Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wurden Nachforſchungen angeſtellt, die aber natürlich fruchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amtlich an das Appellationsgericht gemeldet, und nach einiger Zeit ſchrieb der Regierungsrat Hermann, der mit dem Baron Tucher befreundet war, an dieſen einen Privatbrief, in welchem er unter anderm die Meinung vertrat, man ſolle nicht ablaſſen, den Hauſer ſcharf zu bewachen und auszuforſchen, denn es ſei wohl möglich, daß er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen ſei, manches ihm bekannte Verhältnis zu verſchweigen.
Herr von Tucher ſuchte Daumer auf und las ihm dieſe Stelle vor. Daumer konnte ein ſpöttiſches Lächeln nicht unterdrücken. „Ich bin mir wohl bewußt, daß ein Myſterium, von Menſchenhand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit Caſpar zuſammenhängt,“ ſagte er mit leiſem Widerwillen, „ganz abgeſehen davon, daß mir auch der Präſident Feuerbach unlängſt darüber geſchrieben hat, und zwar in höchſt eigentümlichen Wendungen, die auf etwas Beſonderes ſchließen laſſen. Aber was heißt das: ihn ausforſchen, ihn bewachen? Hat man darin nicht ſchon das Äußerſte verſucht? Ärztliche Vorſicht und menſchliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerſte Behutſamkeit gegen ihn. Ich wage es ja kaum, ihn von der einfachen Koſt zu entwöhnen und ihn ſo zu ernähren, wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt iſt.“
„Warum wagen Sie das nicht?“ fragte Herr von Tucher ziemlich erſtaunt. „Wir ſind doch übereingekommen, ihn endlich zum Genuß von Fleiſch oder wenigſtens von andern gekochten Speiſen zu bringen?“
Daumer zögerte mit der Antwort. „Milchreis und warme Suppe verträgt er ſchon ganz gut,“ ſagte er dann, „aber zur Fleiſchkoſt will ich ihn nicht ermuntern.“
„Warum nicht?“
„Ich fürchte Kräfte zu zerſtören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden ſind.“
„Kräfte zerſtören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Geſundheit des Leibes und die Friſche ſeines Gemüts zu entſchädigen? Wäre es nicht vielmehr ratſam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder ſpäter verhängnisvoll werden muß? Iſt es gut, einen andern Maßſtab an ihn zu legen als es einer natürlichen Erziehung entſpricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caſpar iſt ein Kind, das dürfen wir nicht vergeſſen.“
„Er iſt ein Mirakel,“ entgegnete Daumer haſtig und ergriffen; dann, in einem halb belehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte, fuhr er fort: „Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis auf Unerforſchliches den plumpen Alltagsverſtand beleidigt. Sonſt müßte jeder an dieſem Menſchen ſehen und ſpüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben ſind, in denen unſer ganzes Weſen ruht.“
Herr von Tucher ſchwieg eine Zeitlang; ſein Geſicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes, als er ſagte: „Es iſt beſſer, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, als mit fruchtloſem Enthuſiasmus im Nebel des Überſinnlichen zu irren.“
„Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen kann?“ verſetzte Daumer, deſſen Stimme leiſer und ſchmeichelnder wurde, je mehr das Geſpräch ihn erhitzte. „Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Waſſer für dieſen Menſchen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in lebendiger Beziehung ſteht?“
Baron Tuchers Geſicht wurde düſter. „Ich ſehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit,“ ſagte er kurz und ſcharf. „Das ſind die Quellen nicht, aus denen Leben geboren wird, in ſolchen Formen kann ſich keine Brauchbarkeit bewähren!“
Daumer duckte den Kopf, und in ſeinen Augen lag Ungeduld und Verachtung, doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: „Wer weiß, Baron. Die Quellen des Lebens ſind unergründlich. Meine Hoffnungen wagen ſich weit hinauf und ich erwarte Dinge von unſerm Caſpar, die Ihr Urteil ſicherlich verändern werden. Aus dieſem Stoff werden Genien gemacht.“
„Man tut einem Menſchen ſtets unrecht, wenn man Erwartungen an ſeine Zukunft knüpft,“ ſagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln.
