Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 4. Der Spiegel ſpricht Das Daumerſche Haus lag neben dem ſogenannten Annengärtlein auf der Inſel Schütt; es war ein altes Gebäude mit vielen Winkeln und halbfinſtern Kammern, doch erhielt Caſpar ein ziemlich geräumiges und wohleingerichtetes Zimmer gegen den Fluß hinaus. Er mußte ſogleich zu Bett gebracht werden. Es zeigten ſich jetzt mit einem Schlag die Folgen der jüngſtdurchlebten Zeit. Er war wieder ohne Sprache, ja bisweilen wie ohne Gefühl des Lebens. Auf den ungewohnten Kiſſen warf er ſich fiebernd herum. Wie jammervoll, ihn bei jedem Knacken der Dielen erſchaudern zu ſehen; auch das Geräuſch des Regens an den Fenſtern verſetzte ihn in aufgewühlte Bangnis. Er hörte die Schritte, die auf dem weiten Platz vor dem Haus verhallten, er vernahm mit Unruhe die metallenen Schläge aus einer fernen Schmiede, jeder Stimmenlärm brachte auf ſeiner eingeſchrumpften Haut ein Zeichen des Schmerzes hervor; und von Moment zu Moment vertauſchten ſeine Züge den Ausdruck der Erſchöpfung mit dem gepeinigter Wachſamkeit. Drei Tage lang wich Daumer kaum von ſeinem Bett. Dieſe Opferkraft und Hingebung erregte die Bewunderung der Seinen. „Er muß mir leben,“ ſagte er. Und Caſpar fing an zu leben. Vom dritten Tag ab beſſerte ſich ſein Zuſtand ſtetig und ſchnell. Als er am Morgen erwachte, lag ein beſinnendes Lächeln auf ſeinen Lippen. Daumer triumphierte. „Du tuſt ja, als ob du ſelbſt dem Kerker entronnen wärſt,“ meinte ſeine Schweſter, die nicht umhin konnte, an ſeiner Freude teilzunehmen. „Ja, und ich habe eine Welt zum Geſchenk erhalten,“ antwortete er lebhaft; „ſieh ihn nur an! Es iſt ein Menſchenfrühling.“ Am andern Tag durfte Caſpar das Bett verlaſſen. Daumer führte ihn in den Garten. Damit das grelle Tageslicht ſeinen Augen nicht ſchade, band er ihm einen grünen Papierſchirm um die Stirn. Späterhin wurden die Dämmerungszeit oder die Stunden bewölkten Himmels für dieſe Ausgänge vorgezogen. Es waren ja Reiſen, und nichts geſchah, was nicht zum Ereignis wurde. Welche Mühe, ihn ſehen, ihn das Geſehene nennen zu lehren. Er mußte erſt zu den Dingen Vertrauen gewinnen, und ehe nicht ihre Wirklichkeit ihm ſelbſtverſtändlich ward, machte ihn ihre unvermutete Nähe beſtürzt. Als er endlich die Höhe des Himmels und auf der Erde die Entfernung von Weg zu Weg begriff, wurde ſein Gang ein wenig leichter und ſein Schritt mutiger. Alles lag am Mut, alles lag daran, den Mut zu kräftigen. Das iſt die Luft, Caſpar; du kannſt ſie nicht greifen, aber ſie iſt da; wenn ſie ſich bewegt, wird ſie zum Wind, du brauchſt den Wind nicht zu fürchten. Was hinter der Nacht liegt, iſt geſtern; was über der nächſten Nacht liegt, iſt morgen. Von geſtern bis morgen vergeht Zeit, vergehen Stunden, Stunden ſind geteilte Zeit. Dies iſt ein Baum, dies iſt ein Strauch, hier Gras, hier Steine, dort Sand, da ſind Blätter, da Blüten, da Früchte_... Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs das Wort. Die Form wurde einleuchtend durch das unvergeßliche Wort. Caſpar ſchmeckt das Wort auf der Zunge, er ſpürt es bitter oder ſüß, es ſättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden. Auch hatten viele Worte Geſichter; oder ſie tönten wie Glockenſchläge aus der Dunkelheit; oder ſie ſtanden wie Flammen in einem Nebel. Es war ein langer Weg vom Ding bis zum Wort. Das Wort lief davon, man mußte nachlaufen, und hatte man es endlich erwiſcht, ſo war es eigentlich gar nichts und machte einen traurig. Gleichwohl führte derſelbe Weg auch zu den Menſchen; ja, es war, als ob die Menſchen hinter einem Gitter von Worten ſtünden, das ihre Züge fremd und ſchrecklich machte; wenn man aber das Gitter zerriß oder dahinter kam, waren ſie ſchön. Hatte es am Morgen neu geklungen, zu ſagen: die Blume, am Mittag war es ſchon vertraut, am Abend war es ſchon alt. „Dies Herz, dies Hirn, zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange Zeiten, treibt wie vertrockneter und endlich befeuchteter Humus Sprößlinge, Blüten und Früchte in einer Nacht,“ notierte der fleißige Daumer; „was dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehmbar geworden, erſcheint dieſem Auge friſch wie aus Gottes Hand. Und wo die Welt verſchloſſen iſt und ihre Geheimniſſe beginnen, da ſteht er noch ſeltſam drängend und fragt ſein zuverſichtliches Warum. Nach jedem Schall und jedem Schein tappt dies zweifelnde, erſtaunte, hungrige, ehrfurchtsloſe Warum.