Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis Profeſſor Daumer einen ſo vollſtändigen Einblick in die Vergangenheit des Jünglings gewonnen hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, greifbar, hatte Ähnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräbers. Was anfangs ein Fiebertraum geſchienen, beſaß nun die Züge des Lebens.
Daumer verfehlte nicht, der Behörde den Sachverhalt in einer gewiſſenhaften Niederſchrift vorzulegen. Die Folge davon war, daß ſich der Magiſtrat entſchloß, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlaſſen und in eine vertrautere Beziehung zu dem Unglücklichen zu treten. Die auffälligen Beſonderheiten ſeines Weſens ſollten noch einmal überprüft werden, hieß es in einer der gerichtlichen Noten, deshalb wurden Ärzte, Gelehrte, Polizeibeamte, ſcharfſinnige Juriſten, kurz unzählige Perſonen, die an ſeinem Schickſal freien Anteil nahmen, zu ihm auf den Turm geſchickt. Es war ein endloſes Schnüffeln und Debattieren, Zweifeln und Staunen, doch die verſchiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die bloße Kraft des Augenſcheins mußte den Daumerſchen Bericht beſtätigen.
Wenige Tage ſpäter, gegen Anfang Juli, veröffentlichte der Bürgermeiſter einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Zunächſt wurde darin das Erſcheinen Caſpar Hauſers geſchildert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichſter Ausführlichkeit wiedergegeben war, beſchrieb der Verfaſſer dieſen ſelbſt. Er ſprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlöſung, mit Innigkeit ſeines Unterdrückers gedenke; von ſeiner rührenden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von ſeiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten, die mit der Ahnung deſſen verbunden ſei, was böſe iſt, ferner von ſeiner außerordentlichen Lernbegierde.
„Alle dieſe Umſtände,“ fuhr der beredſame Erlaß fort, „geben in demſelben Maß, in dem ſie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen, die Überzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen des Geiſtes und des Herzens ausgeſtattet iſt, und berechtigen zu dem Verdacht, daß ſich an ſeine Kerkergefangenſchaft ein ſchweres Verbrechen knüpft, wodurch er ſeiner Eltern, ſeiner Freiheit, ſeines Vermögens, vielleicht ſogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der ſchönſten Freuden der Kindheit und höchſten Güter des Lebens verluſtig geworden iſt.“
Eine kühne und folgenſchwere Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantiſchen Geiſt als der behördlichen Vorſicht eines hohen Bürgermeiſteramtes zur Ehre gereichte!
„Zudem beweiſen mancherlei Anzeichen,“ hieß es weiter, „daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo der Jüngling der Sprache ſchon einmal mächtig geweſen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finſterer Nacht aus ſeinem Weſen hervorleuchtet. Es ergeht daher an die Juſtiz-, Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menſchliches Herz im Buſen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbedeutendſten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben. Und nicht etwa deswegen, um Caſpar Hauſer zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorſehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das ſie ohne gültigen Beweis der Anſprüche andrer nicht abtreten wird, ſondern nur, um die Übeltat zu entdecken und den Böſewicht ſamt ſeinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.“
Wahrſcheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifeſt geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten. Zunächſt lief eine Menge unſinniger und verleumderiſcher Bezichtigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in ariſtokratiſchen Kreiſen dem Gerede ausgeſetzt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterſchiebung waren nach Anſicht des gemeinen Volks Verbrechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen.
Schlimmer war es, daß die magiſtratiſche Bekanntmachung dem Appellhof des Rezatkreiſes auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgendein grimmiger Hofrat am ſelben Gerichtshof erließ allſogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreisregierung in Ansbach, worin erſtlich die Publikation des Nürnberger Bürgermeiſters als vorſchriftswidrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, worin drittens der lebhafte Tadel darüber ausgedrückt war, daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umſtände eine Kriminalunterſuchung wenn auch nicht vereitelt, ſo doch ſehr erſchwert worden ſei. Der ergrimmte Hofrat erſuchte daher die Regierung, den Magiſtrat zu ſtrenger Rechenſchaft zu ziehen und zu befehlen, daß die den Fall behandelnden Polizeiakten unverzüglich anher zu ſenden ſeien.
