Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 6. Religion, Homöopathie, Beſuch von allen Seiten So war es Dezember geworden und eines Morgens fiel der erſte Schnee des verſpäteten Winters. Caſpar wurde nicht müde, dem lautloſen Herabgleiten der Flocken zuzuſchauen; er hielt ſie für kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand zum Fenſter hinausſtreckte und ſie auf der warmen Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer und Simſe glitzerten, und durch das Flockengewühl kroch lichter Nebeldampf wie Hauch aus einem atmenden Mund. „Was ſagſt du dazu, Caſpar?“ rief Frau Daumer. „Erinnerſt du dich, daß du mir nicht glauben wollteſt, als ich dir einmal vom Winter erzählte? Siehſt du, wie alles weiß iſt?“ Caſpar nickte, ohne einen Blick von draußen zu wenden. „Weiß iſt alt,“ murmelte er, „weiß iſt alt und kalt.“ „Um elf Uhr haſt du Reitſtunde, Caſpar, vergiß es nicht,“ mahnte Daumer, der in ſeine Schule ging. Eine überflüſſige Sorge; das vergaß Caſpar nicht, allzulieb war ihm ſchon das Reiten geworden ſeit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen. Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Geſtalt gar ſehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche Schatten als ſchwarze Roſſe vorüberſtürmten, erſt am feurigen Rand des Himmels Halt machten und ihn mit zurückſchauendem Blick aufforderten, ſie in die unbekannte Ferne zu geleiten. Auch im Wind ſauſten Roſſe, auch die Wolken waren Roſſe, in den Rhythmen der Muſik hörte er das taktbemeſſene Traben ihrer Hufe, und wenn er in glücklicher Stimmung an etwas Edles und Vollkommenes dachte, ſah er zuerſt das Bild eines ſtolzen Roſſes. Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Erſtaunen des Stallmeiſters erregt hatte. „Wie der Burſche ſitzt, wie er den Zügel hält, wie er das Tier verſteht, das muß man ſich anſchauen,“ ſagte Herr von Rumpler; „ich will hundert Jahre in der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen zugeht.“ Und alle, die etwas von der Sache verſtanden, redeten ähnlich. Ei, wie ſelig war Caſpar beim Trab und Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte Getragenſein, hinaus und vorwärts, dies ſanfte Auf und Ab, das Lebendigsein auf Lebendigem! Wenn nur nicht die Leute ſo läſtig geweſen wären. Beim erſten Ausritt mit dem Stallmeiſter wurden ſie von einem ganzen Pöbelhaufen verfolgt und ſelbſt geſetzte Bürger blieben ſtehen und lachten erbittert vor ſich hin. „Der verſteht’s,“ höhnten ſie, „der hat ſich ein Bett gemacht, ſo muß man’s anfangen, damit einem warm wird.“ Auch heute war ſolch ein unbequemes Aufſehen. Der Himmel hatte ſich geklärt und die Sonne ſchien, als ſie durch die Engelhardtsgaſſe ritten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen drein und rechts und links wurden die Fenſter aufgeriſſen. Der Stallmeiſter gab ſeinem Tier die Sporen und trieb Caſpars Pferd mit der Peitſche an. „Man kommt ſich ja, parbleu, wie ein Zirkusreiter vor,“ rief er zornig. Sie ſprengten bis zum Jakobstor. „He! Holla!“ rief da eine Stimme, und aus einer Seitengaſſe kam, ebenfalls zu Pferde, Herr von Weſſenig auf ſie zu. Rumpler begrüßte den Offizier und der Rittmeiſter geſellte ſich an Caſpars Seite. „Prächtig, lieber Hauſer, prächtig!“ rief er mit übertriebener Verwunderung, „wir reiten ja wie ein Indianerhäuptling. Und das alles hat man erſt bei den braven Nürnbergern gelernt? Nicht zu glauben.“ Caſpar hörte nicht den verfänglichen Unterton der Rede; er blickte den Rittmeiſter dankbar und geſchmeichelt an. „Aber denk dir, Hauſer, was ich heute bekommen habe,“ fuhr der Rittmeiſter fort, den es juckte, mit Caſpar einen Spaß zu haben. „Ich hab’ etwas bekommen, was dich höchlichſt angeht.“ Caſpar machte ein fragendes Geſicht. Vielleicht war es der edel-ruhige Ausdruck ſeiner Züge, der den Rittmeiſter zögern ließ. „Ja, ich hab’ etwas bekommen,“ wiederholte er dann eigenſinnig, „ein Brieflein hab’ ich bekommen.“ Er hatte den einfältigen Ton, den die Erwachſenen annehmen, wenn ſie mit Kindern ſcherzen, und der lauernde Blick in ſeinen Augen beſagte etwa: wollen mal ſehen, ob er Angſt kriegt. „Ein Brieflein?“ entgegnete Caſpar, „was ſteht denn drinnen?“ „Ja,“ rief der Rittmeiſter und lachte knallend, „das möchteſt du wohl wiſſen? Wichtige Sachen ſtehen drin, wichtige Sachen!“ „Von wem iſt es denn?“ fragte Caſpar, dem das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing. Herr von Weſſenig zeigte ſeine Zähne und ſtellte ſich vor Vergnügen in die Steigbügel. „Nun rate mal,“ ſagte er, „wir wollen mal ſehen, ob du raten kannſt. Von wem kann das Brieflein ſein?“ Er zwinkerte Herrn von Rumpler verſtändnisinnig zu, indes Caſpar den Kopf ſenkte. Es quoll auf einmal Traumluft um Caſpars Sinne und eine Hoffnung liebkoſte ihn, die den kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern erhob ſich die kummervolle Traumfrau und ſchwebte ſtill vor den drei Roſſen dahin. Jäh blickte er empor und ſagte mit zögernden Lippen: „Iſt vielleicht von meiner Mutter der Brief?