Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 8. Eine vermummte Perſon tritt auf Caſpar war in den Garten gegangen. Er lief über den feuchten Boden bis zum Zaun und ſchaute gegen den Fluß hinüber. Ein bleifarbener Dunſt umkleidete die Türmchen und ineinander geſchobenen Dächer der Stadt, nur das bunte Dach der Lorenzerkirche glänzte hell, doch glich alles zuſammen mehr einem Spiegelbild im Waſſer als einer greifbaren Wirklichkeit. Caſpar fröſtelte, und es war doch warm. Er wandte ſich wieder gegen das Haus. Als er das Pförtchen geöffnet hatte, machte ihn der leer daliegende Flur betroffen. Ein breiter Streifen Sonne, der über die Steinflieſen kam und zitternd die weißen Stufen der Wendeltreppe hinauflief, verſtärkte den Eindruck der Verlaſſenheit. Hinter einer Tür des Flurs, aus der Wohnung des Kandidaten Regulein, tönten Geigenklänge; der Kandidat übte. Den einen Fuß ſchon auf der Treppe, blieb Caſpar ſtehen und lauſchte. Da! Da war es! Da kam er! Ein Schatten erſt, dann eine Geſtalt, dann eine Stimme. Was ſagte die Stimme, die tiefe Stimme? Eine tiefe Stimme ſprach hinter ihm die Worte: „Caſpar, du mußt ſterben.“ Sterben? dachte Caſpar erſtaunt, und ſeine Arme wurden ſteif wie Hölzer. Er ſah einen Mann vor ſich ſtehen, der ein ſeidig-ſchwarzes, langhängendes, vom Zugwind ein wenig geblähtes Tuch vor dem Geſicht hatte. Er hatte braune Schuhe, braune Strümpfe und einen braunen Anzug. Über ſeinen Händen trug er Handſchuhe, und in ſeiner Rechten funkelte etwas Metallenes, funkelte ſchnell und erloſch. Er ſchlug Caſpar damit. Während Caſpar den gelähmten Blick nach oben zwang, ſpürte er einen donnernden Schmerz im Hirn. Auf einmal hörte der Kandidat Regulein auf, die Geige zu ſpielen. Es erſchallten Schritte, die wieder verklangen, doch mochte der Vermummte ſtutzig geworden ſein und die Furcht ihn verhindern, zum zweitenmal auszuholen. Als Caſpar die Augen auftat, über die von der Mitte der Stirn herunter eine brennende Näſſe floß, war der Mann verſchwunden. Ei, hätte er nur nicht Handſchuhe gehabt, unter tauſend Händen wollte ich ſeine Hand erkennen, dachte Caſpar, indem er zur Seite torkelte. An der Schmalſeite des Flurs fand er keinen Halt; er probierte die Stiege hinaufzuklimmen, aber der Sonnenſtreifen erſchien wie ein hindernder Strom Feuers. Er glitt nieder, umklammerte die Steinſäule und blieb eine halbe Minute lautlos ſitzen, bis ihn die Angſt packte, der Vermummte könne wieder zurückkommen. Mit aller Kraft hielt er das fliehende Bewußtſein noch feſt, richtete ſich auf, taumelte vorwärts und taſtete ſich an der Wand entlang, als ſuche er ein Loch, um ſich zu verkriechen. Als er bei der Kellertreppe war, gab die nur angelehnte Tür dem Druck ſeiner Hand nach, ſo daß er faſt hinuntergeſtürzt wäre. Kaum ſehend und ohne zu überlegen tappte er ſo ſchnell wie möglich die finſteren Stufen hinunter, denn ſchon glaubte er den Vermummten hinter ſich. Als er im Keller war, ſpritzte Waſſer von ſeinen Schritten auf; es war Regenwaſſer, das bei ſchlechtem Wetter hier unten Pfützen bildete. Endlich fand er einen trockenen Winkel; während er ſich niederließ und ſich, voller Furcht und Grauen, förmlich zuſammenrollte, hörte er noch von den Turmuhren zwölf ſchlagen, danach ſah und fühlte er nichts mehr. Um viertel eins kamen die Daumerſchen Frauen zurück. Anna, die im Flur voranging, gewahrte die große Blutlache vor der Stiege und ſchrie auf. Gleichzeitig kam der Kandidat Regulein aus ſeiner Wohnung und meinte: „Na, was iſt denn das für eine Beſcherung!“ Die alte Frau, die an nichts Schlimmes dachte, äußerte ſich, wahrſcheinlich habe jemand Naſenbluten gehabt. Anna jedoch, mehr und mehr voll Ahnung, wies auf die blutigen Fingerabdrücke hin, die an der Mauer bis zur Kellertür ſichtbar waren. Sie ſprang hinauf, ihr erſter Gedanke war Caſpar, ſie ſuchte ihn in allen Zimmern und ſagte zum Bruder: „Du, da unten iſt alles voll Blut.“ Daumer erhob ſich mit einem beklommenen Ausruf vom Schreibtiſch und eilte hinaus. Inzwiſchen war der Kandidat der Blutſpur bis in den Keller gefolgt. Mit heiſerer Stimme ſchrie er von unten nach Licht und fügte gellend hinzu: „Da unten iſt er, da liegt der Hauſer! Hilfe, Hilfe, ſchnell!“ Alle drei Daumers ſtürzten in den Keller, Anna kam keuchend wieder zurück, um die Kerze zu holen, die andern verſuchten, den verkauerten Körper Caſpars aufzurichten, und dann trugen ſie ihn ſelbdritt hinauf. „Zum Arzt, zum Arzt!“ kreiſchte Frau Daumer der entgegenrennenden Anna zu, die das Licht ausblies, zu Boden warf und davonſprang. Als Caſpar endlich oben auf dem Bett lag, wuſchen ſie das geſtockte Blut von ſeinem Geſicht, und es kam eine nicht unbedeutende Wunde inmitten der Stirn zum Vorſchein. Daumer lief mit gerungenen Händen im Zimmer auf und ab und ſtöhnte fortwährend: „Das muß mir paſſieren! Das muß in meinem Haus paſſieren! Ich hab’s ja gleich geſagt, ich hab’s immer gewußt!