“ Es iſt nicht zu leugnen, Daumer war oft erſchreckt durch das Gefühl eignen Ungenügens. Heißt das noch lehren? grübelte er, heißt das noch Gärtner ſein, wenn das wilde Wachstum ſich dem Pfleger entwindet, das maßlos wuchernde Getriebe keine Grenze achtet? Wie ſoll das enden? Zweifellos bin ich hier einem ungewöhnlichen Phänomen auf der Spur und meine teuern Zeitgenoſſen werden ſich herbeilaſſen müſſen, ein wenig an Wunder zu glauben. Noch immer war es die liebſte Vorſtellung Caſpars, einſt heimkehren zu dürfen; „erſt lernen, dann heim,“ ſagte er mit dem Ausdruck unbeſiegbarer Entſchiedenheit. „Aber du biſt ja zu Hauſe, hier bei uns biſt du zu Hauſe,“ wandte Daumer ein. Aber Caſpar ſchüttelte den Kopf. Bisweilen ſtand er am Zaun und ſah in den Nachbargarten hinüber, wo Kinder ſpielten, deren Weſen er mit komiſchem Befremden ſtudierte. „So kleine Menſchen,“ ſagte er zu Daumer, der ihn einmal dabei überraſchte, „ſo kleine Menſchen.“ Seine Stimme klang traurig und höchſt verwundert. Daumer unterdrückte ein Lächeln und während ſie zuſammen ins Haus gingen, ſuchte er ihm klarzumachen, daß jeder Menſch einmal ſo klein geweſen, auch Caſpar ſelbſt. Caſpar wollte das durchaus nicht zugeben. „O nein, o nein,“ rief er aus, „Caſpar nicht, Caſpar immer ſo geweſen wie jetzt, Caſpar nie ſo kurze Arme und Beine gehabt, o nein!“ Dennoch ſei dem ſo, verſicherte Daumer; nicht allein, daß er klein geweſen, ſondern er wachſe ja noch täglich, verändere ſich täglich, ſei heute ein ganz andrer als der Hauſer auf dem Turm, und nach vielen Jahren werde er alt werden, ſeine Haare würden weiß ſein, die Haut voller Runzeln. Da wurde Caſpar blaß vor Furcht; er fing an zu ſchluchzen und ſtotterte, das ſei nicht möglich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, daß es nicht geſchehe. Daumer flüſterte ſeiner Schweſter etwas zu, dieſe ging in den Garten und brachte nach kurzer Weile eine Roſenknoſpe, eine aufgeblühte und eine verwelkte Roſe mit herauf. Caſpar ſtreckte die Hand nach der vollblühenden aus, wandte ſich aber gleich mit Ekel ab, denn ſo ſehr er die rote Farbe vor allen andern liebte, der heftige Geruch der Blume war ihm unangenehm. Als ihm Daumer den Unterſchied der Lebensalter an Knoſpe und Blüte erklären wollte, ſagte Caſpar: „Das haſt du doch ſelbſt gemacht, es iſt ja tot, es hat keine Augen und keine Beine.“ „Ich hab’ es nicht gemacht,“ entgegnete Daumer, „es iſt lebendig, es iſt gewachſen; alles Lebendige iſt gewachſen.“ „Alles Lebendige gewachſen,“ wiederholte Caſpar faſt atemlos, indem er nach jedem Wort pauſierte. Hier drohte Verwirrung. Auch die Bäume im Garten ſeien lebendig, ſagte man ihm, und er getraute ſich nicht, den Bäumen zu nahen, das Rauſchen ihrer Kronen machte ihn beſtürzt. Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die vielen Blätter ausgeſchnitten habe und warum? warum ſo viele? Auch ſie ſeien gewachſen, wurde geantwortet. Aber mitten auf dem Raſen ſtand eine alte Sandſteinſtatue, die ſollte tot ſein, trotzdem ſie ausſah wie ein Menſch. Caſpar konnte ſtundenlang die Blicke nicht davon wenden, Verwunderung machte ihn ſtumm. „Warum hat es denn ein Geſicht?“ fragte er endlich, „warum iſt es ſo weiß und ſo ſchmutzig? Warum ſteht es immer und wird nicht müde?“ Als ſeine Furcht beſiegt war, ging er heran und wagte die Figur zu betaſten, denn ohne zu taſten, glaubte er nicht dem, was er ſah. Er hatte den heftigen Wunſch, das Ding auseinander nehmen zu dürfen, um zu wiſſen, was innen war. Wie viel war überall innen, wie viel ſteckte überall dahinter! Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein Stück des abſchüſſigen Weges entlang. Daumer hob ihn auf, und Caſpar fragte, ob der Apfel müde ſei, weil er ſo ſchnell gelaufen. Mit Grauen wandte er ſich ab, als Daumer ein Meſſer nahm und die Frucht entzweiſchnitt. Da ward ein Wurm ſichtbar und krümmte ſeinen dünnen Leib gegen das Licht. „Er war bis jetzt im Finſtern gefangen wie du im Kerker,“ ſagte Daumer. Das Wort machte Caſpar nachdenklich; es machte ihn nachdenklich und mißtrauiſch. Wie vieles war da im Kerker, wovon er nicht wußte! Alles Innen war ein Kerker. Und in wunderlicher Verworrenheit knüpfte ſich an dieſen Gedanken die Erinnerung an den Schlag, den er damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt, wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In allen fremden Dingen lauerte der Schlag, in allen unbekannten wohnte Gefahr. Eine gewiſſe ſtrahlende Heiterkeit, die allmählich Caſpars Weſen entſtrömte und die das Entzücken ſeiner Umgebung bildete, war daher ſtets an jene erwartungsvolle, ahnungsvolle Bangigkeit gebunden. Nach regneriſchen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend, gewahrte Caſpar einen Regenbogen am Himmel. Er war ſtarr vor Freude. Wer das gemacht habe, ſtammelte er endlich. Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne ſei doch kein Menſch. Die natürlichen Erklärungen ließen Daumer im Stich, er mußte ſich auf Gott berufen. „Gott iſt der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur,“ ſagte er. Caſpar ſchwieg. Der Name Gottes klang ihm ſeltſam düſter. Das Bild, das er dazu ſuchte, glich dem Du, ſah aus wie der Du, als die Decke des Gefängniſſes auf ſeinen Schultern ruhte, war unheimlich verborgen wie der Du, als er den Schlag geführt, weil Caſpar zu laut geſprochen. Wie geheimnisvoll war alles, was zwiſchen Morgen und Abend geſchah! Das Regen und Raunen der Welt, das Fließen des Waſſers im Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenſtände hoch in der Luft, die man Wolken nannte, das Vorübergehen und Nichtwiederkommen undeutbarer Ereigniſſe, und vor allem das Flüchten der Menſchen, ihre ſchmerzlichen Gebärden, ihr lautes Reden, ihr ſonderbares Gelächter. Wie viel war da zu erfahren und zu lernen! Es ſchnürte Daumer das Herz zuſammen, wenn er den Jüngling in tiefem Nachdenken ſah. Caſpar ſchien dann wie erfroren, er hockte zuſammengekauert da, ſeine Hände waren geballt und er hörte und ſpürte nicht mehr, was um ihn vorging. Ja, es war zu ſolchen Zeiten eine vollſtändige Dunkelheit um Caſpar, und nur, wenn er lange genug verſunken war, hüpfte aus der Tiefe etwas wie ein Feuerfunken, und in der Bruſt begann eine undeutlich murmelnde Stimme zu ſprechen. Wenn der Funken wieder verloſch, tat ſich die äußere Welt wieder kund, aber eine ſchwermütige Unzufriedenheit hatte ſich Caſpars bemächtigt. „Wir müſſen einmal mit ihm hinaus aufs Land,“ ſagte Anna Daumer eines Tages, als der Bruder mit ihr darüber geſprochen. „Er braucht Zerſtreuung.“ „Er braucht Zerſtreuung,“ gab Daumer lächelnd zu, „er iſt zu geſammelt, das ganze Weltall laſtet noch auf ſeinem Gemüt.“ „Da es ſein erſter Spaziergang ſein wird, wäre es gut, die Sache möglichſt ſtill zu unternehmen, ſonſt ſind wieder alle Neugierigen bei der Hand,“ meinte die alte Frau Daumer. „Sie ſchwatzen ohnehin genug über ihn und über uns.“ Daumer nickte. Er wünſchte nur, daß Herr von Tucher mit von der Partie ſei. Am erſten Feiertag im September fand der Ausflug ſtatt. Es war ſchon fünf Uhr nachmittags, als ſie vom Haus aufbrachen, und da ſie auf Caſpars langſame Gangart Rückſicht nehmen mußten, gelangten ſie erſt ſpät ins Freie. Die begegnenden Leute blieben ſtehen, um der Geſellſchaft nachzuſchauen, und oft hörte man die ſtaunenden oder ſpöttiſchen Worte: „Das iſt ja der Caſpar Hauſer! Ei, der Findling! Wie fein er’s treibt, wie nobel!“ Denn Caſpar trug ein neues blaues Fräcklein, ein modiſches Gilet, ſeine Beine ſtaken in weißſeidenen Strümpfen und die Schuhe hatten ſilberne Schnallen. Er ging zwiſchen den beiden Frauen und hatte ſorgſam acht auf den Weg, der nicht mehr wie ehedem vor ſeinen Blicken auf- und abwärts ſchwankte. Die Männer ſchritten in gemeſſener Entfernung hinterdrein. Plötzlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf blieb Caſpar ſtehen und ſah ſich fragend um. Erfreut und in liebevollem Ton rief ihm Daumer zu, weiterzugehen. Nach ein paar hundert Schritten hob er wieder den Arm, und abermals blieb Caſpar ſtehen und blickte ſich um. „Was iſt das? Was bedeutet das?