„Mag ſein, mag ſein, ich aber halte mich an die Zukunft. Mich kümmert nicht, was hinter ihm liegt, und was ich von ſeiner Vergangenheit weiß, ſoll mir nur dienen, ihn davon zu löſen. Das iſt ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Weſen ohne Vergangenheit hat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom erſten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Inſtinkt, ausgerüſtet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforſchung die Aufgabe kommender Jahrhunderte iſt. Mag ſein, daß ich mich täuſche, dann aber würde ich mich in der Menſchheit getäuſcht haben und meine Ideale für Lügen erklären müſſen.“
„Der Himmel bewahre Sie davor,“ antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abſchied.
Noch am ſelben Tag wurde Daumer durch ſeine Mutter aufmerkſam gemacht, daß Caſpars Schlaf nicht mehr ſo ruhig ſei wie ſonſt. Als Caſpar am andern Morgen ziemlich unerfriſcht zum Frühſtück kam, fragte ihn Daumer, ob er ſchlecht geſchlafen habe.
„Schlecht geſchlafen nicht,“ erwiderte Caſpar, „aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angſt.“
„Wovor hatteſt du denn Angſt?“ forſchte Daumer.
„Vor dem Finſtern,“ entgegnete Caſpar, und bedächtig fügte er hinzu: „In der Nacht ſitzt das Finſtere auf der Lampe und brüllt.“
Den nächſten Morgen kam er halbangekleidet aus ſeinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und erzählte beſtürzt, es ſei ein Mann bei ihm geweſen. Zuerſt erſchrak Daumer, dann wurde ihm klar, daß Caſpar geträumt habe. Er fragte, was für ein Mann es denn geweſen ſei, und Caſpar antwortete, es ſei ein großer ſchöner Mann geweſen mit einem weißen Mantel. Ob der Mann mit ihm geſprochen? Caſpar verneinte; geſprochen habe er nicht, er habe einen Kranz getragen, den habe er auf den Tiſch gelegt, und als Caſpar danach gegriffen, habe der Kranz zu leuchten angefangen.
„Du haſt geträumt,“ ſagte Daumer.
Caſpar wollte wiſſen, was das heiße. „Wenn auch dein Körper ruht,“ erklärte Daumer, „ſo wacht doch deine Seele, und was du am Tag erlebt oder empfunden, daraus macht ſie im Schlummer ein Bild. Dieſes Bild nennt man Traum.“
Nun verlangte Caſpar zu wiſſen, was das ſei, die Seele. Daumer ſagte: „Die Seele gibt deinem Körper das Leben. Leib und Seele ſind einander vermiſcht. Jedes von beiden iſt, was es iſt, aber ſie ſind ſo untrennbar gemiſcht wie Waſſer und Wein, wenn man ſie zuſammengießt.“
„Wie Waſſer und Wein?“ fragte Caſpar mißbilligend. „Damit verderbt man aber das Waſſer.“
Daumer lachte und meinte, das ſei nur ein Gleichnis geweſen. In der Folge nahm er wahr, daß es mit Caſpars Träumen eigen beſchaffen war. Sonſt ſind Träume an ein Zufälliges geknüpft, ſagte er ſich, ſpielen geſetzlos mit Ahnung, Wunſch und Furcht, bei ihm ähneln ſie dem Herumtaſten eines Menſchen, der ſich im finſteren Wald verirrt hat und den Weg ſucht; da iſt etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf den Grund gehen.
Das Auffallende war, daß gewiſſe Bilder ſich allmählich zu einem einzigen Traum ſammelten, der von Nacht zu Nacht vollſtändiger und geſtalthafter wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang konnte Caſpar nur abgebrochen davon erzählen, ſo ſtückhaft wie die Bilder ſich ihm zeigten, dann eines Tages, wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er ſeinem Pflegeherrn eine ausführliche Beſchreibung zu geben.
Er hatte über ſeine Gewohnheit lange geſchlafen, deshalb ging Daumer in ſein Zimmer, und kaum war er ans Bett getreten, ſo ſchlug Caſpar die Augen auf. Sein Geſicht glühte, der Blick ruhte noch im Innern, war aber voll und kräftig und der Mund war zu ſprechen ungeduldig. Mit langſamer, ergriffener Stimme erzählte er.