“ Der Platz vor dem Haus war ſchon voller Menſchen, als Anna mit dem Arzt zurückkam. Im Flur ſtanden einige Magiſtrats- und Polizeileute. Ein wenig ſpäter erſchien auch der Gerichtsarzt; beide Doktoren verſicherten, daß die Wunde ungefährlich ſei, ob aber das Gemüt des Jünglings nicht eine bedenkliche Erſchütterung erlitten habe, ließen ſie dahingeſtellt. Ein amtliches Protokoll konnte nicht aufgenommen werden, Caſpar war immer nur kurze Zeit bei Beſinnung; er ſtammelte dann ein paar Worte, die allerdings das, was mit ihm geſchehen war, wie unter Blitzesleuchten erkennbar machten, ſprach von dem Vermummten, von ſeinen glänzenden Stiefeln und gelben Handſchuhen, fiel aber danach in heftige Wahn- und Fieberdelirien. Bei der Beſichtigung der Lokalität wurde der Weg entdeckt, auf dem der Unbekannte ins Haus gedrungen war: unter der Stiege befand ſich nämlich gegen den Baumannſchen Garten ein kleines Türchen, deſſen Vorlegeſchloß zerſprengt war. Die Vernehmung Daumers war fruchtlos, er ſtand kaum Rede. Gegen Abend kam Herr von Tucher und teilte mit, daß man einen Eilboten an den Präſidenten Feuerbach abgefertigt habe. Das Bürgermeiſteramt hatte ſogleich umfaſſende Nachforſchungen veranſtaltet. An allen Haupt- und Nebentoren der Stadt wurde die Wache zu erhöhter Aufmerkſamkeit verpflichtet; die Wirtshäuſer und Herbergen, wo Leute gemeinen Schlags ſich aufzuhalten pflegten, wurden ſorgfältig durchſucht, auch wurden die Gendarmerie und die benachbarten Landgemeinden zu tätiger Vigilanz aufgefordert. An die Amtstafel des Rathauſes wurde eine öffentliche Bekanntmachung angeſchlagen, und zwei Aktuare und die halbe Polizeimannſchaft wurden mit der Verfolgung des Frevlers betraut. Die Untat geſchah an einem Montag; eine zu leitende Gerichtsverhandlung hinderte unglücklicherweiſe den Präſidenten, ſofort nach Nürnberg zu kommen, erſt am Donnerstag traf er mit Extrapoſt in der Stadt ein und begab ſich unverzüglich aufs Rathaus. Er ließ ſich vom Magiſtratsvorſtand über die polizeilichen Maßregeln und deren Ergebniſſe Bericht erſtatten, zeigte ſich aber mit allem ſo unzufrieden und geriet über eine Reihe von Mißgriffen in ſolchen Zorn, daß die ganze Beamtenſchaft den Kopf verlor. Über die vom Aktuar ihm vorgelegten Protokolle und Zeugenausſagen machte er ſarkaſtiſche Bemerkungen; da war eine Hallwächtersfrau, welche am Schießgraben beim Hauptſpital einen wohlgekleideten Herrn geſehen hatte, der ſich in einer Feuerkufe die Hände wuſch; da war ein Öbſtnerweib, die in Sankt Johannis einem Fremden begegnet war, welcher ſich bei ihr erkundigt hatte, wer am Tiergärtner Tor Examinator ſei und ob man, ohne angehalten zu werden, in die Stadt gelangen könne; da waren verdächtige Handwerksburſchen und unterſtandsloſe Strolche verhaftet worden; da hatte man zwei Kerle beobachtet, den einen im hellen Schalk, den andern im dunkeln Frack, die auf der Fleiſchbrücke zuſammengekommen waren und einander Zeichen gegeben hatten. „Zu ſpät, zu ſpät,“ knirſchte der Präſident. „Warum hat man nicht die Namensliſte der zu- und abgereiſten Fremden in den Gaſthöfen kontrolliert?“ fuhr er den zitternden Aktuar an. „Die Spuren laufen nach vielen Richtungen,“ bemerkte ſchüchtern der Unglückliche. „Gewiß, die Unfähigkeit hat viele Wege,“ antwortete der Präſident beißend, und mit Bedeutung fügte er hinzu: „Hören Sie, Mann Gottes! Der Übeltäter, auf den wir da fahnden, wäſcht ſeine Hände nicht auf offener Straße, er läßt ſich mit keinem Öbſtnerweib in Geſpräche ein und braucht keinen Examinator zu fürchten. Zu niedrig habt ihr gegriffen, viel zu niedrig.“ Er nahm einen Schreiber mit, um den Lokalaugenſchein im Daumerſchen Haus nochmals ſelbſt vorzunehmen. Der Magiſtratsrat Behold begleitete ihn und ward ihm durch mannigfaches Reden läſtig; unter anderm äußerte Behold, er habe gehört, Profeſſor Daumer wolle Caſpar nicht länger behalten, und machte ſich erbötig, dem Jüngling in ſeinem Haus Obdach zu gewähren. Feuerbach hielt dies für leeres Geſchwätz und entledigte ſich des Mannes, indem er ihn mit einem Auftrag zu Herrn von Tucher ſchickte. Aber als er dann mit Daumer ſprach, erregte deſſen Zerfahrenheit ſein Befremden. Um ihn nicht noch mehr zu verwirren, legte Feuerbach das Verhör mit ihm ſo an, daß es mehr einer freundſchaftlichen Unterhaltung glich. Daumer erinnerte ſich der geheimnisvollen Begegnung, die Caſpar vor der Egydienkirche gehabt hatte, und rückte damit heraus. „Und davon erfährt man jetzt erſt?“ brauſte der Präſident auf. „Und hatte die Sache keine unmittelbaren Folgen? Haben Sie nachher nichts Verdächtiges beobachtet?“ „Nein,“ ſtotterte Daumer, in Furcht geſetzt durch den ſtählern durchdringenden Blick des Präſidenten. „Das heißt, eines fällt mir noch ein: ich traf am ſelben Abend bei Frau Behold einen Herrn, der ſich mir gegenüber in ganz ſeltſamen Andeutungen oder Warnungen gefiel, wie man es auffaſſen ſoll, weiß ich nicht.“ „Was war der Mann? Wie hieß er?“ „Man ſagte, es ſei ein zugereiſter Diplomat, des Namens entſinne ich mich nicht. Oder doch, jawohl: Herr von Schlotheim-Lavancourt; er ſoll ſich aber unter falſchem Namen hier aufgehalten haben.“ „Wie ſah er aus?“ „Dick, groß, ein wenig pockennarbig, ein hoher Fünfziger.“ „Schildern Sie mir das Geſpräch mit ihm.