“ Der Rittmeiſter runzelte ein wenig die Stirn, als ob es ihm bedenklich ſchiene, den Schabernack zu weit zu treiben, doch entäußerte er ſich ſchnell der ernſten Regung, klopfte Caſpar auf die Schulter und rief: „Erraten, Teufelskerl! Erraten! Mehr ſag’ ich aber nicht, Freundchen, ſonſt könnt’ es mir übel bekommen.“ Und mit dem letzten Wort ſetzte er ſich feſter in den Sattel und ſprengte davon. Eine Viertelſtunde ſpäter kam Caſpar atemlos nach Hauſe. Daumers ſaßen ſchon bei Tiſch, ſie ſchauten dem Ankömmling geſpannt entgegen und Anna erhob ſich unwillkürlich, als Caſpar mit ſchweißbedeckter Stirne neben den Seſſel ihres Bruders trat und mit gebrochener Stimme hervorjubelte: „Der Herr Rittmeiſter hat einen Brief bekommen von meiner Mutter!“ Daumer ſchüttelte erſtaunt den Kopf. Er verſuchte Caſpar begreiflich zu machen, daß ein Mißverſtändnis oder eine Täuſchung obwalten müſſe; Mutter und Schweſter unterſtützten ihn darin nach Kräften. Es war umſonſt. Caſpar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Weſſenig gehen. Deſſen weigerte ſich Daumer entſchieden, doch als Caſpars Aufregung wuchs, erklärte er ſich bereit, allein zu Herrn von Weſſenig zu gehen. Er aß ſchnell ſeinen Teller leer, nahm Hut und Mantel und ging. Caſpar lief zum Fenſter und ſah ihm nach. Er wollte ſich nicht zu Tiſch begeben, ehe Daumer wieder da war. Er zerknüllte das Taſchentuch in der Hand, raſch atmend ſtarrte er gegen den Himmel und dachte: Wenn ich dich liebhaben ſoll, Sonne, mach, daß es wahr iſt. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurück. Er hatte den Rittmeiſter zur Rede geſtellt und eine heftige Auseinanderſetzung mit ihm gehabt. Herr von Weſſenig hatte die Sache zuerſt humoriſtiſch genommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämiſche Gerede, das ihm täglich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erſt geſtern hatte man ihm erzählt, auf einer Aſſemblee bei der Magiſtratsrätin Behold habe ſich ein angeſehener Ariſtokrat über ihn luſtig gemacht als über den Meiſter ſomnambuler und magnetiſcher Geheimkunſt, der Caſpar Hauſer feierlich den Zaubermantel unter die Füße breite, aber ſtatt in den Äther zu entſchweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Caſpar gemächlich ſitzen und laſſe ſich ausfüttern. Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Rittmeiſter ins Geſicht geſagt, daß ihn das ſcheele Geſchwätz der nichtstuenden eleganten Welt gleichgültig laſſe. „Bin ich auch eher auf Hilfe und Zuſtimmung als auf Verteidigung und Abwehr gefaßt geweſen, ſo weiß ich doch genau, daß das erſtarrte Herz von Ihnen und Ihresgleichen nicht um einen Pulsſchlag gefühlvoller ſchlagen wird,“ rief er aus. „Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schutz und dem des Herrn Staatsrats ſteht, wenigſtens mit böswilligen Scherzen verſchont.“ Sprach’s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurück. Zu Hauſe ankommend und Caſpars ſtummes Drängen wahrnehmend, ſagte er mit mühſamer Milde: „Er hat dich zum Narren gehabt, Caſpar. Es iſt natürlich kein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.“ „O!“ machte Caſpar voll Schmerz. Dann war er ſtill. Erſt als Daumer ſich nach der Mittagsraſt zum Aufbruch anſchickte, entriß ſich Caſpar ſeinem Schweigen und ſagte in mattem und verändertem Ton: „Der Herr Rittmeiſter hat alſo nicht die Wahrheit geſagt?“ „Nein, er hat gelogen,“ verſetzte Daumer kurz. „Das iſt ſchlecht von ihm, ſehr ſchlecht,“ ſagte Caſpar. Erſtaunlich ſchien ihm zunächſt die Tatſache des Lügens, erſtaunlicher noch, daß ſich ein ſo großer Herr ihm gegenüber der Lüge ſchuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief geſagt, grübelte er, und ſtundenlang war er damit beſchäftigt, ſich des Rittmeiſters Worte immer wieder von neuem vorzuſagen und ſich das Geſicht zurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte. Es war da etwas nicht in Ordnung. Er ſann und ſann und kam zu keinem Ende. Um ſich auf andre Gedanken zu bringen, ſchlug er die Rechenfibel auf und ging an ſein Tagespenſum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geſchenkt, und übte ſich eine halbe Stunde lang in den ſimpeln Melodien, die er darauf zu ſpielen erlernt hatte. Plötzlich erhob er ſich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er ſein eignes Geſicht an: er wollte ſehen, ob Lüge darin ſei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal ſelber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher ſein Geſicht ausſehen würde. Ängſtlich ſchaute er ſich um, blickte dann wieder in den Spiegel und ſagte leis: „Es ſchneit.“ Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne ſchien. Nichts hatte ſich in ſeinem Geſicht verändert: man konnte alſo lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde ſich verfinſtern oder verſtecken, aber ſie ſchien ruhig weiter. Am Abend kam Daumer mit einem neuen Ärger nach Hauſe. Von der Mutter gefragt, was es denn ſchon wieder gebe, zog er ein kleines Zeitungsblättchen aus der Taſche und warf es auf den Tiſch. Es war der „Katholiſche Wochenſchatz“; auf der erſten Seite ſtand eine Epiſtel über Caſpar Hauſer, die mit den fettgedruckten Lettern begann: Warum läßt man den Nürnberger Findling nicht der Segnungen der Religion teilhaftig werden? „Ja, warum läßt man denn nicht?