Die Regierung ließ ſich das nicht zweimal ſagen. Sie ſendete ein Reskript an den Stadtkommiſſär von Nürnberg und äußerte ſich dahin, daß die erzählte Lebensbeſchreibung des Findlings ſo viele grobe Unwahrſcheinlichkeiten enthalte, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täuſchung nicht abzuweiſen ſei. Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Exemplare des „Intelligenzblattes“ und des „Friedens- und Kriegskuriers“, in welchen Zeitungen der Aufruf erſchienen war, beſchlagnahmt. Dies wurde dem Appellhof ordnungsgemäß mitgeteilt und die Erwägung daran geknüpft, ob die ſtrafrechtliche Verfolgung des Häftlings einzuleiten ſei oder nicht.
Den Magiſtratsherren fuhr ein heilloſer Schrecken in die Glieder. Schleunigſt ließen ſie die Aktenfaſzikel zuſammenpacken und ſchickten ſie mit Eilpoſt nach Ansbach hinüber. Vielleicht wähnten ſie, daß nun alles gut ſei, aber der grimme Hofrat dortſelbſt erhob alsbald wieder ſeine Stimme. „Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugniſſe über ihn ſind aktenmäßig nicht einwandfrei,“ zeterte er; „es ſind keineswegs alle Perſonen, die zuerſt mit ihm in Berührung getreten ſind, polizeilich vernommen worden; ferner hätte der Profeſſor Daumer, um der öffentlichen Bekanntmachung des Magiſtrats eine rechtliche Baſis zu geben, ſeine Geſpräche mit dem Findling zu den Akten legen ſollen.“
Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte den Magiſtrat vor einſeitigem Verfahren. Darauf erwiderte der Magiſtrat in einem Anfall von Trotz und Entrüſtung: ja, aber in den Maßregeln, wie ihr ſie verlangt, liegt Gefahr, die Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vorgeſetzte Behörde mit zorniger Energie zurückwies. Holt eure Verſäumniſſe nach, diktierte ſie, protokolliert Verhöre, ſchickt Akten, Akten, nichts als Akten.
Mit innerer Wut hatte der Profeſſor Daumer dieſe Vorgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben der Ansbacher Behörde als widerwärtige Federfuchſerei und hatte allen Ernſtes die Abſicht, ſeinem Unmut in einer geharniſchten Epiſtel an die Regierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten beſonnene Freunde ihn davon zurück. „Aber es muß doch etwas geſchehen!“ warf er ihnen voll Empörung entgegen, „man iſt ja auf dem beſten Weg, einen Juſtizmord zu begehen, und ſoll ich dazu die Hände in den Schoß legen?“
„Das ratſamſte wäre,“ antwortete der Freiherr von Tucher, der bei dieſem Auftritt anweſend war, „ſich perſönlich an den Staatsrat Feuerbach zu wenden.“
„Das hieße alſo, nach Ansbach reiſen?“
„Gewiß.“
„Aber nehmen Sie denn an, daß er, als Präſident des Appellgerichts, von den Maßnahmen ſeiner untergebenen Beamten nicht ſchon unterrichtet iſt und ſie etwa gar mißbillige?“
„Gleichviel, ich verſpreche mir etwas von einer mündlichen Auseinanderſetzung; ich kenne Herrn von Feuerbach, er iſt der letzte, der einer gerechten Sache ſein Ohr verſchließt.“
Die Reiſe wurde beſchloſſen. Daumer und Herr von Tucher befanden ſich am andern Tag ſchon in Ansbach. Unglücklicherweiſe war der Präſident Feuerbach gerade auf einer Inſpektionſreiſe durch den Bezirk, ſollte erſt am fünften Tag zurückkommen, und die beiden Herren, ſofern ſie das vorgeſetzte Ziel erreichen wollten, mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptſtadt über Gebühr verlängern.