“ Daumer gab, ſo gut er es vermochte, den Inhalt der Unterredung. Feuerbach verſank in langes Nachdenken, dann ſchrieb er einige Notizen in ſein Taſchenbuch. „Laſſen Sie uns zu Caſpar gehen,“ ſagte er, ſich erhebend. Caſpars Stirn war noch verbunden; das Geſicht war beinahe ſo weiß wie das Tuch; auch das Lächeln, womit er den Präſidenten empfing, war gleichſam weiß. Er hatte bereits drei oder vier Verhöre überſtanden; ſchon beim erſten hatte er alles Erzählenswerte erzählt; das hielt den guten Amtsſchimmel nicht ab, immer wieder von neuem anzutraben, man fragte die Kreuz und Quer, um das Opfer auf einem Widerſpruch zu erwiſchen; mit Widerſprüchen kann man arbeiten, wenn einer jedesmal dasſelbe ſagt, wird die Geſchichte ausſichtslos. Der Präſident unterließ das Fragen; er fand einen veränderten Menſchen in Caſpar; es war etwas Beklommenes an ihm, ſein Blick war weniger frei, nicht mehr ſo tiefſtrahlend und ſeltſam ahnungslos, näher an die Dinge gekettet. Während die Frauen ſich über Caſpars Befinden befriedigt äußerten, kam auch der Arzt und beſtätigte gern, daß von irgendwelcher Gefahr keine Rede mehr ſein könne. In einem Ton, der mehr Befehl als Wunſch enthielt, ſagte der Präſident, er hoffe, daß in dieſen Tagen fremde Beſucher ohne Ausnahme abgewieſen würden. Daumer erwiderte, das verſtehe ſich von ſelbſt, erſt dieſen Morgen habe er einem betreßten Lakaien abſchlägigen Beſcheid geben laſſen. „Es war der Diener eines vornehmen Engländers, der im Gaſthof zum Adler wohnt,“ fügte Frau Daumer hinzu; „er war übrigens nach einer Stunde noch einmal da, um ſich ausführlich zu erkundigen, wie es Caſpar ginge.“ Es klopfte an die Tür, Herr von Tucher trat ein, begrüßte den Präſidenten und machte nach kurzer Weile eine überraſchende Mitteilung: derſelbe Engländer, ein anſcheinend ſehr reicher Graf oder Lord, habe dem Bürgermeiſter einen Beſuch abgeſtattet und ihm hundert Dukaten überreicht als Belohnung für denjenigen, dem es gelingen würde, den Urheber des an Caſpar verübten Überfalls zu entdecken. Ein erſtauntes Schweigen entſtand, welches der Präſident mit der Frage unterbrach, ob man wiſſe, weshalb ſich der Fremde in der Stadt aufhalte. Herr von Tucher verneinte. „Man weiß nur, daß er vorgeſtern abends angekommen iſt,“ antwortete er; „ein Rad ſeines Wagens ſoll in der Nähe von Burgfarrnbach gebrochen ſein, und er wartet hier, bis der Schaden ausgebeſſert iſt.“ Der Präſident zog die Brauen zuſammen, Argwohn umdüſterte ſeinen Blick; ſo wird der Jagdhund ſtutzig, wenn ſich abſeits von verwirrenden Fährten eine neue Spur zeigt. „Wie nennt ſich der Mann?“ fragte er ſcheinbar gleichgültig. „Der Name iſt mir entfallen,“ entgegnete Baron Tucher, „doch ſoll es in der Tat ein hoher Herr ſein, Bürgermeiſter Binder preiſt ſeine Leutſeligkeit in allen Tönen.“ „Hohe Herren gelten ſchon für leutſelig, wenn ſie einem auf den Fuß treten und ſich nachher freundlich entſchuldigen,“ ließ ſich Anna, die an Caſpars Bett ſaß, naſeweis vernehmen. Daumer warf ihr einen ſtrafenden Blick zu, doch der Präſident brach in eine ſchmetternde Lache aus, die auf alle anſteckend wirkte; noch minutenlang kicherte er vor ſich hin und zwinkerte vergnügt mit den Augen. Bloß Caſpar nahm an dem heiteren Zwiſchenſpiel keinen Teil, ſein Blick war nachdenklich ins Freie gerichtet, er wünſchte jenen Mann zu ſehen, der aus weiter Ferne kam und ſo viel Geld hergab, damit der gefunden werde, der ihn geſchlagen. Aus weiter Ferne! Das war es; nur aus weiter Ferne konnte kommen, wonach Caſpar Verlangen trug, vom Meere her, von unbekannten Ländern her. Auch der Präſident kam aus der Ferne, aber doch nicht von ſo weit, daß ſeine Stirn gefärbt war von fremdem Schein, daß ein ſüßer Wind an ſeinen Kleidern hing oder daß ſeine Augen wie die Sterne waren, ohne Vorwurf, ohne das ewige Fragen. Der aus der Ferne kam, im ſilbernen Kleid vielleicht und mit vielen Roſſen, der brauchte nicht zu fragen, er wußte alles von ſelbſt, die andern aber, alle die Nahen, die immer da waren, immer hereingingen und immer wieder fort, ſie ſahen niemals aus, als ob ſie von ſchäumenden Roſſen geſtiegen wären, ihr Atem war dumpf wie Kellerluft, ihre Hand müde wie keines Reiters Hand; ihr Antlitz war vermummt, nicht ſchwarz vermummt wie das Geſicht deſſen, der ihn geſchlagen und der ihm ſo nah geweſen wie keiner ſonſt, ſondern undeutlich vermummt; darum redeten ſie mit unreiner Stimme und in verſtellten Tönen, und darum war es auch, daß Caſpar ſich jetzt verſtellen mußte und nicht mehr imſtande war, ihnen feſt ins Auge zu ſehen und alles zu ſagen, was er hätte ſagen können. Er fand es heimlicher und trauriger zu ſchweigen als zu reden, beſonders wenn ſie darauf warteten, daß er reden ſolle; ja, er liebte es, ein wenig traurig zu ſein, viele Träume und Gedanken zu verbergen und ſie zu dem Glauben zu bringen, daß ſie ihm doch nicht nahkommen könnten. Daumer war zu ſehr mit ſich ſelbſt beſchäftigt und zu bedrückt von der bevorſtehenden Ausführung eines unabänderlichen Entſchluſſes, um darauf zu achten, ob Caſpar ihm noch in derſelben kindlich offenen Weiſe entgegenkomme wie ſonſt. Erſt Herr von Tucher war es, der auf gewiſſe Sonderbarkeiten in Caſpars Betragen hinwies, und er ließ auch gegen den Präſidenten einige