“ ſpottete Anna. „Und das wagt man in einer proteſtantiſchen Stadt,“ ſagte Daumer mit finſterem Geſicht. „Wenn dieſe Herren nur wüßten, was für eine unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geiſtlichen hat. Während er noch auf dem Turm war, ſind eines Tages vier zu gleicher Zeit bei ihm erſchienen. Glaubt ihr vielleicht, ſie hätten zu ſeinem Herzen geredet oder ſeine Andacht zu wecken geſucht? Weit gefehlt. Sie ſchwatzten vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der Sünden, und als er immer furchtſamer dreinſah, fingen ſie an zu wettern und zu drohen, als ob der arme Menſch am nächſten Tag zum Galgen geführt werden ſollte. Zufällig kam ich dazu und forderte ſie höflich auf, ihre Bemühungen einzuſtellen.“ Da Caſpar ins Zimmer trat, wurde das Geſpräch abgebrochen. Aber der Appell des „Katholiſchen Wochenſchatzes“ verhallte nicht ungehört. „Mit der Religion iſt nicht zu ſpaßen,“ ſagten die Herren auf dem Magiſtrat, und einer drückte ſogar den Zweifel aus, ob der Jüngling überhaupt getauft ſei. Darüber ward eine Weile hin und her debattiert, doch ließ man die Frage ſchließlich fallen und die Taufe ward als ſelbſtverſtändlich angenommen, da man ja unter Chriſten in einem chriſtlichen Lande lebe und der Jüngling auf keinen Fall aus der Tatarei kommen könne. Nicht ſo leicht war die Entſcheidung über die katholiſche oder evangeliſche Konfeſſion. Obgleich die Pfaffen in der Stadt wenig Macht beſaßen, mußte man doch die obdachloſe Seele dem hungrigen Rachen Roms entreißen, anderſeits war man zu zaghaft für ein rauhes Zugreifen, weil es möglich war, daß eine einflußreiche Perſon über kurz oder lang ein Anrecht andrer Art geltend machen konnte. Der Bürgermeiſter wandte ſich an Daumer und verlangte, Caſpar ſolle einen Religionslehrer erhalten, man überlaſſe es Daumer, einen vertrauenswürdigen Mann zu beſtimmen. „Wie wäre es mit dem Kandidaten Regulein?“ meinte Binder. „Ich habe nichts dagegen,“ erwiderte Daumer gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerſchen Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines ſoliden und fleißigen Mannes. „Wenn ich ſelbſt auch nicht kirchlich-fromm geſinnt bin,“ ſagte der Bürgermeiſter, „ſo iſt mir doch die modiſche Freigeiſterei von Herzen zuwider, und ich wünſchte nicht, daß unſer Caſpar in ein ehrfurchtsloſes Weltweſen gerät. Auch in Ihrer Abſicht kann das nicht liegen.“ Aha, ein Stich, dachte Daumer ſtillergrimmt, man beleidigt, verdächtigt mich ſchon wieder, ich bin niemand bequem, ſehr ehrenwert, ihr Herren, ſehr ehrenwert. Laut antwortete er: „Gewiß nicht. Ich habe es auch nicht fehlen laſſen, in meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art mag ſein, wie ſie will, ſie iſt nicht ſchlechter als jede andre. Leider haben mir allerhand Unberufene beſtändig hineingepfuſcht. So war es mir in der erſten Zeit mit großer Mühe gelungen, den ſtarren Eigenſinn ſeines Schauens zu brechen und ihm einen Begriff von dem allmächtigen Trieb des Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da ein Frauenzimmer an, während Caſpar vor einem Blumentopf ſitzt und mit ſeinem unſchuldigen Staunen die über Nacht aufgeſproßten Schößlinge betrachtet. Nun, Caſpar, fragt ſie einfältig, wer hat denn das wachſen laſſen? Es iſt von ſelbſt gewachſen, erwidert er ſtolz. Aber, Caſpar, ruft jene, es muß doch jemand ſein, der es hat wachſen laſſen? Er würdigte ſie keiner Antwort mehr, aber die wohlwollende Dame ging hin und erzählte überall, Caſpar werde zum Atheiſten gemacht. Da hat man eben einen ſchweren Stand.“ „Es handelt ſich doch am Ende nur darum, ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung einzuimpfen,“ ſagte Binder. „Die hat er, die hat er, aber ſein Verſtand anerkennt eben in ſeinen Forderungen keine Grenzen und will durchaus befriedigt ſein,“ fuhr Daumer leidenſchaftlich fort. „Geſtern abend beſuchten ihn zwei proteſtantiſche Geiſtliche, der eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie kleine Pauluſſe. Sie machten mir erſt allerlei Elogen, ich laſſe ſie zu Caſpar hinein, und ehe man drei zählen kann, fangen ſie eine Diſputation mit ihm an. Ach, es war komiſch, es war höchſt komiſch. Es kam die Rede auf die Erſchaffung der Welt, und der Dicke aus Fürth ſagte, Gott habe die Welt aus dem Nichts geſchaffen. Und als nun Caſpar wiſſen wollte, wie das zugegangen, ſtibitzten ſie ihm die Erklärung vor der Naſe weg, indem ſie alle zwei händefuchtelnd auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei ſeinem Götzen ſchwört. Endlich beruhigten ſie ſich, und da ſagte mein guter Caſpar zutulich, wenn er etwas machen wolle, müſſe er doch etwas haben, woraus er es mache, ſie möchten ihm doch ſagen, wie das bei Gott möglich ſei. Da ſchwiegen ſie eine Weile, flüſterten untereinander, und endlich antwortete der Magere, bei Gott ſei alles möglich, weil er nicht ein Menſch ſei, ſondern ein Geiſt. Da lächelte mich Caſpar an, denn er dachte, ſie wollten ſich über ihn luſtig machen, und er ſtellte ſich, als glaube er ihnen, was die beſte Manier war, um ſie loszuwerden.