es konnte faſt nicht erwarten, daß wieder ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder ſehen, wie die Sonne den Bergen gute Nacht ſagte. Aber erſt mußte es nun ſchlafen gehen, und es ſchlief auch die ganze Nacht herrlich auf ſeinem Heulager und träumte von lauter ſchimmernden Bergen und rothen Roſen darauf und mitten drinn das Schneehöppli in fröhlichen Sprüngen. 4. Bei der Großmutter. Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Gaißen, und wieder zogen ſie Alle miteinander nach der Weide hinauf, und ſo ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei dieſem Weideleben ganz gebräunt und ſo kräftig und geſund, daß ihm gar nie etwas fehlte, und ſo froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum andern, wie nur die luſtigen Vögelein leben auf allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbſt wurde und der Wind lauter zu ſauſen anfing über die Berge hin, dann ſagte etwa der Großvater: „Heut' bleibſt du da, Heidi; ein Kleines, wie du biſt, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felſen in's Thal hinabwehen.“ Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, ſah er ſehr unglücklich aus, denn er ſah lauter Mißgeſchick vor ſich: einmal wußte er vor Langerweile nun gar nicht mehr was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um ſein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Gaißen ſo ſtörrig an dieſen Tagen, daß er die doppelte Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch ſo an Heidi's Geſellſchaft gewöhnt, daß ſie nicht vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals unglücklich, denn es ſah immer irgend etwas Erfreuliches vor ſich; am liebſten ging es ſchon mit Hirt und Gaißen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo ſo mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all' den verſchieden gearteten Gaißen, aber auch das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war ſehr unterhaltend für Heidi; und traf es ſich, daß er gerade die ſchönen runden Gaißkäschen zubereitete, wenn es daheimbleiben mußte, ſo war das ein ganz beſonderes Vergnügen, dieſer merkwürdigen Thätigkeit zuzuſchauen, wobei der Großvater beide Arme bloß machte und damit in dem großen Keſſel herumrührte. Aber vor Allem anziehend war für das Heidi an ſolchen Windtagen das Wogen und Rauſchen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da mußte es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem Andern weg, was es auch ſein mochte, denn ſo ſchön und wunderbar war gar Nichts, wie dieſes tiefe, geheimnißvolle Toſen in den Wipfeln da droben; da ſtand Heidi unten und lauſchte hinauf und konnte niemals genug bekommen zu ſehen und zu hören, wie das wehte und wogte und rauſchte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht mehr heiß wie im Sommer und Heidi ſuchte ſeine Strümpfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer friſcher und wenn das Heidi unter den Tannen ſtand, wurde es durchblaſen wie ein dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm. Dann wurde es kalt und der Peter hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen herauf kam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel über Nacht ein tiefer Schnee und am Morgen war die ganze Alm ſchneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu ſehen ringsum und um. Da kam der Gaißen-Peter nicht mehr mit ſeiner Heerde, und Heidi ſchaute ganz verwundert durch das kleine Fenſter, denn nun fing es wieder zu ſchneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee ſo hoch wurde, daß er bis an's Fenſter hinaufreichte und dann noch höher, daß man das Fenſter gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen. Das kam dem Heidi ſo luſtig vor, daß es immer von einem Fenſter zum andern rannte, um zu ſehen, wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, daß man müßte ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht ſo weit und am andern Tag ging der Großvater hinaus, denn nun ſchneite es nicht mehr, und ſchaufelte um's ganze Haus herum und warf große, große Schneehaufen auf einander, daß es war wie hier ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren die Fenſter wieder frei und auch die Thüre, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer ſaßen, Jedes auf ſeinem Dreifuß, denn der Großvater hatte längſt auch einen für das Kind gezimmert, da polterte auf einmal etwas heran und ſchlug immer zu gegen die Holzſchwelle und machte endlich die Thür auf. Es war der Gaißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart ſo gegen die Thüre gepoltert, ſondern um ſeinen Schnee von den Schuhen abzuſchlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war von Schnee bedeckt, denn er hatte ſich durch die hohen Schichten ſo durchkämpfen müſſen, daß ganze Maſſen an ihm hängen geblieben und auf ihm feſtgefroren waren, denn es war ſehr kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zum Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht geſehn. „Guten Abend“, ſagte er im Eintreten, ſtellte ſich gleich ſo nah als möglich an's Feuer heran und ſagte weiter Nichts mehr, aber ſein ganzes Geſicht lachte vor Vergnügen, daß er da war. Heidi ſchaute ihn ſehr verwundert an, denn nun er ſo nah am Feuer war, fing es überall an ihm zu thauen an, ſo daß der ganze Peter anzuſehen war wie ein gelinder Waſſerfall. „Nu General, wie ſteht's?“ ſagte jetzt der Großvater. Nun biſt du ohne Armee und mußt am Griffel nagen!“ „Warum muß er am Griffel nagen, Großvater?“ fragte Heidi ſogleich mit Wißbegierde. „Im Winter muß er in die Schule gehen“, erklärte der Großvater, „da lernt man leſen und ſchreiben und das geht manchmal ſchwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt, iſt's nicht wahr, General?“ „Ja, 's iſt wahr“, beſtätigte Peter. Jetzt war Heidi's Theilnahme an der Sache wach geworden und es hatte ſehr viele Fragen über die Schule und Alles, was da begegnete und zu hören und zu ſehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloß über einer Unterhaltung, an der Peter Theil nehmen mußte, ſo konnte er derweilen ſchön trocknen von oben bis unten. Es war immer eine große Anſtrengung für ihn, ſeine Vorſtellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte, aber diesmal hatte er's beſonders ſtreng, denn kaum hatte er eine Antwort zu Stande gebracht, ſo hatte ihm Heidi ſchon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meiſtens ſolche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten. Der Großvater hatte ſich ganz ſtill verhalten während dieſer Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz luſtig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, daß er zuhörte. „So General, nun warſt du im Feuer und brauchſt Stärkung, komm', halt mit!“ Damit ſtand der Großvater auf und holte das Abendeſſen aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tiſch. Unterdeſſen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Großvater, nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu Zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, daß es ſich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und ſtand und ſaß. So hatten ſie alle drei gut Platz zum Sitzen und der Peter that ſeine runden Augen ganz weit auf, als er ſah, welch ein mächtiges Stück von dem ſchönen getrockneten Fleiſch der Alm-Oehi ihm auf ſeine dicke Brodſchnitte legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln und Peter ſchickte ſich zur Heimkehr an. Als er nun „gute Nacht“ und „Dank Euch Gott“ geſagt hatte und ſchon unter der Thür war, kehrte er ſich noch einmal um und ſagte: „Am Sonntag komm' ich wieder, heut' über acht Tag', und du ſollteſt auch einmal zur Großmutter kommen, hat ſie geſagt.“ Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, daß es zu Jemandem gehen ſolle, aber er faßte auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war ſein Erſtes, daß es erklärte: „Großvater, jetzt muß ich gewiß zu der Großmutter hinunter, ſie erwartet mich.“ „Es hat zu viel Schnee“, erwiderte der Großvater abwehrend. Aber das Vorhaben ſaß feſt in Heidi's Sinn, denn die Großmutter hatte es ja ſagen laſſen, ſo mußte es ſein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht fünf und ſechs Mal ſagte: „Großvater, jetzt muß ich gewiß gehn, die Großmutter wartet ja immer auf mich.“ Am vierten Tag, als es draußen kniſterte und knarrte vor Kälte bei jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine ſchöne Sonne in's Fenſter guckte gerade auf Heidi's hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl ſaß, da begann es wieder ſein Sprüchlein: „Heut' muß ich aber gewiß zur Großmutter gehn, es währt ihr ſonſt zu lange.“ Da ſtand der Großvater auf vom Mittagstiſch, ſtieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der Heidi's Bettdecke war und ſagte: „So komm!“ In großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz ſtill und auf allen Aeſten lag der weiße Schnee und in dem Sonnenſchein ſchimmerte und funkelte es überall von den Bäumen in ſolcher Pracht, daß Heidi hoch aufſprang vor Entzücken und ein Mal über's andere ausrief: „Komm' heraus, Großvater, komm' heraus! Es iſt lauter Silber und Gold an den Tannen!“ Denn der Großvater war in den Schopf hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßſchlitten, da war vorn eine Stange angebracht und von dem flachen Sitz konnte man die Füße nach vorn hinunter halten und gegen den Schneeboden ſtemmen und der Fahrt die Weiſung geben. Hier ſetzte ſich der Großvater hin, nachdem er erſt die Tannen ringsum mit Heidi hatte beſchauen müſſen, nahm das Kind auf ſeinen Schooß, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es hübſch warm bleibe, und drückte es feſt mit dem linken Arm an ſich, denn das war nöthig bei der kommenden Fahrt. Dann umfaßte er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da ſchoß der Schlitten davon die Alm hinab mit einer ſolchen Schnelligkeit, daß das Heidi meinte, es fliege in der Luft, wie ein Vogel und laut aufjauchzte. Auf einmal ſtand der Schlitten ſtill, gerade bei der Hütte vom Gaißen- Peter. Der Großvater ſtellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus ſeiner Decke heraus und ſagte: „So, nun geh' hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm' wieder heraus und mach' dich auf den Weg.“ Dann kehrte er um mit ſeinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf. Heidi machte die Thüre auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da ſah es ſchwarz aus und ein Heerd war da und einige Schüſſelchen auf einem Geſtell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder eine Thüre, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater, wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, ſondern es war ein kleines, uraltes Häuschen, wo Alles eng war und ſchmal und dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, ſtand es gleich vor einem Tiſch, daran ſaß eine Frau und flickte an Peter's Wams, denn dieſes erkannte Heidi ſogleich. In der Ecke ſaß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und ſpann. Heidi wußte gleich, woran es war; es ging gradaus auf das Spinnrad zu und ſagte: „Guten Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir; haſt du gedacht, es währe lang, bis ich komme?“ Die Großmutter erhob den Kopf und ſuchte die Hand, die gegen ſie ausgeſtreckt war, und als ſie dieſe erfaßt hatte, befühlte ſie dieſelbe erſt eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann ſagte ſie: „Biſt du das Kind droben beim Alm-Oehi, biſt du das Heidi?“ „Ja, ja“, beſtätigte das Kind, „jetzt gerade bin ich mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren.“ „Wie iſt das möglich! Du haſt ja eine ſo warme Hand! Sag', Brigitte, iſt der Alm-Oehi ſelber mit dem Kind heruntergekommen?“ Peter's Mutter, die Brigitte, die am Tiſch geflickt hatte, war aufgeſtanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis unten; dann ſagte ſie: „Ich weiß nicht, Mutter, ob der Oehi ſelber heruntergekommen iſt mit ihm, es iſt nicht glaublich, das Kind wird's nicht recht wiſſen.“ Aber das Heidi ſah die Frau ſehr beſtimmt an und gar nicht, als ſei es im Ungewiſſen, und ſagte: „Ich weiß ganz gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeſchlittet iſt, das iſt der Großvater.“ „Es muß doch etwas daran ſein, was der Peter ſo geſagt hat den Sommer durch vom Alm-Oehi, wenn wir dachten, er wiſſe es nicht recht“, ſagte die Großmutter, „wer hätte freilich auch glauben können, daß ſo etwas möglich ſei, ich dachte, das Kind lebe keine drei Wochen da oben. Wie ſieht es auch aus, Brigitte?“ Dieſe hatte das Kind unterdeſſen ſo von allen Seiten angeſehn, daß ſie nun wohl berichten konnte, wie es ausſah. „Es iſt ſo fein gegliedert, wie die Adelheid war“, gab ſie zur Antwort, „aber es hat die ſchwarzen Augen und das krauſe Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben, ich glaube, es ſieht den Zweien gleich.“ Unterdeſſen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und Alles genau betrachtet, was da zu ſehen war. Jetzt ſagte es: „Sieh', Großmutter, dort ſchlägt es einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einſchlagen, daß er wieder feſt hält, ſonſt ſchlägt er auch einmal eine Scheibe ein; ſieh', ſieh', wie er thut!“ „Ach du gutes Kind,“ ſagte die Großmutter, „ſehn kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden, da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt und er kann überall herein blaſen, es hält Nichts mehr zuſammen und in der Nacht, wenn ſie Beide ſchlafen, iſt es mir manchmal ſo angſt und bang, es falle Alles über uns zuſammen und ſchlage uns alle Drei todt; ach und da iſt kein Menſch, der etwas ausbeſſern könnte an der Hütte, der Peter verſteht's nicht.“ „Aber warum kannſt du denn nicht ſehen, wie der Laden thut, Großmutter? Sieh' jetzt wieder, dort gerade dort.“ Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger. „Ach Kind, ich kann ja gar Nichts ſehen, gar Nichts, nicht nur den Laden nicht“, klagte die Großmutter. „Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, daß es recht hell wird, kannſt du dann ſehen, Großmutter?“ „Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir Niemand mehr hell machen.“ „Aber wenn du hinausgehſt in den ganz weißen Schnee, dann wird es dir gewiß hell; komm' nur mit mir, Großmutter, ich will dir's zeigen.“ Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte ſie fortziehn, denn es fing an, ihm ganz ängſtlich zu Muth zu werden, daß es ihr nirgends hell wurde. „Laß mich nur ſitzen, du gutes Kind, es bleibt doch dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, ſie dringt nicht mehr in meine Augen.“ „Aber dann doch im Sommer, Großmutter“, ſagte Heidi immer ängſtlicher nach einem guten Ausweg ſuchend, „weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann gute Nacht ſagt und die Berge alle feuerroth ſchimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder ſchön hell?“ „Ach Kind, ich kann ſie nie mehr ſehen, die feurigen Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr.“ Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer ſchluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar Niemand?“ Die Großmutter ſuchte nun das Kind zu tröſten, aber es gelang ihr nicht ſo bald. Heidi weinte faſt nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch faſt nicht mehr aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte ſchon allerhand probiert, um das Kind zu beſchwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, daß es ſo jämmerlich ſchluchzen mußte. Jetzt ſagte ſie: „Komm', du gutes Heidi, komm' hier heran, ich will dir etwas ſagen. Siehſt du, wenn man Nichts ſehen kann, dann hört man ſo gern ein freundliches Wort und ich höre es gern, wenn du redeſt; komm', ſetz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du machſt da droben und was der Großvater macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich ſeit manchem Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter, aber der ſagt nicht viel.“ Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wiſchte raſch ſeine Thränen weg und ſagte tröſtlich: „Wart' nur, Großmutter, ich will Alles dem Großvater ſagen, er macht dir ſchon wieder hell und macht, daß die Hütte nicht zuſammenfällt, er kann Alles wieder in Ordnung machen.“ Die Großmutter ſchwieg ſtille, und nun fing Heidi an, ihr mit großer Lebendigkeit zu erzählen von ſeinem Leben mit dem Großvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Großvater, was er Alles aus Holz machen könne, Bänke und Stühle und ſchöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das Heu hineinlegen könnte, und einen großen neuen Waſſertrog zum Baden im Sommer, und ein neues Milchſchüſſelchen und Löffel, und Heidi wurde immer eifriger im Beſchreiben all der ſchönen Sachen, die ſo auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen und wie es dann neben dem Großvater ſtehe und ihm zuſchaue und wie es das Alles auch einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer Aufmerkſamkeit zu, und von Zeit zu Zeit ſagte ſie dazwiſchen: „Hörſt du's auch, Brigitte? Hörſt du, was es vom Oehi ſagt?“ Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes Gepolter an der Thüre, und herein ſtampfte der Peter, blieb aber ſogleich ſtille ſtehn und ſperrte ſeine runden Augen ganz erſtaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und ſchnitt die allerfreundlichſte Grimaſſe, als es ihm ſogleich zurief: „Guten Abend, Peter!“ „Iſt denn das möglich, daß der ſchon aus der Schule kommt“, rief die Großmutter ganz verwundert aus; „ſo geſchwind iſt mir ſeit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Leſen?“ „Gleich“, gab der Peter zur Antwort. „So, ſo“, ſagte die Großmutter ein wenig ſeufzend, „ich habe gedacht, es gebe vielleicht eine Aenderung auf die Zeit, wenn du dann zwölf Jahr alt wirſt gegen den Hornung hin.“ „Warum muß es eine Aenderung geben, Großmutter?“ fragte Heidi gleich mit Intereſſe. „Ich meine nur, daß er es etwa noch hätte lernen können“, ſagte die Großmutter, „das Leſen mein' ich. Ich habe dort oben auf dem Geſtell ein altes Gebetbuch, da ſind ſchöne Lieder drin, die habe ich ſo lange nicht mehr gehört, und im Gedächtniß habe ich ſie auch nicht mehr, da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun leſen lerne, ſo könne er mir etwa ein gutes Lied leſen, aber er kann es nicht lernen, es iſt ihm zu ſchwer.“ „Ich denke, ich muß Licht machen, es wird ja ſchon ganz dunkel“, ſagte jetzt Peter's Mutter, die immer emſig am Wams fortgeflickt hatte, „der Nachmittag iſt mir auch vergangen, ohne daß ich's merkte.“ Nun ſprang Heidi von ſeinem Stühlchen auf, ſtreckte eilig ſeine Hand aus und ſagte: „Gut' Nacht, Großmutter, ich muß auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird“, und hinter einander bot es dem Peter und ſeiner Mutter die Hand und ging der Thüre zu. Aber die Großmutter rief beſorgt: „Wart', wart', Heidi, ſo allein mußt du nicht fort, der Peter muß mit dir, hörſt du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, daß es nicht umfällt, und ſteh' nicht ſtill mit ihm, daß es nicht friert, hörſt du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?“ „Ich habe gar kein Halstuch an“, rief Heidi zurück, „aber ich will ſchon nicht frieren“; damit war es zur Thür hinaus und huſchte ſo behend weiter, daß der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter rief jammernd: „Lauf' ihm nach, Brigitte, lauf', das Kind muß ja erfrieren, ſo bei der Nacht, nimm mein Halſtuch mit, lauf' ſchnell!“ Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan gethan, ſo ſahen ſie von oben herunter den Großvater kommen und mit wenigen rüſtigen Schritten ſtand er vor ihnen. „Recht ſo, Heidi, Wort gehalten!“ ſagte er, packte das Kind wieder feſt in ſeine Decke ein, nahm es auf ſeinen Arm und ſtieg den Berg hinauf. Eben hatte die Brigitte noch geſehen, wie der Alte das Kind wohl verpackt auf ſeinen Arm genommen und den Rückweg angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein und erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was ſie geſehen hatte. Auch dieſe mußte ſich ſehr verwundern und ein Mal über das andere ſagen: „Gott Lob und Dank, daß er ſo iſt mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir läßt, das Kind hat mir ſo wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie kann es ſo kurzweilig erzählen!“ Und immer wieder freute ſich die Großmutter, und bis ſie in's Bett ging, ſagte ſie immer wieder: „Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch Etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!“ Und die Brigitte ſtimmte jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder daſſelbe ſagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zuſtimmend mit dem Kopf und zog ſeinen Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und ſagte: „Hab's ſchon gewußt.“ Unterdeſſen redete das Heidi in ſeinem Sack drinnen immerzu an den Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen Umſchlag dringen konnte und er daher kein Wort verſtand, ſagte er: „Wart' ein wenig, bis wir daheim ſind, dann ſag's.“ Sobald er nun, oben angekommen, in ſeine Hütte eingetreten war und Heidi aus ſeiner Hülle herausgeſchält hatte, ſagte es: „Großvater, morgen müſſen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden feſtſchlagen bei der Großmutter und ſonſt noch viele Nägel einſchlagen, denn es kracht und klappert Alles bei ihr.“ „Müſſen wir? So, das müſſen wir? Wer hat dir das geſagt?“ fragte der Großvater. „Das hat mir kein Menſch geſagt, ich weiß es ſonſt“, entgegnete Heidi, „denn es hält Alles nicht mehr feſt und es iſt der Großmutter angſt und bang, wenn ſie nicht ſchlafen kann und es ſo thut, und ſie denkt: Jetzt fällt Alles ein und gerade auf unſre Köpfe, und der Großmutter kann man gar nicht mehr hell machen, ſie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannſt es ſchon, Großvater, denk' nur, wie traurig es iſt, wenn ſie immer im Dunkeln iſt und es ihr dann noch angſt und bang iſt und es kann ihr kein Menſch helfen, als du! Morgen wollen wir gehen und ihr helfen, gelt, Großvater, wir wollen?“ Heidi hatte ſich an den Großvater angeklammert und ſchaute mit zweifelloſem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte ſchaute eine kleine Weile auf das Kind nieder, dann ſagte er: „Ja, Heidi, wir wollen machen, daß es nicht mehr ſo klappert bei der Großmutter, das können wir, morgen thun wir's.“ Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief ein Mal um's andere: „Morgen thun wir's! Morgen thun wir's!“ Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieſelbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag ſtellte der Alte das Kind vor der Thüre der Gaißenpeter-Hütte nieder und ſagte: „Nun geh' hinein, und wenn's Nacht wird, komm' wieder. Dann legte er den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum. Kaum hatte Heidi die Thüre aufgemacht und war in die Stube hineingeſprungen, ſo rief ſchon die Großmutter aus der Ecke: „Da kommt das Kind! Das iſt das Kind!“ Und ließ vor Freuden den Faden los und das Rädchen ſtehen und ſtreckte beide Hände nach dem Kinde aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an ſie heran, ſetzte ſich darauf und hatte der Großmutter ſchon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertönten ſo gewaltige Schläge an das Haus, daß die Großmutter vor Schrecken ſo zuſammenfuhr, daß ſie faſt das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: „Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es fällt Alles zuſammen!“ Aber Heidi hielt ſie feſt um den Arm und ſagte tröſtend: „Nein, nein, Großmutter, erſchrick du nur nicht, das iſt der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er Alles feſt, daß es dir nicht mehr angſt und bang wird.“ „Ach iſt auch das möglich! Iſt auch ſo etwas möglich! So hat uns doch der liebe Gott nicht ganz vergeſſen!“ rief die Großmutter aus. „Haſt du's gehört, Brigitte, was es iſt, hörſt du's? Wahrhaftig, es iſt ein Hammer! Geh' hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Oehi iſt, ſo ſag' ihm, er ſoll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, daß ich ihm auch danken kann.“ Die Brigitte ging hinaus. Eben ſchlug der Alm-Oehi mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer ein; Brigitte trat an ihn heran und ſagte: „Ich wünſche Euch guten Abend, Oehi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu danken, daß Ihr uns einen ſolchen Dienſt thut, und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; ſicher, es hätte uns das nicht grad Einer gethan, wir wollen Euch auch dran denken, denn ſicher —“ „Macht's kurz“, unterbrach ſie der Alte hier; „was Ihr vom Alm-Oehi haltet, weiß ich ſchon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find' ich ſelber.“ Brigitte gehorchte ſogleich, denn der Oehi hatte eine Art, der man ſich nicht leicht widerſetzte. Er klopfte und hämmerte um das ganze Häuschen herum, ſtieg dann das ſchmale Treppchen hinauf bis unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeſchlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdeſſen war auch ſchon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergeſtiegen und hatte ſeinen Schlitten hinter dem Gaißenſtall hervorgezogen, als auch ſchon Heidi aus der Thüre trat und vom Großvater wie geſtern verpackt auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf ſitzend, wäre die ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre faſt oder ganz erfroren. Das wußte der Großvater wohl und hielt das Kind ganz warm in ſeinem Arm. So ging der Winter dahin. In das freudloſe Leben der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte ſie immer Etwas in Ausſicht, nach dem ſie verlangen konnte. Vom frühen Morgen an lauſchte ſie auch ſchon auf den trippelnden Schritt, und ging dann die Thüre auf und das Kind kam wirklich daher geſprungen, dann rief ſie jedes Mal in lauter Freude: „Gott Lob, da kommt's wieder!“ Und Heidi ſetzte ſich zu ihr und plauderte und erzählte ſo luſtig von Allem, was es wußte, daß es der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahin gingen, ſie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte ſie mehr ſo wie früher: „Brigitte, iſt der Tag noch nicht um?“ Sondern jedes Mal, wenn Heidi die Thür hinter ſich ſchloß, ſagte ſie: „Wie war doch der Nachmittag ſo kurz, iſt es nicht wahr, Brigitte?“ Und dieſe ſagte: „Doch ſicher, es iſt mir, wir haben erſt die Teller vom Eſſen weggeſtellt.“ Und die Großmutter ſagte wieder: „Wenn mir nur der Herr Gott das Kind erhält und dem Alm-Oehi den guten Willen! Sieht es auch geſund aus, Brigitte?“ Und jedes Mal erwiderte dieſe: „Es ſieht aus wie ein Erdbeerapfel.“ Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, daß ihr gar Niemand, auch der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer wieder eine große Betrübniß; aber die Großmutter ſagte ihm immer wieder, daß ſie am wenigſten davon leide, wenn es bei ihr ſei, und Heidi kam auch an jedem ſchönen Wintertag heruntergefahren auf ſeinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, ſo fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Gaißenpeter-Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch ſeine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Großmutter ſagte, ſo habe ſie manchen Winter lang nicht mehr ſchlafen können, das wolle ſie auch dem Oehi nie vergeſſen. 5. Es kommt ein Beſuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat. Schnell war der Winter und noch ſchneller der fröhliche Sommer darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte ſich ſchon wieder dem Ende zu. Heidi war glücklich und froh, wie die Vöglein des Himmels und freute ſich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage, da der warme Föhn durch die Tannen brauſen und den Schnee wegfegen würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi das Schönſte mit ſich brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi ſtand nun in ſeinem achten Jahre; es hatte vom Großvater allerlei Kunſtgriffe erlernt; mit den Gaißen wußte es ſo gut umzugehen, als nur Einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn ſie nur ſeine Stimme hörten. In dieſem Winter hatte Peter ſchon zwei Mal vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Oehi ſollte das Kind, das bei ihm ſei, nun in die Schule ſchicken, es habe ſchon mehr als das Alter und hätte ſchon im letzten Winter kommen ſollen. Der Oehi hatte beide Male dem Schullehrer ſagen laſſen, wenn er Etwas mit ihm wollte, ſo ſei er daheim, das Kind ſchicke er nicht in die Schule. Dieſen Bericht hatte der Peter richtig überbracht. Als die Märzſonne den Schnee an den Abhängen geſchmolzen hatte und überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Thal und auf der Alm die Tannen ihre Schneelaſt abgeſchüttelt hatten und die Aeſte wieder luſtig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her, von der Hausthür zum Gaißenſtall und von da unter die Tannen und dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden ſei, und gleich nachher kam es wieder nachzuſehen, denn es konnte es nicht erwarten, daß Alles wieder grün und der ganze ſchöne Sommer mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam. Als Heidi ſo am ſonnigen Märzmorgen hin- und herrannte und jetzt wohl zum zehnten Mal über die Thürſchwelle ſprang, wäre es vor Schrecken faſt rückwärts wiederhineingefallen, denn auf einmal ſtand es vor einem ſchwarzen, alten Herrn, der es ganz ernſthaft anblickte. Als er aber ſeinen Schrecken ſah, ſagte er freundlich: „Du mußt nicht erſchrecken vor mir, die Kinder ſind mir lieb. Gib mir die Hand! du wirſt das Heidi ſein; wo iſt der Großvater?“ „Er ſitzt am Tiſch und ſchnitzt runde Löffel von Holz“, erklärte Heidi und machte nun die Thüre wieder auf. Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Oehi vor Jahren gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und ſein Nachbar war. Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der ſich über ſein Schnitzwerk hinbeugte und ſagte: „Guten Morgen, Nachbar.“ Verwundert ſchaute dieſer in die Höhe, ſtand dann auf und entgegnete: „Guten Morgen dem Herrn Pfarrer.“ Dann ſtellte er ſeinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: „Wenn der Herr Pfarrer einen Holzſitz nicht ſcheut, hier iſt einer.“ Der Herr Pfarrer ſetzte ſich. „Ich habe Euch lange nicht geſehen, Nachbar“, ſagte er dann. „Ich den Herrn Pfarrer auch nicht“, war die Antwort. „Ich komme heut', um Etwas mit Euch zu beſprechen“, fing der Herr Pfarrer wieder an, „ich denke, ihr könnt ſchon wiſſen, was meine Angelegenheit iſt, worüber ich mich mit Euch verſtändigen und hören will, was Ihr im Sinne habt.“ Der Herr Pfarrer ſchwieg und ſchaute auf Heidi, das an der Thüre ſtand und die neue Erſcheinung aufmerkſam betrachtete. „Heidi, geh' zu den Gaißen“, ſagte der Großvater. „Kannſt ein wenig Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme.“ Heidi verſchwand ſofort. „Das Kind hätte ſchon vor dem Jahr und noch ſicherer dieſen Winter die Schule beſuchen ſollen“, ſagte nun der Herr Pfarrer; „der Lehrer hat Euch mahnen laſſen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?“ „Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu ſchicken“, war die Antwort. Verwundert ſchaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten Armen auf ſeiner Bank ſaß und gar nicht nachgiebig ausſah. „Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?“ fragte jetzt der Herr Pfarrer. „Nichts, es wächſt und gedeiht mit den Gaißen und den Vögeln; bei denen iſt es ihm wohl und es lernt nichts Böſes von ihnen.“ „Aber das Kind iſt keine Gaiß und kein Vogel, es iſt ein Menſchenkind. Wenn es nichts Böſes lernt von dieſen ſeinen Kameraden, ſo lernt es auch ſonſt Nichts von ihnen, es ſoll aber Etwas lernen, und die Zeit dazu iſt da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu ſagen, Nachbar, damit Ihr Euch beſinnen und einrichten könnt den Sommer durch. Dieſes war der letzte Winter, den das Kind ſo ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächſten Winter kommt es zur Schule und zwar jeden Tag.“ „Ich thu's nicht, Herr Pfarrer“, ſagte der Alte unentwegt. „Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu bringen, wenn Ihr ſo eigenſinnig bei Eurem unvernünftigen Thun beharren wollt?“ ſagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. „Ihr ſeid weit in der Welt herumgekommen und habt viel geſehen und Vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einſicht zugetraut, Nachbar.“ „So“, ſagte jetzt der Alte und ſeine Stimme verrieth, daß es auch in ſeinem Innern nicht mehr ſo ganz ruhig war; „und meint denn der Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächſten Winter am eiſigen Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterſchicken, zwei Stunden weit und zur Nacht wieder heraufkommen laſſen, wenn's manchmal tobt und thut, daß Unſereiner faſt in Wind und Schnee erſticken müßte und dann ein Kind wie dieſes! Und vielleicht kann ſich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; ſie war mondſüchtig und hatte Zufälle, ſoll das Kind auch ſo Etwas holen mit der Anſtrengung? Es ſoll mir Einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, dann wollen wir ſehen, wer mich zwingt!“ „Ihr habt ganz Recht, Nachbar“, ſagte der Herr Pfarrer mit Freundlichkeit; „es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur Schule zu ſchicken; aber ich kann ſehen, das Kind iſt Euch lieb, thut um ſeinetwillen Etwas, das Ihr ſchon lange hättet thun ſollen, kommt wieder in's Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menſchen. Was iſt das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und Menſchen! Wenn Euch einmal Etwas zuſtoßen würde hier oben, wer würde Euch beiſtehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, daß Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte und wie das zarte Kind es nur aushalten kann!“ „Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem Herrn Pfarrer ſagen, und dann noch Eins: ich weiß, wo es Holz gibt, und auch wann die gute Zeit iſt, es zu holen, der Herr Pfarrer darf in meinen Schopf hineinſehen, es iſt Etwas drinn, in meiner Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, iſt nicht für mich; die Menſchen da unten verachten mich und ich ſie auch, wir bleiben von einander, ſo iſt's Beiden wohl.“ „Nein, nein, es iſt Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt“, ſagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. „Mit der Verachtung der Menſchen dort unten iſt es ſo ſchlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar, ſucht Frieden mit Euerm Gott zu machen, bittet um Seine Verzeihung, wo Ihr ſie nöthig habt, und dann kommt und ſeht, wie anders Euch die Menſchen anſehen und wie wohl es Euch noch werden kann.“ Der Herr Pfarrer war aufgeſtanden; er hielt dem Alten die Hand hin und ſagte nochmals mit Herzlichkeit: „Ich zähle darauf, Nachbar, im nächſten Winter ſeid Ihr wieder unten bei uns und wir ſind die alten, guten Nachbarn. Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgeſöhnt mit Gott und den Menſchen.“ Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und ſagte feſt und beſtimmt: „Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht, ich ſag' es ſicher und ohne Wandel: das Kind ſchick' ich nicht, und herunter komm' ich nicht.“ „So helf' Euch Gott!“ ſagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter. Der Alm-Oehi war verſtimmt. Als Heidi am Nachmittag ſagte: „Jetzt wollen wir zur Großmutter“, erwiderte er kurz: „Heut' nicht.“ Den ganzen Tag ſprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: „Gehen wir heut' zur Großmutter?“ war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und ſagte nur: „Wollen ſehen.“ Aber noch bevor die Schüſſelchen vom Mittageſſen weggeſtellt waren, trat ſchon wieder ein Beſuch zur Thür herein, es war die Baſe Dete. Sie hatte einen ſchönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder drauf und ein Kleid, das Alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Oehi ſchaute ſie an von oben bis unten und ſagte kein Wort. Aber die Baſe Dete hatte im Sinn, ein ſehr freundliches Geſpräch zu führen, denn ſie fing gleich an zu rühmen und ſagte, das Heidi ſehe ſo gut aus, ſie habe es faſt nicht mehr gekannt und man könne ſchon ſehen, daß es ihm nicht ſchlecht gegangen ſei beim Großvater. Sie habe aber gewiß auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn ſie habe ja ſchon begreifen können, daß ihm das Kleine im Weg ſein müſſe, aber in jenem Augenblick habe ſie es ja nirgends ſonſt hinthun können; ſeither aber habe ſie Tag und Nacht nachgeſonnen, wo ſie das Kind etwa unterbringen könnte, und deßwegen komme ſie auch heute, denn auf einmal habe ſie Etwas vernommen, da könne das Heidi zu einem ſolchen Glück kommen, daß ſie es gar nicht habe glauben wollen. Dann ſei ſie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen, und nun könne ſie ſagen, es ſei Alles ſo gut wie in Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Glück, wie unter Hunderttauſenden nicht Eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrſchaft, die faſt im ſchönſten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges Töchterlein, das müſſe immer im Rollſtuhl ſitzen, denn es ſei auf einer Seite lahm und ſonſt nicht geſund, und ſo ſei es faſt immer allein und müſſe auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer, und das ſei ihm ſo langweilig und auch ſonſt hätte es gern eine Geſpielin im Haus, und da haben ſie ſo davon geredet bei ihrer Herrſchaft, und wenn man nur ſo ein Kind finden könnte, wie die Dame beſchrieb, die in dem Haus die Wirthſchaft führte, denn ihre Herrſchaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein eine gute Geſpielin gönnen. Die Wirthſchaftsdame hatte nun geſagt, ſie wolle ſo ein recht unverdorbenes, ſo ein eigenartiges, das nicht ſei wie alle, die man ſo alle Tage ſehe. Da habe ſie ſelbſt denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und ſei gleich hingelaufen und habe der Dame Alles ſo beſchrieben vom Heidi und ſo von ſeinem Charakter, und die Dame habe ſogleich zugeſagt. Nun könne gar kein Menſch wiſſen, was dem Heidi Alles an Glück und Wohlfahrt bevorſtehe, denn wenn es dann einmal dort ſei und die Leute es gern mögen und es etwa mit dem eignen Töchterchen Etwas geben ſollte, man könne ja nie wiſſen, es ſei doch ſo ſchwächlich, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, ſo könnte ja das unerhörteſte Glück — „Biſt du bald fertig?“ unterbrach hier der Oehi, der bis dahin kein Wort dazwiſchengeredet hatte. „Pah“, gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, „Ihr thut gerade, wie wenn ich Euch das ordinärſte Zeug geſagt hätte und iſt doch durch's ganze Prättigau auf und ab nicht Einer, der nicht Gott im Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch gebracht habe.“ „Bring' ſie, wem du willſt, ich will Nichts davon“, ſagte der Oehi trocken. Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: „Ja, wenn Ihr es ſo meint, Oehi, ſo will ich Euch denn ſchon auch ſagen, wie ich es meine: das Kind iſt jetzt acht Jahre alt und kann Nichts und weiß Nichts und Ihr wollt es Nichts lernen laſſen; Ihr wollt es in keine Schule und in keine Kirche ſchicken, das haben ſie mir geſagt unten im Dörfli, und es iſt meiner einzigen Schweſter Kind, ich hab' es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück erlangen kann, wie jetzt das Heidi, ſo kann ihm nur Einer davor ſein, dem es um alle Leute gleich iſt und der Keinem etwas Gutes wünſcht. Aber ich gebe nicht nach, das ſag' ich Euch, und die Leute habe ich alle für mich, es iſt kein Einziger unten im Dörfli, der nicht mir hilft und gegen Euch iſt, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen laſſen, ſo beſinnt Euch wohl, Oehi, es gibt noch Sachen, die Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet, denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu thun hat, ſo wird noch Manches aufgeſpürt, an das Keiner mehr denkt.“ „Schweig!“ donnerte der Oehi heraus, und ſeine Augen flammten wie Feuer. „Nimm's und verdirb's! Komm' mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich will's nie ſehen mit dem Federnhut auf dem Kopf und Worten im Mund, wie dich heut'!“ Der Oehi ging mit großen Schritten zur Thür hinaus. „Du haſt den Großvater bös gemacht“, ſagte Heidi und blitzte mit ſeinen ſchwarzen Augen die Baſe wenig freundlich an. „Er wird ſchon wieder gut, komm' jetzt“, drängte die Baſe, „wo ſind deine Kleider?“ „Ich komme nicht“, ſagte Heidi. „Was ſagſt du?“ fuhr die Baſe auf; dann änderte ſie den Ton ein wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: „Komm', komm', du verſtehſt's nicht beſſer, du wirſt es ſo gut haben, wie du gar nicht weißt.“ Dann ging ſie an den Schrank, nahm Heidi's Sachen hervor und packte ſie zuſammen: „So, komm' jetzt, nimm dort dein Hütchen, es ſieht nicht ſchön aus, aber es iſt gleich für einmal, ſetz' es auf und mach', daß wir fortkommen.“ „Ich komme nicht“, wiederholte Heidi. „Sei doch nicht ſo dumm und ſtörrig, wie eine Gaiß, denen haſt du's abgeſehen. Begreif' doch nur, jetzt iſt der Großvater bös, du haſt's ja gehört, daß er geſagt hat, wir ſollen ihm nicht mehr vor Augen kommen, er will es nun haben, daß du mit mir gehſt, und jetzt mußt du ihn nicht noch böſer machen. Du weißt gar nicht, wie ſchön es iſt in Frankfurt und was du Alles ſehen wirſt, und gefällt es dir dann nicht, ſo kannſt du wieder heimgehen; bis dahin iſt der Großvater dann wieder gut.“ „Kann ich grad' wieder umkehren und heimkommen heut' Abend?“ fragte Heidi. „Ach was, komm' jetzt! Ich ſag' dir's ja, du kannſt wieder heim, wann du willſt. Heut' gehen wir bis nach Mayenfeld hinunter und morgen früh ſitzen wir in der Eiſenbahn, und mit der biſt du nachher im Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen.“ Die Baſe Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an die Hand genommen, ſo gingen ſie den Berg hinunter. Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule in's Dörfli hinunter, oder ſollte doch dahin gehen, er machte aber hie und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze Nichts dahin zu gehen, das Leſen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und große Ruthen ſuchen, nütze Etwas, denn dieſe könne man brauchen. So kam er eben in die Nähe ſeiner Hütte von der Seite her mit ſichtlichem Erfolg ſeiner heutigen Beſtrebungen, denn er trug ein ungeheueres Bündel langer, dicker Haſelruthen auf der Achſel. Er ſtand ſtill und ſtarrte die zwei Entgegenkommenden an, bis ſie bei ihm ankamen; dann ſagte er: „Wo willſt du hin?“ „Ich muß nur geſchwind nach Frankfurt mit der Baſe“, antwortete Heidi, „aber ich will zuerſt noch zur Großmutter hinein, ſie wartet auf mich.“ „Nein, nein, keine Rede, es iſt ſchon viel zu ſpät“, ſagte die Baſe eilig und hielt das fortſtrebende Heidi feſt bei der Hand, „du kannſt dann gehen, wenn du wieder heimkommſt, komm' jetzt!“ Damit zog die Baſe das Heidi feſt weiter und ließ es nicht mehr los, denn ſie fürchtete, es könnte drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es wolle nicht fort, und die Großmutter könnte ihm helfen wollen. Der Peter ſprang in die Hütte hinein und ſchlug mit ſeinem ganzen Bündel Ruthen ſo furchtbar auf den Tiſch los, daß Alles erzitterte und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufſprang und laut aufjammerte. Der Peter hatte ſich Luft machen müſſen. „Was iſt's denn? was iſt's denn?“ rief angſtvoll die Großmutter, und die Mutter, die am Tiſch geſeſſen hatte und faſt aufgeflogen war bei dem Knall, ſagte in angeborner Langmuth: „Was haſt, Peterli, warum thuſt ſo wüſt?“ „Weil ſie das Heidi mitgenommen hat“, erklärte Peter. „Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?“ fragte die Großmutter jetzt mit neuer Angſt; ſie mußte aber ſchnell errathen haben, was vorging, die Tochter hatte ihr ja vor Kurzem berichtet, ſie habe die Dete geſehen zum Alm-Oehi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile, machte die Großmutter das Fenſter auf und rief flehentlich hinaus: „Dete, Dete, nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!“ Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl ahnen, was ſie rief, denn ſie faßte das Kind noch feſter und lief, was ſie konnte. Heidi widerſtrebte und ſagte: „Die Großmutter hat gerufen, ich will zu ihr.“ Aber das wollte die Baſe gerade nicht und beſchwichtigte das Kind, es ſolle nur ſchnell kommen jetzt, daß ſie nicht noch zu ſpät kommen, ſondern, daß ſie morgen weiter reiſen können, es könne ja dann ſehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, daß es gar nie mehr fort wolle dort, und wenn es doch heim wolle, ſo könne es ja gleich gehen und dann erſt noch der Großmutter Etwas mit heimbringen, was ſie freue. Das war eine Ausſicht für Heidi, die ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerſtreben. „Was kann ich der Großmutter heimbringen?“ fragte es nach einer Weile. „Etwas Gutes“, ſagte die Baſe, „ſo ſchöne, weiche Weißbrödchen, da wird ſie Freud' haben daran, ſie kann ja doch das harte, ſchwarze Brod faſt nicht mehr eſſen.“ „Ja, ſie gibt es immer wieder dem Peter und ſagt: ,Es iſt mir zu hart'; das habe ich ſelbſt geſehen“, beſtätigte das Heidi. „So wollen wir geſchwind gehen, Baſe Dete; dann kommen wir vielleicht heut' noch nach Frankfurt, daß ich bald wieder da bin mit den Brödchen.“ Heidi fing nun ſo zu rennen an, daß die Baſe mit ihrem Bündel auf dem Arm faſt nicht mehr nachkam. Aber ſie war ſehr froh, daß es ſo raſch ging, denn nun kamen ſie gleich zu den erſten Häuſern vom Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief ſie ſtracks durch, und das Kind zog dabei noch ſo ſtark an ihrer Hand, daß alle Leute es ſehen konnten, wie ſie um des Kindes willen ſo preſſiren mußte. So rief ſie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen Fenſtern und Thüren entgegentönten, nur immer zurück: „Ihr ſeht's ja, ich kann jetzt nicht ſtill ſtehen, das Kind preſſirt und wir haben noch weit.“ „Nimmſt's mit?“ „Läuft's dem Alm-Oehi fort?“ „Es iſt nur ein Wunder, daß es noch am Leben iſt!“ „Und dazu noch ſo rothbackig!“ So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, daß ſie ohne Verzug durchkam und keinen Beſcheid geben mußte und auch Heidi kein Wort ſagte, ſondern nur immer vorwärts ſtrebte in großem Eifer. Von dem Tage an machte der Alm-Oehi, wenn er herunterkam und durch's Dörfli ging, ein böſeres Geſicht, als je vorher. Er grüßte keinen Menſchen und ſah mit ſeinem Käſereff auf dem Rücken, mit dem ungeheuern Stock in der Hand und den zuſammengezogenen dicken Brauen ſo drohend aus, daß die Frauen zu den kleinen Kindern ſagten: „Gib Acht! Geh dem Alm-Oehi aus dem Weg, er könnte dir noch Etwas thun!“ Der Alte verkehrte mit keinem Menſchen im Dörfli, er ging nur durch und weit in's Thal hinab, wo er ſeine Käſe verhandelte und ſeine Vorräthe an Brod und Fleiſch einnahm. Wenn er ſo vorbeigegangen war im Dörfli, dann ſtanden hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zuſammen, und Jeder wußte etwas Beſonderes, was er am Alm-Oehi geſehen hatte, wie er immer wilder ausſehe und daß er jetzt keinem Menſchen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und Alle kamen darin überein, daß es ein großes Glück ſei, daß das Kind habe entweichen können, und man habe auch wohl geſehen, wie es fortgedrängt habe, ſo, als fürchte es, der Alte ſei ſchon hinter ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt unverrückt zum Alm-Oehi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr ſpinnen zu laſſen, oder das Geſponnene zu holen, dem erzählte ſie es immer wieder, wie gut und ſorgfältig der Alm-Oehi mit dem Kind geweſen ſei und was er an ihr und der Tochter gethan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne ſeine Hülfe gewiß ſchon zuſammengefallen wäre. So kamen denn auch dieſe Berichte in's Dörfli herunter; aber die Meiſten, die ſie vernahmen, ſagten dann, die Großmutter ſei vielleicht zu alt zum Begreifen, ſie werde es wohl nicht recht verſtanden haben, ſie werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil ſie Nichts mehr ſehe. Der Alm-Oehi zeigte ſich jetzt nie mehr bei den Gaißenpeters; es war gut, daß er die Hütte ſo feſt zuſammengenagelt hatte, denn ſie blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verſtrich, an dem ſie nicht klagend ſagte: „Ach, mit dem Kind iſt alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage ſind ſo leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh' ich ſterben muß!“ 6. Ein neues Capitel und lauter neue Dinge. Im Hauſe des Herrn Seſemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein, Klara, in dem bequemen Rollſtuhl, in welchem es den ganzen Tag ſich aufhielt und von einem Zimmer in's andere geſtoßen wurde. Jetzt ſaß es im ſogenannten Studierzimmer, das neben der großen Eßſtube lag und wo vielerlei Geräthſchaften herumſtanden und lagen, die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, daß man hier gewöhnlich ſich aufhielt. An dem großen, ſchönen Bücherſchrank mit den Glasthüren konnte man ſehen, woher das Zimmer ſeinen Namen hatte, und daß es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der tägliche Unterricht ertheilt wurde. Klara hatte ein blaſſes, ſchmales Geſichtchen, aus dem zwei milde, blaue Augen herausſchauten, die in dieſem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren, die heute beſonders langſam zu gehen ſchien, denn Klara, die ſonſt kaum ungeduldig wurde, ſagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: „Iſt es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?“ Die Letztere ſaß ſehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstiſch und ſtickte. Sie hatte eine geheimnißvolle Hülle um ſich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der Perſönlichkeit einen feierlichen Anſtrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art von hochgebauter Kuppel, die ſie auf dem Kopfe trug. Fräulein Rottenmeier war ſchon ſeit mehreren Jahren, ſeitdem die Dame des Hauſes geſtorben war, im Hauſe Seſemann, führte die Wirthſchaft und hatte die Oberaufſicht über das ganze Dienſtperſonal. Herr Seſemann war meiſtens auf Reiſen, überließ daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, daß ſein Töchterchen in Allem eine Stimme haben ſolle und Nichts gegen ſeinen Wunſch geſchehen dürfe. Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da ſei, da die Erwarteten erſcheinen konnten, ſtand unten vor der Hausthüre die Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutſcher Johann, der eben vom Wagen geſtiegen war, ob ſie wohl Fräulein Rottenmeier ſo ſpät noch ſtören dürfe. „Das iſt nicht meine Sache“, brummte der Kutſcher; „klingeln Sie den Sebaſtian herunter, drinnen im Corridor.“ Dete that, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauſes kam die Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf ſeinem Aufwärterrock und faſt ebenſo großen, runden Augen im Kopf. „Ich wollte fragen, ob ich um dieſe Zeit Fräulein Rottenmeier noch ſtören dürfe“, brachte die Dete wieder an. „Das iſt nicht meine Sache“, gab der Bediente zurück; „klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der andern Klingel“, und ohne weitere Auskunft verſchwand der Sebaſtian. Dete klingelte wieder. Jetzt erſchien auf der Treppe die Jungfer Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes und einer ſpöttiſchen Miene auf dem Geſicht. „Was iſt?“ fragte ſie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete wiederholte ihr Geſuch. Jungfer Tinette verſchwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe herunter: „Sie ſind erwartet.“ Jetzt ſtieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich an der Thüre ſtehn, Heidi immer feſt an der Hand haltend, denn ſie war gar nicht ſicher, was mit dem Kinde etwa begegnen konnte auf dieſem ihm ſo fremden Boden. Fräulein Rottenmeier erhob ſich langſam von ihrem Sitz und kam näher, um die angekommene Geſpielin der Tochter des Hauſes zu betrachten. Der Anblick ſchien ſie nicht zu befriedigen. Heidi hatte ſein einfaches Baumwollröckchen an und ſein altes, zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte ſehr harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Thurmbau auf dem Kopf der Dame. „Wie heißeſt du?“ fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch ſie einige Minuten lang forſchend das Kind angeſehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte. „Heidi“, antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme. „Wie? Wie? das ſoll doch wohl kein chriſtlicher Name ſein? So biſt du doch nicht getauft worden. Welchen Namen haſt du in der Taufe erhalten?“ fragte Fräulein Rottenmeier weiter. „Das weiß ich jetzt nicht mehr“, entgegnete Heidi. „Iſt das eine Antwort!“ bemerkte die Dame mit Kopfſchütteln. „Jungfer Dete, iſt das Kind einfältig oder ſchnippiſch?“ „Mit Erlaubniß und wenn es die Dame geſtattet, ſo will ich gern reden für das Kind, denn es iſt ſehr unerfahren“, ſagte die Dete, nachdem ſie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für die unpaſſende Antwort. „Es iſt aber nicht einfältig und auch nicht ſchnippiſch, davon weiß es gar Nichts; es meint Alles ſo, wie es redet. Aber es iſt heut' zum erſten Mal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; aber es iſt willig und nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachſicht haben. Es iſt Adelheid getauft worden, wie ſeine Mutter, meine Schweſter ſelig.“ „Nun wohl, dieß iſt doch ein Name, den man ſagen kann“, bemerkte Fräulein Rottenmeier. „Aber, Jungfer Dete, ich muß Ihnen doch ſagen, daß mir das Kind für ſein Alter ſonderbar vorkommt. Ich hatte Ihnen mitgetheilt, die Geſpielin für Fräulein Klara müßte in ihrem Alter ſein, um denſelben Unterricht mit ihr zu verfolgen und überhaupt ihre Beſchäftigungen zu theilen. Fräulein Klara hat das zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt iſt das Kind?“ „Mit Erlaubniß der Dame“, fing die Dete wieder beredt an, „es war mir eben ſelber nicht mehr ſo ganz gegenwärtig, wie alt es ſei; es iſt wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's ſo ganz genau nicht ſagen, es wird ſo um das zehnte Jahr, oder ſo noch Etwas dazu ſein, nehm' ich an.“ „Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's geſagt“, erklärte Heidi. Die Baſe ſtieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und wurde keineswegs verlegen. „Was, erſt acht Jahr alt?“ rief Fräulein Rottenmeier mit einiger Entrüſtung aus. „Vier Jahre zu wenig! Was ſoll das geben! Und was haſt du denn gelernt? was haſt du für Bücher gehabt bei deinem Unterricht?“ „Keine“, ſagte Heidi. „Wie? Was? Wie haſt du denn leſen gelernt?“ fragte die Dame weiter. „Das hab' ich nicht gelernt und der Peter auch nicht“, berichtete Heidi. „Barmherzigkeit! du kannſt nicht leſen? du kannſt wirklich nicht leſen!“ rief Fräulein Rottenmeier im höchſten Schrecken aus. „Iſt es die Möglichkeit, nicht leſen! Was haſt du denn aber gelernt?“ „Nichts“, ſagte Heidi der Wahrheit gemäß. „Jungfer Dete“, ſagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in denen ſie nach Faſſung rang; „es iſt Alles nicht nach Abrede, wie konnten Sie mir dieſes Weſen zuführen?“ Aber die Dete ließ ſich nicht ſo bald einſchüchtern; ſie antwortete herzhaft: „Mit Erlaubniß der Dame, das Kind iſt gerade, was ich dachte, daß ſie haben wolle; die Dame hat mir beſchrieben, wie es ſein müſſe, ſo ganz apart und nicht wie die andern, und ſo mußte ich das kleine nehmen, denn die größeren ſind bei uns dann nicht mehr ſo apart, und ich dachte, dieſes paſſe wie gemacht auf die Beſchreibung. Jetzt muß ich aber gehen, denn meine Herrſchaft erwartet mich, ich will, wenn's meine Herrſchaft erlaubt, bald wieder kommen und nachſehen, wie es geht mit ihm.“ Mit einem Knix war die Dete zur Thür hinaus und die Treppe hinunter mit ſchnellen Schritten. Fräulein Rottenmeier ſtand einen Augenblick noch da; dann lief ſie der Dete nach, es war ihr wohl in den Sinn gekommen, daß ſie noch eine Menge von Dingen mit der Baſe beſprechen wollte, wenn das Kind wirklich da bleiben ſollte, und da war es doch nun einmal und, wie ſie bemerkte, hatte die Baſe feſt im Sinn, es da zu laſſen. Heidi ſtand noch auf demſelben Platz an der Thüre, wo es von Anfang an geſtanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Seſſel aus ſchweigend Allem zugeſehen. Jetzt winkte ſie Heidi: „Komm' hieher.“ Heidi trat an den Rollſtuhl heran. „Willſt du lieber Heidi heißen, oder Adelheid?“ fragte Klara. „Ich heiße nur Heidi und ſonſt Nichts“, war Heidi's Antwort. „So will ich dich immer ſo nennen“, ſagte Klara; „der Name gefällt mir für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie ein Kind geſehen, das ſo ausſieht wie du. Haſt du immer nur ſo kurzes, krauſes Haar gehabt?“ „Ja, ich denk's“, gab Heidi zur Antwort. „Biſt du gern nach Frankfurt gekommen?“ fragte Klara weiter. „Nein, aber morgen geh' ich dann wieder heim und bringe der Großmutter weiße Brödchen“, erklärte Heidi. „Du biſt aber ein curioſes Kind!“ fuhr jetzt Klara auf. „Man hat dich ja expreß nach Frankfurt kommen laſſen, daß du bei mir bleibeſt und die Stunden mit mir nehmeſt, und ſiehſt du, es wird nun ganz luſtig, weil du gar nicht leſen kannſt, nun kommt etwas ganz Neues in den Stunden vor. Sonſt iſt es manchmal ſo ſchrecklich langweilig und der Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn ſiehſt du, alle Morgen um zehn Uhr kommt der Herr Candidat, und dann fangen die Stunden an und dauern bis um zwei Uhr, das iſt ſo lange. Der Herr Candidat nimmt auch manchmal das Buch ganz nah an's Geſicht heran, ſo, als wäre er auf einmal ganz kurzſichtig geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter dem Buch, und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr großes Taſchentuch hervor und hält es vor das ganze Geſicht hin, ſo als ſei ſie ganz ergriffen von Etwas, das wir leſen, aber ich weiß recht gut, daß ſie nur ganz ſchrecklich gähnt dahinter, und dann ſollte ich auch ſo ſtark gähnen, und muß es immer herunterſchlucken, denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgähne, ſo holt Fräulein Rottenmeier gleich den Fiſchthran und ſagt, ich ſei wieder ſchwach, und Fiſchthran Nehmen iſt das Allerſchrecklichſte, da will ich noch lieber Gähnen ſchlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann zuhören, wie du leſen lernſt.“ Heidi ſchüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Leſenlernen hörte. „Doch, doch, Heidi, natürlich mußt du leſen lernen, alle Menſchen müſſen, und der Herr Candidat iſt ſehr gut, er wird niemals böſe, und er erklärt dir dann ſchon Alles. Aber ſiehſt du, wenn er etwas erklärt, dann verſtehſt du Nichts davon; dann mußt du nur warten und gar Nichts ſagen, ſonſt erklärt er dir noch viel mehr, und du verſtehſt es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du Etwas gelernt haſt und es weißt, dann verſtehſt du ſchon, was er gemeint hat.“ Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder in's Zimmer zurück; ſie hatte die Dete nicht mehr zurückrufen können und war ſichtlich aufgeregt davon, denn ſie hatte dieſer eigentlich gar nicht einläßlich ſagen können, was Alles nicht nach Abrede ſei bei dem Kinde, und da ſie nicht wußte, was nun zu thun ſei, um ihren Schritt rückgängig zu machen, war ſie um ſo aufgeregter, denn ſie ſelbſt hatte die ganze Sache angeſtiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer in's Eßzimmer hinüber, und von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar wieder um und fuhr hier den Sebaſtian an, der ſeine runden Augen eben nachdenklich über den gedeckten Tiſch gleiten ließ, um zu ſehen, ob ſein Werk keinen Mangel habe. „Denk' Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach' Er, daß man heut' noch zu Tiſch komme.