Andeutungen darüber fallen, als ſie zuſammen aus dem Daumerſchen Haus gingen. Der Präſident zuckte die Achſeln und ſchwieg. Er bat den Baron, ihn nach dem Gaſthof zum Adler zu begleiten; dort erkundigten ſie ſich, ob der engliſche Herr zu Hauſe ſei, erfuhren jedoch, daß Seine Herrlichkeit Lord Stanhope, ſo drückte ſich der Kellner aus, vor einer knappen Stunde abgereiſt war. Der Präſident war unangenehm überraſcht und fragte, ob man wiſſe, welche Richtung der Wagen genommen habe; das wiſſe man nicht genau, ward geantwortet, doch da er das Jakobstor paſſiert, ſei zu vermuten, daß er die Richtung nach Süden, etwa nach München, eingeſchlagen habe. „Zu ſpät, überall zu ſpät,“ murmelte der Präſident. „Ich hätte gern gewußt,“ wandte er ſich an Herrn von Tucher, „was Seine Herrlichkeit bewogen hat, ſo viel Dukaten aufs Rathaus zu tragen.“ Das Geſicht Feuerbachs war dermaßen zerarbeitet von Gedanken und Sorgen, von der Anſtrengung einer beſtändigen Wachſamkeit wie von der Glut eines zehrenden Temperaments, daß es dem eines Kranken oder eines Beſeſſenen glich. Und ſo war es ſeit Monaten. Die ihm unterſtellten Beamten fürchteten ſeine Gegenwart; die geringſte Pflichtverletzung, ja, der geringſte Widerſpruch brachte ihn zur Raſerei, und waren die Ausbrüche ſeines Zornes ſchon von jeher furchtbar geweſen, ſo zitterten ſie jetzt um ſo mehr davor, als der unbedeutendſte Anlaß einen ſolchen Sturm heraufbeſchwören konnte. Dann gellte ſeine Stimme durch die Hallen und Korridore des Appellgerichts, die Bauern auf dem Markt unten blieben ſtehen und ſagten bedauernd: „Die Exzellenz hat das Grimmen,“ und vom Regierungsrat bis zum letzten Schreibersmann ſaß alles blaß und artig auf den Stühlen. Vielleicht hätten ſie williger dies Joch getragen, wenn ſie gewußt hätten, welche Pein dadurch dem Urheber ſelbſt bereitet ward, wie ſehr er, beſiegt durch ſein eignes Wüten, Scham und Reue litt, ſo daß er bisweilen, wie um durch irgendeine Handlung ſich loszukaufen, dem erſtbeſten Bettler auf der Gaſſe eine Silbermünze hinwarf. Sie ahnten freilich nicht, daß die trüben Nebel dieſer Laune ein bewegtes Widerſpiel von Pflicht und Ehre bargen und daß hier ein Genius am Werk war, um inmitten ſcheinbarer Unraſt und Friedloſigkeit ein Wunderwerk der Kombination zu ſchaffen und mit wahrem Seherblick eine Hölle von Verworfenheit und Miſſetat zu durchdringen. Mit Zaubrerhand war es ihm gelungen, aus den dunkeln Fäden, die das Schickſal Caſpar Hauſers an eine unbekannte Vergangenheit banden, ein Gewebe zu knüpfen, auf welchem jählings wie in Brandlettern flammte, was durch die Fügung der Umſtände und die Zeit ſelbſt mit Finſternis bedeckt war. Voll Schrecken ſtand er vor ſeiner Schöpfung, denn der Boden ſeiner Exiſtenz wankte unter ihm. Es gab für ihn keinen Zweifel mehr. Aber durfte er es wagen, mit der fürchterlichen Wahrheit auf den Plan zu treten und die Rückſicht hintanzuſetzen, die ihm durch ſein Amt und das Vertrauen ſeines Königs auferlegt war? Schien es nicht beſſer, das Geſchäft des Spions in Heimlichkeit weiter zu betreiben, um den ränkevollen Gewalten, tückiſch wie ſie ſelbſt, erſt bei gelegener Stunde in den Rücken zu fallen? Es war nichts zu gewinnen, nicht einmal Dank, aber alles war zu verlieren. O Qual, dachte er oft in ſchlafloſen Nächten, ſonderbare Qual, dem rechtloſen Treiben als beſtellter Wächter und mit untätiger Hand zuſehen zu müſſen, groß und kleine Sünde am ungenügenden Geſetz zu meſſen, die Feder auf den Buchſtaben zu ſpießen, indes das Leben ſeine Bahn läuft und Form auf Form gebiert, zerſtört, niemals Herr der Taten zu ſein, immer Spürhund der Täter und nie zu wiſſen, was zu verhüten ſei, was zu befördern! Er wäre nicht der geweſen, der er war, wenn er nicht einen Weg zwiſchen Öffentlichkeit und feigem Verſchweigen gefunden hätte, der ſeiner Selbſtachtung Genüge tat. Er richtete ein ausführliches Memorial an den König, worin er mit bedächtiger Gliederung aller Merkmale den Fall darlegte, frei und kühn vom Anfang bis zum Ende; ein Hammerſchlag jeder Satz. Das Schriftſtück begann mit der Auseinanderſetzung, daß Caſpar Hauſer kein uneheliches, ſondern ein eheliches Kind ſein müſſe. Wäre er ein uneheliches Kind, hieß es, ſo wären leichtere, weniger grauſame und weniger gefährliche Mittel angewendet worden, um ſeine Abſtammung zu verheimlichen, als die ungeheure Tat der viele Jahre lang fortgeſetzten Gefangenhaltung und endlichen Ausſetzung. Je vornehmer eines der Eltern war, deſto müheloſer konnte das Kind entfernt werden, und noch weniger Urſache zu ſo bedeutenden und verräteriſchen Anſtalten hätten Leute geringen Standes und geringen Vermögens gehabt; das Brot und Waſſer, welches Caſpar im verborgenen verzehren mußte, hätte man ihm auch vor aller Welt reichen dürfen. Denkt man ſich Caſpar als uneheliches Kind hoher oder niedriger, reicher oder armer Eltern, in keinem Fall ſteht das Mittel im Verhältnis zum Zweck. Und wer übernimmt grundlos die Laſt eines ſo ſchweren Verbrechens, zumal wenn er dabei die angſtvolle Plage hat, es für unabſehbare Zeit Tag für Tag wieder und wieder verüben zu müſſen? Aus alledem geht hervor, ſo fuhr der