“ fragte Herr von Tucher erſtaunt. „Darüber gibt es keine Erklärung,“ antwortete Daumer voll ſtillen Triumphes. „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen.“ „Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele ſein,“ meinte Herr von Tucher ein bißchen ironiſch. „Hexerei? Nein. Aber wie ſagt Hamlet: Es gibt mehr Dinge zwiſchen Himmel und Erde_—“ „Alſo ſind Sie ſchon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt?“ unterbrach Herr von Tucher noch immer mit Ironie. „Ich für meinen Teil ſchlage mich zu den Skeptikern. Wir werden ja ſehen.“ „Wir werden ſehen,“ wiederholte Daumer fröhlich. Nach oftmaligem kurzem Raſten ward am Rand einer Wieſe Halt gemacht, und alle ließen ſich im Gras nieder. Caſpar ſchlief ſogleich ein; Anna breitete ein Tuch über ſein Geſicht und packte ſodann einige mitgebrachte Eßwaren aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle vier zu eſſen. Ein natürliches Schweigen war es nicht: der lieblich vergehende Tag, das ſommerliche Blühen forderten eher zu heiteren Geſprächen auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann, jeder ſpürte die Gegenwart des Jünglings jetzt ſtärker als vorher, und es hatte bei einigen gleichgültigen Redensarten ſein Bewenden, die leiſer klangen als ſelbſt die Atemzüge des Schlummernden. Weit und breit war kein Menſch zu ſehen, da man abſichtlich einen ſelten begangenen Weg gewählt hatte. Die Sonne war am Sinken, als Caſpar erwachte und, ſich aufrichtend, die Freunde der Reihe nach dankbar und etwas beſchämt anblickte. „Sieh nur hinüber, Caſpar, ſieh den roten Feuerball,“ ſagte Daumer; „haſt du die Sonne ſchon einmal ſo groß geſehen?“ Caſpar ſchaute hin. Es war ein ſchöner Anblick: die purpurne Scheibe rollte herab, als zerſchnitte ſie die Erde am Rand des Himmels; ein Meer von Scharlachglut ſtrömte ihr nach, die Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeichnete einen Wald und roſige Schatten bauſchten langſam über die Ebene. Nur noch wenige Minuten, und ſchon zuckte die Dämmerung durch den ſanften Karmin des Nebels, in den die Ferne getaucht war, einen Augenblick lang bebte das Gelände, und grünkriſtallene Strahlenbündel ſchoſſen über den Weſten, der verſunkenen Sonne nach. Ein geiſterhaftes Lächeln glitt über die Züge der beiden Männer und der zwei Frauen, als ſie Caſpar mit einer Gebärde ſtummer Angſt hinübergreifen ſahen gegen den Horizont. Daumer näherte ſich ihm und ergriff ſeine Hand, die eiskalt geworden war. Caſpars Geſicht wandte ſich erzitternd ihm zu, voller Fragen, voller Furcht, und endlich bewegten ſich die Lippen und er murmelte ſchüchtern: „Wo geht ſie hin, die Sonne? Geht ſie ganz fort?“ Daumer vermochte nicht gleich zu antworten. So mag Adam vor ſeiner erſten Nacht im Paradies gezittert haben, dachte er, und es geſchah nicht ohne Schauder, nicht ohne ſeltſame Ungewißheit, daß er den Jüngling tröſtete, ihn der Wiederkunft der Sonne verſicherte. „Iſt dort Gott?“ fragte Caſpar hauchend, „iſt die Sonne Gott?“ Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum und erwiderte: „Alles iſt Gott.“ Indeſſen mochte ein ſolches Diktum pantheiſtiſcher Philoſophie für die Auffaſſungsgabe des Jünglings ein wenig zu verwickelt ſein. Er ſchüttelte ungläubig den Kopf, dann ſagte er mit dem Ausdruck dumpf-abgöttiſcher Verehrung: „Caſpar liebt die Sonne.“ Auf dem Heimweg war er ganz ſtumm; auch die übrigen, ſelbſt die immer wohlgelaunte Anna, waren in einer wunderlich gedrückten Stimmung, als wären ſie nie zuvor durch einen ſpätſommerlichen Abend gewandert, oder als fühlten ſie den Auftritt voraus, der ihnen das Beiſammenſein dieſer Stunden unvergeßlich machen ſollte. Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna ſtehen und deutete mit einem Zuruf an alle in das herrlich geſtirnte Firmament. Auch Caſpar blickte hinauf, er erſtaunte maßlos. Kleine, jähe, wirre Laute eines leidenſchaftlichen Entzückens kamen aus ſeinem Mund. „Sterne, Sterne,“ ſtammelte er, das gehörte Wort von Annas Lippen raubend. Er preßte die Hände gegen die Bruſt, und ein unbeſchreiblich ſeliges Lächeln verſchönte ſeine Züge. Er konnte ſich nicht ſattſehen; immer wieder kehrte er zum Anſchauen des Glanzes zurück, und aus ſeinen ſeufzerartig abgebrochenen Worten war vernehmbar, daß er die Sterngruppen und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte. Er fragte mit einem Ton des Außerſichſeins, wer die vielen ſchönen Lichter da hinaufbringe, anzünde und wieder verlöſche. Daumer antwortete ihm, daß ſie beſtändig leuchteten, jedoch nicht immer geſehen würden; da fragte er, wer ſie zuerſt hinaufgeſetzt, daß ſie immerfort brennten. Plötzlich fiel er in tiefe Grübelei. Er blieb eine Weile mit geſenktem Kopf ſtehen und ſah und hörte nichts. Als er wieder zu ſich kam, hatte ſich ſeine Freude in Schwermut verwandelt, er ließ ſich auf den Raſen nieder und brach in langes, nicht zu ſtillendes Weinen aus. Es war weit über neun Uhr, als ſie endlich nach Haus gelangten. Während Caſpar mit den Frauen hinaufging, nahm Herr von Tucher am Gartentor von Daumer Abſchied. „Was mag in ihm vorgegangen ſein?“ meinte er. Und da Daumer ſchwieg, fuhr er ſinnend fort: „Vielleicht ſpürt er ſchon die Unwiederbringlichkeit der Jahre; vielleicht zeigt ihm die Vergangenheit ſchon ihre wahre Geſtalt.“ „Ohne Zweifel war es ihm ein Schmerz, das beglänzte Gewölbe zu ſchauen,“ antwortete Daumer; „nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel erheben können. Ihm zeigt die Natur kein freundliches Antlitz, und von ihrer ſogenannten Güte hat er wenig erfahren.“ Eine Zeitlang ſchwiegen ſie, dann ſagte Daumer: „Ich habe für morgen nachmittag einige Freunde und Bekannte zu mir gebeten. Es handelt ſich um eine Reihe von höchſt intereſſanten Erfahrungen und Beobachtungen, die ich an Caſpar gemacht habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie dabei ſein wollten.“ Herr von Tucher verſprach zu kommen. Zu ſeiner Verwunderung ward er, als er am andern Tag etwas verſpätet erſchien, in eine vollſtändig verfinſterte Kammer geführt. Die Produktion hatte ſchon begonnen. Von irgendeinem Winkel her vernahm man Caſpars eintönige Stimme leſend. „Es iſt eine Seite aus der Bibel, die der Herr Stadtbibliothekar aufgeſchlagen hat,“ flüſterte Daumer Herrn von Tucher zu. Die Dunkelheit war ſo groß, daß die Zuhörer einander nicht gewahren konnten, trotzdem las Caſpar unbeirrt, als ob ſeine Augen ſelbſt eine Quelle des Lichtes ſeien. Man war erſtaunt. Man wurde es noch mehr, als Caſpar in der gleichen Dunkelheit die Farben verſchiedener Gegenſtände unterſcheiden konnte, die bald der eine, bald der andre von den Anweſenden — um jeden Verdacht einer Verabredung oder Vorbereitung auszuſchließen — ihm auf eine Entfernung von fünf oder ſechs Schritten vorhielt. „Ich will jetzt die Weinprobe machen,“ ſagte Daumer und öffnete die Läden. Caſpar preßte die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit, bis er das Licht ertragen konnte. Jemand brachte Wein im undurchſichtigen Glas, und Caſpar roch es nicht nur ſogleich, ſondern es zeigten ſich auch die Merkmale einer leichten Trunkenheit: ſeine Blicke flimmerten, ſein Mund verzog ſich ſchief. Konnte das mit rechten Dingen zugehen? War ſolche Empfindlichkeit denkbar oder möglich? Man wiederholte den Verſuch zweimal, dreimal, und ſiehe, die Wirkung verſtärkte ſich. Beim viertenmal wurde draußen Waſſer ins Glas gegoſſen, und nun ſagte Caſpar, er ſpüre nichts. Doch viel wunderbarer war zu beobachten, wie er ſich gegen Metalle verhielt. Ein Herr verſteckte, während Caſpar das Zimmer verlaſſen hatte, ein Stück Kupferblech. Caſpar ward hereingerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie er zu dem Verſteck förmlich hingezogen wurde; es ſah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fleiſch erſchnuppert. Er fand es, man klatſchte Beifall, man achtete nicht