“ Mit dieſen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebaſtian vorbei und rief nach der Tinette, mit ſo wenig einladendem Ton, daß die Jungfer Tinette noch mit viel kleinern Schritten herantrippelte, als ſonſt gewöhnlich, und ſich mit ſo ſpöttiſchem Geſicht hinſtellte, daß ſelbſt Fräulein Rottenmeier nicht wagte, ſie anzufahren; umſomehr ſchlug ihr die Aufregung nach innen. „Das Zimmer der Angekommenen iſt in Ordnung zu bringen, Tinette“, ſagte die Dame mit ſchwer errungener Ruhe; „es liegt Alles bereit, nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg.“ „Es iſt der Mühe werth“, ſpöttelte Tinette und ging. Unterdeſſen hatte Sebaſtian die Doppelthüren zum Studierzimmer mit ziemlichem Knall aufgeſchlagen, denn er war ſehr ergrimmt, aber ſich in Antworten Luft machen, durfte er nicht wagen Fräulein Rottenmeier gegenüber; dann trat er ganz geladen in's Studierzimmer, um den Rollſtuhl hinüberzuſtoßen. Während er den Griff hinten am Stuhl, der ſich verſchoben hatte, zurechtdrehte, ſtellte ſich Heidi vor ihn hin und ſchaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf einmal fuhr er auf. „Na, was iſt denn da Beſonderes dran?“ ſchnurrte er Heidi an in einer Weiſe, wie er es wohl nicht gethan, hätte er Fräulein Rottenmeier geſehen, die eben wieder auf der Schwelle ſtand und gerade hereintrat, als Heidi entgegnete: „Du ſiehſt dem Gaißenpeter gleich.“ Entſetzt ſchlug die Dame ihre Hände zuſammen. „Iſt es die Möglichkeit!“ ſtöhnte ſie halblaut. „Nun duzt ſie mir den Bedienten! dem Weſen fehlen alle Urbegriffe!“ Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebaſtian hinausgehoben und auf ihren Seſſel an den Tiſch geſetzt. Fräulein Rottenmeier ſetzte ſich neben ſie und winkte Heidi, es ſollte den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonſt kam Niemand zu Tiſch, und es war viel Platz da; die drei ſaßen auch weit auseinander, ſo daß Sebaſtian mit ſeiner Schüſſel zum Anbieten ſehr guten Raum fand. Neben Heidi's Teller lag ein ſchönes, weißes Brödchen; das Kind ſchaute mit erfreuten Blicken darauf. Die Aehnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte, mußte ſein ganzes Vertrauen für den Sebaſtian erweckt haben, denn es ſaß mäuschenſtill und rührte ſich nicht, bis er mit der großen Schüſſel zu ihm herantrat und ihm die gebratenen Fiſchchen hinhielt, dann zeigte es auf das Brödchen und fragte: „Kann ich das haben?“ Sebaſtian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck auf ſie mache. Augenblicklich ergriff Heidi ſein Brödchen und ſteckte es in die Taſche. Sebaſtian machte eine Grimaſſe, denn das Lachen kam ihn an; er wußte aber wohl, daß ihm das nicht erlaubt war. Stumm und unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi ſtehen, denn reden durfte er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man ſich bedient hatte. Heidi ſchaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte es: „Soll ich auch von dem eſſen?“ Sebaſtian nickte wieder. „So gib mir“, ſagte es und ſchaute ruhig auf ſeinen Teller. Sebaſtian's Grimaſſe wurde ſehr bedenklich, und die Schüſſel in ſeinen Händen fing an gefährlich zu zittern. „Er kann die Schüſſel auf den Tiſch ſetzen und nachher wiederkommen“, ſagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit ſtrengem Geſicht. Sebaſtian verſchwand ſogleich. „Dir, Adelheid, muß ich überall die erſten Begriffe beibringen, das ſehe ich“, fuhr Fräulein Rottenmeier mit tiefem Seufzer fort. „Vor Allem will ich dir zeigen, wie man ſich am Tiſche bedient“, und nun machte die Dame deutlich und eingehend Alles vor, was Heidi zu thun hatte. „Dann“, fuhr ſie weiter, „muß ich dir hauptſächlich bemerken, daß du am Tiſch nicht mit Sebaſtian zu ſprechen haſt, auch ſonſt nur dann, wenn du einen Auftrag oder eine nothwendige Frage an ihn zu richten haſt; dann aber nennſt du ihn nie mehr anders, als Sie oder Er, hörſt du? daß ich dich niemals mehr ihn anders nennen höre! Auch Tinette nennſt du Sie, Jungfer Tinette. Mich nennſt du ſo, wie du mich von Allen nennen hörſt; wie du Klara nennen ſollſt, wird ſie ſelbſt beſtimmen.“ „Natürlich Klara“, ſagte dieſe. Nun folgte aber noch eine Menge von Verhaltungsmaßregeln, über Aufſtehn und Zubettegehn, über Hereintreten und Hinausgehn, über Ordnunghalten, Thürenſchließen, und über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf Uhr aufgeſtanden, und hatte eine lange Reiſe gemacht. Es lehnte ſich an den Seſſelrücken und ſchlief ein. Als dann nach längerer Zeit Fräulein Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer Unterweiſung, ſagte ſie: „Nun denke dran, Adelheid; haſt du Alles recht begriffen?“ „Heidi ſchläft ſchon lange“, ſagte Klara mit ganz beluſtigtem Geſicht, denn das Abendeſſen war für ſie ſeit langer Zeit nie ſo kurzweilig verfloſſen. „Es iſt doch völlig unerhört, was man mit dieſem Kind erlebt“, rief Fräulein Rottenmeier in großem Aerger und klingelte ſo heftig, daß Tinette und Sebaſtian mit einander hereingeſtürzt kamen; aber trotz allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte Mühe, es ſo weit zu erwecken, daß es nach ſeinem Schlafgemach gebracht werden konnte, erſt durch das Studierzimmer, dann durch Klara's Schlafſtube, dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das nun für Heidi eingerichtet war. 7. Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag. Als Heidi am erſten Morgen in Frankfurt ſeine Augen aufſchlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblicke. Es rieb ganz gewaltig ſeine Augen, guckte dann wieder auf und ſah dasſelbe. Es ſaß auf einem hohen, weißen Bett und vor ſich ſah es einen großen, weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße Vorhänge, und dabei ſtanden zwei Seſſel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein Sopha an der Wand mit denſelben Blumen und ein runder Tiſch davor und in der Ecke ſtand ein Waſchtiſch mit Sachen darauf, wie Heidi ſie noch gar nie geſehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, daß es in Frankfurt ſei, und der ganze geſtrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweiſungen der Dame, ſo weit es ſie gehört hatte. Heidi ſprang nun von ſeinem Bett herunter und machte ſich fertig. Dann ging es an ein Fenſter und dann an das andere, es mußte den Himmel ſehen und die Erde draußen, es fühlte ſich wie im Käfig hinter den großen Vorhängen. Es konnte dieſe nicht wegſchieben; ſo kroch es dahinter, um an ein Fenſter zu kommen. Aber dieſes war ſo hoch, daß Heidi nur gerade mit dem Kopf ſo weit hinaufreichte, daß es durchſehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was es ſuchte. Es lief von einem Fenſter zum andern und dann wieder zum erſten zurück; aber immer war dasſelbe vor ſeinen Augen, Mauern und Fenſter und wieder Mauern und dann wieder Fenſter. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzuſtehen auf der Alm und dann ſogleich hinauszulaufen vor die Thüre und zu ſehen, wie's draußen ſei, ob der Himmel blau und die Sonne ſchon droben ſei, ob die Tannen rauſchen und die kleinen Blumen ſchon die Augen offen haben. Wie das Vögelein, das zum erſten Mal in ſeinem ſchön glänzenden Gefängniß ſitzt, hin- und herſchießt und bei allen Stäben probiert, ob es nicht zwiſchen durchſchlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen könnte, ſo lief Heidi immer von dem einen Fenſter zum andern, um zu probiren, ob es nicht aufgemacht werden könnte, denn dann mußte man doch etwas Anderes ſehen, als Mauern und Fenſter, da mußte doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der letzte, ſchmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorſchein kommen, und Heidi ſehnte ſich, das zu ſehen. Aber die Fenſter blieben feſt verſchloſſen, wie ſehr auch das Kind drehte und zog und von unten ſuchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hätte, ſie aufzudrücken; es blieb Alles eiſenfeſt aufeinander ſitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einſah, daß alle Anſtrengungen Nichts halfen, gab es ſeinen Plan auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte ſich, daß es geſtern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an ſeiner Thür und unmittelbar darauf ſteckte Tinette den Kopf herein und ſagte kurz: „Frühſtück bereit.“ Heidi verſtand keineswegs eine Einladung unter dieſen Worten; auf dem ſpöttiſchen Geſicht der Tinette ſtand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geſchrieben, und das las Heidi deutlich von dem Geſicht und richtete ſich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tiſch hervor, ſtellte ihn in eine Ecke, ſetzte ſich darauf und wartete ſo ganz ſtill ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas mit ziemlichem Geräuſch, es war Fräulein Rottenmeier, die ſchon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's Stube hineinrief: „Was iſt mit dir, Adelheid? Begreifſt du nicht, was ein Frühſtück iſt? Komm' herüber!“ Das verſtand nun Heidi und folgte ſogleich nach. Im Eßzimmer ſaß Klara ſchon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnügteres Geſicht, als ſonſt gewöhnlich, denn ſie ſah voraus, daß heute wieder allerlei Neues geſchehen würde. Das Frühſtück ging nun ohne Störung vor ſich; Heidi aß ganz anſtändig ſein Butterbrod, und wie Alles zu Ende war, wurde Klara wieder in's Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von Fräulein Rottenmeier angewieſen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr Candidat kommen würde, um die Unterrichtsſtunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren, ſagte Heidi ſogleich: „Wie kann man hinausſehen hier und ganz hinunter auf den Boden?“ „Man macht ein Fenſter auf und guckt hinaus“, antwortete Klara beluſtigt. „Man kann dieſe Fenſter nicht aufmachen“, verſetzte Heidi traurig. „Doch, doch“, verſicherte Klara, „nur du noch nicht, und ich kann dir auch nicht helfen, aber wenn du einmal den Sebaſtian ſiehſt, ſo macht er dir ſchon eines auf.“ Das war eine große Erleichterung für Heidi, zu wiſſen, daß man doch die Fenſter öffnen und hinausſchauen könne, denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangenſeins von ſeinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hauſe ſei, und Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Gaißen und der Weide und Allem, was ihm lieb war. Unterdeſſen war der Herr Candidat angekommen; aber Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's Studierzimmer, denn ſie mußte ſich erſt ausſprechen und geleitete ihn zu dieſem Zweck in's Eßzimmer, wo ſie ſich vor ihn hinſetzte und ihm in großer Aufregung ihre bedrängte Lage ſchilderte und wie ſie in dieſe hineingekommen war. Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Seſemann nach Paris geſchrieben, wo er eben verweilte, ſeine Tochter habe längſt gewünſcht, es möchte eine Geſpielin für ſie in's Haus aufgenommen werden, und auch ſie ſelbſt glaube, daß eine ſolche in den Unterrichtsſtunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende Geſellſchaft für Klara ſein würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier ſelbſt ſehr wünſchbar, denn ſie wollte gern, daß Jemand da ſei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geſchah. Herr Seſemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunſch ſeiner Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine ſolche Geſpielin in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei in ſeinem Hauſe, was freilich eine ſehr unnütze Bemerkung von dem Herrn war, ſetzte Fräulein Rottenmeier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber erzählte ſie weiter, wie ganz erſchrecklich ſie hineingefallen ſei mit dem Kinde, und führte alle Beiſpiele von ſeinem völlig begriffsloſen Daſein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchſtäblich beim ABC anfangen müſſe, ſondern daß auch ſie auf jedem Punkte der menſchlichen Erziehung mit dem Uranfang zu beginnen hätte. Aus dieſer unheilvollen Lage ſehe ſie nur Ein Rettungsmittel, wenn der Herr Candidat erklären werde, zwei ſo verſchiedene Weſen könnten nicht mit einander unterrichtet werden, ohne großen Schaden des vorgerückteren Theiles; das wäre für Herrn Seſemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und ſo würde er zugeben, daß das Kind gleich wieder dahin zurückgeſchickt würde, woher es gekommen war; ohne ſeine Zuſtimmung aber dürfte ſie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wiſſe, daß das Kind angekommen ſei. Aber der Herr Candidat war behutſam und niemals einſeitig im Urtheilen. Er tröſtete Fräulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Anſicht, wenn die junge Tochter auf der einen Seite ſo ſehr zurück ſei, ſo möchte ſie auf der andern um ſo geförderter ſein, was bei einem geregelten Unterricht bald in's Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier ſah, daß der Herr Candidat ſie nicht unterſtützen, ſondern ſeinen ABC-Unterricht übernehmen wollte, machte ſie ihm die Thüre zum Studierzimmer auf, und nachdem er hineingetreten war, ſchloß ſie ſchnell hinter ihm zu und blieb auf der andern Seite, denn vor dem ABC hatte ſie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder, denn ſie hatte zu überlegen, wie die Dienſtboten Adelheid zu benennen hätten. Herr Seſemann hatte ja geſchrieben, ſie müßte wie ſeine Tochter gehalten werden, und dieſes Wort mußte ſich hauptſächlich auf das Verhältniß zu den Dienſtboten beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungeſtört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im Studierzimmer ein erſchreckliches Gekrache fallender Gegenſtände und dann ein Hülferuf nach Sebaſtian. Sie ſtürzte hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die ſämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendarauf der Tiſchteppich, unter dem ein ſchwarzes Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi war verſchwunden. „Da haben wir's!“ rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus. „Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der Tinte! das iſt noch nie geſchehen! das iſt das Unglücksweſen, da iſt kein Zweifel!“ Der Herr Candidat ſtand ſehr erſchrocken da und ſchaute auf die Verwüſtung, die für einmal nur Eine Seite hatte und eine recht beſtürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Geſicht die ungewöhnlichen Ereigniſſe und deren Wirkungen und ſagte nun erklärend: „Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Abſicht, es muß gewiß nicht geſtraft werden, es war nur ſo ſchrecklich eilig, fortzukommen und riß den Teppich mit und ſo fiel Alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei, darum iſt es ſo fortgeſchoſſen; es hat vielleicht noch nie eine Kutſche geſehen.“ „Da, iſt's nicht, wie ich ſagte, Herr Candidat? Nicht Einen Urbegriff hat das Weſen! Keine Ahnung davon, was eine Unterrichtsſtunde iſt, daß man dabei zuzuhören und ſtill zu ſitzen hat. Aber wo iſt das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Seſemann —“ Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter der geöffneten Hausthüre ſtand Heidi und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab. „Was iſt denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannſt du ſo davonlaufen?“ fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an. „Ich habe die Tannen rauſchen gehört, aber ich weiß nicht, wo ſie ſtehen, und höre ſie nicht mehr“, antwortete Heidi und ſchaute enttäuſcht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt hatte, das in Heidi's Ohren dem Toſen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen hatte, ſo daß es in höchſter Freude dem Ton nachgerannt war. „Tannen! Sind wir im Wald? Was ſind das für Einfälle! Komm' herauf und ſieh', was du angerichtet haſt!“ Damit ſtieg Fräulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und ſtand nun ſehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht bemerkt, was es Alles mitriß vor Freude und Eile, die Tannen zu hören. „Das haſt du Ein Mal gethan, ein zweites Mal thuſt du's nicht wieder“, ſagte Fräulein Rottenmeier auf den Boden zeigend; „zum Lernen ſitzt man ſtill auf ſeinem Seſſel und gibt Acht. Kannſt du das nicht ſelbſt fertig bringen, ſo muß ich dich an deinen Stuhl feſtbinden. Kannſt du das verſtehen?“ „Ja“, entgegnete Heidi, „aber ich will ſchon feſtſitzen.“ Denn jetzt hatte es begriffen, daß es eine Regel iſt, in einer Unterrichtsſtunde ſtill zu ſitzen. Jetzt mußten Sebaſtian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wieder herzuſtellen. Der Herr Candidat entfernte ſich, denn der weitere Unterricht mußte nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war heute gar keine Zeit geweſen. Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann ſeine Beſchäftigung ſelbſt zu wählen; ſo hatte Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tiſch Klara ſich in ihrem Seſſel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi ſah, daß nun die Zeit da war, da es ſeine Beſchäftigung ſelbſt wählen konnte. Das war dem Heidi ſehr erwünſcht, denn es hatte ſchon immer im Sinn, Etwas zu unternehmen; es mußte aber Hülfe dazu haben und ſtellte ſich darum vor das Eßzimmer mitten auf den Corridor, damit die Perſönlichkeit, die es zu berathen gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach kurzer Zeit kam Sebaſtian die Treppe herauf mit dem großen Theebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Küche herauf, um es im Schrank des Eßzimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und ſagte mit großer Deutlichkeit: „Sie oder Er!“ Sebaſtian riß die Augen ſo weit auf, als es nur möglich war, und ſagte ziemlich barſch: „Was ſoll das heißen, Mamſell?“ „Ich möchte nur gern Etwas fragen, aber es iſt gewiß nichts Böſes wie heute Morgen“, fügte Heidi beſchwichtigend hinzu, denn es merkte, daß Sebaſtian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her. „So, und warum muß es denn heißen Sie oder Er, das möcht' ich zuerſt wiſſen“, gab Sebaſtian im gleichen barſchen Ton zurück. „Ja, ſo muß ich jetzt immer ſagen“, verſicherte Heidi, „Fräulein Rottenmeier hat es befohlen.“ Jetzt lachte Sebaſtian ſo laut auf, daß Heidi ihn ganz verwundert anſehen mußte, denn es hatte nichts Luſtiges bemerkt; aber Sebaſtian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte, und ſagte nun ſehr erluſtigt: „Schon recht, ſo fahre die Mamſell nur zu.“ „Ich heiße gar nicht Mamſell“, ſagte nun Heidi ſeinerſeits ein wenig geärgert, „ich heiße Heidi.“ „Iſt ſchon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, daß ich Mamſell ſage“, erklärte Sebaſtian. „Hat ſie? Ja, dann muß ich ſchon ſo heißen“, ſagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, daß Alles ſo geſchehen mußte, wie Fräulein Rottenmeier befahl. „Jetzt habe ich ſchon drei Namen“, ſetzte es mit einem Seufzer hinzu. „Was wollte die kleine Mamſell denn fragen?“ fragte Sebaſtian jetzt, indem er, in's Eßzimmer eingetreten, ſein Silberzeug im Schrank zurecht legte. „Wie kann man ein Fenſter aufmachen, Sebaſtian?“ „So, gerade ſo“, und er machte den großen Fenſterflügel auf. Heidi trat heran, aber es war zu klein, um Etwas ſehen zu können; es langte nur bis zum Geſims hinauf. „Da, ſo kann das Mamſellchen einmal hinausgucken und ſehen, was unten iſt“, ſagte Sebaſtian, indem er einen hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinſtellte. Hoch erfreut ſtieg Heidi hinauf und konnte endlich den erſehnten Blick durch das Fenſter thun. Aber mit dem Ausdruck der größten Enttäuſchung zog es ſogleich den Kopf wieder zurück. „Man ſieht nur die ſteinerne Straße hier, ſonſt gar Nichts“, ſagte das Kind bedauerlich; „aber wenn man um das ganze Haus herum geht, was ſieht man dann auf der andern Seite, Sebaſtian?“ „Gerade dasſelbe“, gab dieſer zur Antwort. „Aber wohin kann man denn gehen, daß man weit, weit hinunter ſehen kann über das ganze Thal hinab?“ „Da muß man auf einen hohen Thurm hinaufſteigen, einen Kirchthurm, ſo einen, wie der dort iſt mit der goldnen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und ſieht weit über Alles weg.“ Jetzt ſtieg Heidi eilig von ſeinem Schemel herunter, rannte zur Thüre hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi ſich vorgeſtellt hatte. Als es aus dem Fenſter den Thurm geſehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die Straße gehen, ſo müßte er gleich vor ihm ſtehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Thurm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch ſah es den Thurm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren Alle ſo eilig, daß Heidi dachte, ſie haben nicht Zeit, ihm Beſcheid zu geben. Jetzt ſah es an der nächſten Straßenecke einen Jungen ſtehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz curioſes Thier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: „Wo iſt der Thurm mit der goldnen Kugel zu oberſt?“ „Weiß nicht“, war die Antwort. „Wen kann ich denn fragen, wo er ſei?“ fragte Heidi weiter. „Weiß nicht.“ „Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Thurm?“ „Freilich weiß ich eine.“ „So komm' und zeige mir ſie.“ „Zeig' du zuerſt, was du mir dafür gibſt.“ Der Junge hielt ſeine Hand hin. Heidi ſuchte in ſeiner Taſche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein ſchönes Kränzchen von rothen Roſen gemalt war; erſt ſah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erſt heute Morgen hatte Klara es ihm geſchenkt, aber hinunterſehen in's Thal, über die grünen Abhänge! „Da“, ſagte Heidi und hielt das Bildchen hin, „willſt du das?“ Der Junge zog die Hand zurück und ſchüttelte den Kopf. „Was willſt du denn?“ fragte Heidi und ſteckte vergnügt ſein Bildchen wieder ein. „Geld.“ „Ich habe keins, aber Klara hat, ſie gibt mir dann ſchon, wie viel willſt du?“ „Zwanzig Pfennige.“ „So komm jetzt.“ Nun wanderten die Beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage und er erklärte ihm, es ſei eine ſchöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Muſik, wenn er daran drehe. Auf einmal ſtanden ſie vor einer alten Kirche mit hohem Thurm; der Junge ſtand ſtill und ſagte: „Da!“ „Aber wie komm' ich da hinein?“ fragte Heidi, als es die feſtverſchloſſenen Thüren ſah. „Weiß nicht“, war wieder die Antwort. „Glaubſt du, man könne hier klingeln, ſo wie man dem Sebaſtian thut?“ „Weiß nicht.“ Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran. „Wenn ich dann hinaufgehe, ſo mußt du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt mir ihn dann zeigen.“ „Was gibſt du mir dann?“ „Was muß ich dir dann wieder geben?“ „Wieder zwanzig Pfennige.“ Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und die knarrende Thüre geöffnet; ein alter Mann trat heraus und ſchaute erſt verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr ſie an: „Was unterſteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht leſen, was über der Klingel ſteht: ‚Für Solche, die den Thurm beſteigen wollen?‘“ Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und ſagte kein Wort. Heidi antwortete: „Eben auf den Thurm wollte ich.“ „Was haſt du droben zu thun?“ fragte der Thürmer; „hat dich Jemand geſchickt?“ „Nein“, entgegnete Heidi, „ich möchte nur hinaufgehen, daß ich hinunterſehen kann.“ „Macht, daß ihr heimkommt und probirt den Spaß nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!“ Damit kehrte ſich der Thürmer um und wollte die Thüre zumachen. Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockſchooß und ſagte bittend: „Nur ein einziges Mal!“ Er ſah ſich um und Heidi's Augen ſchauten ſo flehentlich zu ihm auf, daß es ihn ganz umſtimmte; er nahm das Kind bei der Hand und ſagte freundlich: „Wenn dir ſo viel daran gelegen iſt, ſo komm' mit mir!“ Der Junge ſetzte ſich auf die ſteinernen Stufen vor der Thüre nieder und zeigte, daß er nicht mit wollte. Heidi ſtieg an der Hand des Thürmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden dieſe immer ſchmaler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren ſie oben. Der Thürmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenſter. „Da, jetzt guck hinunter“, ſagte er. Heidi ſah auf ein Meer von Dächern, Thürmen und Schornſteinen nieder; es zog bald ſeinen Kopf zurück und ſagte niedergeſchlagen: „Es iſt gar nicht, wie ich gemeint habe.“ „Siehſt du wohl? Was verſteht ſo ein Kleines von Ausſicht! So, komm' nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Thurm!“ Der Thürmer ſtellte Heidi wieder auf den Boden und ſtieg ihm voran die ſchmalen Treppchen hinab. Wo dieſe breiter wurden, kam links die Thüre, die in des Thürmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden bis unter das ſchräge Dach hin. Dort hinten ſtand ein großer Korb und davor ſaß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und ſie wollte jeden Vorübergehenden davor warnen, ſich in ihre Familienangelegenheiten zu miſchen. Heidi ſtand ſtill und ſchaute verwundert hinüber, eine ſo mächtige Katze hatte es noch nie geſehen; in dem alten Thurm wohnten aber ganze Heerden von Mäuſen, ſo holte ſich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein halbes Dutzend Mäuſebraten. Der Thürmer ſah Heidi's Bewunderung und ſagte: „Komm', ſie thut dir Nichts, wenn ich dabei bin; du kannſt die Jungen anſehen.“ Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus. „O, die netten Thierlein! die ſchönen Kätzchen!“ rief es ein Mal um's andere und ſprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komiſchen Geberden und Sprünge zu ſehen, welche die ſieben oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb raſtlos übereinanderhin krabbelten, ſprangen, fielen. „Willſt du eins haben?“ fragte der Thürmer, der Heidi's Freudenſprüngen vergnügt zuſchaute. „Selbſt für mich? für immer?“ fragte Heidi geſpannt und konnte das große Glück faſt nicht glauben. „Ja, gewiß, du kannſt auch noch mehr haben, du kannſt ſie alle zuſammen haben, wenn du Platz haſt“, ſagte der Mann, dem es gerade recht war, ſeine kleinen Katzen los zu werden, ohne daß er ihnen ein Leid anthun mußte. Heidi war im höchſten Glück. In dem großen Hauſe hatten ja die Kätzchen ſo viel Platz, und wie mußte Klara erſtaunt und erfreut ſein, wenn die niedlichen Thierchen ankamen! „Aber wie kann ich ſie mitnehmen?“ fragte nun Heidi und wollte ſchnell einige fangen mit ſeinen Händen, aber die dicke Katze ſprang ihm auf den Arm und fauchte es ſo grimmig an, daß es ſehr erſchrocken zurückfuhr. „Ich will ſie dir bringen, ſag' nur wohin“, ſagte der Thürmer, der die alte Katze nun ſtreichelte, um ſie wieder gut zu machen, denn ſie war ſeine Freundin und hatte ſchon viele Jahre mit ihm auf dem Thurm gelebt. „Zum Herrn Seſemann in dem großen Haus, wo an der Hausthüre ein goldener Hundskopf iſt mit einem dicken Ring im Maul“, erklärte Heidi. Es hätte nicht einmal ſo viel gebraucht für den Thürmer, der ſchon ſeit langen Jahren auf dem Thurm ſaß und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebaſtian noch ein alter Bekannter von ihm. „Ich weiß ſchon“, bemerkte er; „aber wem muß ich die Dinger bringen, wem muß ich nachfragen, du gehörſt doch nicht Herrn Seſemann?“ „Nein, aber die Klara, ſie hat eine ſo große Freude, wenn die Kätzchen kommen!“ Der Thürmer wollte nun weiter gehen, aber Heidi konnte ſich von dem unterhaltenden Schauſpiel faſt nicht trennen. „Wenn ich nur ſchon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?“ „So wart' ein wenig“, ſagte der Thürmer, trug dann die alte Katze behutſam in ſein Stübchen hinein und ſtellte ſie an das Eßſchüſſelchen hin, ſchloß die Thüre vor ihr zu und kam zurück: „So, nun nimm zwei!“ Heidi's Augen leuchteten vor Wonne. Er las ein weißes und dann ein gelb- und weißgeſtreiftes aus und ſteckte eins in die rechte und eins in die linke Taſche. Nun ging's die Treppe hinunter. Der Junge ſaß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Thürmer hinter Heidi die Thüre zugeſchloſſen hatte, ſagte das Kind: „Welchen Weg müſſen wir nun zu Herrn Seſemann's Haus?“ „Weiß nicht“, war die Antwort. Heidi fing nun an zu beſchreiben, was es wußte, die Hausthür und die Fenſter und die Treppen, aber der Junge ſchüttelte zu Allem den Kopf, es war ihm Alles unbekannt. „Siehſt du“, fuhr dann Heidi im Beſchreiben fort, „aus einem Fenſter ſieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht ſo“ — Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die Luft hinaus. Jetzt ſprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben, ſeine Wege zu finden. Er lief nun in Einem Zug drauf los und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit ſtanden ſie richtig vor der Hausthüre mit dem großen Meſſingthierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erſchien Sebaſtian, und wie er Heidi erblickte, rief er drängend: „Schnell! Schnell!“ Heidi ſprang eilig herein, und Sebaſtian ſchlug die Thüre zu; den Jungen, der verblüfft draußen ſtand, hatte er gar nicht bemerkt. „Schnell, Mamſellchen“, drängte Sebaſtian weiter, „gleich in's Eßzimmer hinein, ſie ſitzen ſchon am Tiſch, Fräulein Rottenmeier ſieht aus wie eine geladene Kanone; was ſtellt aber auch die kleine Mamſell an, ſo fortzulaufen?“ Heidi war in's Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara ſagte auch Nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebaſtian rückte Heidi den Seſſel zurecht. Jetzt, wie es auf ſeinem Stuhl ſaß, begann Fräulein Rottenmeier mit ſtrengem Geſicht und einem ganz feierlich-ernſten Ton: „Adelheid, ich werde nachher mit dir ſprechen, jetzt nur ſo viel: du haſt dich ſehr ungezogen, wirklich ſtrafbar benommen, daß du das Haus verläſſeſt, ohne zu fragen, ohne daß Jemand ein Wort davon wußte und herumſtreichſt bis zum ſpäten Abend, es iſt eine völlig beiſpielloſe Aufführung.“ „Miau“, tönte es wie als Antwort zurück. Aber jetzt ſtieg der Zorn der Dame: „Wie, Adelheid“, rief ſie in immer höheren Tönen, „du unterſtehſt dich noch, nach aller Ungezogenheit einen ſchlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, ſag' ich dir!“ „Ich mache“, fing Heidi an — „Miau! Miau!“ Sebaſtian warf faſt ſeine Schüſſel auf den Tiſch und ſtürzte hinaus. „Es iſt genug“, wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. „Steh' auf und verlaß das Zimmer.“ Heidi ſtand erſchrocken von ſeinem Seſſel auf und wollte noch einmal erklären: „Ich mache gewiß“ — „Miau! Miau! Miau!