unerbittliche Ankläger fort, daß ſehr mächtige und ſehr reiche Perſonen an dem Verbrechen beteiligt ſind, welche über gemeine Hinderniſſe unſchwer hinwegſchreiten, welche durch Furcht, außerordentliche Vorteile und glänzende Hoffnungen willige Werkzeuge in Bewegung ſetzen, Zungen feſſeln und goldene Schlöſſer vor mehr als einen Mund legen können. Ließe es ſich ſonſt erklären, daß die Ausſetzung Caſpars in einer Stadt wie Nürnberg am hellen Tage erfolgen und der Täter ſpurlos verſchwinden konnte; daß durch alle ſeit vielen Monaten mit unermüdlichem Eifer betriebenen Nachforſchungen kein rechtlich geltend zu machender Umſtand entdeckt werden konnte, der auf einen beſtimmten Ort oder einen beſtimmten Menſchen führte, daß ſelbſt hohe Belohnungen keine einzige befriedigende Anzeige veranlaßten? Deshalb muß Caſpar eine Perſon ſein, mit deren Leben oder Tod weittragende Intereſſen verkettet ſind, folgerte Feuerbach. Nicht Rache und nicht Haß konnten Motive zur Einkerkerung geweſen ſein, ſondern er wurde beſeitigt, um andern Vorteile zuzuwenden und zu ſichern, die ihm allein gebührten. Er mußte verſchwinden, damit andre ihn beerben, damit andre ſich in der Erbſchaft behaupten konnten. Er muß von hoher Geburt ſein, dafür ſprechen merkwürdige Träume, die er gehabt und die ſonſt nichts ſind als wiedererwachte Erinnerungen aus früher Jugend, dafür ſprechen der ganze Verlauf ſeiner Gefangenſchaft und die daraus ſich ergebenden Schlüſſe; er wurde freilich im Kerker gehalten und ſpärlich ernährt, aber man hat Beiſpiele von Menſchen, die nicht in böswilliger, ſondern in wohltätiger Abſicht eingekerkert wurden, nicht um ſie zu verderben, ſondern um ſie gegen diejenigen zu ſchützen, die ihnen nach dem Leben getrachtet. Vielleicht auch, daß durch ſein bloßes Daſein ein Druck ausgeübt werden ſollte auf jemand, der mit zauderndem Gewiſſen an der Unternehmung teilgehabt und doch nicht wagen durfte, Einſpruch zu erheben. Es wurde Sorgfalt und Milde an Caſpar geübt; warum? Warum hat ihn der Geheimnisvolle nicht getötet? Warum nicht einen Tropfen Opium mehr in das Waſſer getan, das ihn bisweilen betäuben ſollte? Das Verließ für den Lebendigen wurde ein doppelt ſicheres für den Toten. Wenn nun in irgendeiner hohen, oder nur vornehmen, oder nur angeſehenen Familie in Caſpars Perſon ein Kind verſchwunden wäre, ohne daß man über deſſen Tod oder Leben und wie es hinweggekommen, etwas in Erfahrung brachte, ſo müßte doch längſt öffentlich bekannt ſein, in welcher Familie dies Unglück vorgefallen. Da aber ſeit Jahren und unerachtet Caſpars Schickſal ein weitbeſprochenes Ereignis geworden, nicht das mindeſte davon verlautet hat, ſo iſt Caſpar unter den Geſtorbenen zu ſuchen. Das will heißen: ein Kind wurde für tot ausgegeben und wird noch jetzt dafür gehalten, welches in Wirklichkeit am Leben iſt, und zwar in der Perſon Caſpars; das will heißen, ein Kind, in deſſen Perſon der nächſte Erbe oder der ganze Mannesſtamm ſeiner Familie erlöſchen ſollte, wurde beiſeitegeſchafft, um nie wieder zu erſcheinen; es wurde dieſem Kind, das vielleicht gerade krank gelegen, ein andres, totes oder ſterbendes Kind unterſchoben, dieſes als tot ausgeſtellt und begraben und ſo Caſpar in die Totenliſte gebracht. War der Arzt im Spiel, hatte er Befehl, das Kind zu morden, fand er jedoch in ſeinem Herzen oder in ſeiner Klugheit Gründe, den Auftrag ſcheinbar zu vollziehen und das Kind zu retten, ſo konnte der fromme Betrug leichterdings vollzogen werden. Hier handelte jeder auf höhere Weiſung, aber wo war der gebietende Mund? Wo der mächtige Geiſt, der ein ſolches Gewicht von Verantwortung für ewige Zeiten zu tragen unternahm? Wo das Haus, in welchem das Unerhörte geſchah? An dieſer Stelle des Berichts ſtockte die Hand des Präſidenten, — tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, ſondern mit dem ſchmerzlichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Verderbens ſicher iſt, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürſtenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht, die Majeſtät auch des eignen Königs beleidigen, geheiligte Überlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart ſtacheln? Doch wie nie zuvor empfand er die zeugende Gewalt des Wortes und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. Er nannte das Haus mit Namen. Er wies nach, daß das alte Geſchlecht jählings, in auffallender Weiſe und gegen jede menſchliche Vermutung im Mannesſtamm erloſchen ſei, um einem aus morganatiſcher Ehe entſproſſenen Nebenzweig Platz zu machen. Nicht etwa in einer kinderloſen, ſondern in einer mit Kindern wohlgeſegneten Ehe hatte ſich dies Ausſterben ereignet, und nur die Söhne ſtarben, die Töchter aber lebten weiter. So wurde die Mutter zur wahrhaften Niobe, doch traf Apollos tötendes Geſchoß ohne Unterſchied Söhne und Töchter, hier aber ging der Würgengel an den Töchtern vorüber und erſchlug die Söhne. Und nicht bloß auffallend, ſondern einem Wunder ähnlich, daß der Würgengel ſchon an der Wiege der Knaben ſtand und ſie herausgriff mitten aus der Reihe blühender Schweſtern. Wie wäre es erklärbar, fragte Feuerbach, daß eine Mutter