“ Der Bürgermeiſter ſchüttelte mißbilligend den Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und gar nicht. „Es gibt auch eine gedachtere Anſicht von Gott als die, die ſich ſo mühelos verſpotten läßt,“ wandte er ruhig ein. „Eine gedachtere Anſicht? Ohne Zweifel. Vergeſſen Sie nur nicht, daß die der gemeinen durch und durch widerſpricht. Und wenn ich ſie ihm beizubringen ſuche, ſetze ich mich Vorwürfen und Mißkennungen aus. Nächſtes Jahr ſoll er in die öffentliche Schule gehen, für einen Menſchen von wenigſtens achtzehn Jahren ohnedies eine Schwierigkeit, da würden nun {meine} Lehren wieder zunichte gemacht und die Folge iſt Konfuſion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden und ſpeiſe ihn mit bequemen Antworten ab. Neulich konnte er eingetretener Augenſchwäche halber nicht arbeiten, und er fragte mich, ob er von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es dann erhalten werde. Ich ſagte, zu bitten ſei ihm geſtattet, doch müſſe er es der Weisheit Gottes anheimſtellen, ob er die Bitte gewähren wolle oder nicht. Er entgegnete, er wolle die Geneſung ſeiner Augen erbitten und dawider könne ja Gott nichts einzuwenden haben, denn er gebrauche die Augen, um ſeine Zeit nicht in unnützen Geſprächen und Spielereien vergeuden zu müſſen. Ich ſagte darauf, Gott habe bisweilen unerforſchliche Gründe, etwas zu verſagen, wovon wir glaubten, daß es heilſam wäre, er wolle uns oft durch Leiden prüfen, in Geduld und Ergebung üben. Da ließ er traurig den Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich ſei auch nicht beſſer als die Frommen, deren Gründe er nur für Ausreden nimmt.“ „Was iſt jedoch zu tun?“ fragte der Bürgermeiſter mit ſorgenvoller Stirn. „Auf dem Weg des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit zum Guten verkümmern.“ „Zweifeln und Leugnen iſt es wohl kaum,“ verſetzte Daumer unwillig. „Gott iſt kein Bewohner des Himmels, er hauſt nur in unſrer Bruſt. Der reiche Geiſt birgt ihn im umfaſſenden Gefühl, der arme wird durch die Not des Lebens ſeiner gewahr und nennt es Glauben; er könnte es auch Angſt nennen. In Schönheit und Freude geſtaltet ſich der wahre Gott, im Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, iſt das aufrichtige Zagen der ihrer ſelbſt noch ungewiſſen Seele. Man gebe der Pflanze ſo viel Sonne, wie ſie braucht, und ſie beſitzt einen Gott.“ „Das iſt Philoſophie,“ erwiderte Binder, „und zudem Philoſophie, die einem Alltagsmenſchen wie mir frivol klingen muß. Jeder Bauer hat für ſeine Ernte mit Sturm und Unwetter zu rechnen, und nur ein überheblicher Menſch kann ſich einfallen laſſen, von ſelber etwas zu gelten. Doch genug davon. Waren Sie eigentlich mit Caſpar ſchon einmal in der Kirche?“ „Nein, ich habe das bis jetzt vermieden.“ „Morgen iſt Sonntag. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich ihn zum Gottesdienſt in die Frauenkirche mitnehme?“ „Nicht im geringſten.“ „Gut, ich werde ihn um neun Uhr abholen.“ Wenn ſich Herr Binder eine ſonderliche Wirkung von dieſem Verſuch verſprochen hatte, ſo wurde er darin ſehr enttäuſcht. Als Caſpar die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme des Predigers vernahm, fragte er, warum der Mann ſchimpfe. Die Kruzifixe erregten ſeinen tiefſten Schauder, weil er die angenagelten Chriſtusbilder für gemarterte lebendige Menſchen hielt. Beſtändig ſchaute er, beſtändig verwunderte er ſich, das Spiel der Orgel und der Geſang des Chors betäubten ſein empfindliches Ohr dermaßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht ſpürte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünſtung der Menſchenmenge einer Ohnmacht nahe. Der Bürgermeiſter ſah wohl ſeinen Fehlgriff ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen Beſuch der Kirche zu dringen, obwohl ſich Caſpar jedesmal hartnäckig dagegen ſträubte. Wenn der Kandidat Regulein Herrn Binder ſeine Not klagte, erwiderte dieſer: „Nur Geduld, die Gewohnheit wird ihn ſchon zur Andacht nötigen.“ — „Ich glaube nicht,“ verſetzte der Kandidat darauf mutlos, „gebärdet er ſich doch, als ob er ſein Leben laſſen ſollte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere.“ — „Macht nichts, es iſt Ihr Beruf, ſeinen Widerſtand zu brechen,“ lautete der Beſcheid. Der gute, hilfloſe Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung geweſen war und deſſen Gottesgelehrtentum von ſo dünner Beſchaffenheit war wie ſeine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtsſtunden, die er Caſpar erteilen mußte, und ſooft ihn eine Frage in Verlegenheit ſetzte, was gar nicht ſelten geſchah, verſchob er die Auskunft auf das nächſte Mal, wobei er ſich vornahm, in gewiſſen Büchern nachzuſchlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Caſpar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde kam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im ſtillen hoffte, ſein Schüler habe vergeſſen, erſchrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verſchanzung in die andre, bis das verzweifelte Argument aufgeſtellt werden mußte, es ſei unrecht, über dunkle Gegenſtände des Glaubens zu forſchen. Caſpar lief zu Daumer und beklagte ſich bitter, daß er keine Aufſchlüſſe erhalte. Daumer fragte, was er zu wiſſen begehrt habe. Er hatte zu wiſſen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menſchen herabkomme, um ſie über ſo vieles, was verborgen ſei, zu belehren. „Ja ſieh mal, Caſpar,“ ſagte Daumer, „es gibt Geheimniſſe in der Welt, die ſich eben beim beſten Willen nicht verſtehen laſſen. Da muß man Vertrauen haben, daß Gott eines Tages unſer Herz darüber erleuchtet. Wir alle wiſſen ja auch nicht, woher du kommſt und wer du biſt, und trotzdem hoffen wir von der Gerechtigkeit und Allwiſſenheit Gottes, daß er uns eines Tages darüber Aufſchluß gewährt.