“ „Aber Heidi“, ſagte jetzt Klara, „wenn du doch ſiehſt, daß du Fräulein Rottenmeier ſo böſe machſt; warum machſt du immer wieder miau?“ „Ich mache nicht, die Kätzlein machen“, konnte Heidi endlich ungeſtört hervorbringen. „Wie? Was? Katzen? junge Katzen?“ ſchrie Fräulein Rottenmeier auf. „Sebaſtian! Tinette! Sucht die greulichen Thiere! ſchafft ſie fort!“ damit ſtürzte die Dame in's Studierzimmer hinein und riegelte die Thüren zu, um ſicherer zu ſein, denn junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichſte in der Schöpfung. Sebaſtian ſtand draußen vor der Thür und mußte erſt fertig lachen, eh' er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus deſſen Taſche herausgucken geſehen und ſah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er ſich nicht mehr halten, kaum noch ſeine Schüſſel auf den Tiſch ſetzen. Endlich trat er denn wieder gefaßt in's Zimmer herein, nachdem die Hülferufe der geängſteten Dame ſchon längere Zeit verklungen waren. Jetzt ſah es ganz ſtill und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schooß, Heidi kniete neben ihr und Beide ſpielten mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziöſen Thierchen. „Sebaſtian“, ſagte Klara zu dem Eintretenden, „Sie müſſen uns helfen; Sie müſſen ein Neſt finden für die Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier ſie nicht ſieht, denn ſie fürchtet ſich vor ihnen und will ſie fort haben; aber wir wollen die niedlichen Thierchen behalten und ſie immer hervorholen, ſobald wir allein ſind. Wo kann man ſie hinthun?“ „Das will ich ſchon beſorgen, Fräulein Klara“, entgegnete Sebaſtian bereitwillig; „ich mache ein ſchönes Bettchen in einem Korb und ſtelle den an einen Ort, wo mir die furchtſame Dame nicht dahinterkommt, verlaſſen Sie ſich auf mich.“ Sebaſtian ging gleich an die Arbeit und kicherte beſtändig vor ſich hin, denn er dachte: „Das wird noch was abſetzen!“ und der Sebaſtian ſah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung gerieth. Nach längerer Zeit erſt, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Thüre auf und rief durch das Spältchen heraus: „Sind die abſcheulichen Thiere fortgeſchafft?“ „Ja wohl! Ja wohl!“ gab Sebaſtian zurück, der ſich im Zimmer zu ſchaffen gemacht hatte in Erwartung dieſer Frage. Schnell und leiſe faßte er die beiden Kätzchen auf Klara's Schooß und verſchwand damit. Die beſondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verſchob ſie auf den folgenden Tag, denn heute fühlte ſie ſich zu erſchöpft nach all' den vorhergegangenen Gemüthsbewegungen von Aerger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwiſſentlich nacheinander verurſacht hatte. Sie zog ſich ſchweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn ſie wußten ihre Kätzchen in einem guten Bett. 8. Im Hauſe Seſemann geht's unruhig zu. Als Sebaſtian am folgenden Morgen dem Herrn Candidaten die Hausthüre geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog ſchon wieder Jemand die Hausglocke an, aber mit ſolcher Gewalt, daß Sebaſtian die Treppe völlig hinunterſchoß, denn er dachte: „So ſchellt nur der Herr Seſemann ſelbſt, er muß unerwartet nach Hauſe gekommen ſein.“ Er riß die Thüre auf — ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken ſtand vor ihm. „Was ſoll das heißen?“ fuhr ihn Sebaſtian an. „Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was haſt du hier zu thun?“ „Ich muß zur Klara“, war die Antwort. „Du ungewaſchener Straßenkäfer du; kannſt du nicht ſagen Fräulein Klara, wie unſereins thut? Was haſt du bei Fräulein Klara zu thun?“ fragte Sebaſtian barſch. „Sie iſt mir vierzig Pfennige ſchuldig“, erklärte der Junge. „Du biſt, denk' ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier iſt?“ „Geſtern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.“ „Da ſiehſt du, was für Zeug du zuſammenflunkerſt, Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, daß du dahin kommſt, wo du hin gehörſt', bevor ich dir dazu verhelfe!“ Aber der Junge ließ ſich nicht einſchüchtern; er blieb unbeweglich ſtehn und ſagte trocken: „Ich habe ſie doch geſehen auf der Straße, ich kann ſie beſchreiben: ſie hat kurzes, krauſes Haar, das iſt ſchwarz, und die Augen ſind ſchwarz und der Rock iſt braun, und ſie kann nicht reden wie wir.“ „Oho“, dachte jetzt Sebaſtian und kicherte in ſich hinein, „das iſt die kleine Mamſell, die hat wieder Etwas angeſtellt.“ Dann ſagte er, den Jungen hereinziehend: „'s iſt ſchon recht, komm' mir nur nach und warte vor der Thüre, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlaſſe, kannſt du gleich Etwas ſpielen, das Fräulein hört es gern.“ Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen. „Es iſt ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara ſelbſt Etwas zu beſtellen hat“, berichtete Sebaſtian. Klara war ſehr erfreut über das außergewöhnliche Ereigniß. „Er ſoll nur gleich hereinkommen“, ſagte ſie, „nicht wahr, Herr Candidat? wenn er doch mit mir ſelbſt ſprechen muß.“ Der Junge war ſchon eingetreten, und nach Anweiſung fing er ſofort ſeine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem ABC auszuweichen, ſich im Eßzimmer Allerlei zu ſchaffen gemacht. Auf einmal horchte ſie auf. — Kamen die Töne von der Straße her? Aber ſo nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch — wahrhaftig — ſie ſtürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da — unglaublich — da ſtand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelſpieler und drehte ſein Inſtrument mit größter Emſigkeit. Der Herr Candidat ſchien immerfort Etwas ſagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Geſichtern der Muſik zu. „Aufhören! Sofort aufhören!“ rief Fräulein Rottenmeier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Muſik. Jetzt lief ſie auf den Jungen zu — aber auf einmal hatte ſie Etwas zwiſchen den Füßen, ſie ſah auf den Boden — ein grauſiges, ſchwarzes Thier kroch ihr zwiſchen den Füßen durch, eine Schildkröte. Jetzt that Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie ſie ſeit vielen Jahren keinen gethan hatte, dann ſchrie ſie aus Leibeskräften: „Sebaſtian! Sebaſtian!“ Plötzlich hielt der Orgelſpieler inne, denn dießmal hatte die Stimme die Muſik übertönt. Sebaſtian ſtand draußen vor der halb offenen Thüre und krümmte ſich vor Lachen, denn er hatte zugeſehen, wie der Sprung vor ſich ging. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergeſunken. „Fort mit Allem, Menſch und Thier! Schaffen Sie ſie weg, Sebaſtian, ſofort!“ rief ſie ihm entgegen. Sebaſtian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der ſchnell ſeine Schildkröte erfaßt hatte, drückte ihm draußen etwas in die Hand und ſagte: „Vierzig für Fräulein Klara, und vierzig für's Spielen, das haſt du gut gemacht“; damit ſchloß er hinter ihm die Hausthüre. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgeſetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte ſich nun auch feſtgeſetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte ſie nach den Unterrichtsſtunden unterſuchen und den Schuldigen ſo beſtrafen, daß er daran denken würde. Schon wieder klopfte es an die Thüre, und herein trat abermals Sebaſtian mit der Nachricht, es ſei ein großer Korb gebracht worden, der ſogleich an Fräulein Klara ſelbſt abzugeben ſei. „An mich?“ fragte Klara erſtaunt und äußerſt neugierig, was das ſein möchte; „zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er ausſieht.“ Sebaſtian brachte einen gedeckten Korb herein und entfernte ſich dann eilig wieder. „Ich denke, erſt wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt“, bemerkte Fräulein Rottenmeier. Klara konnte ſich nicht vorſtellen, was man ihr gebracht hatte, ſie ſchaute ſehr verlangend nach dem Korb. „Herr Candidat“, ſagte ſie, ſich ſelbſt in ihrem Decliniren unterbrechend, „könnte ich nicht nur einmal ſchnell hineinſehen, um zu wiſſen, was drin iſt, und dann gleich wieder fortfahren?“ „In einer Hinſicht könnte man dafür, in einer andern dawider ſein“, entgegnete der Herr Candidat; „dafür ſpräche der Grund, daß, wenn nun Ihre ganze Aufmerkſamkeit auf dieſen Gegenſtand gerichtet iſt“ — die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes ſaß nur loſe darauf, und nun ſprangen mit einem Mal ein, zwei, drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen darunter hervor und in's Zimmer hinaus, und mit einer ſo unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren ſie überall herum, daß es war, als wäre das ganze Zimmer voll ſolcher Thierchen. Sie ſprangen über die Stiefel des Herrn Candidaten, biſſen an ſeinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Füße herum, ſprangen an Klara's Seſſel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzücken: „O die niedlichen Thierchen! die luſtigen Sprünge! ſieh'! ſieh'! Heidi, hier, dort, ſieh' dieſes!“ Heidi ſchoß ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Candidat ſtand ſehr verlegen am Tiſch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier ſaß erſt ſprachles vor Entſetzen in ihrem Seſſel, dann fing ſie an aus Leibeskräften zu ſchreien! „Tinette! Tinette! Sebaſtian! Sebaſtian!“ denn vom Seſſel aufzuſtehen konnte ſie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheuſale an ihr emporſpringen. Endlich kamen Sebaſtian und Tinette auf die wiederholten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geſchöpfe in den Korb hinein und trug ſie auf den Eſtrich zu dem Katzenlager, das er für die Zweie von geſtern bereitet hatte. Auch am heutigen Tag hatte kein Gähnen während der Unterrichtsſtunden ſtattgefunden. Am ſpäten Abend, als Fräulein Rottenmeier ſich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich erholt hatte, berief ſie Sebaſtian und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine gründliche Unterſuchung über die ſtrafwürdigen Vorgänge anzuſtellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf ſeinem geſtrigen Ausflug die ſämmtlichen Ereigniſſe vorbereitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier ſaß weiß vor Entrüſtung da und konnte erſt keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß Sebaſtian und Tinette ſich entfernen ſollten. Jetzt wandte ſie ſich an Heidi, das neben Klara's Seſſel ſtand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte. „Adelheid“, begann ſie mit ſtrengem Ton, „ich weiß nur Eine Strafe, die dir empfindlich ſein könnte, denn du biſt eine Barbarin; aber wir wollen ſehen, ob du unten im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirſt, daß du dir keine ſolchen Dinge mehr einfallen läſſeſt.“ Heidi hörte ſtill und verwundert ſein Urtheil an, denn in einem ſchreckhaften Keller war es noch nie geweſen; der anſtoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käſe lagen und die friſche Milch ſtand, war eher ein anmuthiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine geſehen. Aber Klara erhob einen lauten Jammer: „Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da iſt; er hat ja geſchrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm Alles erzählen, und er ſagt dann ſchon, was mit Heidi geſchehen ſoll.“ Gegen dieſen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier Nichts einwenden, um ſo weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie ſtand auf und ſagte etwas grimmig: „Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Seſemann ſprechen.“ Damit verließ ſie das Zimmer. — Es verfloſſen nun ein paar ungeſtörtere Tage, aber Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, ſtündlich trat ihr die Täuſchung vor Augen, die ſie in Heidi's Perſönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als ſei ſeit ſeiner Erſcheinung im Hauſe Seſemann Alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara war ſehr vergnügt; ſie langweilte ſich nie mehr, denn in den Unterrichtsſtunden machte Heidi die kurzweiligſten Sachen: die Buchſtaben machte es immer alle durcheinander und konnte ſie nie kennen lernen, und wenn der Herr Candidat mitten im Erklären und Beſchreiben ihrer Formen war, um ſie ihm anſchaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel ſprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: „Es iſt eine Gaiß!“ oder: „Es iſt der Raubvogel!“ Denn die Beſchreibungen weckten in ſeinem Gehirn allerlei Vorſtellungen, nur keine Buchſtaben. In den ſpätern Nachmittagsſtunden ſaß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, ſo viel und ſo lange, bis das Verlangen darnach in ihm ſo brennend wurde, daß es immer zum Schluß verſicherte: „Nun muß ich gewiß wieder heim! Morgen muß ich gewiß gehen!“ Aber Klara beſchwichtigte immer wieder dieſe Anfälle und bewies Heidi, daß es doch ſicher da bleiben müſſe, bis der Papa komme; dann werde man ſchon ſehen, wie es weiter gehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, ſo half ihm eine fröhliche Ausſicht dazu, die es im Stillen hatte, daß mit jedem Tage, den es noch da blieb, ſein Häuflein Brödchen für die Großmutter wieder um zwei größer würde, denn Mittags und Abends lag immer ein ſchönes Weißbrödchen bei ſeinem Teller; das ſteckte es gleich ein, denn es hätte das Brödchen nicht eſſen können beim Gedanken, daß die Großmutter nie eines habe und das harte, ſchwarze Brod faſt nicht mehr eſſen konnte. Nach Tiſch ſaß Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in ſeinem Zimmer und regte ſich nicht, denn daß es in Frankfurt verboten war, nur ſo hinauszulaufen, wie es auf der Alm gethan, das hatte es nun begriffen und that es nie mehr. Mit Sebaſtian drüben im Eßzimmer ein Geſpräch führen, durfte es auch nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten und mit Tinette eine Unterhaltung zu probiren, daran kam ihm kein Sinn, es ging ihr immer ſcheu aus dem Wege, denn ſie redete nur in höhniſchem Ton mit ihm und ſpöttelte es fortwährend an und Heidi verſtand ihre Art ganz gut, und daß ſie es nur immer ausſpottete. So ſaß Heidi täglich da und hatte alle Zeit ſich auszudenken, wie nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im Sonnenſchein glitzerten und wie Alles leuchtete ringsum in der Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze, weite Thal, und Heidi konnte es manchmal faſt nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu ſein. Die Baſe hatte ja auch geſagt, es könne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, daß Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile ſeine Brödchen in das große rothe Halstuch zuſammen, ſetzte ſein Strohhütchen auf und zog aus. Aber ſchon unter der Hausthüre traf es auf ein großes Reiſehinderniß, auf Fräulein Rottenmeier ſelbſt, die eben von einem Ausgang zurückkehrte. Sie ſtand ſtill und ſchaute in ſtarrem Erſtaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt brach ſie los. „Was iſt das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich dir nicht ſtreng verboten, je wieder herumzuſtreichen? Nun probirſt du's doch wieder und dazu noch völlig ausſehend wie eine Landſtreicherin.“ „Ich wollte nicht herumſtreichen, ich wollte nur heimgehen“, entgegnete Heidi ein wenig erſchrocken. „Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wollteſt du?“ Fräulein Rottenmeier ſchlug die Hände zuſammen vor Aufregung. „Fortlaufen! Wenn das Herr Seſemann wüßte! Fortlaufen aus ſeinem Hauſe! Mach' nicht, daß er das je erfährt! Und was iſt dir denn nicht recht in ſeinem Hauſe? Wirſt du nicht viel beſſer behandelt, als du verdienſt? Fehlt es dir an irgend Etwas? Haſt du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung, oder einen Tiſch, oder eine Bedienung gehabt, wie du hier haſt? ſag'!“ „Nein“, entgegnete Heidi. „Das weiß ich wohl!“ fuhr die Dame eifrig fort, „Nichts fehlt dir, gar Nichts, du biſt ein ganz unglaublich undankbares Ding, und vor lauter Wohlſein weißt du nicht, was du noch Alles anſtellen willſt!“ Aber jetzt kam dem Heidi Alles oben auf, was in ihm war, und brach hervor: „Ich will ja nur heim, und wenn ich ſo lang nicht komme, ſo muß das Schneehöppli immer klagen und die Großmutter erwartet mich, und der Diſtelfink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käſe bekommt, und hier kann man gar nie ſehen, wie die Sonne gute Nacht ſagt zu den Bergen, und wenn der Raubvogel in Frankfurt oben über fliegen würde, ſo würde er noch viel lauter krächzen, daß ſo viele Menſchen bei einander ſitzen und einander bös machen und nicht auf den Felſen gehen, wo es Einem wohl iſt.“ „Barmherzigkeit, das Kind iſt übergeſchnappt!“ rief Fräulein Rottenmeier aus und ſtürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo ſie ſehr unſanft gegen den Sebaſtian rannte, der eben hinunter wollte. „Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Weſen herauf“, rief ſie ihm zu, indem ſie ſich den Kopf rieb, denn ſie war hart angeſtoßen. „Ja, ja, ſchon recht, danke ſchön“, gab Sebaſtian zurück und rieb ſich den ſeinen, denn er war noch harter angefahren. Heidi ſtand mit flammenden Augen noch auf derſelben Stelle feſt und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper. „Na, ſchon wieder was angeſtellt?“ fragte Sebaſtian luſtig; als er aber Heidi, das ſich nicht rührte, recht anſah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und ſagte tröſtend: „Bah! bah! das muß ſich das Mamſellchen nicht ſo zu Herzen nehmen, nur luſtig, das iſt die Hauptſache! Sie hat mir eben jetzt auch faſt ein Loch in den Kopf gerannt, aber nur nicht einſchüchtern laſſen! Na? immer noch auf demſelben Fleck? Wir müſſen hinauf, ſie hat's befohlen.“ Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langſam und leiſe und gar nicht wie ſonſt ſeine Art war. Das that dem Sebaſtian leid zu ſehen; er ging hinter dem Heidi her und ſprach ermuthigende Worte zu ihm: „Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer drauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamſellchen, hat noch gar nie geweint, ſeit es bei uns iſt, ſonſt weinen ſie ja zwölf Mal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen ſind auch luſtig droben, die ſpringen auf dem ganzen Eſtrich herum und thun wie närriſch. Nachher gehen wir 'mal zuſammen hinauf und ſchauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen wieder weg iſt, ja?“ Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber ſo freudlos, daß es dem Sebaſtian recht zu Herzen ging und er ganz theilnehmend dem Heidi nachſchaute, wie es nach ſeinem Zimmer hinſchlich. Am Abendeſſen heute ſagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber fortwährend warf ſie ſonderbar wachſame Blicke zu Heidi hinüber, ſo als erwartete ſie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi ſaß mäuschenſtill am Tiſch und rührte ſich nicht, es aß nicht und trank nicht; nur ſein Brödchen hatte es ſchnell in die Taſche geſteckt. Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die Treppe heraufkam, winkte ihm Fräulein Rottenmeier geheimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte ſie ihm in großer Aufregung ihre Beſorgniß mit, die Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke hätten das Kind um den Verſtand gebracht, und ſie erzählte ihm von Heidi's Fluchtverſuch und wiederholte ihm von ſeinen ſonderbaren Reden, was ſie noch wußte. Aber der Herr Candidat beſänftigte und beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er ſie verſicherte, daß er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid ſei zwar einerſeits allerdings eher excentriſch, aber anderſeits doch wieder bei richtigem Verſtand, ſo daß ſich nach und nach bei einer allſeitig erwogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einſtellen könne, was er im Auge habe; er finde den Umſtand wichtiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinauskomme mit ihr, indem ſie die Buchſtaben nicht zu faſſen im Stande ſei. Fräulein Rottenmeier fühlte ſich beruhigter und entließ den Herrn Candidaten zu ſeiner Arbeit. Am ſpätern Nachmittag ſtieg ihr die Erinnerung an Heidi's Aufzug bei ſeiner vorgehabten Abreiſe auf, und ſie beſchloß, die Gewandung des Kindes durch verſchiedene Kleidungsſtücke der Klara in den nöthigen Stand zu ſetzen, bevor Herr Seſemann erſcheinen würde. Sie theilte ihre Gedanken darüber an Klara mit, und da dieſe mit Allem einverſtanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte ſchenken wollte, verfügte ſich die Dame in Heidi's Zimmer, um ſeinen Kleiderſchrank zu beſehen und zu unterſuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden ſolle. Aber in wenig Minuten kam ſie wieder zurück mit Geberden des Abſcheus: „Was muß ich entdecken, Adelheid“, rief ſie aus, „es iſt nie da geweſen! In deinem Kleiderſchrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieſes Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brode! Brod, ſage ich, Klara, im Kleiderſchrank! Und einen ſolchen Haufen aufſpeichern! Tinette“, rief ſie jetzt in's Eßzimmer hinaus, „ſchaffen Sie mir das alte Brod fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten Strohhut auf dem Tiſch.“ „Nein! Nein!“ ſchrie Heidi auf, „ich muß den Hut haben und die Brödchen ſind für die Großmutter“, und Heidi wollte der Tinette nachſtürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier feſtgehalten. „Du bleibſt hier und der Kram wird hingebracht, wo er hin gehört“, ſagte ſie beſtimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf ſich Heidi an Klara's Seſſel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und ſchmerzlicher und ſchluchzte ein Mal um's andere in ſeinem Jammer auf: „Nun hat die Großmutter keine Brödchen mehr! Sie waren für die Großmutter, nun ſind ſie alle fort und die Großmutter bekommt keine!“ und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerſpringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angſt und bange bei dem Jammer: „Heidi, Heidi, weine nur nicht ſo“, ſagte ſie bittend, „hör' mich nur! Jammere nur nicht ſo, ſieh', ich verſpreche dir, ich gebe dir gerade ſo viele Brödchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehſt, und dann ſind dieſe friſch und weich, und die deinen wären ja ganz hart geworden und waren es ſchon. Komm', Heidi, weine nur nicht mehr ſo.“ Heidi konnte noch lange nicht aus ſeinem Schluchzen herauskommen; aber es verſtand Klara's Troſt und hielt ſich daran, ſonſt hätte es gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es mußte auch noch mehrere Male ſeiner Hoffnung gewiß werden und Klara, durch die letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: „Gibſt du mir ſo viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?“ Und Klara verſicherte immer wieder: „Gewiß, ganz gewiß, noch mehr, ſei nur wieder froh!“ Noch zum Abendtiſch kam Heidi mit den rothverweinten Augen, und als es ſein Brödchen erblickte, mußte es gleich noch einmal aufſchluchzen. Aber es bezwang ſich jetzt mit Gewalt, denn es verſtand, daß es ſich am Tiſch ruhig verhalten mußte. Sebaſtian machte heute jedes Mal die merkwürdigſten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er deutete bald auf ſeinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, ſo als wollte er ſagen: „Nur getroſt! Ich hab's ſchon gemerkt und beſorgt.“ Als Heidi ſpäter in ſein Zimmer kam und in ſein Bett ſteigen wollte, lag ſein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke verſteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und verſteckte ihn dann, in ein Taſchentüchlein eingewickelt, in die allerhinterſte Ecke ſeines Schranks. Das Hütchen hatte der Sebaſtian unter die Decke geſteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer geweſen, als dieſe gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als ſie aus Heidi's Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlaſt und dem Hütchen oben drauf, hatte er ſchnell dieſes weggenommen und ihr zugerufen: „Das will ich ſchon fort thun.“ Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim Abendeſſen zur Erheiterung andeuten wollte. 9. Der Hausherr hört Allerlei in ſeinem Hauſe, das er noch nicht gehört hat. Einige Tage nach dieſen Ereigniſſen war im Hauſe Seſemann große Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppab-Rennen, denn eben war der Hausherr von ſeiner Reiſe zurückgekehrt, und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebaſtian und Tinette eine Laſt nach der andern hinaufgetragen, denn Herr Seſemann brachte immer eine Menge ſchöner Sachen mit nach Haus. Er ſelbſt war vor Allem in das Zimmer ſeiner Tochter eingetreten, um ſie zu begrüßen. Heidi ſaß bei ihr, denn es war die Zeit des ſpätern Nachmittags, da die Beiden immer zuſammen waren. Klara begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn ſie liebte ihn ſehr, und der gute Papa grüßte ſein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann ſtreckte er ſeine Hand dem Heidi entgegen, das ſich leiſe in eine Ecke zurückgezogen hatte, und ſagte freundlich: „Und das iſt unſere kleine Schweizerin; komm' her, gib mir 'mal eine Hand! So iſt's recht! Nun ſag' mir mal, ſeid ihr auch gute Freunde zuſammen, Klara und du? Nicht zanken und böſe werden und dann weinen und dann verſöhnen und dann wieder von vorn anfangen, nun?“ „Nein, Klara iſt immer gut mit mir“, entgegnete Heidi. „Und Heidi hat auch noch gar nie verſucht, zu zanken, Papa“, warf Klara ſchnell ein. „So iſt's gut, das hör' ich gern“, ſagte der Papa, indem er aufſtand. „Nun mußt du aber erlauben, Klärchen, daß ich Etwas genieße, heute habe ich noch Nichts bekommen, nachher komm' ich wieder zu dir und du ſollſt ſehen, was ich mitgebracht habe!“ Herr Seſemann trat in's Eßzimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den Tiſch überſchaute, der für ſein Mittagsmahl gerüſtet war. Nachdem Herr Seſemann ſich niedergelaſſen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen hatte und ausſah wie ein lebendiges Mißgeſchick, wandte ſich der Hausherr zu ihr: „Aber Fräulein Rottenmeier, was muß ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erſchreckendes Geſicht aufgeſetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen iſt ja ganz munter.“ „Herr Seſemann“, begann die Dame mit gewichtigem Ernſt, „Klara iſt mitbetroffen, wir ſind fürchterlich getäuſcht worden.“ „Wie ſo?“ fragte Herr Seſemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein. „Wir hatten ja beſchloſſen, wie Sie wiſſen, Herr Seſemann, eine Geſpielin für Klara in's Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie ſehr Sie darauf halten, daß nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Weſen bei uns eintreten zu ſehen, von denen ich ſchon ſo oft geleſen, welche, der reinen Bergluft entſproſſen, ſozuſagen ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.“ „Ich glaube zwar“, bemerkte hier Herr Seſemann, „daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn ſie vorwärts kommen wollen, ſonſt wären ihnen wohl Flügel gewachſen ſtatt der Füße.“ „Ach, Herr Seſemann, Sie verſtehen mich wohl“, fuhr das Fräulein fort, „ich meinte eine jener ſo bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Geſtalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüberziehn.“ „Was ſollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fräulein Rottenmeier?“ „Nein, Herr Seſemann, ich ſcherze nicht, die Sache iſt mir ernſter, als Sie denken, ich bin ſchrecklich, wirklich ganz erſchrecklich getäuſcht worden.“ „Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erſchrecklich ſieht mir das Kind nicht aus“, bemerkte ruhig Herr Seſemann. „Sie ſollten nur Eines wiſſen, Herr Seſemann, nur das Eine, mit was für Menſchen und Thieren dieſes Weſen Ihr Haus in Ihrer Abweſenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Candidat erzählen.“ „Mit Thieren? Wie muß ich das verſtehen, Fräulein Rottenmeier?“ „Es iſt eben nicht zu verſtehen; die ganze Aufführung dieſes Weſens wäre nicht zu verſtehen, wenn nicht aus dem Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verſtandesgeſtörtheit hat.“ Bis hierher hatte Herr Seſemann die Sache nicht für wichtig gehalten; aber Geſtörtheit des Verſtandes? eine ſolche konnte ja für ſeine Tochter die bedenklichſten Folgen haben. Herr Seſemann ſchaute Fräulein Rottenmeier ſehr genau an, ſo als wollte er ſich erſt verſichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken ſei. In dieſem Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Candidat angemeldet. „Ach da kommt unſer Herr Candidat, der wird uns Aufſchluß geben“, rief ihm Herr Seſemann entgegen. „Kommen Sie, kommen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir!“ Herr Seſemann ſtreckte dem Eintretenden die Hand entgegen. „Der Herr Candidat trinkt eine Taſſe ſchwarzen Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie ſich, ſetzen Sie ſich, keine Complimente! Und nun ſagen Sie mir, Herr Candidat, was iſt mit dem Kinde, das als Geſpielin meiner Tochter in's Haus gekommen iſt und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie ſteht es mit ſeinem Verſtand?“ Der Herr Candidat mußte erſt ſeine Freude über Herrn Seſemann's glückliche Rückkehr ausſprechen und ihn willkommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr Seſemann drängte ihn, daß er ihm Aufſchluß gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Candidat: „Wenn ich mich über das Weſen dieſes jungen Mädchens ausſprechen ſoll, Herr Seſemann, ſo möchte ich vor Allem darauf aufmerkſam machen, daß, wenn auch auf der einen Seite ſich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachläſſigte Erziehung, oder beſſer geſagt, etwas verſpäteten Unterricht verurſacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil ihre guten Seiten unſtreitig darthuende Abgeſchiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewiſſe Dauer überſchreitet, ja ohne Zweifel ſeine gute Seite —“ „Mein lieber Herr Candidat“, unterbrach hier Herr Seſemann, „Sie geben ſich wirklich zu viel Mühe; ſagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeſchleppte Thiere, und was halten Sie überhaupt von dieſem Umgang für mein Töchterchen?