Mittlerweile hatte der Findling eine gar böſe Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Ziel aller Müßiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt. Man lief hin wie zu der Ausſtellung einer unterhaltſamen Rarität, denn der magiſtratiſche Erlaß hatte ihn zu einem öffentlichen Gegenſtand gemacht. Seine bisherigen Beſchützer waren ein wenig zurückhaltender geworden, denn man wußte ja nicht, wie die Geſchichte enden würde und ob nicht ein hochweiſes Appellgericht ihn zum gewöhnlichen Schwindler ſtempeln würde. Der Turmwärter durfte der allgemeinen Volksbeluſtigung nicht ſteuern, der Bürgermeiſter ſelbſt hatte die früheren Befehle aufgehoben, weil es zweckmäßig ſchien, daß möglichſt viele Leute den Fremdling ſahen. Oft erbarmte ihn der wehrloſe Knabe, doch ſchmeichelte es anderſeits ſeiner Eitelkeit, Herr über ein ſolches Wunderding zu ſein, auch ſpazierte nebenbei mancher Groſchen in den Beutel.
Brach der Morgen an und Caſpar Hauſer erhob ſich vom Schlaf, ſeltſam müde, mit den Augen das Licht meidend; ſaß er traurig ſtumm in der Ecke, während Hill den Strohſack aufſchüttelte und Waſſer und Brot brachte, dann erſchienen ſchon die erſten Beſucher, die berufsmäßigen Frühaufſteher: Straßenkehrer, Dienſtmägde, Bäckergeſellen, Handwerker, die zur Arbeit gingen, auch Knaben, die auf dem Weg zur Schule einen ergötzlichen Abſtecher machten, ſogar einige höchſt unbürgerliche Erſcheinungen, zerlumpte Herren, die die Nacht im Stadtgraben oder in einer Scheune verbracht hatten.
Mit dem Verlauf des Tages wurde die Geſellſchaft vornehmer; es kamen ganze Familien, der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr Major a. D., der Schneidermeiſter Bügelfleiß, Graf Rotſtrumpf mit ſeinen Damen, Herr von Übel und Herr von Strübel, die ihre Morgenpromenade zum Zweck einer Beſichtigung des kurioſen Untiers unterbrachen.
Es war ein heiteres Treiben; man konverſierte, wiſperte, lachte, ſpottete und tauſchte Meinungen aus. Man war freigebig und brachte dem Jüngling allerlei Geſchenke, die er anſah wie ein Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, den fortgeworfenen Spazierſtock ſeines Herrn anſieht. Man legte Eßwaren vor ihn hin, um ſeinen Appetit zu reizen; ſo ſchleppte zum Beiſpiel die Kanzleirätin Zahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern Tag verſchwunden war — wohin, das wußte niemand; doch zog man bedeutſame Schlüſſe daraus.
Vor allem hieß es: zeigt uns das Wunder, das angeprieſene Wunder! Aber da der ſchweigſame, ſanftherzige Knabe nichts von alledem tat, was ſie in ihrer lüſternen Erwartung ſich eingebildet, ſo begannen ſie entweder zu ſchimpfen — als ob ſie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären — oder ſtellten die erſtaunlichſten Torheiten an. Indem ſie ihn fortwährend mit Fragen quälten, woher er komme, wie er heiße, wie alt er ſei und ähnliches, kamen ſie ſich ſowohl witzig wie überlegen vor. Sein flehentliches Kopfſchütteln, ſein ungereimtes Nein oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereitwillig und furchtſam zugleich klang, ſein Geſtotter, ſein gläubiges Lauſchen, alles das erregte ihr Behagen. Einige brachten ihr Geſicht ganz nah an ſeines und waren höchſt vergnügt, wenn er vor ihren Starrblicken ſichtlich bis ins Innerſte erſchrak. Sie befühlten ſeine Haare, ſeine Hände, ſeine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu ſpazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären ſollte, und taten zärtlich mit ihm, während ſie einander liſtig zuzwinkerten.