“ „Aber Gott hat doch nichts damit zu tun, daß ich im Kerker war,“ erwiderte Caſpar ſanft, „das haben doch die Menſchen getan.“ Und ratlos ſetzte er hinzu: „So iſt’s eben. Das eine Mal ſagt der Kandidat, Gott laſſe den Menſchen ihren freien Willen, das andre Mal ſagt er, Gott ſtrafe ſie für ihre böſen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.“ Dieſe Unterhaltung fand an einem ſtürmiſchen Nachmittag Ende März ſtatt und Daumer geriet durch ſie in eine ſo trübe Stimmung, daß er eine angefangene ſchriftliche Arbeit nicht zu beendigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stücken, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes Heft zur Hand, das ſeine Aufzeichnungen über Caſpar enthielt, und blätterte drin herum. Er ſchrak zuſammen, als ſeine Schweſter ziemlich haſtig eintrat, noch mit Pelzkappe und Umhang, wie ſie von der Straße kam. Ihr Geſicht verriet Aufregung, und ſie wandte ſich mit der ſchnell hervorgeſtoßenen Frage an Daumer: „Weißt du ſchon, was man in der Stadt ſpricht?“ „Nun?“ „Man erzählt ſich, Caſpar Hauſer ſei von fürſtlicher Abkunft, ein beiſeitegeſchaffter Prinz.“ Daumer lachte gezwungen. „Das fehlte noch,“ entgegnete er abſchätzig. „Was denn noch alles!“ „Du glaubſt nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen ſolche Gerüchte ſtammen? Irgend etwas muß doch dahinter ſein.“ „Gar nichts muß dahinter ſein. Sie ſchwatzen eben. Laß ſie ſchwatzen.“ Eine halbe Stunde ſpäter erhielt Daumer den Beſuch des Archivdirektors Wurm aus Ansbach. Es war dies ein kleiner, etwas verwachſener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er ſehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Regierungspräſidenten Mieg ſei. Von erſterem beſtellte er Grüße an Daumer und ſagte, der Staatsrat werde in allernächſter Zeit nach Nürnberg kommen, er beſchäftige ſich angelegentlich mit der Sache Caſpar Hauſers. Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden griff der Archivdirektor plötzlich in die Rocktaſche, brachte ein kleines broſchiertes Buch zum Vorſchein und reichte es wortlos Daumer. Dieſer nahm es und las den Titel: „Caſpar Hauſer, nicht unwahrſcheinlich ein Betrüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.“ Daumer beſah das Büchlein mit feindſeligen Augen und ſagte matt: „Das iſt deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?“ „Es iſt ein gehäſſiges Pamphlet, tritt aber höchſt plauſibel auf,“ erwiderte der Archivdirektor. „Es ſind da mit Fleiß und Geſchick alle Verdachtsgründe, die ſchon längſt in mißtrauiſchen Gemütern ſpuken, gegen den Findling zuſammengetragen. Der Verfaſſer prüft alle Angaben Caſpars auf ihre Verdächtigkeit hin, auch gibt er Beiſpiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche Lügenkünſte, wie er ſich ausdrückt, zu verſpäteter Enthüllung gelangt ſind. Sie, lieber Profeſſor, und Ihre hieſigen Freunde kommen dabei nicht zum beſten weg.“ „Natürlich; kann ich mir denken,“ murmelte Daumer, und mit der flachen Hand auf das Buch ſchlagend, rief er aus: „Nicht unwahrſcheinlich ein Betrüger! Da ſitzt ſo ein mit allen Hunden gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt es_—! Himmelſchreiend! Man ſollte ihm dieſen nicht unwahrſcheinlichen Betrüger vorführen, man ſollte ihn zwingen, dem Engelsblick ſtandzuhalten, ach, ſchändlich! Der einzige Troſt dabei iſt, daß doch niemand das Zeug leſen wird.“ „Sie irren ſich,“ verſetzte der Archivdirektor ruhig, „das Heft findet reißenden Abſatz.“ „Nun gut, ich werde es leſen,“ ſagte Daumer, „ich werde damit zum Redaktor Pfiſterle von der ‚Morgenpoſt‘ gehen, der iſt der richtige Mann, um dem famoſen Polizeirat Widerpart zu halten.“ Der Archivdirektor maß den aufgeregten Daumer mit einem gleichgültig-ſchnellen Blick. „Ich möchte eine ſolche Maßregel nicht ohne weiters gutheißen,“ bemerkte er diplomatiſch; „ich glaube auch im Sinn des Herrn von Feuerbach zu ſprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu das Zeitungsgeſchreibe? Was ſoll es nützen? Man muß handeln, in aller Vorſicht und Stille handeln, das iſt es.“ „In aller Vorſicht und Stille? Was wollen Sie damit ſagen?