“ „Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten“, begann der Herr Candidat wieder, „denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von geſellſchaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger uncultivirten Leben, in welchem das junge Mädchen bis zu dem Augenblick ſeiner Verſetzung nach Frankfurt ſich bewegte, welche Verſetzung allerdings in die Entwicklung dieſes, ich möchte ſagen noch völlig, wenigſtens theilweiſe unentwickelten, aber anderſeits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allſeitig umſichtig geleitet —“ „Entſchuldigen Sie, Herr Candidat, bitte, laſſen Sie ſich nicht ſtören, ich werde — ich muß ſchnell einmal nach meiner Tochter ſehen.“ Damit lief Herr Seſemann zur Thür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studierzimmer ſetzte er ſich zu ſeinem Töchterchen hin; Heidi war aufgeſtanden. Herr Seſemann wandte ſich nach dem Kinde um: „Hör' 'mal, Kleine, hol' mir doch ſchnell — wart' einmal — hol' mir mal —“ (Herr Seſemann wußte nicht recht, was er bedurfte, Heidi ſollte aber ein wenig ausgeſchickt werden) — „hol' mir doch 'mal ein Glas Waſſer.“ „Friſches?“ fragte Heidi. „Ja wohl! Ja wohl! Recht friſches!“ gab Herr Seſemann zurück. Heidi verſchwand. „Nun, mein liebes Klärchen“, ſagte der Papa, indem er ganz nah an ſein Töchterchen heranrückte und deſſen Hand in die ſeinige legte, „ſag' du mir klar und faßlich: was für Thiere hat dieſe deine Geſpielin in's Haus gebracht und warum muß Fräulein Rottenmeier denken, ſie ſei zeitweiſe nicht ganz recht im Kopf, kannſt du mir das ſagen?“ Das konnte Klara, denn die erſchrockene Dame hatte auch ihr von Heidi's ſie verwirrenden Reden geſprochen, die aber für Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzählte erſt dem Vater die Geſchichten von der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidi's Reden, welche die Dame ſo erſchreckt hatten. Jetzt lachte Herr Seſemann herzlich: „So willſt du nicht, daß ich das Kind nach Haus ſchicke, Klärchen, du biſt ſeiner nicht müde?“ fragte der Vater. „Nein, nein, Papa, thu' nur das nicht!“ rief Klara abwehrend aus. „Seit Heidi da iſt, begegnet immer Etwas, jeden Tag und es iſt ſo kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie Etwas, und Heidi erzählt mir auch ſo viel.“ „Schon gut, ſchon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin ſchon wieder. Na, ſchönes, friſches Waſſer geholt?“ fragte Herr Seſemann, da ihm Heidi nun ein Glas Waſſer hinſtreckte. „Ja, friſch vom Brunnen“, antwortete Heidi. „Du biſt doch nicht ſelbſt zum Brunnen gelaufen, Heidi?“ ſagte Klara. „Doch gewiß, es iſt ganz friſch, aber ich mußte weit gehen, denn am erſten Brunnen waren ſo viele Leute. Da ging ich die Straße ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder ſo viel Leute; da ging ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Waſſer und der Herr mit den weißen Haaren läßt Herrn Seſemann freundlich grüßen.“ „Na, die Expedition iſt gut“, lachte Herr Seſemann, „und wer iſt denn der Herr?“ „Er kam beim Brunnen vorbei und dann ſtand er ſtill und ſagte: ‚Weil du doch ein Glas haſt, ſo gib mir auch einmal zu trinken; wem bringſt du dein Glas Waſſer?‘ Und ich ſagte: ‚Herrn Seſemann.‘ Da lachte er ſehr ſtark, und dann ſagte er den Gruß und auch noch, Herr Seſemann ſolle ſich's ſchmecken laſſen.“ „So, und wer läßt mir denn wohl den guten Wunſch ſagen? Wie ſah der Herr denn weiter aus?“ fragte Herr Seſemann. „Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes Ding hängt daran mit einem großen, rothen Stein und auf ſeinem Stock iſt ein Roßkopf.“ „Das iſt der Herr Doktor“, „Das iſt mein alter Doktor“, ſagten Klara und ihr Vater wie aus Einem Munde und Herr Seſemann lachte noch ein wenig in ſich hinein im Gedanken an ſeinen Freund und deſſen Betrachtungen über dieſe neue Weiſe, ſeinen Waſſerbedarf ſich zuführen zu laſſen. Noch an demſelben Abend erklärte Herr Seſemann, als er allein mit Fräulein Rottenmeier im Eßzimmer ſaß, um allerlei häusliche Angelegenheiten mit ihr zu beſprechen, die Geſpielin ſeiner Tochter werde im Hauſe bleiben; er finde, das Kind ſei in einem normalen Zuſtand und ſeine Geſellſchaft ſei ſeiner Tochter ſehr lieb und angenehmer, als jede andere. „Ich wünſche daher“, ſetzte Herr Seſemann ſehr beſtimmt hinzu, „daß dieſes Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und ſeine Eigenthümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, ſo iſt ja eine gute Hülfe für Sie in Ausſicht, da in nächſter Zeit meine Mutter zu ihrem längern Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menſchen fertig, wie er ſich auch anſtelle, das wiſſen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?“ „Ja wohl, das weiß ich, Herr Seſemann“, entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hülfe. Herr Seſemann hatte dieß Mal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hauſe; ſchon nach vierzehn Tagen riefen ihn ſeine Geſchäfte wieder nach Paris, und er tröſtete ſein Töchterchen, das mit der nahen Abreiſe nicht einverſtanden war, mit der Ausſicht auf die baldige Ankunft der Großmama, die ſchon nach einigen Tagen erwartet werden konnte. Kaum war auch Herr Seſemann abgereiſt, als ſchon der Brief anlangte, der die Abreiſe der Frau Seſemann aus Holſtein, wo ſie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die beſtimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geſchickt würde, um ſie abzuholen. Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an demſelben Abend dem Heidi ſo viel und ſo lange von der Großmama, daß Heidi auch anfing, von der „Großmama“ zu reden, worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Mißbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Beſonderes bezog, denn es fühlte ſich unter fortdauernder Mißbilligung der Dame. Als es ſich dann ſpäter entfernte, um in ſein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier es erſt in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe niemals den Namen „Großmama“ anzuwenden, ſondern wenn Frau Seſemann nun da ſei, habe es ſie ſtets „gnädige Frau“ anzureden. „Verſtehſt du das?“ fragte die Dame, als Heidi ſie etwas zweifelhaft anſah; ſie gab ihm aber einen ſo abſchließenden Blick zurück, daß Heidi ſich keine Erklärung mehr erbat, obſchon es den Titel nicht verſtanden hatte. 10. Eine Großmama. Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hauſe Seſemann ſichtbar, man konnte deutlich bemerken, daß die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hauſe mitzuſprechen hatte und daß Jedermann großen Reſpekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf geſetzt, und Sebaſtian raffte eine Menge von Schemeln zuſammen und ſtellte ſie an alle paſſenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin ſie ſich auch ſetzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Muſterung der Dinge ſehr aufrecht durch die Zimmer, ſowie um anzudeuten, daß, wenn auch eine zweite Herrſchermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöſchen ſei. Jetzt rollte der Wagen vor das Haus und Sebaſtian und Tinette ſtürzten die Treppe hinunter; langſam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn ſie wußte, daß auch ſie zum Empfang der Frau Seſemann zu erſcheinen hatte. Heidi war beordert worden, ſich in ſein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn die Großmama würde zuerſt bei Klara eintreten und dieſe wohl allein ſehen wollen. Heidi ſetzte ſich in einen Winkel und repetirte ſeine Anrede. Es währte gar nicht lange, ſo ſteckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidi's Zimmerthür und ſagte kurz angebunden wie immer: „Hinübergehen in's Studierzimmer!“ Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede ſei, aber es dachte, die Dame habe ſich nur verſprochen, denn es hatte bis jetzt immer erſt den Titel nennen gehört und nachher den Namen, ſo hatte es ſich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Thüre zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmama mit freundlicher Stimme entgegen: „Ach, da kommt ja das Kind! Komm' 'mal her zu mir und laß dich recht anſehen.“ Heidi trat heran, und mit ſeiner klaren Stimme ſagte es ſehr deutlich: „Guten Tag, Frau Gnädige.“ „Warum nicht gar!“ lachte die Großmama. „Sagt man ſo bei euch? Haſt du das daheim auf der Alp gehört?“ „Nein, bei uns heißt Niemand ſo“, erklärte Heidi ernſthaft. „So, bei uns auch nicht“, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. „Das iſt Nichts! In der Kinderſtube bin ich die Großmama; ſo ſollſt du mich nennen, das kannſt du wohl behalten, wie?“ „Ja, das kann ich gut“, verſicherte Heidi, „vorher hab' ich ſchon immer ſo geſagt.“ „So, ſo, verſtehe ſchon!“ ſagte die Großmama und nickte ganz luſtig mit dem Kopfe. Dann ſchaute ſie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf und Heidi guckte ihr auch ganz herzhaft in die Augen, denn da kam etwas ſo Herzliches heraus, daß es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi ſo, daß es ſie unverwandt anſchauen mußte. Sie hatte ſo ſchöne weiße Haare und um den Kopf ging eine ſchöne Spitzenkrauſe, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg und bewegten ſich immer irgendwie, ſo als ob ſtets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz beſonders anmuthete. „Und wie heißt du, Kind?“ fragte jetzt die Großmama. „Ich heiße nur Heidi; aber weil ich ſoll Adelheid heißen, ſo will ich ſchon Acht geben —“ Heidi ſtockte, denn es fühlte ſich ein wenig ſchuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unverſehens rief: „Adelheid!“ indem es ihm noch immer nicht recht gegenwärtig war, daß dieß ſein Name ſei, und Fräulein Rottenmeier war eben in's Zimmer getreten. „Frau Seſemann wird unſtreitig billigen“, fiel hier die eben Eingetretene ein, „daß ich einen Namen wählen mußte, den man doch ausſprechen kann, ohne ſich ſelbſt geniren zu müſſen, ſchon um der Dienſtboten willen.“ „Wertheſte Rottenmeier“, entgegnete Frau Seſemann, „wenn ein Menſch einmal Heidi heißt und an den Namen gewöhnt iſt, ſo nenn' ich ihn ſo, und dabei bleibt's!“ Es war Fräulein Rottenmeier ſehr genierlich, daß die alte Dame ſie beſtändig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war Nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und dieſe ging ſie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz ſcharf und geſund und ſie bemerkte, was im Hauſe vorging, ſobald ſie es betreten hatte. Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara ſich zur gewohnten Zeit nach Tiſch niederlegte, ſetzte die Großmama ſich neben ſie auf einen Lehnſtuhl und ſchloß ihre Augen für einige Minuten, dann ſtand ſie ſchon wieder auf, denn ſie war gleich wieder munter und trat in's Eßzimmer hinaus; da war Niemand. „Die ſchläft“, ſagte ſie vor ſich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Thüre. Nach einiger Zeit erſchien dieſe und fuhr erſchrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Beſuch. „Wo hält ſich das Kind auf um dieſe Zeit, und was thut es? das wollte ich wiſſen“, ſagte Frau Seſemann. „In ſeinem Zimmer ſitzt es, wo es ſich nützlich beſchäftigen könnte, wenn es den leiſeſten Thätigkeitstrieb hätte; aber Frau Seſemann ſollte nur wiſſen, was für verkehrtes Zeug ſich dieſes Weſen oft ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Geſellſchaft kaum erzählen könnte.“ „Das würde ich gerade auch thun, wenn ich ſo da drinnen ſäße, wie dieſes Kind, das kann ich Ihnen ſagen, und Sie könnten zuſehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Geſellſchaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, daß ich ihm einige hübſche Bücher gebe, die ich mitgebracht habe.“ „Das iſt ja gerade das Unglück, das iſt es ja eben“, rief Fräulein Rottenmeier aus und ſchlug die Hände zuſammen. „Was ſollte das Kind mit Büchern thun? In all dieſer Zeit hat es noch nicht einmal das ABC erlernt, es iſt völlig unmöglich, dieſem Weſen auch nur Einen Begriff beizubringen; davon kann der Herr Candidat reden! Wenn dieſer treffliche Menſch nicht die Geduld eines himmliſchen Engels beſäße, er hätte dieſen Unterricht längſt aufgegeben.“ „So, das iſt merkwürdig, das Kind ſieht nicht aus wie Eines, das das ABC nicht erlernen kann“, ſagte Frau Seſemann. „Jetzt holen Sie mir's herüber, es kann für einmal die Bilder in den Büchern anſehen.“ Fräulein Rottenmeier wollte noch Einiges bemerken, aber Frau Seſemann hatte ſich ſchon umgewandt und ging raſch ihrem Zimmer zu. Sie mußte ſich ſehr verwundern über die Nachricht von Heidi's Beſchränktheit und gedachte, die Sache zu unterſuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Candidaten, den ſie zwar um ſeines guten Charakters willen ſehr ſchätzte; ſie grüßte ihn auch immer, wenn ſie mit ihm zuſammentraf, überaus freundlich, lief dann aber ſehr ſchnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Geſpräch mit ihm verwickelt zu werden, denn ſeine Ausdrucksweiſe war ihr ein wenig beſchwerlich. Heidi erſchien im Zimmer der Großmama und macht die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern ſah, welche die Großmama mit gebracht hatte. Auf einmal ſchrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick ſchaute es auf die Figuren, dann ſtürzten ihm plötzlich die hellen Thränen aus den Augen und es fing gewaltig zu ſchluchzen an. Die Großmama ſchaute auf das Bild. Es war eine ſchöne, grüne Weide, wo allerlei Thierlein herumweideten und an den grünen Gebüſchen nagten. In der Mitte ſtand der Hirt, auf einen langen Stab geſtützt, der ſchaute den fröhlichen Thierchen zu. Alles war wie in Goldſchimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen. Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. „Komm', komm', Kind“, ſagte ſie in freundlichſter Weiſe, „nicht weinen, nicht weinen.“ Das hat dich wohl an Etwas erinnert; aber ſieh', da iſt auch eine ſchöne Geſchichte dazu, die erzähl' ich heut' Abend. Und da ſind noch ſo viele ſchöne Geſchichten in dem Buch, die kann man alle leſen und wiedererzählen. Komm', nun müſſen wir Etwas beſprechen zuſammen, trockne ſchön deine Thränen, ſo, und nun ſtell' dich hier vor mich hin, daß ich dich recht anſehen kann; ſo iſt's recht, nun ſind wir wieder fröhlich.“ Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu ſchluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur ſagte ſie von Zeit zu Zeit ermunternd: „So, nun iſt's gut, nun ſind wir wieder froh zuſammen.“ Als ſie endlich das Kind beruhigt ſah, ſagte ſie: „Nun mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Candidaten in den Unterrichtsſtunden, lernſt du auch gut und kannſt du 'was? „O nein“, antwortete Heidi ſeufzend, „aber ich wußte ſchon, daß man es nicht lernen kann.“ „Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinſt du?“ „Leſen kann man nicht lernen, es iſt zu ſchwer.“ „Das wäre! Und woher weißt du denn dieſe Neuigkeit?“ „Der Peter hat es mir geſagt und er weiß es ſchon, er muß immer wieder probiren, aber er kann es nie lernen, es iſt zu ſchwer.“ „So, das iſt mir ein eigner Peter, der! Aber ſieh', Heidi, man muß nicht Alles nur ſo hinnehmen, was Einem ein Peter ſagt, man muß ſelbſt probiren. Gewiß haſt du nie recht mit all' deinen Gedanken dem Herrn Candidaten zugehört und ſeine Buchſtaben angeſehen.“ „Es nützt Nichts“, verſicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabänderliche. „Heidi“, ſagte nun die Großmama, „jetzt will ich dir Etwas ſagen: du haſt noch nicht leſen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt haſt; nun aber ſollſt du mir glauben, und ich ſage dir feſt und ſicher, daß du in kurzer Zeit leſen lernen kannſt, wie eine große Menge von Kindern, die geartet ſind wie du und nicht wie der Peter. Und nun mußt du wiſſen, was nachher kommt, wenn du dann leſen kannſt — du haſt den Hirten geſehn auf der ſchönen grünen Weide —, ſobald du nun leſen kannſt, bekommſt du das Buch, da kannſt du ſeine ganze Geſchichte vernehmen, ganz ſo, als ob ſie dir Jemand erzählte, Alles, was er macht mit ſeinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge begegnen. Das möchteſt du ſchon wiſſen, Heidi, nicht?“ Heidi hatte mit geſpannter Aufmerkſamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen ſagte es jetzt, tief Athem holend: „O, wenn ich nur ſchon leſen könnte!“ „Jetzt wird's kommen und gar nicht lang wird's währen, das kann ich ſchon ſehn, Heidi, und nun müſſen wir 'mal nach der Klara ſehn, komm', die ſchönen Bücher nehmen wir mit.“ Damit nahm die Großmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer. — Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgeſcholten und ihm geſagt hatte, wie ſchlecht und undankbar es ſich erweiſe durch ſein Fortlaufenwollen und wie gut es ſei, daß Herr Seſemann Nichts davon wiſſe, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, daß es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Baſe geſagt hatte, ſondern daß es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verſtanden, daß Herr Seſemann es ſehr undankbar von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte ſich aus, daß die Großmama und Klara auch ſo denken würden. So durfte es keinem Menſchen ſagen, daß es heimgehen möchte, denn daß die Großmama, die ſo freundlich mit ihm war, auch böſe würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verurſachen. Aber in ſeinem Herzen wurde die Laſt, die darinnen lag, immer ſchwerer; es konnte nicht mehr eſſen und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einſchlafen, denn ſobald es allein war und Alles ſtill ringsumher, kam ihm Alles ſo lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenſchein darauf und die Blumen, und ſchlief es endlich doch ein, ſo ſah es im Traum die rothen Felſenſpitzen am Falkniß und das feurige Schneefeld am Cäſaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausſpringen aus der Hütte — da war es auf einmal in ſeinem großen Bett in Frankfurt, ſo weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft ſeinen Kopf in das Kiſſen und weinte lang, ganz leiſe, daß Niemand es höre. Heidi's freudloſer Zuſtand entging der Großmama nicht. Sie ließ einige Tage vorübergehen und ſah zu, ob die Sache ſich ändere und das Kind ſein niedergeſchlagenes Weſen verlieren würde. Als es aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen ſchon ſehen konnte, daß Heidi geweint hatte, da nahm ſie eines Tages das Kind wieder in ihre Stube, ſtellte es vor ſich hin und ſagte mit großer Freundlichkeit: „Jetzt ſag' mir, was dir fehlt, Heidi, haſt du einen Kummer?“ Aber gerade dieſer freundlichen Großmama wollte Heidi nicht ſich ſo undankbar zeigen, daß ſie vielleicht nachher gar nicht mehr ſo freundlich wäre; ſo ſagte Heidi traurig: „Man kann es nicht ſagen.“ „Nicht? Kann man es etwa der Klara ſagen?“ fragte die Großmama. „O nein, keinem Menſchen“, verſicherte Heidi und ſah dabei ſo unglücklich aus, daß es die Großmama erbarmte. „Komm', Kind“, ſagte ſie, „ich will dir 'was ſagen: Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menſchen ſagen kann, ſo klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, daß er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verſtehſt du, nicht wahr? Du beteſt doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankſt ihm für alles Gute und bitteſt ihn, daß er dich vor allem Böſen behüte?“ „O nein, das thu' ich nie“, antwortete das Kind. „Haſt du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das iſt?“ „Nur mit der erſten Großmutter habe ich gebetet, aber es iſt ſchon lang, und jetzt habe ich es vergeſſen.“ „Siehſt du, Heidi, darum mußt du ſo traurig ſein, weil du jetzt gar Niemanden kennſt, der dir helfen kann. Denk' einmal nach, wie wohl das thun muß, wenn Einen im Herzen Etwas immerfort drückt und quält und man kann ſo jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm Alles ſagen und ihn bitten, daß er helfe, wo uns ſonſt gar Niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.“ Durch Heidi's Augen fuhr ein Freudenſtrahl: „Darf man ihm Alles, Alles ſagen?“ „Alles, Heidi, Alles.“ Das Kind zog ſeine Hand aus den Händen der Großmama und ſagte eilig: „Kann ich gehn?“ „Gewiß! Gewiß!“ gab dieſe zur Antwort, und Heidi lief davon und hinüber in ſein Zimmer, und hier ſetzte es ſich auf ſeinen Schemel nieder und faltete ſeine Hände und ſagte dem lieben Gott Alles, was in ſeinem Herzen war und es ſo traurig machte, und bat ihn dringend und herzlich, daß er ihm helfe und es wieder heimkommen laſſe zum Großvater. Es mochte etwas mehr als eine Woche verfloſſen ſein ſeit dieſem Tage, als der Herr Candidat begehrte, der Frau Seſemann ſeine Aufwartung zu machen, indem er eine Beſprechung über einen merkwürdigen Gegenſtand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, ſtreckte ihm Frau Seſemann ſogleich freundlich die Hand entgegen: „Mein lieber Herr Candidat, ſeien Sie mir willkommen! ſetzen Sie ſich her zu mir, hier“ — ſie rückte ihm den Stuhl zurecht —; „ſo, nun ſagen Sie mir, was bringt Sie zu mir, doch nichts Schlimmes? Keine Klagen?“ „Im Gegentheil, gnädige Frau“, begann der Herr Candidat, „es iſt Etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und Keiner, der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen Vorausſetzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige Unmöglichkeit ſein müſſe, was dennoch jetzt wirklich geſchehen iſt und in der wunderbarſten Weiſe ſtattgefunden hat, gleichſam im Gegenſatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden —“ „Sollte das Kind Heidi etwa leſen gelernt haben, Herr Candidat?“ ſetzte hier Frau Seſemann ein. In ſprachloſem Erſtaunen ſchaute der überraſchte Herr die Dame an. „Es iſt ja wirklich völlig wunderbar“, ſagte er endlich, „nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründlichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das ABC nicht erlernt hat, ſondern auch und beſonders, daß es jetzt in kürzeſter Zeit, nachdem ich mich entſchloſſen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu laſſen und ohne alle weitergreifenden Erläuterungen nur noch ſozuſagen die nackten Buchſtaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, ſozuſagen über Nacht das Leſen erfaßt hat, und dazu ſogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie mir bei Anfängern noch ſelten vorgekommen iſt. Faſt ebenſo wunderbar aber iſt mir die Wahrnehmung, daß die gnädige Frau gerade dieſe fernliegende Thatſache als Möglichkeit vermuthete.“ „Es geſchehen viele wunderbare Dinge im Menſchenleben“, beſtätigte Frau Seſemann und lächelte vergnüglich; „es können auch einmal zwei Dinge glücklich zuſammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können Nichts ſchaden, Herr Candidat. Jetzt wollen wir uns freuen, daß das Kind ſo weit iſt, und auf guten Fortgang hoffen.“ Damit begleitete ſie den Herrn Candidaten zur Thür hinaus und ging raſch nach dem Studierzimmer, um ſich ſelbſt der erfreulichen Nachricht zu verſichern. Richtig ſaß hier Heidi neben Klara und las dieſer eine Geſchichte vor, ſichtlich ſelbſt mit dem größten Erſtaunen und mit einem wachſenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den ſchwarzen Buchſtaben Menſchen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geſchichten wurden. Noch an demſelben Abend, als man ſich zu Tiſche ſetzte, fand Heidi auf ſeinem Teller das große Buch liegen mit den ſchönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, ſagte dieſe freundlich nickend: „Ja, ja, nun gehört es dir.“ „Für immer? Auch wenn ich heimgehe?“ fragte Heidi, ganz roth vor Freude. „Gewiß, für immer!“ verſicherte die Großmama, „morgen fangen wir an zu leſen.“ „Aber du gehſt nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi“, warf Klara hier ein; „wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du erſt recht bei mir bleiben.“ Noch vor dem Schlafengehen mußte Heidi in ſeinem Zimmer ſein ſchönes Buch anſehen, und von dem Tage an war es ſein Liebſtes, über ſeinem Buch zu ſitzen und immer wieder die Geſchichten zu leſen, zu denen die ſchönen, bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun lieſt uns Heidi vor“, ſo war das Kind ſehr beglückt, denn das Leſen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geſchichten laut vorlas, ſo kamen ſie ihm noch viel ſchöner und verſtändlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch ſo Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am liebſten beſchaute Heidi immer wieder ſeine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Heerde, wie er ſo vergnüglich, auf ſeinen langen Stab gelehnt, daſtand, denn da war er noch bei der ſchönen Heerde des Vaters und ging nur den luſtigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten mußte und ganz mager geworden war bei den Träbern, die er allein noch zu eſſen bekam. Und auf dem Bilde ſchien auch die Sonne nicht mehr ſo golden, da war das Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geſchichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hauſe heraus und lief dem heimkehrenden, reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtſam und abgemagert in einem zerriſſenen Wams daherkam. Das war Heidi's Lieblingsgeſchichte, die es immer wieder las, laut und leiſe und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch ſo viele ſchöne Geſchichten in dem Buch, und bei dem Leſen derſelben und dem Bilderbeſehen gingen die Tage ſehr ſchnell dahin, und ſchon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreiſe beſtimmt hatte. 11. Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der andern ab. Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara ſich hinlegte und Fräulein Rottenmeier wahrſcheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnißvoll verſchwand, ſich einen Augenblick neben Klara hingeſetzt; aber ſchon nach fünf Minuten war ſie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube berufen, ſich mit ihm beſprochen und es auf allerlei Weiſe beſchäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübſche kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die ſchönſten Röcke und Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugſtücke von den prächtigſten Farben. Nun Heidi leſen konnte, durfte es auch immer wieder der Großmama ſeine Geſchichten vorleſen, das machte ihm die größte Freude, denn je mehr es ſeine Geſchichten las, deſto lieber wurden ſie ihm, denn Heidi lebte Alles ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und ſo hatte es zu ihnen allen ein ſehr nahes Verhältniß und freute ſich immer wieder, bei ihnen zu ſein. Aber ſo recht froh ſah Heidi nie aus und ſeine luſtigen Augen waren nie mehr zu ſehen. Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, daß es auf ihre Stube komme; es war die Zeit, da Klara ſchlief. Als Heidi eintrat mit ſeinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, daß es ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und ſagte: „Nun komm', Kind, und ſag' mir, warum biſt du nicht fröhlich? Haſt du immer noch denſelben Kummer im Herzen?“ „Ja“, nickte Heidi. „Haſt du ihn dem lieben Gott geklagt?“ „Ja.“ „Und beteſt du nun alle Tage, daß Alles gut werde und er dich froh mache?“ „O nein, ich bete jetzt gar nie mehr.“ „Was ſagſt du mir, Heidi? Was muß ich hören! Warum beteſt du denn nicht mehr?“ „Es nützt Nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube es auch wohl“, fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, „wenn nun am Abend ſo viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, ſo kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiß gar nie gehört.“ „So, wie weißt du denn das ſo ſicher, Heidi?“ „Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang und der liebe Gott hat es nie gethan.“ „Ja, ſo geht's nicht zu, Heidi! das mußt du nicht meinen! Siehſt du, der liebe Gott iſt für uns Alle ein guter Vater, der immer weiß, was gut für uns iſt, wenn wir es gar nicht wiſſen. Wenn wir nun aber Etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns iſt, ſo gibt er uns das nicht, ſondern etwas viel Beſſeres, wenn wir fortfahren, ſo recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehſt du, was du nun von ihm erbitten wollteſt, das war in dieſem Augenblick nicht gut für dich; der liebe Gott hat dich ſchon gehört, er kann alle Menſchen auf einmal anhören und überſehn, ſiehſt du, dafür iſt er der liebe Gott und nicht ein Menſch, wie du und ich. Und weil er nun wohl wußte, was für dich gut iſt, dachte er bei ſich: ‚Ja, das Heidi ſoll ſchon einmal haben, wofür es bittet, aber erſt dann, wenn es ihm gut iſt, und ſo wie es darüber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt thue, was es will, und es merkt nachher, daß es doch beſſer geweſen wäre, ich hätte ihm ſeinen Willen nicht gethan, dann weint es nachher und ſagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofür ich bat, es iſt gar nicht ſo gut, wie ich gemeint habe.‘ Und während nun der liebe Gott auf dich niederſah, ob du ihm auch recht vertraueſt und täglich zu ihm kommeſt und beteſt und immer zu ihm aufſeheſt, wenn dir Etwas fehlt, da biſt du weggelaufen ohne alles Vertrauen, haſt nie mehr gebetet und haſt den lieben Gott ganz vergeſſen. Aber ſiehſt du, wenn Einer es ſo macht und der liebe Gott hört ſeine Stimme gar nie mehr unter den Betenden, ſo vergißt er ihn auch und läßt ihn gehn, wohin er will. Wenn es ihm aber dabei ſchlecht geht und er jammert: ‚Mir hilft aber auch gar Niemand!‘ dann hat Keiner Mitleiden mit ihm, ſondern Jeder ſagt zu ihm: ‚Du biſt ja ſelbſt vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!‘ Willſt du's ſo haben, Heidi, oder willſt du gleich wieder zum lieben Gott gehn und ihn um Verzeihung bitten, daß du ſo von ihm weggelaufen biſt, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen, daß er Alles gut für dich machen werde, ſo daß du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannſt?“ Heidi hatte ſehr aufmerkſam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel in ſein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen. „Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergeſſen“, ſagte Heidi reumüthig. „So iſt's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, ſei nur getroſt!