Aber die Harmloſigkeit ſolcher Verſuche ward den unternehmenderen Geiſtern bald überdrüſſig. Man wollte ſich doch überzeugen, ob es ſeine Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Waſſer verſchmähe. Man hielt ihm Fleiſch und Wurſt, Honig oder Butter, Milch oder Wein vor die Naſe und amüſierte ſich köſtlich, wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer ſich geriet. „Ei, der Komödiant,“ kreiſchten ſie dann, „tut, als ob er unſre Leckerbiſſen verachte! Hat ſich wahrſcheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfreſſen!“
Einen Hauptſpaß gab’s, als einmal zwei junge Meiſter der Goldſchlägerinnung Schnaps herbeibrachten und ſich verabredeten, dem Hauſer das Getränk mit Gewalt aufzunötigen. Der eine hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas zwiſchen die Lippen ſchütten. Doch konnten ſie ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß ſtrömte, das Bewußtſein verloren hatte. Sie waren einigermaßen verdutzt und wußten mit dem Ohnmächtigen nichts anzufangen; zum Glück ſahen ſie ihn atmen und hatten weiter keine Furcht. „Glaubt ihm doch ſeine Kniffe nicht,“ meinte ein ſtutzerhaft gekleidetes Bürſchlein, das bisher gelangweilt dabeigeſtanden, „ich will ihn ſchon wieder munter kriegen.“ Sprach’s, zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdoſe und ſteckte eine volle Priſe unter die Naſe des vermeintlichen Simulanten, deſſen Geſicht ſogleich von heftigen Zuckungen bewegt wurde, worüber alle drei in Gelächter ausbrachen. Als dann der Wärter kam und ſie derb zur Rede ſtellte, zogen ſie ſchimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätiſchen älteren Herrn, der den langſam zum Leben zurückkehrenden Caſpar von vorn und von hinten beſchnüffelte, den Finger an die Stirn legte, ſich räuſperte, den Kopf ſchüttelte, erſt franzöſiſch, dann ſpaniſch, dann engliſch auf den Jüngling einredete, mit dem Wärter tuſchelte, kurz von Wichtigkeit förmlich barſt.
Caſpar jedoch ſah ihn immer nur an und ſagte in jämmerlichem Ton: „Heimweiſen.“
„Warum ſpielſt du nicht mit dem Rößlein?“ fragte, als die wichtige Perſon gegangen war, der Wärter. Man verſtändigte ſich mit Caſpar noch immer mehr durch Geſten als durch Worte, und er ſelbſt las, was Worte ihm nicht mitteilen konnten, von den Augen und den Händen der Menſchen ab.
Er blickte auch Hill lange an und ſagte: „Heimweiſen.“
„Heimweiſen?“ antwortete der Wärter, halb verdrießlich, halb mitleidig. „Wohin denn heim? Wo biſt du denn daheim, du Unglückswurm? In dem unterirdiſchen Loch vielleicht? Nennſt du das daheim?“
„Der Du ſoll kommen,“ ſagte Caſpar klar, langſam und hell.
„Der wird ſich hüten,“ verſetzte Hill, bärbeißig lachend.
„Der Du kommt, bald kommt,“ beharrte Caſpar, und er ſchaute mit einem Ausdruck feierlicher Inbrunſt gegen den abendlichen Himmel, als ſei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte ſchreiten könne. Dann erhob er ſich in ſeiner mühevollen Weiſe, nahm ſein Spielpferdchen und verſuchte es zu tragen, denn dies allein wollte er von den Gegenſtänden, die er geſchenkt erhalten, mitnehmen, wenn der Du käme, ſonſt nichts.