darauf, daß er blaß war und mit kühlem Schweiß bedeckt. Nur Herr von Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben. Es hatte natürlich nicht bei dieſem einen Mal ſein Bewenden. Die Sache redete ſich ſchnell herum, und das Haus wurde zum Muſeum. Alles, was Namen und Anſehen in der Stadt hatte, lief herzu, und Caſpar mußte immer bereit ſein, immer tun, was man von ihm haben wollte. Wenn er müde war, durfte er ſchlafen, aber wenn er ſchlief, unterſuchten ſie die Feſtigkeit ſeines Schlafes, und Daumer ſchwamm in Glück, wenn der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine derartige Verſteinerung des Schlummers habe er nie für möglich gehalten. Selbſt gewiſſe krankhafte Zuſtände ſeines Körpers gaben Daumer Anlaß zur Vorführung oder wenigſtens zum Studium. Er ſuchte durch hypnotiſche Berührungen und mesmeriſtiſche Streichungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theorien, die mit der Seele des Menſchen hantierten wie ein Alchimiſt mit dem wohlbekannten Inhalt einer Retorte. Oder wenn auch dies nichts half, wandte er Heilmittel von einer beſonderen Kategorie an, erprobte die Wirkungen von Arnika und Akonitum und Nux vomica; immer befliſſen, immer erfüllt von einer Miſſion, immer mit dem Notizenzettel in der Hand, immer in rührender Obſorge. Was für ſeriöſe Spiele! Welch ein Eifer, zu beweiſen, zu deuten, das Sonnenklare dunkel zu machen, das Einfache zu verwirren! Das Publikum gab ſich redliche Mühe im Glauben, nach allen Windrichtungen wurden die anſcheinenden Zaubereien auspoſaunt — nicht zum Vorteil unſers Caſpar, keineswegs zu ſeinem Heil, wie ſich bald herausſtellen ſollte_—, aber leider gibt es überall verwerfliche Kreaturen, die noch zweifeln würden und wenn man ihnen die Skepſis überm Eſſenfeuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten ſie jedesmal etwas Neues vorgeſetzt bekommen, ſchraubten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß der Wundermann nur in ſeinen eingelernten Paradeſtückchen exzellierte, in denen er allerdings, ſo drückten ſie ſich aus, etwas von der Fertigkeit eines dreſſierten Äffchens an den Tag legte. Mit einem Wort, das Programm wurde ein wenig einförmig, höchſtens Neulinge konnten ihm noch Geſchmack abgewinnen. Die andern erblickten in Daumer etwas wie einen Zirkusdirektor oder einen Literaten, der ſeine Freunde mit der beſtändig wiederholten Vorleſung eines mittelmäßigen Poems langweilt, während über Caſpar ſich zu amüſieren ſie immerhin noch genug Gelegenheit fanden. Oder war es nicht amüſant, wenn er zum Beiſpiel einen hohen Offizier tadelte, daß ſein Rockkragen beſtäubt war, wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdirektors berührte und mitleidig-verwundert ſagte: „Weiße Haare, weiße Haare?“ Wenn er während der Anweſenheit einer vornehmen Standeſperſon nur darauf achtete, wie dieſe den Stock zwiſchen den Fingern baumeln ließ und es auch ſo machen wollte, wenn er ſeinen Ekel gegen den ſchwarzen Bart des Magiſtratsrats Behold äußerte oder ſich weigerte, einer Dame die Hand zu küſſen, indem er ſagte, man müſſe ja nicht hineinbeißen? Durch ſolche kleine Zwiſchenfälle hielten ſie ſich für belohnt. Wenn man lachen konnte, war alles gut. Hingegen Daumer ärgerte ſich darüber und ſuchte ihm die Pflichten der Höflichkeit begreiflich zu machen. „Du vergißt ſtets, die Ankömmlinge zu begrüßen,“ ſagte Daumer. In der Tat blickte Caſpar, in ein Buch oder Spiel verſenkt, erſt empor, wenn man ihn anrief, bisweilen, wenn er ein bekanntes oder liebgewordenes Geſicht ſah, mit einem berückend ſchelmiſchen Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern. Mochten noch ſo wichtige Perſonen zugegen ſein, er verließ nie ſeinen Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beſchäftigt geweſen, ſorgfältig in Ordnung zu bringen und mit einem kleinen Beſen den Tiſch von Papierſchnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man mußte warten, bis er fertig war. Er war ohne Schüchternheit. Alle Menſchen ſchienen ihm gut, faſt alle hielt er für ſchön. Er fand es ſelbſtverſtändlich, wenn ſich