“ ermunterte die Großmama, und Heidi lief ſofort in ſein Zimmer hinüber und betete ernſtlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er es doch nicht vergeſſen und auch wieder zu ihm niederſchauen möge. — Der Tag der Abreiſe war gekommen, es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Großmama wußte es ſo einzurichten, daß ſie gar nicht zum Bewußtſein kamen, daß es eigentlich ein trauriger Tag ſei, ſondern es war eher wie ein Feſttag, bis die gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hauſe ein, als wäre Alles vorüber, und ſo lange noch der Tag währte, ſaßen Klara und Heidi wie verloren da und wußten gar nicht, wie es nun weiter kommen ſollte. Am folgenden Tag, als die Unterrichtsſtunden vorbei und die Zeit da war, da die Kinder gewöhnlich zuſammenſaßen, trat Heidi mit ſeinem Buch unter dem Arm herein und ſagte: „Ich will dir nun immer, immer vorleſen, willſt du, Klara?“ Der Klara war der Vorſchlag recht für einmal, und Heidi machte ſich mit Eifer an ſeine Thätigkeit. Aber es ging nicht lange, ſo hörte ſchon wieder Alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geſchichte zu leſen begonnen, die von einer ſterbenden Großmutter handelte, als es auf einmal laut aufſchrie: „O nun iſt die Großmutter todt!“ und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn Alles, was es las, war dem Heidi volle Gegenwart und es glaubte nicht anders, als nun ſei die Großmutter auf der Alm geſtorben und es klagte in immer lauterem Weinen: „Nun iſt die Großmutter todt und ich kann nie mehr zu ihr gehen und ſie hat nicht ein einziges Brödchen mehr bekommen!“ Klara ſuchte immerfort dem Heidi zu erklären, daß es ja nicht die Großmutter auf der Alm ſei, ſondern eine ganz andere, von der dieſe Geſchichte handle; aber auch, als ſie endlich dazu gekommen war, dem aufgeregten Heidi dieſe Verwechslung klar zu machen, konnte es ſich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröſtlich weiter, denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter könne ja ſterben, während es ſo weit weg ſei, und der Großvater auch noch, und wenn es dann nach langer Zeit wieder heimkomme, ſo ſei Alles ſtill und todt auf der Alm und es ſtehe ganz allein da und könne niemals mehr die ſehen, die ihm lieb waren. Währenddeſſen war Fräulein Rottenmeier in's Zimmer getreten und hatte noch Klara's Bemühungen, Heidi über ſeinen Irrthum aufzuklären, mitangehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte zu ſchluchzen, trat ſie mit ſichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern heran und ſagte mit beſtimmtem Ton: „Adelheid, nun iſt des grundloſen Geſchrei's genug! Ich will dir Eines ſagen: Wenn du noch ein einziges Mal beim Leſen deiner Geſchichten ſolchen Ausbrüchen den Lauf läſſeſt, ſo nehme ich das Buch aus deinen Händen und für immer!“ Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch war ſein höchſter Schatz. Es trocknete in größter Eile ſeine Thränen und ſchluckte und würgte ſein Schluchzen mit Gewalt hinunter, ſo daß kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie mehr, was es auch leſen mochte; aber manchmal hatte es ſolche Anſtrengungen zu machen, um ſich zu überwinden und nicht aufzuſchreien, daß Klara öfter ganz erſtaunt ſagte: „Heidi, du machſt ſo ſchreckliche Grimaſſen, wie ich noch nie geſehen habe.“ Aber die Grimaſſen machten keinen Lärm und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi ſeinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam Alles wieder in's Geleiſe für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen. Aber ſeinen Appetit verlor Heidi ſo ſehr und ſah ſo mager und bleich aus, daß der Sebaſtian faſt nicht ertragen konnte, das ſo mit anzuſehen und Zeuge ſein zu müſſen, wie Heidi bei Tiſch die ſchönſten Gerichte an ſich vorübergehen ließ und Nichts eſſen wollte. Er flüſterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm eine Schüſſel hinhielt: „Nehmen von dem, Mamſellchen, 's iſt vortrefflich. Nicht ſo! Einen rechten Löffel voll, noch einen!“ und dergleichen väterlicher Räthe mehr; aber es half Nichts; Heidi aß faſt gar nicht mehr, und wenn es ſich am Abend auf ſein Kiſſen legte, ſo hatte es augenblicklich Alles vor Augen, was daheim war, und nur ganz leiſe weinte es dann vor Sehnſucht in ſein Kiſſen hinein, ſo daß es gar Niemand hören konnte. So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wußte gar nie, ob es Sommer oder Winter ſei, denn die Mauern und Fenſter, die es aus allen Fenſtern des Hauſes Seſemann erblickte, ſahen immer gleich aus, und hinaus kam es nur, wenn es Klara beſonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer ſehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Steinſtraßen heraus, ſondern kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große, ſchöne Straßen, wo Häuſer und Menſchen in Fülle zu ſehen waren, aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und Heidi's Verlangen nach dem Anblick der ſchönen, gewohnten Dinge ſteigerte ſich mit jedem Tage mehr, ſo daß es jetzt nur den Namen eines dieſer Erinnerung-weckenden Worte zu leſen brauchte, ſo war ſchon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbſt und Winter vergangen, und ſchon blendete die Sonne wieder ſo ſtark auf die weißen Mauern am Hauſe gegenüber, daß Heidi ahnte, nun ſei die Zeit nahe, da der Peter wieder zur Alm führe mit den Gaißen, da die goldenen Cyſtusröschen glitzerten droben im Sonnenſchein und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer ſtänden. Heidi ſetzte ſich in ſeinem einſamen Zimmer in einen Winkel und hielt ſich mit beiden Händen die Augen zu, daß es den Sonnenſchein drüben an der Mauer nicht ſehe; und ſo ſaß es regungslos, ſein brennendes Heimweh lautlos niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief. 12. Im Hauſe Seſemann ſpukt's. Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meiſtens ſchweigend und in ſich gekehrt im Haus herum. Wenn ſie um die Zeit der Dämmerung von einem Zimmer in's andere, oder über den langen Corridor ging, ſchaute ſie öfters um ſich, gegen die Ecken hin und auch ſchnell einmal hinter ſich, ſo als denke ſie, es könnte Jemand leiſe hinter ihr herkommen und ſie unverſehens am Rock zupfen. So allein ging ſie aber nur noch in den bewohnten Räumen herum. Hatte ſie auf dem obern Boden, wo die feierlich aufgerüſteten Gaſtzimmer lagen, oder gar in den untern Räumen Etwas zu beſorgen, wo der große geheimnißvolle Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin ſchallenden Wiederhall gab und die alten Rathsherren mit den großen, weißen Kragen ſo ernſthaft und unverwandt auf Einen niederſchauten, da rief ſie nun regelmäßig die Tinette herbei und ſagte ihr, ſie habe mitzukommen, im Fall Etwas von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette ihrerſeits machte es pünktlich ebenſo; hatte ſie oben oder unten irgend ein Geſchäft abzuthun, ſo rief ſie den Sebaſtian herbei und ſagte ihm, er habe ſie zu begleiten, es möchte Etwas herbeizubringen ſein, das ſie nicht allein tragen könnte. Wunderbarerweiſe that auch Sebaſtian akurat dasſelbe; wurde er in die abgelegenen Räume geſchickt, ſo holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeiſchaffen könnte, was erforderlich ſei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obſchon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, ſo daß Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war ſo, als denke der Herbeigerufene immer bei ſich, er könne den Andern auch bald für denſelben Dienſt nöthig haben. Während ſich Solches oben zutrug, ſtand unten die langjährige Köchin tiefſinnig bei ihren Töpfen und ſchüttelte den Kopf und ſeufzte: „Daß ich das noch erleben mußte!“ Es ging im Hauſe Seſemann ſeit einiger Zeit etwas ganz Seltſames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerſchaft herunter kam, ſtand die Hausthüre weit offen; aber weit und breit war Niemand zu ſehen, der mit dieſer Erſcheinung im Zuſammenhang ſtehen konnte. In den erſten Tagen, da dies geſchehen war, wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauſes durchſucht, um zu ſehen, was Alles geſtohlen ſei, denn man dachte, ein Dieb habe ſich im Hauſe verſtecken können und ſei in der Nacht mit dem Geſtohlenen entflohen; aber da war gar Nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hauſe nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Thüre doppelt zugeriegelt, ſondern es wurde noch der hölzerne Balken vorgeſchoben, — es half Nichts: am Morgen ſtand die Thüre weit offen; und ſo früh nun auch die ganze Dienerſchaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte: die Thür ſtand offen, wenn auch ringsum Alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenſter und Thüren an allen andern Häuſern noch feſt verrammelt waren. Endlich faßten ſich der Johann und der Sebaſtian ein Herz und machten ſich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den großen Saal ſtieß, zuzubringen und zu erwarten, was geſchehe. Fräulein Rottenmeier ſuchte mehrere Waffen des Herrn Seſemann hervor und übergab dem Sebaſtian eine große Liqueurflaſche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen könne, wo ſie nöthig ſei. Die Beiden ſetzten ſich an dem feſtgeſetzten Abend hin und fingen gleich an, ſich Stärkung zuzutrinken, was ſie erſt ſehr geſprächig und dann ziemlich ſchläfrig machte, worauf ſie Beide ſich an die Seſſelrücken lehnten und verſtummten. Als die alte Thurmuhr drüben zwölfe ſchlug, ermannte ſich Sebaſtian und rief ſeinen Kameraden an; der war aber nicht leicht zu erwecken: ſo oft ihn Sebaſtian anrief, legte er ſeinen Kopf von einer Seite der Seſſellehne auf die andere und ſchlief weiter. Sebaſtian lauſchte nunmehr geſpannt, er war nun wieder ganz munter geworden. Es war Alles mäuschenſtill, auch von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebaſtian entſchlief nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm ſehr unheimlich in der großen Stille und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es drüben ſchon ein Uhr geſchlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewußtſein gekommen, warum er auf dem Stuhl ſitze und nicht in ſeinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal ſehr tapfer empor und rief: „Nu, Sebaſtian, wir müſſen doch einmal hinaus und ſehen, wie's ſteht; du wirſt dich ja nicht fürchten, nur mir nach!“ Johann machte die leicht angelehnte Zimmerthür weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies von der offenen Hausthüre ein ſcharfer Luftzug her und löſchte das Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieſer ſtürzte zurück, warf den hinter ihm ſtehenden Sebaſtian beinah' rücklings in's Zimmer hinein, riß ihn dann mit, ſchlug die Thüre zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüſſel um, ſo lang er nur umging. Dann riß er ſeine Streichhölzer hervor und zündete ſein Licht wieder an. Sebaſtian wußte gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann ſtehend, hatte er den Luftzug nicht ſo deutlich empfunden. Wie er aber Jenen nun bei Licht beſah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. „Was iſt's denn? Was war denn draußen?“ fragte der Sebaſtian theilnehmend. „Sperrangelweit offen die Thür“, keuchte Johann, „und auf der Treppe eine weiße Geſtalt, ſiehſt du, Sebaſtian, nur ſo die Treppe hinauf — huſch und verſchwunden.“ Dem Sebaſtian gruſelte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt ſetzten ſich die Beiden ganz nah' zuſammen und regten ſich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten ſie zuſammen hinaus, machten die weit offen ſtehende Hausthüre zu und ſtiegen dann hinauf, um Fräulein Rottenmeier Bericht zu erſtatten über das Erlebte. Die Dame war auch ſchon zu ſprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte ſie nicht mehr ſchlafen laſſen. Sobald ſie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb einen Brief an Herrn Seſemann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge ſich nur ſogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hauſe zurückkehren, denn da geſchähen unerhörte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgetheilt, ſo wie auch die Nachricht, daß fortgeſetzt die Thüre jeden Morgen offen ſtehe; daß alſo Keiner im Hauſe ſeines Lebens mehr ſicher ſei bei dergeſtalt allnächtlich offen ſtehender Hauspforte und daß man überhaupt nicht abſehen könne, was für dunkle Folgen dieſer unheimliche Vorgang noch nach ſich ziehen könne. Herr Seſemann antwortete umgehend, es ſei ihm unmöglich, ſo plötzlich Alles liegen zu laſſen und nach Hauſe zu kommen. Die Geſpenſtergeſchichte ſei ihm ſehr befremdend, er hoffe auch, ſie ſei vorübergehend; ſollte es indeſſen keine Ruhe geben, ſo möge Fräulein Rottenmeier an Frau Seſemann ſchreiben und ſie fragen, ob ſie nicht nach Frankfurt zu Hülfe kommen wollte, gewiß würde ſeine Mutter in kürzeſter Zeit mit den Geſpenſtern fertig, und dieſe trauten ſich nachher ſicher ſo bald nicht wieder, ſein Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieſes Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernſt aufgefaßt. Sie ſchrieb unverzüglich an Frau Seſemann, aber von dieſer Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Seſemann ſchrieb, ſie gedenke nicht extra von Holſtein nach Frankfurt hinunterzureiſen, weil die Rottenmeier Geſpenſter ſehe. Uebrigens ſei niemals ein Geſpenſt geſehen worden im Hauſe Seſemann, und wenn jetzt eines darin herumfahre, ſo könne es nur ein lebendiges ſein, mit dem die Rottenmeier ſich ſollte verſtändigen können; wo nicht, ſo ſolle ſie die Nachtwächter zu Hülfe rufen. Aber Fräulein Rottenmeier war entſchloſſen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und ſie wußte ſich zu helfen. Bis dahin hatte ſie den beiden Kindern Nichts von der Geiſtererſcheinung geſagt, denn ſie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte ſehr unbequeme Folgen für ſie haben. Jetzt ging ſie ſtracks in's Studierzimmer hinüber, wo die Beiden zuſammenſaßen, und erzählte mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erſcheinungen eines Unbekannten. Sofort ſchrie Klara auf, ſie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa müſſe nach Hauſe kommen und Fräulein Rottenmeier müſſe zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und Heidi dürfe auch nicht mehr allein ſein, ſonſt könne das Geſpenſt einmal zu ihm kommen und ihm Etwas thun, ſie wollten Alle in einem Zimmer ſchlafen und die ganze Nacht das Licht brennen laſſen, und Tinette müſſe nebenan ſchlafen und der Sebaſtian und der Johann müſſen auch herunterkommen und auf dem Corridor ſchlafen, daß ſie gleich ſchreien und das Geſpenſt erſchrecken können, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte. Klara war ſehr aufgeregt und Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, ſie etwas zu beſchwichtigen. Sie verſprach ihr, ſogleich an den Papa zu ſchreiben und auch ihr Bett in Klara's Zimmer ſtellen und ſie nie mehr allein laſſen zu wollen. Alle konnten ſie nicht in demſelben Raume ſchlafen, aber wenn Adelheid ſich auch fürchten ſollte, ſo müßte Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufſchlagen. Aber Heidi fürchtete ſich mehr vor der Tinette, als vor Geſpenſtern, von denen das Kind noch gar nie Etwas gehört hatte, und es erklärte gleich, es fürchte das Geſpenſt nicht und wolle ſchon allein in ſeinem Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren Schreibtiſch und ſchrieb an Herrn Seſemann, die unheimlichen Vorgänge im Hauſe, die allnächtlich ſich wiederholten, hätten die zarte Conſtitution ſeiner Tochter dergeſtalt erſchüttert, daß die ſchlimmſten Folgen zu beſorgen ſeien, man habe Beiſpiele von plötzlich eintretenden epileptiſchen Zufällen, oder Beitstanz in ſolchen Verhältniſſen, und ſeine Tochter ſei Allem ausgeſetzt, wenn dieſer Zuſtand des Schreckens im Hauſe nicht gehoben werde. Das half. Zwei Tage darauf ſtand Herr Seſemann an ſeiner Thür und ſchellte dergeſtalt an ſeiner Hausglocke, daß Alles zuſammenlief und Einer den Andern anſtarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun laſſe der Geiſt frecher Weiſe noch vor Nacht ſeine boshaften Stücke aus. Sebaſtian guckte ganz behutſam durch einen halbgeöffneten Laden von oben herunter, in dem Augenblick ſchellte es noch einmal ſo nachdrücklich, daß Jeder unwillkürlich eine Menſchenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermuthete. Sebaſtian hatte die Hand erkannt, ſtürzte durch's Zimmer, kopfüber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riß die Hausthür auf. Herr Seſemann grüßte kurz und ſtieg ohne Weiteres nach dem Zimmer ſeiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf und als er ſie ſo munter und völlig unverändert ſah, glättete ſich ſeine Stirn, die er vorher ſehr zuſammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr ſelbſt hörte, ſie ſei ſo wohl wie immer und ſie ſei ſo froh, daß er gekommen ſei, daß es ihr jetzt ganz recht ſei, daß ein Geiſt im Haus herumfahre, weil er doch daran ſchuld ſei, daß der Papa heimkommen mußte. „Und wie führt ſich das Geſpenſt weiter auf, Fräulein Rottenmeier?“ fragte nun Herr Seſemann mit einem luſtigen Ausdruck in den Mundwinkeln. „Nein, Herr Seſemann“, entgegnete die Dame ernſt, „es iſt kein Scherz; ich zweifle nicht daran, daß morgen Herr Seſemann nicht mehr lachen wird, denn was in dem Hauſe vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muß vorgegangen und verheimlicht worden ſein.“ „So, davon weiß ich nichts“, bemerkte Herr Seſemann, „muß aber bitten, meine völlig ehrenvollen Ahnen nicht verdächtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebaſtian in's Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden.“ Herr Seſemann ging hinüber und Sebaſtian erſchien. Es war Herrn Seſemann nicht entgangen, daß Sebaſtian und Fräulein Rottenmeier ſich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; ſo hatte er ſeine Gedanken. „Komm' Er her, Burſche“, winkte er dem Eintretenden entgegen, „und ſag' Er mir nun ganz ehrlich: hat Er nicht etwa ſelbſt ein wenig Geſpenſt geſpielt, ſo um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, nu?“ „Nein, meiner Treu, das muß der gnädige Herr nicht glauben, es iſt mir ſelbſt nicht ganz gemüthlich bei der Sache“, entgegnete Sebaſtian mit unverkennbarer Ehrlichkeit. „Nun, wenn es ſo ſteht, ſo will ich morgen Ihm und dem tapfern Johann zeigen, wie Geſpenſter beim Licht ausſehen. Schäm' Er ſich, Sebaſtian, ein junger, kräftiger Burſch, wie Er iſt, vor Geſpenſtern davonzulaufen! Nun geh' Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor Claſſen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut' Abend neun Uhr bei mir erſcheinen, ich ſei extra von Paris hergereiſt, um ihn zu conſultiren. Er müſſe die Nacht bei mir wachen, ſo ſchlimm ſei's; er ſolle ſich richten! Verſtanden, Sebaſtian?“ „Ja wohl, ja wohl! der gnädige Herr kann ſicher ſein, daß ich's gut mache.“ Damit entfernte ſich Sebaſtian, und Herr Seſemann kehrte zu ſeinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erſcheinung zu benehmen, die er noch heute in's nöthige Licht ſtellen wollte. Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein Rottenmeier ſich zurückgezogen hatte, erſchien der Doktor, der unter ſeinen grauen Haaren noch ein recht friſches Geſicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er ſah etwas ängſtlich aus, brach aber gleich nach ſeiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und ſagte, ſeinem Freunde auf die Schulter klopfend: „Nu, nu, für Einen, bei dem man wachen ſoll, ſiehſt du noch leidlich aus, Alter.“ „Nur Geduld, Alter“, gab Herr Seſemann zurück; „derjenige, für den du wachen mußt, wird ſchon ſchlimmer ausſehen, wenn wir ihn erſt abgefangen haben.“ „Alſo doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden muß?“ „Weit ſchlimmer, Doktor, weit ſchlimmer. Ein Geſpenſt im Hauſe, bei mir ſpukt's!“ Der Doktor lachte laut auf. „Schöne Theilnahme, das, Doktor!“ fuhr Herr Seſemann fort; „ſchade, daß meine Freundin Rottenmeier ſie nicht genießen kann. Sie iſt feſt überzeugt, daß ein alter Seſemann hier herumrumort und Schauerthaten abbüßt.“ „Wie hat ſie ihn aber nur kennen gelernt?“ fragte der Doktor immer noch ſehr erheitert. Herr Seſemann erzählte nun ſeinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnächtlich die Hausthür geöffnet werde, nach der Angabe der ſämmtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle Fälle vorbereitet zu ſein, habe er zwei gutgeladene Revolver in das Wachtlokal legen laſſen; denn entweder die Sache ſei ein ſehr unerwünſchter Scherz, den ſich vielleicht irgend ein Bekannter der Dienerſchaft mache, um die Leute des Hauſes in Abweſenheit des Hausherrn zu erſchrecken — dann könnte ein kleiner Schrecken, wie ein guter Schuß in's Leere, ihm nicht unheilſam ſein —; oder auch es handle ſich um Diebe, die auf dieſe Weiſe erſt den Gedanken an Geſpenſter aufkommen laſſen wollten, um nachher um ſo ſicherer zu ſein, daß Niemand ſich herauswagte, — in dieſem Falle könnte eine gute Waffe auch nicht ſchaden. Während dieſer Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergeſtiegen und traten in dasſelbe Zimmer ein, wo Johann und Sebaſtian auch gewacht hatten. Auf dem Tiſche ſtanden einige Flaſchen ſchönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünſcht ſein, wenn die Nacht da zugebracht werden mußte. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter ſtanden mitten auf dem Tiſch, denn ſo im Halbdunkel wollte Herr Seſemann das Geſpenſt denn doch nicht erwarten. Nun wurde die Thür an's Schloß gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Corridor hinausfließen, es konnte das Geſpenſt verſcheuchen. Jetzt ſetzten ſich die Herren gemüthlich in ihre Lehnſtühle und fingen an, ſich Allerlei zu erzählen, nahmen auch hie und da dazwiſchen einen guten Schluck, und ſo ſchlug es zwölf Uhr, eh' ſie ſich's verſahen. „Das Geſpenſt hat uns gewittert und kommt wohl heut' gar nicht“, ſagte der Doktor jetzt. „Nur Geduld, es ſoll erſt um ein Uhr kommen“, entgegnete der Freund. Das Geſpräch wurde wieder aufgenommen. Es ſchlug ein Uhr. Ringsum war es völlig ſtill, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor. „Bſt, Seſemann, hörſt du Nichts?“ Sie lauſchten Beide. Leiſe, aber ganz deutlich hörten ſie, wie der Balken zurückgeſchoben, dann der Schlüſſel zwei Mal im Schloß umgedreht, jetzt die Thür geöffnet wurde. Herr Seſemann fuhr mit der Hand nach ſeinem Revolver. „Du fürchteſt dich doch nicht?“ ſagte der Doktor und ſtand auf. „Behutſam iſt beſſer“, flüſterte Herr Seſemann, erfaßte mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Corridor hinaus. Durch die weitgeöffnete Thür floß ein bleicher Mondſchein herein und beleuchtete eine weiße Geſtalt, die regungslos auf der Schwelle ſtand. „Wer da?“ donnerte jetzt der Doktor heraus, daß es durch den ganzen Corridor hallte und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen auf die Geſtalt heran. Sie kehrte ſich um und that einen leiſen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen ſtand Heidi da, ſchaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten. Die Herren ſchauten einander in großem Erſtaunen an. „Ich glaube wahrhaftig, Seſemann, es iſt deine kleine Waſſerträgerin“, ſagte der Doktor. „Kind, was ſoll das heißen?“ fragte nun Herr Seſemann. „Was wollteſt du thun? Warum biſt du hier heruntergekommen?“ Schneeweiß vor Schrecken ſtand Heidi vor ihm und ſagte faſt tonlos: „Ich weiß nicht.“ Jetzt trat der Doktor vor: „Seſemann, der Fall gehört in mein Gebiet, geh', ſetz' dich für einmal in deinen Lehnſtuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen, wo es hin gehört.“ Damit legte er ſeinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu. „Nicht fürchten, nicht fürchten“, ſagte er freundlich im Hinaufſteigen, „nur ganz ruhig ſein, da iſt gar nichts Schlimmes dabei, nur getroſt ſein.“ In Heidi's Zimmer eingetreten, ſtellte der Doktor ſeinen Leuchter auf den Tiſch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in ſein Bett hinein und deckte es ſorgfältig zu. Dann ſetzte er ſich auf den Seſſel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und ſagte begütigend: „So, nun iſt Alles in Ordnung, nun ſag' mir auch noch, wo wollteſt du denn hin?“ „Ich wollte gewiß nirgends hin“, verſicherte Heidi, „ich bin auch gar nicht ſelbſt hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.“ „So, ſo, und haſt du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, ſo, daß du deutlich Etwas ſahſt und hörteſt?“ „Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein' ich, ich ſei beim Großvater und draußen hör' ich's in den Tannen ſauſen und denke, jetzt glitzern ſo ſchön die Sterne am Himmel und ich laufe geſchwind und mache die Thür auf an der Hütte und da iſt's ſo ſchön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.“ Heidi fing ſchon an zu kämpfen und zu ſchlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufſtieg. „Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?“ „O nein, nur hier drückt es ſo wie ein großer Stein immerfort.“ „So, etwa ſo, wie wenn man Etwas gegeſſen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?“ „Nein, ſo nicht, aber ſo ſchwer, wie wenn man ſtark weinen ſollte.“ „So, ſo, und weinſt du denn ſo recht heraus?“ „O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.“ „Dann ſchluckſt du's herunter zum Andern, nicht wahr, ſo? Richtig! Na, du biſt doch recht gern in Frankfurt, nicht?“ „O ja“, war die leiſe Antwort; ſie klang aber ſo, als bedeute ſie eher das Gegentheil. „Hm, und wo haſt du mit deinem Großvater gelebt?“ „Immer auf der Alm.“ „So, da iſt's doch nicht ſo beſonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?“ „O nein, da iſt's ſo ſchön! ſo ſchön!“ Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltſam ſtürzten ihm die Thränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus. Der Doktor ſtand auf; er legte freundlich Heidi's Kopf auf das Kiſſen nieder und ſagte: „So, noch ein klein wenig weinen, das kann Nichts ſchaden, und dann ſchlafen, ganz fröhlich einſchlafen, morgen wird Alles gut.“ Dann verließ er das Zimmer. Wieder unten in die Wachtſtube eingetreten, ließ er ſich dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnſtuhl nieder und erklärte dem mit geſpannter Erwartung Lauſchenden: „Seſemann, dein kleiner Schützling iſt erſtens mondſüchtig, völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Geſpenſt die Hausthür aufgemacht und deiner ganzen Mannſchaft die Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, ſo daß es ſchon jetzt faſt zum Geripplein abgemagert iſt und es noch völlig werden würde; alſo ſchnelle Hülfe. Für das erſte Uebel und die in hohem Grade ſtattfindende Nervenaufregung gibt es nur Ein Heilmittel, nämlich, daß du ſofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückverſetzeſt; für das zweite gibt's ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieſelbe, demnach reiſt das Kind morgen ab, das iſt mein Rezept.“ Herr Seſemann war aufgeſtanden. In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: „Mondſüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hauſe! das Alles in meinem Hauſe! und Niemand ſieht zu und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinſt, das Kind, das friſch und geſund in mein Haus gekommen iſt, ſchicke ich elend und abgemagert ſeinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannſt du nicht verlangen, das thu' ich nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willſt, aber mach' es mir heil und geſund, dann will ich es heimſchicken, wenn es will, aber erſt hilf du!“ „Seſemann“, entgegnete der Doktor ernſthaft, „bedenke, was du thuſt! Dieſer Zuſtand iſt keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indeſſen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufſchickſt, an die es gewöhnt iſt, ſo kann es wieder völlig geſunden; wenn nicht — du willſt nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar, oder gar nicht mehr zurückkomme?“ Herr Seſemann war erſchrocken ſtehen geblieben: „Ja, wenn du ſo redeſt, Doktor, dann iſt nur Ein Weg, dann muß ſofort gehandelt werden.“ Mit dieſen Worten nahm Herr Seſemann den Arm ſeines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu beſprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Haus zu gehen, denn es war unterdeſſen viel Zeit vergangen, und durch die Hausthür, die diesmal vom Herrn des Hauſes aufgeſchloſſen wurde, drang ſchon der helle Morgenſchimmer herein. 13. Am Sommerabend die Alm hinan. Herr Seſemann ſtieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit feſtem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er ſo ungewöhnlich kräftig an die Thür, daß die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des Hausherrn draußen. „Bitte ſich zu beeilen und im Eßzimmer zu erſcheinen, es muß ſofort eine Abreiſe vorbereitet werden.“ Fräulein Rottenmeier ſchaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des Morgens; zu ſolcher Stunde war ſie in ihrem Leben noch nie aufgeſtanden. Was konnte nur vorgefallen ſein? Vor Neugierde und angſtvoller Erwartung nahm ſie Alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwärts, denn was ſie einmal auf den Leib gebracht hatte, ſuchte ſie nachher raſtlos im Zimmer herum. Unterdeſſen ging Herr Seſemann den Corridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verſchiedenen Glieder der Dienerſchaft angebracht war, ſo daß in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgeſtalt aus dem Bett ſprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn Einer wie der Andere dachte ſogleich, das Geſpenſt habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dieß ſei ſein Hülferuf. So kamen ſie nach und nach, Einer ſchauerlicher ausſehend, als der Andere, herunter und ſtellten ſich mit Erſtaunen vor den Hausherrn hin, denn dieſer ging friſch und munter im Eßzimmer auf und ab und ſah keineswegs aus, als habe ihn ein Geſpenſt erſchreckt. Johann wurde ſofort hingeſchickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und ſie nachher vorzuführen. Tinette erhielt den Auftrag, ſogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu ſtellen, eine Reiſe anzutreten. Sebaſtian erhielt den Auftrag, nach dem Hauſe zu eilen, wo Heidi's Baſe im Dienſt ſtand, und dieſe herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdeſſen zurechtgekommen mit ihrem Anzug und Alles ſaß, wie es mußte, nur die Haube ſaß verkehrt auf dem Kopf, ſo daß es von Weitem ausſah, als ſitze ihr das Geſicht auf dem Rücken. Herr Seſemann ſchrieb den räthſelhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geſchäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame, ſie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu ſchaffen, die ſämmtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken — ſo nannte Herr Seſemann gewöhnlich das Heidi, deſſen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müſſe aber alles ſchnell und ohne langes Beſinnen vor ſich gehen. Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraſchung wie in den Boden eingewurzelt ſtehen und ſtarrte Herrn Seſemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mittheilung einer ſchauerlichen Geiſtergeſchichte machen, die er in der Nacht erlebt und die ſie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; ſtatt deſſen dieſe völlig proſaiſchen und dazu noch ſehr unbequemen Aufträge. So ſchnell konnte ſie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos ſtand ſie immer noch da und erwartete ein Weiteres. Aber Herr Seſemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame ſtehen, wo ſie ſtand, und ging nach dem Zimmer ſeiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war dieſe durch die ungewöhnliche Bewegung im Hauſe wach geworden und lauſchte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater ſetzte ſich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geiſtererſcheinung und daß Heidi nach des Doktors Ausſpruch ſehr angegriffen ſei und wohl nach und nach ſeine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach beſteigen würde, was dann mit den höchſten Gefahren verbunden wäre. Er habe alſo beſchloſſen, das Kind ſofort heimzuſchicken, denn ſolche Verantwortung könne er nicht auf ſich nehmen, und Klara müſſe ſich darein finden, ſie ſehe ja ein, daß es nicht anders ſein könne. Klara war ſehr ſchmerzlich überraſcht von der Mittheilung und wollte erſt allerlei Auswege finden, aber es half Nichts, der Vater blieb feſt bei ſeinem Entſchluß, verſprach aber, im nächſten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reiſen, wenn ſie nun recht vernünftig ſei und keinen Jammer erhebe. So ergab ſich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Erſatz, daß der Koffer für Heidi in ihr Zimmer gebracht und da verpackt werde, damit ſie hineinſtecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa ſehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine ſchöne Ausſteuer zurechtzumachen. Unterdeſſen war die Baſe Dete angelangt und ſtand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn daß ſie um dieſe ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, mußte etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Seſemann trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi ſtehe, und daß er wünſche, ſie möchte das Kind ſofort, gleich heute noch, nach Hauſe bringen. Die Baſe ſah ſehr enttäuſcht aus, dieſe Nachricht hatte ſie nicht erwartet. Sie erinnerte ſich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, daß ſie ihm nie mehr vor die Augen kommen ſolle, und ſo das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das ſchien ihr nicht ganz gerathen zu ſein. Sie beſann ſich alſo nicht lange, ſondern ſagte mit großer Beredtſamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reiſe anzutreten, und morgen könnte ſie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am allerunmöglichſten, um der darauffallenden Geſchäfte willen, und nachher könnte ſie dann gar nicht mehr. Herr Seſemann verſtand die Sprache und entließ die Baſe ohne Weiteres. Nun ließ er den Sebaſtian vortreten und erklärte ihm, er habe ſich unverzüglich zur Reiſe zu rüſten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Baſel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er ſogleich wieder umkehren, zu berichten habe er Nichts, ein Brief an den Großvater werde dieſem Alles erklären. „Nun aber noch eine Hauptſache, Sebaſtian“, ſchloß Herr Seſemann, „und daß Er mir das pünktlich beſorgt! Den Gaſthof in Baſel, den ich Ihm hier auf meine Karte geſchrieben, kenne ich. Er weiſt meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewieſen werden für das Kind; für ſich ſelbſt wird Er ſchon ſorgen. Dann geht Er erſt in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenſter ſo vollſtändig, daß nur große Gewalt ſie aufzubringen vermöchte. Iſt das Kind zu Bett, ſo geht Er und ſchließt von außen die Thür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Hausthür aufmachen wollte, verſteht Er das?“ „Ah! ah! ah! das war's? ſo war's?“ ſtieß Sebaſtian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geiſtererſcheinung. „Ja, ſo war's! das war's! und Er iſt ein Haſenfuß, und dem Johann kann Er ſagen, er ſei desgleichen und Alle miteinander eine lächerliche Mannſchaft.“ Damit ging Herr Seſemann nach ſeiner Stube, ſetzte ſich hin und ſchrieb einen Brief an den Alm-Oehi. Sebaſtian war verdutzt mitten im Zimmer ſtehen geblieben und wiederholte jetzt zu öftern Malen in ſeinem Innern: „Hätt' ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtſtube hineinreißen laſſen, ſondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft thun würde!“ denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit. Unterdeſſen ſtand Heidi völlig ahnungslos in ſeinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geſchehen ſollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlaf gerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen befördert, ohne ein Wort zu ſagen. Sie ſprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering. Herr Seſemann trat mit ſeinem Brief in's Eßzimmer ein, wo das Frühſtück bereit ſtand, und rief: „Wo iſt das Kind?“ Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Seſemann herantrat, um ihm guten Morgen zu ſagen, ſchaute er ihm fragend in's Geſicht: „Nun, was ſagſt du denn dazu, Kleine?“ Heidi blickte verwundert zu ihm auf. „Du weißt am Ende noch gar nichts“, lachte Herr Seſemann. „Nun, heut' gehſt du heim, jetzt gleich.“ „Heim?“ wiederholte Heidi tonlos, und wurde ſchneeweiß und eine kleine Weile konnte es gar keinen Athem mehr holen, ſo ſtark wurde ſein Herz von dem Eindruck gepackt. „Nun, willſt du etwa Nichts wiſſen davon?“ fragte Herr Seſemann lächelnd. „O ja, ich will ſchon“, kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelroth geworden. „Gut, gut“, ſagte Herr Seſemann ermunternd, indem er ſich ſetzte und Heidi winkte, dasſelbe zu thun. „Und nun tüchtig frühſtücken und hernach in den Wagen und fort.“ Aber Heidi konnte keinen Biſſen herunterbringen, wie es ſich auch zwingen wollte aus Gehorſam; es war in einem Zuſtand von Aufregung, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume, und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Hausthür ſtehen werde. „Sebaſtian ſoll reichlich Proviant mitnehmen“, rief Herr Seſemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; „das Kind kann nicht eſſen, begreiflicher Weiſe. Geh' hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt“, ſetzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu. Das war Heidi's Wunſch; es ſprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu ſehen, noch ſtand deſſen Deckel weit offen. „Komm', Heidi, komm'“, rief ihm Klara entgegen, „ſieh', was ich dir habe einpacken laſſen, komm', freut's dich?“ Und ſie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgeräth, „und ſieh' hier, Heidi“, und Klara hob triumphirend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und ſprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf ſchöne, weiße, runde Brödchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick komme, da ſie ſich trennen mußten, und als mit einem Mal der Ruf erſchallte: „Der Wagen iſt bereit!“— da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in ſein Zimmer, da mußte noch ſein ſchönes Buch von der Großmama liegen, Niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkiſſen, weil Heidi Tag und Nacht ſich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brödchen gelegt. Dann machte es ſeinen Schrank auf; noch ſuchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig — auch das alte rothe Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um noch eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen andern Gegenſtand und legte es zu oberſt auf den Korb, ſo daß das rothe Packet ſehr ſichtbar zur Erſcheinung kam. Dann ſetzte es ſein ſchönes Hütchen auf und verließ ſein Zimmer. Die beiden Kinder mußten ſich ſchnell Lebewohl ſagen, denn Herr Seſemann ſtand ſchon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier ſtand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabſchieden. Als ſie das ſeltſame rothe Bündelchen erblickte, nahm ſie es ſchnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden. „Nein, Adelheid“, ſagte ſie tadelnd, „ſo kannſt du nicht reiſen von dieſem Hauſe aus, ſolches Zeug brauchſt du überhaupt nicht mitzuſchleppen. Nun lebe wohl.“ Auf dieſes Verbot hin durfte Heidi ſein Bündelchen nicht wieder aufnehmen, aber es ſchaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, ſo, als wollte man ihm ſeinen größten Schatz nehmen. „Nein, nein“, ſagte Herr Seſemann in ſehr beſtimmtem Ton, „das Kind ſoll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und ſollte es auch junge Katzen oder Schildkröten mit fortſchleppen, ſo wollen wir uns darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.“ Heidi hob eilig ſein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Seſemann dem Kinde die Hand und ſagte ihm mit freundlichen Worten, ſie würden ſeiner gedenken, er und ſeine Tochter Klara; er wünſchte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht ſchön für alle Gutthaten, die ihm zu Theil geworden waren, und zum Schluß ſagte es: „Und den Herrn Doktor laſſe ich tauſendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.“ Denn es hatte ſich wohl gemerkt, wie er geſtern Abend geſagt hatte: „Und morgen wird Alles gut.“ Nun war es ſo gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen. Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttaſche und der Sebaſtian kamen nach. Herr Seſemann rief noch einmal freundlich: „Glückliche Reiſe!“ und der Wagen rollte davon. Bald nachher ſaß Heidi in der Eiſenbahn und hielt unbeweglich ſeinen Korb auf dem Schooße feſt, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen laſſen, ſeine koſtbaren Brödchen für die Großmutter waren ja darin, die mußte es ſorglich hüten und von Zeit zu Zeit einmal wieder anſehen und ſich freuen darüber. Heidi ſaß mäuschenſtille während mehrerer Stunden, denn erſt jetzt kam es recht zum Bewußtſein, daß es auf dem Wege ſei heim zum Großvater, auf die Alm, zur Großmutter, zum Gaißen-Peter, und nun kam ihm Alles vor Augen, Eins nach dem Andern, was es wiederſehen werde, und wie Alles ausſehen werde daheim, und dabei ſtiegen ihm wieder neue Gedanken auf, und auf einmal ſagte es ängſtlich: „Sebaſtian, iſt auch ſicher die Großmutter auf der Alm nicht geſtorben?“ „Nein, nein“, beruhigte dieſer, „wollen's nicht hoffen, wird ſchon noch am Leben ſein.“ Dann fiel Heidi wieder in ſein Sinnen zurück, nur hie und da guckte es einmal in ſeinen Korb hinein, denn alle die Brödchen der Großmutter auf den Tiſch zu legen, war ſein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit ſagte es wieder: „Sebaſtian, wenn man nur auch ganz ſicher wiſſen könnte, daß die Großmutter noch am Leben iſt.“ „Ja wohl! Ja wohl!“ entgegnete der Begleiter halb ſchlafend; „wird ſchon noch leben, wüßte auch gar nicht, warum nicht.“ Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufſtehen war es ſo ſchlafbedürftig, daß es erſt wieder erwachte, als Sebaſtian es tüchtig am Arm ſchüttelte und ihm zurief: „Erwachen! Erwachen! Gleich ausſteigen, in Baſel angekommen!“ Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi ſaß wieder mit ſeinem Korb auf dem Schooß, den es um keinen Preis dem Sebaſtian übergeben wollte; aber heute ſagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung geſpannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: „Mayenfeld!“ Es ſprang von ſeinem Sitz auf, und dasſelbe that Sebaſtian, der auch überraſcht worden war. Jetzt ſtanden ſie draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter in's Thal hinein. Sebaſtian ſah ihm wehmüthig nach, denn er wäre viel lieber ſo ſicher und ohne Mühe weitergereiſt, als daß er nun eine Fußpartie unternehmen ſollte, die dazu noch mit einer Bergbeſteigung enden mußte, die ſehr beſchwerlich und dazu gefahrvoll ſein konnte in dieſem Lande, wo doch Alles noch halb wild war, wie Sebaſtian annahm. Er ſchaute daher ſehr vorſichtig um ſich, wen er etwa berathen könnte über den ſicherſten Weg nach dem „Dörfli“. Unweit des kleinen Stationsgebäudes ſtand ein kleiner Leiterwagen mit einem magern Rößlein davor; auf dieſen wurden von einem breitſchultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebaſtian trat zu ihm heran und brachte ſeine Frage nach dem ſicherſten Weg zum Dörfli vor. „Hier ſind alle Wege ſicher“, war die kurze Antwort. Jetzt fragte Sebaſtian nach dem beſten Wege, auf dem man gehen könne, ohne in die Abgründe zu ſtürzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann ſchaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu ſchwer ſei, ſo wolle er es auf ſeinen Wagen nehmen, da er ſelbſt nach dem Dörfli fahre, und ſo gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die Beiden überein, der Mann ſolle Kind und Koffer mit auf ſeinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgend Jemand auf die Alm geſchickt werden. „Ich kann allein gehen, ich weiß ſchon den Weg vom Dörfli auf die Alm“, ſagte hier Heidi, das mit Aufmerkſamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebaſtian fiel eine ſchwere Laſt vom Herzen, als er ſich ſo auf einmal ſeiner Ausſicht auf das Bergklettern entledigt ſah. Er winkte nun Heidi geheimnißvoll auf die Seite und überreichte ihm hier eine ſchwere Rolle und einen Brief an den Großvater, und erklärte ihm, die Rolle ſei ein Geſchenk von Herrn Seſemann, die müſſe aber zu unterſt in den Korb geſteckt werden, noch unter die Brödchen, und darauf müſſe genau Acht gegeben werden, daß ſie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Seſemann ganz fürchterlich böſe und ſein Leben lang nie mehr gut werden, das ſollte das Mamſellchen nur ja bedenken. „Ich verliere ſie ſchon nicht“, ſagte Heidi zuverſichtlich und ſteckte die Rolle ſammt dem Brief zu allerunterſt in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebaſtian Heidi ſammt ſeinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm ſeine Hand hinauf zum Abſchied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Führer war noch in der Nähe, und Sebaſtian war vorſichtig, beſonders jetzt, da er wußte, er hätte eigentlich ſelbſt das Kind an Ort und Stelle bringen ſollen. Der Führer ſchwang ſich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, während Sebaſtian, froh über ſeine Befreiung von der gefürchteten Bergreiſe, ſich am Stationshäuschen niederſetzte, um den zurückkehrenden Bahnzug abzuwarten. Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, der ſeine Mehlſäcke nach Hauſe fuhr. Er hatte Heidi nie geſehen, aber wie Jedermann im Dörfli, wußte er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi gebracht hatte; auch hatte er Heidi's Eltern gekannt und ſich gleich vorgeſtellt, er werde es mit dem viel beſprochenen Kinde hier zu thun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind ſchon wieder heimkomme, und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Geſpräch an: „Du wirſt das Kind ſein, das oben beim Alm-Oehi war, beim Großvater?“ „Ja.“ „So iſt es dir ſchlecht gegangen, daß du ſchon wieder von ſo weit her heimkommſt?“ „Nein, das iſt es mir nicht, kein Menſch kann es ſo gut haben, wie man es in Frankfurt hat.“ „Warum läufſt du denn heim?“ „Nur weil es mir der Herr Seſemann erlaubt hat, ſonſt wär' ich nicht heimgelaufen.“ „Pah, warum biſt du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir's ſchon erlaubt hat, heimzugehen?“ „Weil ich tauſendmal lieber heim will zum Großvater auf die Alm, als ſonſt Alles auf der Welt.“ „Denkſt vielleicht anders, wenn du hinaufkommſt“, brummte der Bäcker; „nimmt mich aber doch wunder“, ſagte er dann zu ſich ſelbſt, „es kann wiſſen, wie's iſt.“ Nun fing er an zu pfeifen und ſagte Nichts mehr, und Heidi ſchaute um ſich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und drüben ſtanden die hohen Zacken des Falkniß-Berges und ſchauten zu ihm herüber, ſo als grüßten ſie es wie gute, alte Freunde und Heidi grüßte wieder und mit jedem Schritt vorwärts wurde Heidi's Erwartung geſpannter und es meinte, es müſſe vom Wagen herunterſpringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch ſtill ſitzen und rührte ſich nicht, aber Alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren ſie im Dörfli ein, eben ſchlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich ſammelte ſich eine Geſellſchaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerkſamkeit aller Umwohnenden auf ſich gezogen, und Jeder wollte wiſſen, woher und wohin und wem Beide zugehören. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, ſagte es eilig: „Danke, der Großvater holt dann ſchon den Koffer“, und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es feſtgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte ſich mit einer ſolchen Angſt auf dem Geſichte durch die Leute, daß man ihm unwillkührlich Platz machte und es laufen ließ, und Einer ſagte zum Andern: „Du ſiehſt ja, wie es ſich fürchtet, es hat auch alle Urſache.“ Und dann fingen ſie noch an, ſich zu erzählen, wie der Alm-Oehi ſeit einem Jahr noch viel ärger geworden ſei, als vorher, und mit keinem Menſchen mehr ein Wort rede, und ein Geſicht mache, als wollte er am liebſten Jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüßte wohin, ſo liefe es nicht in das alte Drachenneſt hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das Geſpräch ein und ſagte, er werde wohl mehr wiſſen, als ſie Alle, und erzählte dann ſehr geheimnißvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Mayenfeld gebracht und es ganz freundlich entlaſſen habe, und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er ſicher ſagen, daß es dem Kind wohl genug geweſen ſei, wo es war, und es ſelbſt begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Dieſe Nachricht brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dörfli ſo verbreitet, daß noch am gleichen Abend kein Haus daſelbſt war, in dem man nicht davon redete, daß das Heidi aus allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe. Heidi lief vom Dörfli bergan, ſo ſchnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich ſtille ſtehen, denn es hatte ganz den Athem verloren; ſein Korb am Arm war doch ziemlich ſchwer, und dazu ging es nun immer ſteiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen Gedanken: „Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen ſitzen am Spinnrad in der Ecke, iſt ſie auch nicht geſtorben unterdeſſen?“ Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, ſein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter ſchlug ihm das Herz. — Jetzt war es oben — vor Zittern konnte es faſt die Thür nicht aufmachen — doch jetzt — es ſprang hinein bis mitten in die kleine Stube und ſtand da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor. „Ach du mein Gott“, tönte es aus der Ecke hervor, „ſo ſprang unſer Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer iſt hereingekommen?“ „Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja“, rief Heidi jetzt und ſtürzte nach der Ecke und gleich auf ſeine Kniee zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände, und legte ſich an ſie und konnte vor Freude gar Nichts mehr ſagen. Erſt war die Großmutter ſo überraſcht, daß auch ſie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr ſie mit der Hand ſtreichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und nun ſagte ſie ein Mal über das andere: „Ja, ja, das ſind ſeine Haare und es iſt ja ſeine Stimme, ach du lieber Gott, daß du mich das noch erleben läſſeſt“ Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudenthränen auf Heidi's Hand nieder. „Biſt du's auch, Heidi, biſt du auch ſicher wieder da?“ „Ja, ja, ſicher, Großmutter“, rief Heidi nun mit aller Zuverſicht, „weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du mußt auch manchen Tag kein hartes Brod mehr eſſen, ſiehſt du, Großmutter, ſiehſt du?“ Und Heidi packte nun aus ſeinem Korb ein Brödchen nach dem andern aus, bis es alle zwölfe auf dem Schooß der Großmutter aufgehäuft hatte. „Ach Kind! Ach Kind! was bringſt du denn für einen Segen mit!“ rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brödchen und immer noch eines folgte. „Aber der größte Segen biſt du mir doch ſelber, Kind!“ Dann griff ſie wieder in Heidi's krauſe Haare und ſtrich über ſeine heißen Wangen, und ſagte wieder: „Sag' noch ein Wort, Kind, ſag' noch Etwas, daß ich dich hören kann.“ Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angſt es habe ausſtehen müſſen, ſie ſei vielleicht geſtorben unterdeſſen und habe nun gar nie die weißen Brödchen bekommen, und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen. Jetzt trat Peter's Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich ſtehen vor Erſtaunen. Dann rief ſie: „Sicher, es iſt das Heidi, wie kann auch das ſein!“ Heidi ſtand auf und gab ihr die Hand und die Brigitte konnte ſich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi ausſehe, und ging um das Kind herum und ſagte: „Großmutter, wenn du doch nur ſehen könnteſt, was für ein ſchönes Röcklein das Heidi hat, und wie es ausſieht, man kennt es faſt nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem Tiſch gehört dir auch noch? Setz' es doch einmal auf, ſo kann ich ſehen, wie du drin ausſiehſt.“ „Nein, ich will nicht“, erklärte Heidi, „du kannſt es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe ſchon noch mein eigenes.“ Damit machte Heidi ſein rothes Bündelchen auf und nahm ſein altes Hütchen daraus hervor, das auf der Reiſe zu den Knicken, die es ſchon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; dagegen hatte es nicht vergeſſen, wie der Großvater beim Abſchied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals ſehen, darum hatte Heidi ſein Hütchen ſo ſorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer an's Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte ſagte, ſo einfältig müſſe es nicht ſein, es ſei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme ſie nicht, man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei ſeinem Vorhaben und legte das Hütchen leiſe hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal ſein ſchönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen daſtand, band es das rothe Halstuch, und nun faßte es die Hand der Großmutter und ſagte: „Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm' ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.“ „Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen wieder“, bat die Großmutter, und drückte ſeine Hand zwiſchen den ihrigen und konnte das Kind faſt nicht loslaſſen. „Warum haſt du denn dein ſchönes Röcklein ausgezogen?“ fragte die Brigitte. „Weil ich lieber ſo zum Großvater will, ſonſt kennt er mich vielleicht nicht mehr, du haſt mich ja auch faſt nicht gekannt darin.“ Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus, und hier ſagte ſie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: „Den Rock hätteſt du ſchon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber ſonſt mußt du dich in Acht nehmen, der Peterli ſagt, der Alm-Oehi ſei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.“ Heidi ſagte gute Nacht und ſtieg die Alm hinan mit ſeinem Korb am Arm. Die Abendſonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld am Cäſaplana ſichtbar geworden und ſtrahlte herüber. Heidi mußte alle paar Schritte wieder ſtille ſtehen und ſich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufſteigen. Jetzt fiel ein rother Schimmer vor ſeinen Füßen auf das Gras, es kehrte ſich um, da — ſo hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie ſo im Traum geſehen — die Felshörner am Falkniß flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und roſenrothe Wolken zogen darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felſen flimmerte und leuchtete es nieder und unten ſchwamm weithin das ganze Thal in Duft und Gold. Heidi ſtand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Thränen die Wangen herunter, und es mußte die Hände falten und in den Himmel hinaufſchauen und ganz laut dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimgebracht hatte, und daß Alles, Alles noch ſo ſchön ſei und noch viel ſchöner, als es gewußt hatte, und daß Alles wieder ihm gehöre, und Heidi war ſo glücklich und ſo reich in all' der großen Herrlichkeit, daß es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erſt als das Licht ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber ſo den Berg hinan, daß es gar nicht lange dauerte, ſo erblickte es oben die Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und auf der Bank an der Hütte ſaß der Großvater und rauchte ſein Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und rauſchten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht ſehen konnte, was da herankam, ſtürzte das Kind ſchon auf ihn hin, warf ſeinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiederſehens konnte es Nichts ſagen, als nur immer ausrufen: „Großvater! Großvater! Großvater!“ Der Großvater ſagte auch Nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erſten Mal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löſte er Heidi's Arme von ſeinem Hals, ſetzte das Kind auf ſeine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: „So biſt du wieder heimgekommen, Heidi“, ſagte er dann; „wie iſt das? Beſonders hoffärtig ſiehſt du nicht aus, haben ſie dich fortgeſchickt?“ „O nein, Großvater“, fing Heidi nun mit Eifer an, „das mußt du nicht glauben, ſie waren ja Alle ſo gut, die Klara und die Großmama und der Herr Seſemann; aber ſiehſt du, Großvater, ich konnte es faſt gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim ſein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müſſe ganz erſticken, ſo hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts geſagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Seſemann ganz früh — aber ich glaube, der Herr Doktor war ſchuld daran — aber es ſteht vielleicht Alles in dem Brief“ — damit ſprang Heidi auf den Boden und holte ſeinen Brief und ſeine Rolle aus dem Korb herbei und legte Beide in die Hand des Großvaters. „Das gehört dir“, ſagte dieſer und legte die Rolle neben ſich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch; ohne ein Wort zu ſagen, ſteckte er dann das Blatt in die Taſche. „Meinſt, du könneſt auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?“ fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. „Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannſt du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.“ „Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater“, verſicherte Heidi; „ein Bett hab' ich ſchon, und Kleider hat mir Klara ſo viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere brauche.“ „Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirſt's ſchon einmal brauchen können.“ Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiederſehen in alle Winkel ſprang und die Leiter hinauf — aber da ſtand es plötzlich ſtill und rief in Betroffenheit von oben herunter: „O Großvater, ich habe kein Bett mehr!“ „Kommt ſchon wieder“, tönte es von unten herauf, „wußte ja nicht, daß du wieder heimkommſt, jetzt komm' zur Milch!“ Heidi kam herunter und ſetzte ſich auf ſeinen hohen Stuhl am alten Platze und nun erfaßte es ſein Schüſſelchen und trank mit einer Begierde, als wäre etwas ſo Köſtliches noch nie in ſein Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Athemzug das Schüſſelchen hinſtellte, ſagte es: „So gut wie unſere Milch iſt doch gar Nichts auf der Welt, Großvater.“ Jetzt ertönte draußen ein ſchriller Pfiff; wie der Blitz ſchoß Heidi zur Thür hinaus. Da kam die ganze Schaar der Gaißen hüpfend, ſpringend, Sätze machend von der Höhe herunter, mitten drin der Peter. Als er Heidi's anſichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt ſtehen und ſtarrte es ſprachlos an. Heidi rief: „Guten Abend, Peter!“ und ſtürzte mitten in die Gaißen hinein: „Schwänli! Bärli! kennt ihr mich noch?“ und die Gaißlein mußten ſeine Stimme gleich erkannt haben, denn ſie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen leidenſchaftlich zu meckern an vor Freude, und Heidi rief alle nach einander beim Namen und alle rannten wie wild durcheinander und drängten ſich zu ihm heran; der ungeduldige Diſtelfink ſprang hoch auf und über zwei Gaißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und ſogar das ſchüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigenſinnigen Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit daſtand und ſeinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, daß er es ſei. Heidi war außer ſich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu haben, es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und wieder und ſtreichelte den ſtürmiſchen Diſtelfink und wurde vor großer Liebe und Zutraulichkeit der Gaißen hin- und hergedrängt und geſchoben, bis es nun ganz in Peter's Nähe kam, der noch immer auf demſelben Platze ſtand. „Komm' herunter, Peter, und ſag' mir einmal guten Abend!