“ fragte Daumer ängſtlich und argwöhniſch. Der Archivdirektor zuckte die Achſeln und ſchaute zu Boden. Dann erhob er ſich, ſagte, er wolle am folgenden Nachmittag wiederkommen, um Caſpar zu ſehen, und reichte Daumer die Hand. Als er ſchon auf der Treppe war, eilte ihm Daumer nach und fragte, ob es ihn nicht ſtöre, wenn er morgen fremde Leute hier im Hauſe treffe, es hätten ſich einige Herrſchaften zu Beſuch angeſagt. Der Archivdirektor verneinte. Es gehörte zu den Charaktereigentümlichkeiten Daumers, daß er ſich in einmal gefaßte Ideen bis zur offenſichtlichen Schädlichkeit verrannte. Trotz der Abmahnung des beſonnenen Herrn Wurm begab er ſich, kaum daß er das Buch des Berliner Polizeirats geleſen hatte, was weniger denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung in die Redaktion der ‚Morgenpoſt‘. Der Redaktor Pfiſterle war ein hitziges Blut; wie der Geier aufs Aas ſtürzte er ſich auf dieſe Gelegenheit, ſeine immer in Vorrat vorhandene Wut und Galle loszulaſſen. Er wollte Material haben, und Daumer beſtellte ihn für den Mittag des folgenden Tages zu ſich in die Wohnung. Am Abend herrſchte eine ſonderbar ſchwüle Luft im Daumerſchen Haus. Während des Nachteſſens wurde wenig geredet, und Caſpar, der von all dem, was rings um ihn vorging, nicht im mindeſten etwas ahnte, war verwundert über manchen prüfenden Blick oder über das düſtere Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein Buch zur Hand zu nehmen und zu leſen; das tat er auch heute, und es geſchah nun, daß ſein Blick, als er das Buch aufgemacht, auf eine beſtimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzückt in die Hände zu ſchlagen und in ſeiner herzlichen Art zu lachen. Daumer fragte, was es gebe; Caſpar deutete mit dem Finger auf das Blatt und rief: „Sehen Sie nur, Herr Profeſſor!“ Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu duzen, und zwar ganz von ſelbſt und eigentümlicherweiſe faſt an demſelben Tag, an welchem er zum erſten Male Fleiſch genoſſen und danach krank geworden war. Daumer blickte ins Buch. Die von Caſpar aufgegriffenen Worte lauteten: „Die Sonne bringt es an den Tag.“ „Was gibt’s dabei zu ſtaunen?“ fragte Anna, die über die Schulter des Bruders gleichfalls in das Buch ſchaute. „Wie ſchön, wie ſchön!“ rief Caſpar aus. „Die Sonne bringt es an den Tag. Das iſt wunderſchön.“ Die drei andern ſchauten einander voll ſeltſamer Gefühle in die Augen. „Überhaupt iſt es ſchön, wenn man ſo lieſt: die Sonne!“ fuhr Caſpar fort. „Die Sonne! Das hallt ſo.“ Als er gute Nacht gewünſcht hatte, ſagte Frau Daumer: „Man {muß} ihn doch lieb haben. Es wird einem ordentlich wohl, wenn man ihn in ſeiner artigen Geſchäftigkeit beobachtet. Wie ein Tierchen webt er für ſich hin, niemals langweilt er ſich, nie fällt er durch Launen zur Laſt.“ Wie verabredet, kam Pfiſterle am nächſten Tag kurz nach Tiſch, blieb jedoch über Gebühr lange ſitzen und verſtand nicht die ungeduldigen Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem Eintreffen der erwarteten Gäſte losgeworden wäre. Als dieſe um drei Uhr erſchienen, ſaß er noch immer auf ſeinem Fleck und blieb auch da. Wahrſcheinlich hatte es ſeine Neugierde gereizt, daß ihm Daumer den Namen einer der drei Perſonen mitgeteilt hatte; es war dies ein damals vielgeleſener Schriftſteller aus dem Norden des Reichs. Die andern beiden waren eine holſteiniſche Baronin und ein Leipziger Profeſſor, der auf einer Romreiſe begriffen war; ein Unternehmen, welches zu jener Zeit, wenigſtens in Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines kühnen Forſchers verlieh. Daumer empfing die Herrſchaften ſehr liebenswürdig, und nachdem er Caſpar herbeigeholt hatte, zündete er trotz der frühen Stunde die Lampe an, denn der Nebel lag dicht wie graue Wolle vor den Fenſtern. Der Leipziger Profeſſor zog Caſpar in eine Unterhaltung, aber er ſprach mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch ließ er keinen Blick von ihm, und die gelblichen Augen hinter den kreisrunden Brillengläſern ſchimmerten bisweilen boshaft. Währenddem kamen noch Herr von Tucher und der Archivdirektor, ließen ſich den Fremden vorſtellen und nahmen auf dem Sofa Platz. „In deinem Kerker war es alſo immer dunkel?“ fragte der Romfahrer und ſtrich langſam ſeinen Bart. Caſpar antwortete geduldig: „Dunkel, ſehr dunkel.“ Der Schriftſteller lachte, worauf ihm der Profeſſor vielſagend mit dem Kopf zunickte. „Haben Sie den Unſinn gehört, der hier in der Stadt über ſeine fürſtliche Abkunft geredet wird?“ ließ ſich jetzt die holſteiniſche Baronin hören, deren Stimme wie aus einem Kellerloch kam. Der Profeſſor nickte wieder und ſagte: „In der Tat, es werden hier ſtarke Zumutungen an die Leichtgläubigkeit des Publikums geſtellt.“ Eine Zeitlang ſchwiegen alle, wie von einem Schuß erſchreckt. Endlich entgegnete Daumer mit heiſerer Stimme und mit der Höflichkeit eines ſchlechten Komödianten: „Was veranlaßt Sie, meine Ehre zu beſchimpfen?“ „Was mich veranlaßt?“ praſſelte der choleriſche Herr auf. „Dieſe Gaukelfuhr veranlaßt mich dazu. Der Umſtand, daß man ein ganzes Land ſkrupellos mit einem albernen Märchen füttert. Muß denn der gute Deutſche immer wieder das Opfer von Abenteurern [à la] Caglioſtro werden? Es iſt eine Schmach.“ Herr von Tucher hatte ſich erhoben und blickte dem Aufgeregten mit ſo unverhohlener Geringſchätzung ins Geſicht, daß dieſer plötzlich ſchwieg. „Wir ſind natürlich überzeugt,“ miſchte ſich der Schriftſteller, ein klapperdürrer Herr mit kahlem Schädel, vermittelnd ein, „daß Sie, Herr Daumer, im beſten Glauben handeln. Sie ſind Opfer, wie wir alle.