demſelben Vater drei geſunde Töchter gebiert und als Söhne lauter Sterblinge? Darin iſt kein Zufall, behauptete er furchtlos, ſondern Syſtem, oder man muß glauben, die Vorſehung ſelbſt habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der Natur eingegriffen und Außerordentliches getan, um einen politiſchen Streich auszuführen. Nicht lange nach dem Erſcheinen Caſpars hat ſich in Nürnberg das Gerücht verbreitet, Caſpar ſei ein für tot ausgegebener Prinz jenes Geſchlechts, und immer wieder redeten die dunkeln Stimmen, ſogar von einer angeblichen Geiſtererſcheinung wurde, wie öffentliche Blätter erzählten, die Behauptung gewagt, daß die gegenwärtigen Regenten den Thron durch Uſurpation beſäßen und daß noch ein echter Prinz am Leben ſei. Gerüchte ſind freilich nur Gerüchte; aber ſie fließen oft aus guten Quellen; ſie haben, wo es geheime Verbrechen gibt, häufig ihre Entſtehung darin, daß ein Mitſchuldiger geplaudert, oder mit ſeinem Vertrauen zu freigebig geweſen, oder eine Unvorſichtigkeit begangen, oder ſein Gewiſſen erleichtern wollte, oder ſeine getäuſchten Hoffnungen zu rächen ſich vorgeſetzt, oder im ſtillen die Entdeckung der Wahrheit herbeizuführen geſucht, ohne die Rolle des Verräters ſpielen zu müſſen. Der Präſident nannte nicht bloß die Dynaſtie mit Namen und das Land, das ihr erbeigen war, er nannte auch den Fürſten, deſſen plötzlicher Tod vor mehr als einem Jahrzehnt Argwohn erregt hatte, er nannte die Fürſtin, die, von hocherlauchter Abkunft, in ſelbſterwählter Einſamkeit ein unfaßbares Geſchick betrauerte; er nannte diejenigen, die ſo über Leichen hinweg zum Thron geſchritten, und neben dem Bild eines ſchwachen, doch ehrgeizigen Mannes tauchte die Geſtalt eines Weibes auf, voll von dämoniſchem Weſen, der regierende Wille über dem grauſen Geſchehen. Es war etwas von der Bitterkeit eignen Erlebens in den unumwundenen Hinweiſen des Präſidenten. Denn er kannte die höfiſche Welt, in der Tücke und Hinterliſt in eine Wolke von Wohlgerüchen gebettet ſind und wo die Niedertracht ihre Opfer mit heuchleriſchen Gnaden betäubt; er hatte ihre Luft geatmet, er hatte von ihren Tiſchen geſpeiſt, von ihrem Gift genoſſen, den beſten Teil ſeines Lebens und ſeiner Kräfte in ihrem Dienſt vergeudet und war für die reinſte Hingebung mit Schmach und Verfolgung belohnt worden; er kannte ihre Kreaturen und Helfershelfer, er kannte ſie, denen die Geſchichte nichts bedeutet als eine Stammbaumchronik, Religion eine Prieſterlitanei, Philoſophie einen fluchwürdigen Jakobinismus, Politik einen Blindekuhreigen mit Noten und Protokollen, der Staatshaushalt ein Rechenexempel ohne Probe, Menſchenrechte ein Pfänderſpiel, der Monarch ein Schild ihrer eignen Größe, das Vaterland ein Pachtgut und Freiheit das ſträfliche Vermeſſen aberwitziger Toren. Die unerſetzlichen Jahre ſchrien hinter ſeinen Worten hervor, erlittene Zurückſetzung und ein verfinſterter Geiſt. Er wollte ſeiner ſelbſt nicht gedenken, doch die Worte entſchleierten ſeinen Gram, wenn auch nicht für das Auge des Königs, der nur zu leſen brauchte, was geſchrieben ſtand. Die Schrift ward unter Anwendung peinlicher Vorſicht abgeſandt, damit ſie in keine andern Hände als in die des Regenten gerate, und der Präſident wartete von Woche zu Woche vergeblich auf Erwiderung, auf einen Beſcheid, auf irgendein Zeichen. Da kam die Kunde von dem Mordanfall auf Caſpar. Feuerbach reiſte nach Nürnberg; ſeine eignen Maßnahmen hatten ſo wenig Erfolg wie die der Polizei. Am zehnten Tag ſeines Aufenthalts erhielt er ein Schreiben aus der königlichen Privatkanzlei, worin mit gebührendem Dank von ſeinen Mitteilungen Notiz genommen und mit Anerkennung des nicht genug zu beſtaunenden Scharfſinns in der Entwirrung verwickelter Verhältniſſe gedacht war, das aber in allen weſentlichen Punkten eine ſpröde Zurückhaltung zeigte; man werde prüfen; man werde überlegen; man müſſe abwarten; gewichtige Rückſichten ſeien zu beachten; leicht erklärliche Beziehungen legten unbequeme Pflichten auf; die Natur des Unglaublichen ſelbſt veranlaſſe eher zur Verwunderung, zur Beſtürzung als zu unbeſonnenem Eingreifen; doch verſpreche man, ja man verſpreche; vor allem werde Schweigen empfohlen, unbedingtes Schweigen; bei Verluſt aller Gnade dürfe keine derartige Kunde als authentiſch durch den Mund eines hohen Staatsbeamten nach außen dringen: man erwarte über den Punkt Verſtändigung und Unterwerfung. Die Wirkung dieſes geheimen Erlaſſes, mit welchem man ihm zugleich ſchmeichelte und drohte, der einer freundlich dargereichten Hand glich, worin der geſchliffene Dolch blitzte, war um ſo heftiger, als der Inhalt längſt geahnt und gefürchtet war. Feuerbach ſchäumte. Er zertrat das Sendſchreiben mit den Füßen; er rannte mit keuchender Bruſt, die Fäuſte gegen die Schläfen gedrückt, eine ganze Weile im Zimmer auf und ab, dann ſtürzte er aufs Bett, das Sauſen ſeiner Pulſe beängſtigte ihn und er erlöſte ſich ſchließlich in einem lauten, langen Gelächter voll Wut und Zorn. Dann blieb er ſtundenlang liegen und konnte nichts andres denken als das einzige Wort: Schweigen, Schweigen, Schweigen. An demſelben Nachmittag war der Bürgermeiſter