“ rief ihm Heidi jetzt zu. „Biſt denn wieder da?“ brachte er nun endlich in ſeinem Erſtaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidi's Hand, die dieſes ihm ſchon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, ſo wie er immer gethan hatte bei der Heimkehr am Abend: „Kommſt morgen wieder mit?“ „Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter.“ „Es iſt recht, daß du wieder da biſt“, ſagte der Peter, und verzog ſein Geſicht auf alle Seiten vor ungeheuerem Vergnügen, dann ſchickte er ſich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm ſo ſchwer wie noch nie mit ſeinen Gaißen, denn als er ſie endlich mit Locken und Drohen ſo weit gebracht hatte, daß ſie ſich um ihn ſammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänli's, und den andern um Bärli's Kopf gelegt, davonſpazierte, da kehrten mit einem Mal alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi mußte mit ſeinen zwei Gaißen in den Stall eintreten und die Thüre zumachen, ſonſt wäre der Peter niemals mit ſeiner Heerde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, da ſah es ſein Bett ſchon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und drüber hatte der Großvater ganz ſorgfältig die ſauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte ſich mit großer Luſt hinein und ſchlief ſo herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geſchlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehn Mal ſein Lager und ſtieg die Leiter hinauf und lauſchte ſorgſam, ob Heidi auch ſchlafe und nicht unruhig werde, und ſuchte am Loch nach, wo ſonſt der Mond hereinkam auf Heidi's Lager, ob auch das Heu noch feſt drinnen ſitze, das er hineingeſtopft hatte, denn von nun an durfte der Mondſchein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi ſchlief in Einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn ſein großes, brennendes Verlangen war geſtillt worden: es hatte alle Berge und Felſen wieder im Abendglühen geſehen, es hatte die Tannen rauſchen gehört, es war wieder daheim auf der Alm. 14. Am Sonntag, wenn's läutet. Heidi ſtand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater, der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es faſt nicht erwarten, die Großmutter wiederzuſehen und zu hören, wie ihr die Brödchen geſchmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lange, denn es konnte ja nicht genug die heimathlichen Töne von dem Tannenrauſchen über ihm und das Duften und Leuchten der grünen Weiden und der goldenen Blumen darauf eintrinken. Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, ſchaute noch einmal rings um ſich und ſagte dann mit zufriedenem Ton: „So, nun können wir gehen.“ Denn es war Sonnabend heut', und an dem Tage machte der Alm-Oehi Alles ſauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum, das war ſeine Gewohnheit, und heut' hatte er den Morgen dazu genommen, um gleich Nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und ſo ſah nun Alles ringsherum gut und zu ſeiner Zufriedenheit aus. Bei der Gaißenpeter-Hütte trennten ſie ſich, und Heidi ſprang herein. Schon hatte die Großmutter ſeinen Schritt gehört und rief ihm liebevoll entgegen: „Kommſt du, Kind? Kommſt du wieder?“ Dann erfaßte ſie Heidi's Hand und hielt ſie ganz feſt, denn immer noch fürchtete ſie, das Kind könnte ihr wieder entriſſen werden. Und nun mußte die Großmutter erzählen, wie die Brödchen geſchmeckt hätten, und ſie ſagte, ſie habe ſich ſo daran erlabt, daß ſie meine, ſie ſei heute viel kräftiger, als lange nicht mehr, und Peter's Mutter fügte hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, ſie werde zu bald fertig damit, nur ein einziges Brödchen eſſen wollen, geſtern und heut' zuſammen, und ſie käme gewiß noch ziemlich zu Kräften, wenn ſie ſo acht Tage lang hintereinander jeden Tag eines eſſen wollte. Heidi hörte der Brigitte mit Aufmerkſamkeit zu und blieb jetzt noch eine Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es ſeinen Weg gefunden. „Ich weiß ſchon, was ich mache, Großmutter“, ſagte es in freudigem Eifer, „ich ſchreibe der Klara einen Brief und dann ſchickt ſie mir gewiß noch einmal ſo viele Brödchen, wie da ſind, oder zweimal, denn ich hatte ſchon einen großen Haufen ganz gleiche im Kaſten, und als man mir ſie weggenommen hatte, ſagte Klara, ſie gebe mir gerade ſo viele wieder, und das thut ſie ſchon.“ „Ach Gott“, ſagte die Brigitte, „das iſt eine gute Meinung; aber denk', ſie werden auch hart. Wenn man nur hie und da einen übrigen Batzen hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch ſolche, aber ich vermag kaum das ſchwarze Brod zu bezahlen.“ Jetzt ſchoß ein heller Freudenſtrahl über Heidi's Geſicht: „O ich habe furchtbar viel Geld, Großmutter“, rief es jubelnd aus und hüpfte vor Freuden in die Höhe, „jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle, alle Tage mußt du ein neues Brödchen haben und am Sonntage zwei, und der Peter kann ſie heraufbringen vom Dörfli.“ „Nein, nein, Kind!“ wehrte die Großmutter; „das kann nicht ſein, das Geld haſt du nicht dazu bekommen, du mußt es dem Großvater geben, er ſagt dir dann ſchon, was du damit machen mußt.“ Aber Heidi ließ ſich nicht ſtören in ſeiner Freude, es jauchzte und hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal über's andere: „Jetzt kann die Großmutter jeden Tag ein Brödchen eſſen und wird wieder ganz kräftig und — o Großmutter“, rief es mit neuem Jubel, „wenn du dann ſo geſund wirſt, ſo wird es dir gewiß auch wieder hell, es iſt vielleicht nur, weil du ſo ſchwach biſt.“ Die Großmutter ſchwieg ſtill, ſie wollte des Kindes Freude nicht trüben. Bei ſeinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer freudiger Gedanke: „Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut leſen, ſoll ich dir einmal ein Lied leſen aus deinem alten Buch?“ „O ja“, bat die Großmutter freudig überraſcht, „kannſt du das auch wirklich, Kind, kannſt du das?“ Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt gelegen da droben; nun wiſchte es Heidi ſauber ab, ſetzte ſich damit auf ſeinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun leſen ſollte. „Was du willſt, Kind, was du willſt“, und mit geſpannter Erwartung ſaß die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von ſich geſchoben. Heidi blätterte und las leiſe hie und da eine Linie: „Jetzt kommt Etwas von der Sonne, das will ich dir leſen, Großmutter.“ Und Heidi begann und wurde ſelbſt immer eifriger und immer wärmer, während es las: „Die güldne Sonne // Voll Freud' und Wonne // Bringt unſern Gränzen // Mit ihrem Glänzen // Ein herzerquickendes, liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder // Die lagen darnieder; // Aber nun ſteh' ich, // Bin munter und fröhlich, // Schaue den Himmel mit meinem Geſicht. Mein Auge ſchauet, // Was Gott gebauet // Zu ſeinen Ehren, // Und uns zu lehren, // Wie ſein Vermögen ſei mächtig und groß. Und wo die Frommen // Dann ſollen hinkommen, // Wenn ſie mit Frieden // Von hinnen geſchieden // Aus dieſer Erde vergänglichem Schooß. Alles vergehet, // Gott aber ſtehet // Ohn' alles Wanken, // Seine Gedanken, // Sein Wort und Wille hat ewigen Grund. Sein Heil und Gnaden, // Die nehmen nicht Schaden, // Heilen im Herzen // Die tödtlichen Schmerzen, // Halten uns zeitlich und ewig geſund. Kreuz und Elende — // Das nimmt ein Ende, // Nach Meeresbrauſen // Und Windesſauſen // Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht. Freude die Fülle // Und ſelige Stille Darf ich erwarten // Im himmliſchen Garten, // Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“ Die Großmutter ſaß ſtill da mit gefalteten Händen und ein Ausdruck unbeſchreiblicher Freude, ſo wie ihn Heidi nie an ihr geſehen hatte, lag auf ihrem Geſicht, obſchon ihr die Thränen die Wangen herabliefen. Als Heidi ſchwieg, bat ſie mit Verlangen: „O, noch einmal, Heidi, laß es mich noch einmal hören: „Kreuz und Elende // Das nimmt ein Ende —“ Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und Verlangen: „Kreuz und Elende — // Das nimmt ein Ende; // Nach Meeresbrauſen // Und Windesſauſen // Leuchtet der Sonne erwünſchtes Geſicht. Freude die Fülle // Und ſelige Stille // Darf ich erwarten // Im himmliſchen Garten, // Dahin ſind meine Gedanken gericht't.“ „O Heidi, das macht hell! das macht ſo hell im Herzen! O wie haſt du mir wohl gemacht, Heidi!“ Ein Mal um's andere ſagte die Großmutter die Worte der Freude, und Heidi ſtrahlte vor Glück und mußte ſie nur immer anſehen, denn ſo hatte es die Großmutter nie geſehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte, trübſelige Geſicht, ſondern ſchaute ſo freudig und dankend auf, als ſähe ſie ſchon mit neuen, hellen Augen in den ſchönen himmliſchen Garten hinein. Jetzt klopfte es am Fenſter, und Heidi ſah den Großvater draußen, der ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte ſchnell, aber nicht ohne die Großmutter zu verſichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es mit Peter auf die Weide gehe, ſo komme es doch im halben Tag zurück, denn daß es der Großmutter wieder hell machen konnte und ſie wieder fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das es kannte, noch viel größer, als auf der ſonnigen Weide und bei den Blumen und Gaißen zu ſein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Thür nach mit Rock und Hut, daß es ſeine Habe mitnehme. Den Rock nahm es auf den Arm, denn der Großvater kenne es jetzt ſchon, dachte es bei ſich, aber den Hut wies es hartnäckig zurück, die Brigitte ſolle ihn nur behalten, es ſetze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war ſo erfüllt von ſeinen Erlebniſſen, daß es gleich dem Großvater Alles erzählen mußte, was ihm das Herz erfreute, daß man die weißen Brödchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man nur Geld habe, und daß es der Großmutter auf einmal ſo hell und wohl geworden war, und wie Heidi das Alles zu Ende geſchildert hatte, kehrte es wieder zum Erſten zurück und ſagte ganz zuverſichtlich: „Gelt, Großvater, wenn die Großmutter ſchon nicht will, ſo gibſt du mir doch alles Geld in der Rolle, daß ich dem Peter jeden Tag ein Stück geben kann zu einem Brödchen und am Sonntag zwei?“ „Aber das Bett, Heidi“, ſagte der Großvater, „ein rechtes Bett für dich wäre gut, und nachher bleibt ſchon noch für manches Brödchen.“ Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, daß es auf ſeinem Heubett viel beſſer ſchlafe, als es jemals in ſeinem Kiſſenbett in Frankfurt geſchlafen habe, und bat ſo eindringlich und unabläſſig, daß der Großvater zuletzt ſagte: „Das Geld iſt dein, mach' was dich freut, du kannſt der Großmutter manches Jahr lang Brod holen dafür.“ Heidi jauchzte auf: „O juhe! Nun muß die Großmutter gar nie mehr hartes, ſchwarzes Brod eſſen, und o Großvater! nun iſt doch Alles ſo ſchön, wie noch gar nie ſeit wir leben!“ und Heidi hüpfte hoch auf an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf, wie die fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernſthaft und ſagte: „O wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle gethan hätte, was ich ſo ſtark erbetete, dann wäre doch Alles nicht ſo geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der Großmutter nur wenige Brödchen gebracht, und hätte ihr nicht leſen können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte ſchon Alles ausgedacht, ſo viel ſchöner, als ich es wußte; die Großmama hat es mir geſagt und nun iſt Alles ſo gekommen. O wie bin ich froh, daß der liebe Gott nicht nachgab, wie ich ſo bat und jammerte! Aber jetzt will ich immer ſo beten, wie die Großmama ſagte, und dem lieben Gott immer danken, und wenn er Etwas nicht thut, das ich erbeten will, dann will ich gleich denken: es geht gewiß wieder wie in Frankfurt, der liebe Gott denkt gewiß etwas viel Beſſeres aus. Aber wir wollen auch alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergeſſen, damit der liebe Gott uns auch nicht vergißt.“ „Und wenn's Einer doch thäte“, murmelte der Großvater. „O dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergißt ihn dann auch und läßt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal ſchlecht geht, und er jammert, ſo hat kein Menſch Mitleid mit ihm, ſondern alle ſagen nur, er iſt ja zuerſt vom lieben Gott weggelaufen, nun läßt ihn der liebe Gott auch gehen, der ihm helfen könnte.“ „Das iſt wahr, Heidi, woher weißt du das?“ „Von der Großmama, ſie hat mir Alles erklärt.“ Der Großvater ging eine Weile ſchweigend weiter. Dann ſagte er, ſeine Gedanken verfolgend, vor ſich hin: „Und wenn's einmal ſo iſt, dann iſt's ſo; zurück kann Keiner, und wen der Herrgott vergeſſen hat, den hat er vergeſſen.“ „O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich auch von der Großmama, und dann geht es ſo wie in der ſchönen Geſchichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt ſind wir aber gleich daheim, und dann wirſt du ſchon erfahren, wie ſchön die Geſchichte iſt.“ Heidi ſtrebte in ſeinem Eifer raſcher und raſcher die letzte Steigung hinan — und kaum waren ſie oben angelangt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von ſeinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem Koffer hineingeſtoßen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen wäre ihm zu ſchwer geweſen. Dann ſetzte er ſich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, ſein großes Buch unter dem Arm: „O das iſt recht, Großvater, daß du ſchon daſitzeſt“, und mit einem Satz war Heidi an ſeiner Seite und hatte ſchon ſeine Geſchichte aufgeſchlagen, denn die hatte es ſchon ſo oft und immer wieder geleſen, daß das Buch von ſelbſt aufging an dieſer Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern die ſchönen Kühe und Schäflein weideten und er in einem ſchönen Mäntelchen, auf ſeinen Hirtenſtab geſtützt, bei ihnen auf der Weide ſtehen und dem Sonnenuntergang zuſehen konnte, wie es Alles auf dem Bilde zu ſehen war. Aber auf einmal wollte er ſein Hab und Gut für ſich haben und ſein eigener Meiſter ſein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verpraßte Alles. Und als er gar Nichts mehr hatte, mußte er hingehen und Knecht ſein bei einem Bauer, der hatte aber nicht ſo ſchöne Thiere, wie auf ſeines Vaters Feldern waren, ſondern nur Schweinlein, dieſe mußte er hüten und er hatte nur noch Fetzen auf ſich und bekam nur von den Träbern, welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm geweſen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er mußte weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: „Ich will zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm ſagen, ich bin nicht mehr werth, dein Sohn zu heißen, aber laß mich nur dein Taglöhner bei dir ſein.“ Und wie er von ferne gegen das Haus ſeines Vaters kam, da ſah ihn der Vater und kam herausgelaufen — „was meinſt du jetzt, Großvater?“ unterbrach ſich Heidi in ſeinem Vorleſen; „jetzt meinſt du, der Vater ſei noch böſe und ſage zu ihm: ‚Ich habe dir's ja geſagt!?‘ Jetzt hör' nur, was kommt: ‚Und ſein Vater ſah ihn und es jammerte ihn und lief und fiel ihn um den Hals und küßte ihn und der Sohn ſprach zu ihm: Vater, ich habe geſündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth dein Sohn zu heißen. Aber der Vater ſprach zu ſeinen Knechten: Bringet das beſte Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an ſeine Hand und Schuhe an die Füße, und bringt das gemäſtete Kalb her und ſchlachtet es und laßt uns eſſen und fröhlich ſein, denn dieſer mein Sohn war todt und iſt wieder lebendig geworden und er war verloren und iſt wieder gefunden worden. Und ſie fingen an fröhlich zu ſein.‘ „Iſt denn das nicht eine ſchöne Geſchichte, Großvater?“ fragte Heidi, als dieſer immer noch ſchweigend da ſaß und es doch erwartet hatte, er werde ſich freuen und verwundern. „Doch, Heidi, die Geſchichte iſt ſchön“, ſagte der Großvater, aber ſein Geſicht war ſo ernſthaft, daß Heidi ganz ſtille wurde und ſeine Bilder anſah. Leiſe ſchob es noch einmal ſein Buch vor den Großvater hin und ſagte: „Sieh', wie es ihm wohl iſt“, und zeigte mit ſeinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im friſchen Kleid neben dem Vater ſteht und wieder zu ihm gehört als ſein Sohn. Ein paar Stunden ſpäter, als Heidi längſt im tiefen Schlafe lag, ſtieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er ſtellte ſein Lämpchen neben Heidi's Lager hin, ſo daß das Licht auf das ſchlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergeſſen. Auf ſeinem roſigen Geſichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und ſeligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden mußte, denn lange, lange ſtand er da und rührte ſich nicht und wandte kein Auge von dem ſchlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut ſagte er mit geſenktem Haupte: „Vater, ich habe geſündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth, dein Sohn zu heißen!“ Und ein paar große Thränen rollten dem Alten die Wangen herab. Wenige Stunden nachher in der erſten Frühe des Tages ſtand der Alm-Oehi vor ſeiner Hütte und ſchaute mit hellen Augen um ſich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Thal. Einzelne Frühglocken tönten aus den Thälern herauf, und oben in den Tannen ſangen die Vögel fröhlich ihre Morgenlieder. Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück: „Komm', Heidi!“ rief er auf den Boden hinauf, „die Sonne iſt da! Zieh' ein gutes Röcklein an, wir wollen in die Kirche mit einander!“ Heidi machte nicht lange, das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem mußte es ſchnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergeſprungen in ſeinem ſchmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erſtaunen blieb Heidi vor ſeinem Großvater ſtehen und ſchaute ihn an: „O Großvater, ſo hab' ich dich nie geſehen“, brach es endlich aus, „und den Rock mit den ſilbernen Knöpfen haſt du noch gar nicht getragen, o du biſt ſo ſchön in deinem ſchönen Sonntagsrock.“ Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und ſagte: „Und du in dem deinen; jetzt komm'.“ Er nahm Heidi's Hand in die ſeine, und ſo wanderten ſie mit einander den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter ſie kamen, und Heidi lauſchte mit Entzücken und ſagte: „Hörſt du's, Großvater? Es iſt wie ein großes, großes Feſt.“ Unten im Dörfli waren ſchon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu ſingen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank ſich niederſetzte. Aber mitten im Singen ſtieß der zunächſt Sitzende ſeinen Nachbar mit dem Ellbogen an und ſagte: „Haſt du das geſehen? der Alm-Oehi iſt in der Kirche!“ Und der Angeſtoßene ſtieß den Zweiten an und ſo fort, und in kürzeſter Zeit flüſterte es an allen Ecken: „Der Alm- Oehi! Der Alm-Oehi!“ und die Frauen mußten faſt alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meiſten fielen ein wenig aus der Melodie, ſo daß der Vorſänger die größte Mühe hatte, den Geſang ſchön aufrecht zu erhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerſtreutheit ganz vorüber, denn es war ein ſo warmes Loben und Danken in ſeinen Worten, daß alle Zuhörer davon ergriffen wurden und es war, als ſei ihnen Allen eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienſt zu Ende war, trat der Alm-Oehi mit dem Kinde an der Hand heraus und ſchritt dem Pfarrhaus zu, und Alle, die mit ihm heraustraten und die ſchon draußen ſtanden, ſchauten ihm nach, und die Meiſten gingen hinter ihm her, um zu ſehen, ob er wirklich in's Pfarrhaus eintrete, was er that. Dann ſammelten ſie ſich in Gruppen zuſammen und beſprachen in großer Aufregung das Unerhörte, daß der Alm- Oehi in der Kirche erſchienen war, und Alle ſchauten mit Spannung nach der Pfarrhausthür, wie der Oehi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader, oder im Frieden mit dem Herrn Pfarrer, denn man wußte ja gar nicht, was den Alten heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint ſei. Aber doch war ſchon bei Vielen eine neue Stimmung eingetreten, und Einer ſagte zum Andern: „Es wird wohl mit dem Alm-Oehi nicht ſo bös ſein, wie man thut; man kann ja nur ſehen, wie ſorglich er das Kleine an der Hand hält?“ Und der Andere ſagte: „Das hab' ich ja immer geſagt, und zum Pfarrer hinein gienge er auch nicht, wenn er ſo bodenſchlecht wäre, ſonſt müßte er ſich ja fürchten, man übertreibt auch viel.“ Und der Bäcker ſagte: „Hab' ich das nicht zu allererſt geſagt? Seit wann läuft denn ein kleines Kind, das zu eſſen und zu trinken hat, was es will, und ſonſt alles Gute, aus alle dem weg und heim zu einem Großvater, wenn der bös und wild iſt und es ſich zu fürchten hat vor ihm?“ Und es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Oehi auf und nahm überhand, denn jetzt nahten ſich auch die Frauen herzu, und dieſe hatten ſo Manches von der Gaißen- Peterin und der Großmutter gehört, das den Alm-Oehi ganz anders darſtellte, als die allgemeine Meinung war und das ihnen jetzt auf einmal glaublich ſchien, daß es mehr und mehr ſo wurde, als warten ſie Alle da, um einen alten Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte. Der Alm-Oehi war unterdeſſen an die Thür der Studierſtube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht überraſcht, wie er wohl hätte ſein können, ſondern ſo, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erſcheinung in der Kirche mußte ihm nicht entgangen ſein. Er ergriff die Hand des Alten und ſchüttelte ſie wiederholt mit der größten Herzlichkeit, und der Alm-Oehi ſtand ſchweigend da und konnte erſt kein Wort herausbringen, denn auf ſolchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er ſich und ſagte: „Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er mir die Worte vergeſſen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerſpenſtig war gegen ſeinen wohlmeinenden Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt ſeinem Rathe folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen, denn die harte Jahreszeit iſt Nichts für das Kind dort oben, es iſt zu zart, und wenn dann auch die Leute hier unten mich von der Seite anſehen, ſo wie Einen, dem nicht zu trauen iſt, ſo habe ich es nicht beſſer verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun.“ Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und drückte ſie in der ſeinen und ſagte mit Rührung: „Nachbar, Ihr ſeid in der rechten Kirche geweſen, noch eh' Ihr in die meinige herunterkamt; deß freu' ich mich, und daß Ihr wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, ſoll Euch nicht gereuen, bei mir ſollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar allezeit willkommen ſein, und ich gedenke manches Winterabendſtündchen fröhlich mit Euch zu verbringen, denn Eure Geſellſchaft iſt mir lieb und werth und für das Kleine wollen wir auch gute Freunde finden.“ Und der Herr Pfarrer legte ſehr freundlich ſeine Hand auf Heidi's Krauskopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus, indem er den Großvater fort begleitete, und erſt draußen vor der Hausthür nahm er Abſchied, und nun konnten alle die herumſtehenden Leute ſehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Oehi die Hand immer noch einmal ſchüttelte, gerade als wäre das ſein beſter Freund, von dem er ſich faſt nicht trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Thüre ſich hinter dem Herrn Pfarrer geſchloſſen, ſo drängte die ganze Verſammlung dem Alm-Oehi entgegen, und Jeder wollte der Erſte ſein, und ſo viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden entgegengeſtreckt, daß er gar nicht wußte, welche zuerſt ergreifen, und Einer rief ihm zu: „Das freut mich! das freut mich, Oehi, daß Ihr auch wieder einmal zu uns kommt!“ und ein Anderer: „Ich hätte auch ſchon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch geredet, Oehi!“ Und ſo tönte und drängte es von allen Seiten, und wie nun der Oehi auf alle die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er gedenke, ſein altes Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten Bekannten zu verleben, da gab es erſt einen rechten Lärm, und es war gerade ſo, wie wenn der Alm-Oehi die beliebteſte Perſönlichkeit im ganzen Dörfli wäre, die Jeder mit Nachtheil entbehrt hatte. Noch weit an die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den Meiſten begleitet, und beim Abſchied wollte Jeder die Verſicherung haben, daß der Alm- Oehi bald einmal bei ihm vorſpreche, wenn er wieder herunterkomme; und wie nun die Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte ſtehn und ſchaute ihnen lange nach, und auf ſeinem Geſichte lag ein ſo warmes Licht, als ſchiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi ſchaute unverwandt zu ihm auf und ſagte ganz erfreut: „Großvater, heut' wirſt du immer ſchöner, ſo warſt du noch gar nie.“ „Meinſt du“, lächelte der „Ja, und ſiehſt du, Heidi, mir geht's auch heut' über Verſtehen und Verdienen gut, und mit Gott und Menſchen im Frieden ſtehn, das macht Einem ſo wohl! Der liebe Gott hat's gut mit mir gemeint, daß er dich auf die Alm ſchickte.“ Bei der Gaißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich die Thür auf und trat ein. „Grüß' Gott, Großmutter“, rief er hinein, „ich denke, wir müſſen einmal wieder an's Flicken gehn, bevor der Herbſtwind kommt.“ „Du mein Gott, das iſt der Oehi!“ rief die Großmutter voll freudiger Ueberraſchung aus; „daß ich das noch erlebe! daß ich Euch noch einmal danken kann für Alles, das Ihr für uns gethan habt, Oehi! Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!“ Und mit zitternder Freude ſtreckte die alte Großmutter ihre Hand aus, und als der Angeredete ſie herzlich ſchüttelte, fuhr ſie fort, indem ſie die ſeinige feſthielt: „Und eine Bitte hab' ich auch noch auf dem Herzen, Oehi: Wenn ich Euch je Etwas zu Leid gethan habe, ſo ſtraft mich nicht damit, daß Ihr noch einmal das Heidi fortlaßt, bevor ich unten bei der Kirche liege. O Ihr wißt nicht, was mir das Kind iſt!“ und ſie hielt es feſt an ſich, denn Heidi hatte ſich ſchon an ſie geſchmiegt. „Keine Sorge, Großmutter“, beruhigte der Oehi, „damit will ich weder Euch noch mich ſtrafen, jetzt bleiben wir Alle bei einander und will's Gott noch lange ſo.“ Jetzt zog die Brigitte den Oehi ein wenig geheimnißvoll in eine Ecke hinein und zeigte ihm das ſchöne Federhütchen, und erzählte ihm, wie es ſich damit verhalte, und daß ſie ja natürlich ſo Etwas einem Kinde nicht abnehme. Aber der Großvater ſah ganz wohlgefällig auf ſein Heidi hin und ſagte: „Der Hut iſt ſein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf thun will, ſo hat es recht, und hat es ihn dir gegeben, ſo nimm ihn nur.“ Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urtheil. „Er iſt gewiß mehr als zehn Franken werth, ſeht nur!“ und in ihrer Freude ſtreckte ſie das Hütchen hoch auf. „Was aber auch dieſes Heidi für einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe ſchon manchmal denken müſſen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach Frankfurt ſchicken ſolle; was meint Ihr, Oehi?“ Dem Oehi ſchoß es ganz luſtig aus den Augen. Er meinte, es könnte dem Peterli Nichts ſchaden; aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten. Jetzt fuhr der Beſprochene eben zur Thür herein, nachdem er zuerſt mit dem Kopf ſo feſt dagegen gerannt war, daß Alles erklirrte davon; er mußte preſſirt ſein. Athemlos und keuchend ſtand er nun mitten in der Stube ſtill und ſtreckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereigniß, das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufſchrift an das Heidi, den man ihm auf der Poſt im Dörfli übergeben hatte. Jetzt ſetzten ſich Alle voller Erwartung um den Tiſch herum und Heidi machte ſeinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anſtoß vor. Der Brief war von der Klara Seſemann geſchrieben. Sie erzählte Heidi, daß es ſeit ſeiner Abreiſe ſo langweilig geworden ſei in ihrem Hauſe, daß ſie es nicht lang hintereinander ſo aushalten könne und ſo lange den Vater gebeten habe, bis er die Reiſe in's Bad Ragatz ſchon auf den kommenden Herbſt feſtgeſtellt habe, und die Großmama wollte auch mitkommen, denn ſie wollte auch das Heidi und den Großvater beſuchen auf der Alm. Und weiter ließ die Großmama noch dem Heidi ſagen, es habe recht gethan, daß es der alten Großmutter die Brödchen habe mitbringen wollen, und damit ſie dieſe nicht trocken eſſen müſſe, komme gleich der Kaffee noch dazu, er ſei ſchon auf der Reiſe und wenn ſie ſelbſt nach der Alm komme, ſo müſſe das Heidi ſie auch zur Großmutter führen. Da gab es nun eine ſolche Freude und Verwunderung über dieſe Nachrichten, und ſo viel zu reden und zu fragen, da die große Erwartung Alle gleich betraf, daß ſelbſt der Großvater nicht bemerkte, wie ſpät es ſchon war, und ſo vergnügt und fröhlich waren ſie Alle in der Ausſicht auf die kommenden Tage und faſt noch mehr in der Freude über das Zuſammenſein an dem heutigen, daß die Großmutter zuletzt ſagte: „Das Schönſte iſt doch, wenn ſo ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, ſo wie vor langer Zeit; das gibt ſo ein tröſtliches Gefühl in's Herz, daß wir einmal Alles wiederfinden, was uns lieb iſt. Ihr kommt doch bald wieder, Oehi, und das Kind morgen ſchon?“ Das wurde der Großmutter in die Hand hinein verſprochen; nun aber war es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von Nah und Fern ſie heruntergerufen hatten, ſo begleitete nun aus dem Thale herauf das friedliche Geläut der Abendglocken ſie bis hinauf zur ſonnigen Almhütte, die ganz ſonntäglich im Abendſchimmer ihnen entgegenglänzte. Wenn aber die Großmama kommt im Herbſt, dann gibt es gewiß noch manche neue Freude und Ueberraſchung für das Heidi wie für die Großmutter, und ſicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die erwünſchte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.