Er iſt in einem großen Haus geweſen und hat geſchlafen. Eine Frau iſt gekommen und hat ihn aufgeweckt. Er bemerkt, daß das Bett ſo klein iſt, daß er nicht begreift, wie er darin Platz gehabt. Die Frau kleidet ihn an und führt ihn in einen Saal, wo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen. Hinter gläſernen Wänden blitzen Silberſchüſſeln und auf einem weißen Tiſch ſtehen feine kleine, zierlich bemalte Porzellantäßchen. Er will bleiben und ſchauen, die Frau zieht ihn weiter. Da iſt ein Saal, wo viele Bücher ſind, und von der Mitte der gebogenen Decke hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab. Caſpar will die Bücher betrachten, da verlöſchen langſam die Flammen des Leuchters eine nach der andern und die Frau zieht ihn weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab, ſie ſchreiten im Innern des Hauſes den Wandelgang entlang. Er ſieht Bilder an den Wänden, Männer im Helm und Frauen mit goldenem Schmuck. Er ſchaut durch die Mauerbogen der Halle in den Hof, dort plätſchert ein Springbrunnen; die Säule des Waſſers iſt unten ſilberweiß und oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolken aufwärts ſteigen. Es ſteht ein eiſerner Mann daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch ſein Geſicht iſt ſchwarz, nein, er hat überhaupt kein Geſicht. Caſpar fürchtet ſich vor ihm, will nicht vorbeigehen, da beugt ſich die Frau und flüſtert ihm etwas ins Ohr. Er geht vorbei, er geht zu einer ungeheuern Tür und die Frau pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft und niemand hört. Sie will öffnen, die Tür iſt zugeſchloſſen. Es ſcheint Caſpar, daß ſich etwas Wichtiges hinter der Tür ereignet, er ſelbſt beginnt zu rufen, doch in dieſem Augenblick erwacht er.
Seltſam, dachte Daumer, da ſind Dinge, die er nie zuvor geſehen haben kann, wie den gerüſteten Mann ohne Geſicht. Seltſam! Und ſein Worteſuchen, ſeine hilfloſen Umſchreibungen bei ſolcher Klarheit des Geſchauten. Seltſam.
„Wer war die Frau?“ fragte Caſpar.
„Es war eine Traumfrau,“ entgegnete Daumer beſchwichtigend.
„Und die Bücher und der Springbrunnen und die Tür?“ drängte Caſpar. „Waren’s Traumbücher, war’s eine Traumtür? Warum iſt ſie nicht aufgemacht worden, die Traumtür?“
Daumer ſeufzte und vergaß zu antworten. Was bekam da Gewalt über ſeinen Caſpar, ſein Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff gebunden war dieſer Traum.
Caſpar kleidete ſich langſam an. Plötzlich erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menſchen eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte, ob alle Menſchen einen Vater hätten. Auch dies mußte bejaht werden.
„Wo iſt dein Vater?“ fragte Caſpar.
„Geſtorben,“ antwortete Daumer.
„Geſtorben?“ flüſterte Caſpar nach. Ein Hauch des Schreckens lief über ſeine Züge. Er grübelte. Dann begann er wieder: „Aber wo iſt mein Vater?“
Daumer ſchwieg.
„Iſt es der, bei dem ich geweſen? Der Du?“ drängte Caſpar.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete Daumer und fühlte ſich ungeſchickt und ohne Überlegenheit.
„Warum nicht? Du weißt doch alles? Und hab’ ich auch eine Mutter?“
„Sicherlich.“
„Wo iſt ſie denn? Warum kommt ſie nicht?“
„Vielleicht iſt ſie gleichfalls geſtorben.“
„So? Können denn die Mütter auch ſterben?“
„Ach, Caſpar!“ rief Daumer ſchmerzlich.
„Geſtorben iſt meine Mutter nicht,“ ſagte Caſpar mit wunderlicher Entſchiedenheit. Plötzlich flammte es über ſein Geſicht und er ſagte bewegt: „Vielleicht war meine Mutter hinter der Tür?“
„Hinter welcher Tür, Caſpar?“
„Dort! im Traum ...“
„Im Traum? Das iſt doch nichts Wirkliches,“ belehrte Daumer zaghaft.