“ Jetzt konnte ſich Pfiſterle, den die Wut förmlich aufgeſchwellt hatte, nicht länger halten. Mit geballten Fäuſten ſprang er vom Stuhl empor und ſchrie: „Ja, zum Teufel, warum ſollen wir uns denn das gefallen laſſen? Da kommen ſie her, niemand hat ſie gerufen, kommen her, um dageweſen zu ſein und mitreden zu können, haben von Anfang an alles beſſer gewußt, und wenn ſie blind wie die Maulwürfe ſind, werfen ſie ſich noch ſtolz in die Bruſt und rufen: Wir ſehen nichts, alſo iſt nichts da. Warum ſoll denn das ein Unſinn ſein, geehrte Dame, was man von ſeiner Abſtammung erzählt? Warum denn, bitte? Leugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo unſre Großen wohnen, ſich Dinge ereignen, die das Tageslicht zu ſcheuen haben? Daß dort die Verträge des Bluts für nichts geachtet und Menſchenrechte mit Füßen getreten werden, wenn der Vorteil eines Einzelnen es erheiſcht? Soll ich mit Tatſachen dienen? Sie können es nicht leugnen. Bei uns wenigſtens ſind die paar Dutzend Männer noch nicht vergeſſen, die ihre mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen und mit brennenden Fackeln in die Lügendämmerung der Paläſte geleuchtet haben.“ „Genug, genug!“ unterbrach der Profeſſor den rabiaten Zeitungsmann. „Mäßigen Sie ſich, Herr!“ „Ein Demagoge!“ ſagte die Baronin und ſtand mit erſchrockenen Augen auf. Der Archivdirektor heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf Daumer, der den Kopf geſenkt und die Lippen eigenſinnig geſchloſſen hatte. Als er emporſchaute, blieb ſein Auge mit gerührtem Ausdruck auf Caſpar ruhen, der frei und arglos daſtand, den lächelnden klaren Blick von einem zum andern gleiten ließ, nicht als ob von ihm geſprochen würde und er daran teilhätte, ſondern als ob das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden lediglich ſeine Schauluſt erwecke. In der Tat verſtand er kaum, wovon die Rede war. Der Leipziger Profeſſor hatte ſeinen Hut ergriffen und wandte ſich noch einmal, an Pfiſterle vorüberſprechend, gegen Daumer. „Was iſt denn bewieſen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?“ fragte er gellend. „Nichts iſt bewieſen. Feſt ſteht nur, daß aus irgendeinem gottverlaſſenen Dorf in den fränkiſchen Wäldern ſich ein Bauerntölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordentlich ſprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur unbekannt ſind, das Neue neu, das Fremde fremd erſcheint. Und darüber geraten einige kurzſichtige, ſonſt ganz wackere Männer außer ſich und nehmen die plumpen Aufſchneidereien des geriebenen Landſtreichers für bare Münze. Wunderliche Verſchrobenheit!“ „Ganz wie der Polizeirat Merker,“ konnte ſich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken. Auch Pfiſterle wollte dawiderreden, wurde aber durch eine energiſche Kopfbewegung des Herrn von Tucher zum Schweigen gebracht. Plötzlich wurde von der Straße draußen das Rollen einer Kutſche hörbar. Direktor Wurm ging zum Fenſter, und nachdem der Wagen vor dem Haus gehalten hatte, ſagte er: „Der Staatsrat kommt.“ „Wie?“ entgegnete Daumer raſch. „Herr von Feuerbach?“ „Ja, Herr von Feuerbach.“ In ſeiner Benommenheit verſäumte Daumer die Pflicht des Hausherrn, und als er ſich aufraffte, um den Präſidenten zu empfangen, ſtand dieſer ſchon auf der Schwelle. Mit ſeinem Imperatorenblick überflog er die Geſichter aller Anweſenden, und als er den Archivdirektor gewahrte, ſagte er lebhaft: „Gut, daß ich Sie treffe, lieber Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu ſprechen.“ Er trug die einfache Kleidung eines Privatmannes, und außer einem kleinen Ordenskreuz neben dem Halsausſchlag des Rockes war keinerlei Schmuck an ihm zu ſehen. Die außerordentlich ſtolze Haltung des gedrungenen, maſſigen Körpers und das ſteif Aufrechte, ſoldatiſch Gebietende ſeines ſtets etwas zurückgeworfenen Hauptes erweckten ehrfurchtsvolle Scheu; ſein Geſicht, auf den erſten Anblick dem eines verdrießlichen alten Fuhrmanns ähnlich, wurde durch die dunkelglühenden Augen, in denen die Unraſt geiſtiger Leidenſchaften lag, und durch die feſtgeſchloſſenen, kühngebogenen Lippen geadelt. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der viel Zeit hat. Trotz der Würde, die ihm ſein Amt verlieh und die er nicht verringerte, hatte ſein Auftreten etwas Heftiges, und in der Art, wie er die im Zimmer Verſammelten begrüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten. Es wirkte darum erſchreckend auf alle, als ihm Caſpar ungezwungen entgegentrat und ihm von ſelbſt die Hand hinſtreckte, die Feuerbach auch ergriff, ja ſogar eine Zeitlang in der ſeinen behielt. Caſpar war es wunderlich wohl geworden, ſeit der Präſident eingetreten war. Er hatte oft an ihn gedacht, ſeit er mit ihm auf dem Gefängnisturm geſprochen hatte, und ſeit dem erſten Händedruck liebte er beſonders die Hand des Präſidenten, eine warme, harte, trockene Hand, die ſich wohlverſchloß beim Gruß, als ob ſie glaubwürdige Verſprechungen gäbe, und die eigne Hand ruhte dabei ſo ſicher in ihr wie der müde Körper abends im Bett. Daumer geleitete den Präſidenten und den Direktor Wurm in ſein Studierzimmer und kehrte dann zurück. Die fremden Gäſte ſchickten ſich an zu