Binder mehrmals im Gaſthof geweſen und hatte den Präſidenten zu ſprechen gewünſcht. Der Kellner war ſtets mit dem Beſcheid zurückgekommen, ſein Pochen ſei vergeblich, der Herr Staatsrat ſcheine zu ſchlafen oder wünſche nicht geſtört zu werden. Gegen Abend kam Binder wieder und wurde endlich vorgelaſſen. Er fand den Präſidenten in ein Aktenheft vertieft, und ſeine Entſchuldigung wurde mit der verletzend kurzen Bitte erwidert, er möge zur Sache kommen. Der Bürgermeiſter trat betroffen einen Schritt zurück und ſagte ſtolz, er wiſſe nicht, wodurch er ſich das Mißfallen Seiner Exzellenz zugezogen haben könne, doch wie dem auch ſei, er müſſe eine derartige Behandlung zurückweiſen. Da erhob ſich Feuerbach und entgegnete: „Ums Himmels willen, Mann, laſſen Sie das! Wer auf einem Scheiterhaufen ſchmort, hat einigen Grund, wenn er die Regeln der Höflichkeit vergißt!“ Binder ſenkte den Kopf und ſchwieg verwundert. Dann erklärte er den Zweck ſeines Beſuchs. Daß Daumer die Abſicht habe, Caſpar aus ſeinem Haus zu entfernen, ſei dem Präſidenten wahrſcheinlich bekannt. Da nun der Jüngling ſoweit hergeſtellt ſei, habe ſich Daumer entſchloſſen, damit nicht hinzuwarten, ſondern ihn baldmöglichſt zu den Beholdiſchen zu bringen, die Caſpar mit Freuden aufnehmen wollten. Alles dies ſei genügend beſprochen und man wünſche nur, den Präſidenten zu unterrichten, und bitte um ſeine Gutheißung. „Ja, ich weiß, daß Daumer die Geſchichte ſatt hat,“ antwortete Feuerbach verdrießlich. „Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Niemand hat Luſt, ſein Haus zu einer umlauerten Mordſtätte werden zu laſſen, obwohl dagegen Maßregeln ergriffen werden können, werden müſſen. Von heute ab ſoll Caſpar unter genauer polizeilicher Überwachung ſtehen; die Stadt haftet mir für ihn. Doch warum hat Daumer ſolche Eile? Und warum gibt man Caſpar in die Familie Behold, warum nicht zu Herrn von Tucher oder zu Ihnen?“ „Herr von Tucher iſt während der nächſten Monate berufshalber gezwungen, ſeinen Aufenthalt in Augsburg zu nehmen, und ich_—“ der Bürgermeiſter zögerte, und ſein Geſicht wurde vorübergehend bleich, — „was mich betrifft, mein Haus iſt kein Ort des Friedens.“ Raſch ſchaute der Präſident empor; ſodann ging er hin und reichte Binder ſtumm die Rechte. „Und was iſt es mit dieſen Beholds? Was ſind es für Leute?“ fragte er ablenkend. „O, es ſind gute Leute,“ verſetzte der Bürgermeiſter etwas unſicher. „Der Mann jedenfalls; iſt ein geachteter Kaufherr. Die Frau_... darüber ſind die Meinungen geteilt. Sie gibt viel auf Putz und dergleichen, verſchwendet viel Geld. Böſes kann man ihr nicht nachſagen. Da es für Caſpar, wie wir ja verabredet, von Vorteil iſt, wenn er jetzt die öffentliche Schule beſucht, genügt ſchließlich die bloße Beaufſichtigung in einem Kreis anſtändiger Menſchen.“ „Haben die Leute Kinder?“ „Ein dreizehnjähriges Mädchen.“ Der Bürgermeiſter, dem es wie aller Welt wohlbekannt war, daß Frau Behold dieſe Tochter ſchlecht behandelte, wollte noch etwas hinzufügen, um ſein Gewiſſen zu beruhigen, doch da wurden Daumer und der Magiſtratsrat Behold gemeldet. Der Präſident ließ bitten. Alsbald zeigte ſich das freundlich-grinſende Geſicht des Rats; der feierliche ſchwarze Kinnbart ſtand in einem komiſchen Gegenſatz zu dem ſchon ergrauten Kopfhaar, das in feuchten Strähnen pomadeduftend über die Stirn hing. Unter beſtändigen Verbeugungen trat er auf Feuerbach zu, der ihn nur eines flüchtigen Grußes würdigte und ſich ſogleich an Daumer wandte. Dieſer wagte kaum dem forſchenden Auge des Präſidenten zu begegnen, und die Frage, ob man Caſpar die innere und äußere Anſtrengung eines ſo durchgreifenden Wechſels ſchon zumuten dürfe, beantwortete er durch verlegenes Schweigen. Als ſich Herr Behold ins Geſpräch miſchte und verſicherte, Caſpar ſolle in ſeinem Haus wie ein leiblicher Sohn betrachtet werden, unterbrach ihn der Bürgermeiſter mit den faſt widerwillig hervorgepreßten Worten, darauf halte er nichts, wie man an Caſpar ſelbſt ſehe, gebe es ja Eltern, die ihre leiblichen Kinder verkümmern ließen. Der Rat machte ein verlegenes Geſicht, rieb ſeine ausgemergelten Finger an der Stuhlkante und ſtotterte, er könne nichts weiter ſagen, was an ihm läge, wolle er tun. Der Präſident, ſtutzig geworden durch die beziehungsvollen Reden, ſah die beiden Männer abwechſelnd an. Darauf trat er dicht vor Daumer hin, legte die Hand auf deſſen Schulter und fragte ernſt: „Muß es denn ſein?“ Daumer ſeufzte und entgegnete bewegt: „Exzellenz, wie hart mein Entſchluß mich ankommt, das weiß nur Gott.“ „Gott mag es wiſſen,“ verſetzte der Präſident grollend, und ſeine unterſetzte feiſte Geſtalt ſchien plötzlich drohend zu wachſen, „aber wird er es darum ſchon billigen? Wenn man Stein und Stahl zuſammenſchlägt, gibt es Funken; wehe aber, wenn bloß Schmutz und Krümel vom Stein fliegen. Da iſt keine Dauer und keine Tüchtigkeit der Natur.