„Aber du haſt doch geſagt, die Seele iſt wirklich und macht den Traum —? Ja, ſie war hinter der Tür, ich weiß es; das nächſte Mal will ich ſie aufmachen.“
Daumer hoffte, das Traumweſen würde ſich verlieren, doch dem war nicht ſo. Dieſer eine Traum, Caſpar nannte ihn den Traum vom großen Haus, wuchs immer weiter, umſchlang und krönte ſich mit allerlei Blüten- und Rankenwerk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer wieder ſchritt Caſpar einen Weg entlang und immer wieder endete der Weg vor der hohen Türe, die nicht geöffnet wurde. Einmal zitterte die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe ſchien ſich zu bauſchen wie ein Gewand, durch einen Spalt über der Schwelle brach Flammengeloder, da erwachte er, und die nicht zu vergeſſende Traumnot ſchlich durch die Stunden des Tages mit.
Die Geſtalten wechſelten. Manchmal kam ſtatt der Frau ein Mann und führte ihn durch die Bogenhalle. Und wie ſie die Treppe hinaufgehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte ihm mit ſtrengem Blick etwas Gleißendes, das lang und ſchmal war und das, als Caſpar es faſſen wollte, in ſeiner Hand zerfloß wie Sonnenſtrahlen. Er trat nahe an die Geſtalt heran, auch ſie ward zu Luft, doch ſprach ſie lautſchallend ein Wort, welches Caſpar nicht zu deuten verſtand.
Daran hingen ſich wieder beſondere kleine Träume, Träume von unbekannten Worten, die er im Wachen nie gehört und deren er, wenn der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu werden ſuchte. Sie hatten meiſt einen ſanften Klang, bezogen ſich aber, ſo fühlte er, nie auf ihn ſelbſt, ſondern auf das, was hinter der verſchloſſenen Türe vor ſich ging.
Traumboten waren es, Vögeln des Meeres gleich, die in beſtändiger Wiederkehr Gegenſtände eines halbverſunkenen Schiffes an die ferne Küſte tragen.
In einer Nacht lag Daumer ſchlaflos und hörte in Caſpars Zimmer ein dauerndes Geräuſch. Er erhob ſich, ſchlüpfte in den Schlafrock und ging hinüber. Caſpar ſaß im Hemde am Tiſch, hatte ein Blatt Papier vor ſich, einen Bleiſtift in der Hand und ſchien geſchrieben zu haben. Ein matter Mondſchein ſchwamm im Zimmer. Verwundert fragte Daumer, was er treibe. Caſpar richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick auf ihn und antwortete leiſe: „Ich war im großen Haus; die Frau hat mich bis zum Springbrunnen im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenſter hinaufſchauen laſſen; droben iſt der Mann im Mantel geſtanden, ſehr ſchön anzuſchauen, und hat etwas geſagt. Danach bin ich aufgewacht und hab’s geſchrieben.“
Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las, warf es wieder hin, ergriff beide Hände Caſpars und rief halb beſtürzt, halb erzürnt: „Aber Caſpar, das iſt ja ganz unverſtändliches Zeug!“
Caſpar ſtarrte auf das Papier, buchſtabierte murmelnd und ſagte: „Im Traum hab’ ich’s verſtanden.“
Unter den ſinnloſen Zeichen, die wie aus einer ſelbſterdachten Sprache waren, ſtand am Ende das Wort: Dukatus. Caſpar deutete auf das Wort und flüſterte: „Davon bin ich aufgewacht, weil es ſo ſchön geklungen hat.“
Daumer fand ſich verpflichtet, den Bürgermeiſter von den Beunruhigungen Caſpars, wie er es nannte, in Kenntnis zu ſetzen. Was er befürchtet hatte, geſchah. Herr Binder legte der Sache eine große Wichtigkeit bei. „Zunächſt iſt es geboten, dem Präſidenten Feuerbach einen möglichſt ausführlichen Bericht zu geben, denn aus dieſen Träumen können ſicherlich ganz beſtimmte Schlüſſe gezogen werden,“ ſagte er. „Dann mache ich Ihnen den Vorſchlag, mit Caſpar einmal in die Burg hinaufzugehen.“
„In die Burg? Warum das?“
„Es iſt ſo eine Idee von mir. Da er immer von einem Schloſſe träumt, wird ihn der Anblick eines wirklichen Schloſſes vielleicht aufrütteln und uns beſtimmtere Anhaltspunkte geben.“