gehen, ſie hatten durch die Dazwiſchenkunft Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung verloren. Caſpar wollte der Dame in den Mantel helfen, doch ſie machte eine abwehrende Geſte und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von Tucher und Pfiſterle entfernten ſich ebenfalls. Caſpar nahm ein Schreibheft aus der Lade und ſetzte ſich zur Lampe, um ſeine lateiniſche Arbeit anzufertigen, da kamen der Präſident und Direktor Wurm wieder ins Zimmer. Feuerbach ging auf Caſpar zu, legte die Hand auf ſein Haar, bog den Kopf des Jünglings leicht zurück, ſo daß der Lampenſchein voll in Caſpars Geſicht fiel, betrachtete ſeltſam lange und mit bohrender Aufmerkſamkeit das ſeinem Blick ſtillhaltende Antlitz und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet, tief atmend: „Keine Täuſchung. Es ſind dieſelben Züge.“ Der Archivdirektor nickte ſtumm. „Das und die Träume_... zwei wichtige Indizien,“ ſagte der Präſident mit dem gleichen Ton von Vertieftheit. Er ſchritt zum Fenſter, die Hände auf dem Rücken, und ſah eine Weile hinaus. Darauf wandte er ſich zu Daumer und fragte unvermittelt, wie es mit Caſpars Ernährung ſtehe. Daumer erwiderte, er habe in letzter Zeit verſucht, ihn an Fleiſchkoſt zu gewöhnen. „Zuerſt hat er ſich ſehr gewehrt, auch hat es den Anſchein nicht, als ob die veränderte Diät ihm ſehr zuträglich ſei. Es iſt ſogar zu befürchten, daß ſie ſeine inneren Kräfte weſentlich vermindert. Er wird zuſehends ſtumpfer.“ Feuerbach zog die Stirn empor und deutete gegen Caſpar. Daumer verſtand den Wink und forderte Caſpar auf, zu den Frauen hinüberzugehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling das Zimmer verlaſſen hatte, ſondern fuhr mit beklommenem Eifer fort: „An demſelben Tag, wo Caſpar zum erſtenmal Fleiſch genoß, ſchnappte der Hund unſers Nachbars, der ihm bis dahin höchſt zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend an. Das war mir eine wunderbare Lehre.“ Der Präſident entgegnete finſter: „Dem mag ſein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahlloſen Experimente, die Sie mit dem jungen Menſchen vornehmen. Wozu das alles? Wozu magnetiſche und andre Kuren? Man berichtet mir, daß Sie gegen gewiſſe krankhafte Zuſtände homöopathiſche Heilmittel anwenden. Wozu? Das muß einen ſo zarten Organismus aufreiben. Die Jugend iſt es, die die Krankheiten heilt.“ „Ich bin erſtaunt, daß Eure Exzellenz dagegen etwas einzuwenden haben,“ verſetzte Daumer kalt und demütig. „Der menſchliche Körper wird oft von vorübergehenden Leiden befallen, denen auf homöopathiſchem Weg am beſten beizukommen iſt. Erſt vorigen Montag hat, wie ich beſtimmt verſichern kann, eine kleine Doſis Silizea Wunder gewirkt. Kennen Eure Exzellenz nicht den ſchönen, alten Spruch: Ein kluger Arzt, der nimmt da ſeine Hilfe her, von wo der Schaden kömmt, Löſt Salzſucht auf durch Salz, löſcht Feuer aus durch Flammen. Ihr Kinder der Natur, ihr zieht die Kunſt zuſammen, Macht weniges aus viel und wirket viel durch wenig.“ Feuerbach mußte unwillkürlich lächeln. „Mag ſein, mag ſein,“ polterte er, „aber damit iſt nichts bewieſen, und wenn auch, ſo trifft es die Sache nicht.“ „Meine Sache ſteht auch nicht darauf.“ „Um ſo beſſer. Vergeſſen Sie nicht, daß hier ein Recht durchzuſetzen iſt, das Recht eines Lebens. Iſt es nötig, deutlicher zu ſein? Ich glaube kaum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel ſich lüften, das über den rätſelhaften Menſchen gebreitet iſt, und der Dank, den ich und andre Ihnen ſchon jetzt ſchulden, lieber Daumer, wird nicht durch ein Mißvergnügen geſchmälert ſein, das ſich an Ihre vielleicht ſchädlichen Irrtümer heften muß.“ Das klang feierlich. Man kanzelt mich ab wie einen Schulbuben, dachte Daumer erbittert, als der Präſident und Direktor Wurm ſich verabſchiedet hatten; was iſt mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache des heimatloſen Findlings zu meiner eignen machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leiſten geblieben, in meiner Einſamkeit. Es geht mich wenig an, was ſie da über ſein Schickſal fabeln, fuhr er in ſeinen verdroſſenen Überlegungen fort; allerdings, der Ton des Präſidenten läßt auf etwas Ungewöhnliches ſchließen; das ſeltſame Gerede über Caſpars Herkunft, ſollte es wirklich einen Bezug haben? Gleichviel, was wäre das mir? Ob eines Bauern, ob eines Fürſten Sohn, was würde es beſagen? Freilich, wenn ſo ein hoher Herr einem in den Weg läuft, gibt man ſich als befliſſenen Diener; verbriefter Adel und erlauchte Abſtammung fordern nun einmal den Reſpekt des Bürgers. Doch ein andres iſt das Leben und ein andres die Idee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren, weil es zwecklos iſt, ihnen zu trotzen, und ein andres, ihrer zu vergeſſen, eingeſchloſſen und gefeit in der goldenen Wohnung der Philoſophie. Zwiſcheninne führt die Grenze, die den Menſchen aus Staub von dem Menſchen aus Geiſt trennt. Sollte ich in meinem Optimismus zu weit gegangen ſein, wenn ich in Caſpar den Menſchen aus Geiſt ſah? Noch ſteht es zu bezweifeln. Ein Gedankengang, der nicht frei von ahnungsvoller Betrübnis war. 7. Daumer ſtellt die Metaphyſik auf die Probe