“ Er kanzelt mich ſchon wieder ab, dachte Daumer, und die Röte des Unwillens ſtieg ihm ins Geſicht. „Ich habe getan, was in meinen Kräften ſtand,“ ſagte er haſtig und mit Trotz. „Ich verſchließe Caſpar nicht mein Haus. Und mein Herz ſchon ganz und gar nicht. Aber erſtens kann ich keine Gewähr für ſeine Sicherheit mehr leiſten, und ich glaube, niemand kann es. Wie iſt es möglich, Säemann zu ſein auf einem Acker, unter dem ein verderbliches Feuer gloſet und jeden Samen verbrennt? Und dann, was mehr iſt, ich bin enttäuſcht, ich geſtehe es, ich bin enttäuſcht. Nie will ich vergeſſen, was mir Caſpar geweſen iſt, wer könnte ihn auch vergeſſen! Aber das Wunder iſt vorüber, die Zeit hat es aufgefreſſen.“ „Vorüber, ja vorüber,“ murmelte Feuerbach düſter, „das Wort mußte fallen. Die Augen werden ſtumpf vom Schauen ins Licht. Die Söhne werden verſtoßen, wenn ſie unſrer Liebe ein Übermaß abnötigen. Aber der Bettler kriegt ſeine Bettelſuppe. Meine geſchätzten Herren,“ fuhr er laut und förmlich fort, „tun Sie, wie Ihnen beliebt; in jedem Fall, deſſen ſeien Sie eingedenk, bleiben Sie mir für das Wohl Caſpars verantwortlich.“ Als Daumer auf der Straße war, ärgerte er ſich noch immer über den Ton und die Worte des Präſidenten. Doch zugleich konnte er ſich ſeine Selbſtunzufriedenheit nicht verhehlen. In einer der verödeten Straßen nahe der Burg begegnete er dem Rittmeiſter Weſſenig. Daumer war froh, eine Anſprache zu haben, und begleitete den Mann bis zur Reiterkaſerne. Von Anfang an lenkte der Rittmeiſter die Unterhaltung auf Caſpar, und Daumer bemerkte nicht oder wollte nicht bemerken, daß die Geſprächigkeit des Rittmeiſters einen hohnvollen Beigeſchmack hatte. „Eine geheimnisvolle Sache, das mit dem Vermummten,“ meinte Herr von Weſſenig, plötzlich deutlicher werdend. „Sollte es Leute geben, die daran ernſtlich glauben? Am hellichten Tag dringt ein Kerl, ein Kerl mit Handſchuhen, bitte, dringt in ein bewohntes Haus, hängt ſich einen Schleier übers Geſicht und zieht ein Beil aus der Taſche? Oder ſollte er das Beil vorher offen über die Straße getragen haben? Mit Handſchuhen, wie? Beim heiligen Tommaſius, das iſt eine gewaltige Räuberhiſtorie!“ Da Daumer nichts antwortete, fuhr der Rittmeiſter eifrig fort: „Nehmen wir einmal an, der famoſe Vermummte hat die Abſicht gehabt, den Burſchen zu töten. Warum dann die unbedeutende Wunde? Er brauchte ja nur ein bißchen kräftiger zuzuſchlagen und alles war aus, der Mund, der ihn verraten mußte, war ſtumm. Man muß rein glauben, der behandſchuhte Mörder hat ſein Opfer einſtweilen nur ein bißchen kitzeln wollen. Wahrhaftig, eine kitzlige Geſchichte. Alle meine Bekannten, [parole d’honneur], lieber Profeſſor, ſind empört über die Leichtgläubigkeit, die ſich von ſo albernem Spuk zum beſten halten läßt.“ Daumer hielt es für unter ſeiner Würde, Zorn oder Entrüſtung zu zeigen. Er ſtellte ſich, als hätte er nicht übel Luſt, dem Rittmeiſter beizuſtimmen, und fragte gelehrig, wie man ſich aber den ganzen Vorgang zu denken habe. Herr von Weſſenig zuckte vielſagend die Achſeln; er mochte heftiges Aufbrauſen und ſcharfe Zurechtweiſung erwartet haben, und weil dies nicht eintraf, legte er ſein verhalten-feindſeliges Weſen ab, war jedoch vorſichtig genug, ſich nur in allgemeinen Vermutungen zu äußern. „Vielleicht iſt der gute Hauſer betrunken geweſen und auf der Treppe gefallen und hat dann die Mordsgeſchichte ausgeheckt, um ſich intereſſant zu machen. Das wäre ja noch harmlos. Andre ſehen bei weitem ſchwärzer; man traut dem Halunken ſchon zu, daß er ſeine Wohltäter durch einen feingefädelten Streich hinters Licht geführt hat.“ Jetzt vermochte Daumer nicht mehr an ſich zu halten. Er blieb ſtehen, wehrte mit beiden Händen ab, als drängen die Reden ſeines Begleiters wie giftige Fliegen auf ihn ein, und ſtürzte ohne Wort noch Gruß davon. Das iſt alſo die Welt, das ſind ihre Stimmen, dachte er beſtürzt; das zu denken, iſt möglich, es auszuſprechen, ſteht jedem Mund frei! Und dieſer Abgrund von Unſinn und Bosheit ſoll dich verſchlingen, armer Caſpar! Wenn du auch nicht der Himmelszeuge biſt, den ich wähnte, über ihnen ſchwebſt du doch wie der Adler über Koboldsgezücht. Freilich, ſie werden dir die Flügel brechen; vergebens wird die Schuldloſigkeit aus deinem Innern ſtrahlen, ſie werden es nicht ſehen; vergebens wirſt du vor ihnen weinen und vergebens lächeln, du wirſt ihre Hand faſſen und vor Kälte ſchaudern, du wirſt ſie anblicken, und ſie werden ſtumm ſein, angſtvoll ſucht dein Geiſt die Wege zu ihnen und Verrat führt dich auf den verderblichſten von allen_... Man iſt Prophet und hat ein mitleidiges Gemüt; man kennt die Menſchen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel ſticht, und daß der Haſe, wenn er angeſchoſſen wird, ins Gras fällt und ſtirbt; man kennt die Folgen deſſen, was man tut, nicht wahr, Herr Daumer? Aber iſt dies etwa ein Grund, den Geſchehniſſen, wie einem Feind, der das Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden? Nein, es iſt kein Grund. Oder iſt es nur Grund, ein kleines Entſchlüßchen rückgängig zu machen? Nein, es iſt kein Grund. Darin haben die Idealiſten und Seelenforſcher nichts voraus vor Dieben und Wucherern. Man geht nach Hauſe, philoſophierend geht man nach Hauſe, legt ſich ſchlafen, und am nächſten Morgen ſieht die Welt weit annehmbarer aus als am geſtrigen, reichlich verſtimmten Abend. 9. Das Amſelherz