irgendein Herr vor ihn hinſtellte und ihm aus einem bereitgehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihenfolge Namen für Namen, Zahl für Zahl, und waren es hundert, wiederholen. Am Erſtaunen der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes geleiſtet, aber kein Schimmer von Eitelkeit zog über ſein Geſicht, nur ein wenig traurig wurde es, wenn immer dasſelbe kam, wenn ſie nie zufrieden ſchienen. Er konnte es nicht verſtehen, daß ihnen wunderbar war, was ihm ſo natürlich war. Aber was ihm wunderbar war, darum kümmerte ſich keiner. Er vermochte es nicht zu ſagen, es wurzelte im verborgenſten Gefühl. Es war eine kaum geſpürte Frage, am Morgen, beim Erwachen etwa, ein haſtiges, ſtummes, verzweifeltes Suchen, wofür es keine Bezeichnung gab. Es lag weit zurück; es war mit ihm verknüpft und er beſaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er wußte es nicht. Er taſtete an ſich herum, er fand ſich ſelber kaum. Er ſagte ‚Caſpar‘ zu ſich ſelbſt, aber das dort in der Ferne hörte nicht auf dieſen Namen. So band ſich die Erwartung an ein Äußeres; wenn die Uhr im andern Zimmer tönte, welch ſonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer ſich auflöſen, zu Luft vergehen müßte. Die eben vergangene Nacht war voll ungreifbarer Vorgänge geweſen. Hatte es am Fenſter gepocht? Nein. War jemand dageweſen, hatte geſprochen, gerufen, gedroht? Nein. Es war etwas geſchehen, doch Caſpar hatte nichts damit zu tun. Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann klar. Lernen, wie alles beſtand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch ſpürte, das Unbekannte lernen, erhaſchen, was ſo fern, wiſſen, was ſo dunkel war, die Menſchen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend. Er begann Ungeduld zu zeigen, wenn er von den fremden Beſuchern ſich immer wieder empfindlich geſtört fand, denn jetzt kamen die Leute ſchon von auswärts, weil allenthalben im Land über Caſpar Hauſer geredet und geſchrieben wurde. Auch Daumer konnte ſich der Anſprüche, die an ihn geſtellt wurden, kaum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und es gab Stunden, wo er bereute, Caſpar der Welt preisgegeben zu haben. Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, ſich ſeiner beſſeren Würde erinnerte und dieſem ſeltſam Leibeigenen, Seeleneigenen ſich tiefer anſchloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradieſiſchen Bildes gewahr wurde: Caſpar im Garten, auf der Bank ſitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreiſe um ihn, Tauben picken vor ſeinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf ſeiner Schulter, die Hauskatze ſchnurrt an ſeinem Arm. In ihm iſt die Menſchheit frei von Sünde, ſagte ſich Daumer bei dieſem Anblick, und was wäre ſonſt zu leiſten, als einen ſolchen Zuſtand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtſeln, was zu verkünden? Eines andern Tages erhob ſich im Nachbargarten großer Lärm. Ein biſſiger Hund hatte ſeine Kette zerriſſen und raſte, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, ſchlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleiſch und ſtürzte gegen den Zaun des Daumerſchen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier ſchlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Geſellſchaft, die unter der Linde ſaß: Daumer ſelbſt, deſſen Mutter, der Bürgermeiſter Binder und Caſpar. Alle ſtanden ängſtlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal ſtehen, ſchnupperte, trabte auf Caſpar zu, der bleich und ſtille ſaß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewiſſen Blick ſah es ihn an, voll Ergebenheit faſt, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denſelben ungewiſſen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caſpar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum. Man erzählte ſich, daß Daumer nach dieſem Auftritt geweint habe. Zwei Tage ſpäter, an einem regneriſchen Oktoberabend, war es, daß ſich Daumer mit ſeiner Mutter und Caſpar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame ſaß ſtrickend im Lehnſtuhl