„Ja, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung dieſer Träume?“
„Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, daß er bis zu ſeinem dritten oder vierten Lebensjahr in einer derartigen Umgebung gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Selbſtbewußtſein die Erinnerungen an die frühere Exiſtenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen.“
„Eine ſehr naheliegende, ſehr nüchterne Erklärung,“ bemerkte Daumer gallig. „Alſo der Hintergrund dieſes Schickſals wäre nichts weiter als eine gewöhnliche Räubergeſchichte.“
„Eine Räubergeſchichte? Mir recht, wenn Sie es ſo nennen. Ich verſtehe nicht, weshalb Sie ſich dagegen wehren. Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen ſein? Wollen Sie irdiſche Verhältniſſe für ihn nicht gelten laſſen?“
„O gewiß, gewiß!“ Daumer ſeufzte. Dann fuhr er fort: „Ich ſchmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts iſt eben das, was ich Caſpar erſparen wollte. Gerade das Freie, Freiſchwebende, Schickſalloſe war es ja, was mich ſo ſtark an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umſtände haben dieſen Menſchen mit Gaben bedacht, wie kein andrer Sterblicher ſich ihrer rühmen kann; und das ſoll nun alles verkümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebniſſen, die ja an ſich tragiſch genug ſein mögen, aber doch nichts Ungemeines an ſich haben.“
„Ich verſtehe, Sie wollen den myſtiſchen Nimbus nicht zerſtören,“ verſetzte der Bürgermeiſter mit etwas pedantiſcher Geringſchätzung. „Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenſchen als gegen das Unikum Caſpar Hauſer. Laſſen Sie ſich das ernſtlich geſagt ſein, lieber Profeſſor. Es erſcheinen heutzutage keine Engel mehr und wo Unrecht geſchehen iſt, muß Sühne ſein.“
Daumer zuckte die Achſeln. „Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caſpars tun?“ fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeiſter lächerlich erſchien. „Nur Erdenſchwere und Erdenſchmutz heften Sie ihm an. Schon jetzt erhebt ſich ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an ſeiner Sache verbittert wird. Es werden böſe Geſchichten zutage kommen.“
„Das ſollen ſie; wenn ſie nur zutage kommen,“ erwiderte Binder lebhaft. „Im übrigen tue jeder, was ſeines Amtes.“
Am nächſten Vormittag ſtellte ſich der Bürgermeiſter in Daumers Wohnung ein und ſie gingen mit Caſpar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüſſelbund und geleitete ſie hinüber.
Als ſie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor ſtanden, war es, als ob ſich Caſpars Geſicht plötzlich entſchleiere. Er reckte ſich auf, ſein Oberleib bog ſich nach vorn und er ſtammelte: „So eine Tür, genau ſo eine Tür.“
„Was meinſt du, Caſpar, was ſchwebt dir vor?“ fragte der Bürgermeiſter liebevoll.
Caſpar antwortete nicht. Mit geſenktem Auge und nachtwandleriſcher Langſamkeit ſchritt er durch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn vorangehen. Immer nach ein paar Schritten blieb er ſtehen und ſann. Seine Erſchütterung wuchs zuſehends, als er die breite Steintreppe hinaufſtieg. Oben blickte er ſich ſeufzend um; ſein Geſicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn ſeiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu ſprechen begann, ſah ihn Caſpar mit einem fernweilenden Blick an, liſpelte: „Dukatus, Dukatus“ und lauſchte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen.
Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildniſſe an den Wänden, er ſchaute durch die Flucht der offenen Säle, er ſtand in der Galerie und ſchloß die Augen, und endlich, auf eine leiſe Frage des Bürgermeiſters, wandte er ſich um und ſagte mit erſtickter Stimme, es ſei ihm ſo, als habe er einmal ein ſolches Haus gehabt, und er wiſſe nicht, was er davon denken ſolle.
Der Bürgermeiſter ſah Daumer ſchweigend an.