am offenen Fenſter, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glaſermeiſter brachte einen großen Wandſpiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte ſich wieder. Kaum war er draußen, ſo fragte Daumer verwundert, warum ſie den Spiegel nicht gleich an ſeinen Platz habe hängen laſſen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erſpart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer beſaß nicht genug Humor für derlei halbernſte Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, ſie widerſprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er ſprach mit ſeiner ſanfteſten Stimme zwiſchen die geſchloſſenen Zähne hindurch. Caſpar, der es nicht ſehen konnte, wenn Daumers Geſicht unfreundlich wurde, legte den Arm um deſſen Schulter und ſuchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer ſchlug die Augen nieder, ſchwieg eine Weile und ſagte dann, völlig beſchämt: „Geh hin zur Mutter, Caſpar, und ſag ihr, daß ich im Unrecht bin.“ Caſpar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und ſagte: „Ich bin im Unrecht.“ Da lachte Daumer. „Nicht du, Caſpar! Ich!“ rief er und deutete auf ſeine Bruſt. „Wenn Caſpar im Unrecht iſt, darf er ſagen: ich. Ich ſage zu dir: du, aber du ſagſt doch zu dir: ich. Verſtanden?“ Caſpars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig ſchmeckender Trank. Es nahten ſich ihm viele Hunderte von Geſtalten, es nahte ſich eine ganze Stadt voll Menſchen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten ſich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne ſelbſt, und alle miteinander ſagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich. Er faßte ſich mit flachen Händen an die Bruſt und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: ſein Leib, eine Wand zwiſchen Innen und Außen, eine Mauer zwiſchen Ich und Du! In demſelben Augenblick tauchte aus dem Spiegel, dem gegenüber er ſtand, ſein eignes Bild empor. Ei, dachte er ein wenig beſtürzt, wer iſt das? Natürlich war er ſchon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber ſein von den vielen Dingen der vielgeſichtigen Welt geblendeter Blick war mitvorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte ſich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden. Jetzt war ſein Auge reif für dieſe Viſion. Er ſah hin. „Caſpar,“ liſpelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Caſpars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gekräuſelt waren. Nähertretend, ſchaute er in ſpieleriſch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts. Dann ſtellte er ſich wieder davor, und nun ſchien ihm, als ob hinter ſeinem Bild im Spiegel ſich das Licht zerteile und als ob ein langer, langer Pfad nach rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne ſtand noch ein Caſpar, noch ein Ich, das hatte zugeſchloſſene Augen und ſah aus, als wiſſe es etwas, was der Caſpar hier im Zimmer nicht wußte. Daumer, gewohnt, das Betragen des Jünglings zu beobachten, lauerte geſpannt herüber. Da — ein ſeltſames Geräuſch; es ſurrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tiſch zu Boden. Es war ein Stück Papier, das von draußen hereingeflogen war. Frau Daumer hob es auf; es war wie ein Brief zuſammengefaltet. Unſchlüſſig drehte ſie es zwiſchen den Fingern und reichte es dem Sohn. Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geſchriebene Worte: „Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde.“ Frau Daumer hatte ſich erhoben und las mit; ein Fröſteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er ſchweigend auf den Zettel ſtarrte, hatte das Gefühl, als ſei vor ſeinen Füßen ein Schwert, die Spitze nach oben, aus der Erde gewachſen. Caſpar hatte von dem Vorgang nicht das mindeſte wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geiſteſabweſend an den beiden vorüber zum Fenſter. Dort ſtand er beſinnend, beugte ſich beſinnend vor, immer weiter, völlig ſelbſtvergeſſen, ganz vom Willen des Suchens erfüllt, bis die Bruſt auf dem Sims lag und ſeine Stirn in die Nacht hinaus tauchte. 5. Caſpar träumt