Nachmittags ſuchten ſie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinſchaft mit ihm den Bericht an den Präſidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch ſelbigen Tags zur Poſt gegeben.
Sonderbarerweiſe erfolgte darauf weder ein Beſcheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präſident das Schriftſtück erhalten habe. Der Brief mußte verloren gegangen oder geſtohlen worden ſein. Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß dieſer von nichts wiſſe. Unruhe und Beſtürzung bemächtigte ſich der drei Herren. „Sollte da ein unſichtbarer Arm im Spiel ſein wie bei jenem Zettel, den man mir ins Fenſter geworfen hat?“ meinte Daumer ängſtlich. Nachforſchungen bei der Poſt hatten kein Ergebnis, und ſo ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen ſicheren Boten dem Präſidenten perſönlich eingehändigt.
Feuerbach erwiderte in ſeiner kategoriſchen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle und ſich aus naheliegenden Gründen einer ſchriftlichen Meinungsäußerung enthalte. „Ich entnehme aus dem Geſundheitsatteſt des Amtsarztes, worin bei einem ſonſt befriedigenden Befund von Caſpars bleicher Geſichtsfarbe die Rede iſt, daß es dem jungen Menſchen an regelmäßiger Bewegung in freier Luft fehlt,“ ſchrieb er; „hier iſt Abhilfe dringend nötig. Man laſſe ihn reiten. Es iſt mir der Stallmeiſter von Rumpler dortſelbſt empfohlen worden. Hauſer ſoll dreimal wöchentlich eine Reitſtunde bei ihm nehmen, die Koſten ſoll der Stadtkommiſſär auf Rechnung ſetzen.“
Vielleicht waren es die Träume, die Caſpar blaß machten. Faſt jede Nacht befand er ſich in dem großen Haus. Die gewölbten Hallen waren von ſilbernem Licht durchflutet. Er ſtand vor der geſchloſſenen Tür und wartete, wartete ...
Endlich eines Nachts, die dämmernden Räume des großen Hauſes dehnten ſich ſchweigend und leer, tauchte vom unterſten Gang her eine ſchwebende Geſtalt auf. Caſpar dachte zuerſt, es ſei der Mann im weißen Mantel; aber als die Geſtalt näherkam, gewahrte er, daß es eine Frau war. Weiße Schleier umhüllten ſie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor. Caſpar blieb wie feſtgewurzelt ſtehen; ſein Herz tat ihm wehe, als hätte eine Fauſt danach gegriffen und es gepackt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen ſolchen Ausdruck des Kummers, wie er ihn noch an keinem Menſchen bemerkt. Je näher ſie kam, je furchtbarer ſchnürte ſein Herz ſich zuſammen; ernſt ſchritt ſie vorbei; ihre Lippen nannten ſeinen Namen, es war nicht der Name Caſpar, und doch wußte er, daß es ſein Name war oder daß ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denſelben Namen zu nennen, und als ſie ſchon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau ſeine Mutter war.
Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer kam, ſtürzte er ihm entgegen und rief: „Ich hab’ ſie geſehen, ich habe meine Mutter geſehen, ſie war es, ſie hat mit mir geſprochen!“
Daumer ſetzte ſich an den Tiſch und ſtützte den Kopf in die Hand. „Sieh mal, Caſpar,“ ſagte er nach einer Weile, „du darfſt dich ſolchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es bedrückt mich aufrichtig und ſchon lange. Es iſt, wie wenn jemand in einem Blumengarten luſtwandeln darf und, ſtatt freudigem Genuß ſich zu überlaſſen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Verſteh mich wohl, Caſpar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichteſt, alles zu erfahren, was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bedenke doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präſident und Herr Binder, dafür am Werke ſind. Du, Caſpar, ſollteſt vorwärts ſchauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Daſein, dort iſt das Glück. Jeder Menſch von Vernunft kann, was er will; tu mir die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umſonſt heißt es ja: Träume ſind Schäume.“
Caſpar war beſtürzt. Der Gedanke, daß in ſeinen Träumen keine Wahrheit ſein ſolle, wurde ihm zum erſtenmal entgegengehalten, aber zum erſtenmal war die eigne Gewißheit von einer Sache feſter als die Meinung ſeines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete ihm keine Genugtuung, ſondern Bedauern.