Hill begriff ſein Vorhaben. „Nein, Caſpar,“ ſagte er, „jetzt mußt du ſchon in dieſer Welt bleiben. Daß ſie dir nicht gefallen mag, verſteh’ ich wohl. Mir gefällt ſie auch nicht, aber dableiben mußt du.“
Caſpar, wenngleich er den Worten nicht ganz folgen konnte, erfaßte doch den unabänderlichen Beſchluß, den ſie enthielten. Er begann an allen Gliedern zu beben, laut weinend warf er ſich zu Boden, aber auch ſpäter, als es dem beſtürzten Hill gelungen war, ihn zu tröſten, ſchien es, wie wenn er vor Kummer ſein Herz verhauche. Die Traurigkeit ſeines Gemüts überflutete das kindhafte Geſicht wie ein dunkler Schleier, und am Morgen waren ſeine Lider durch die während des Schlummers vergoſſenen Tränen verklebt.
Er wollte zum erſtenmal nicht mehr mit dem Pferdchen ſpielen, ſondern kauerte ſtundenlang ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen der Treppe ſchüttelte es ihn, und er ſchauderte, wenn ſich wieder und wieder ein neues Geſicht über der Schwelle zeigte. Zitternd ſah er die Menſchen an, der Geruch ihres Atems war ihm eine Pein und unerträglich, wenn ſie ihn berührten. Am meiſten Furcht hatte er vor ihren Händen. Zuerſt ſah er immer die Hände an, merkte ſich ihre verſchiedene Geſtalt und Farbe, und ehe er ſie an ſeiner Haut ſpürte, erſchrak er ſchon, denn ſie erſchienen ihm wie ſelbſtändige Geſchöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere, deren Tun von einem Augenblick zum andern gar nicht abzuſchätzen war.
Nur Daumers Hand, die einzige, deren Berührung angenehm war, war verſchwunden. Warum? dachte Caſpar, warum war dies alles? Warum das ſeltſame Getöſe von früh bis ſpät? Woher kamen die fremden Geſtalten, warum ſo viele, und warum war ihr Mund und ihr Auge böſe?
Das friſche Waſſer ſchmeckte ihm nicht mehr, auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten Brot. In ſeiner Erſchöpfung dünkte ihm mitten am Tage, es ſei Nacht geworden, und das Heißgleißende, -funkelnde, von dem man ihm geſagt, daß es der Schein der Sonne ſei, wurde vor ſeinen müden Augen zu purpurnem Dunſt. Es beängſtigte ihn das Geräuſch des Windes, denn er verwechſelte es mit den Stimmen der Menſchen. Er ſehnte ſich in die Einſamkeit ſeines Kerkers zurück; heimweiſen war ſein einziger Gedanke.
Es war ein Sonntag. Spätnachmittags waren Daumer und Herr von Tucher aus Ansbach wieder angelangt, und in ihrer Begleitung befand ſich der Staatsrat von Feuerbach, der ſich entſchloſſen hatte, den Findling ſelbſt zu beſuchen und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hinundher von Akten und Erläſſen zu bringen. Nachdem er im Gaſthof zum Lamm Quartier gemietet hatte, ließ ſich der Präſident von den beiden Herren ſogleich zur Burg und auf den Turm führen. Es hatte ſchon neun Uhr geſchlagen, als ſie dort ankamen. Groß war ihre Überraſchung, als ſie das Zimmer Caſpars leer fanden; die Frau des Wärters erklärte verlegen, ihr Mann ſei mit Caſpar ins Wirtshaus zum Krokodil gegangen. Der Rittmeiſter von Weſſenig habe nämlich einigen ſeiner von auswärts zugereiſten Freunde den Findling zu zeigen gewünſcht, habe heraufgeſchickt und befohlen, daß man Caſpar bringe.
Daumer war erbleicht und ſchaute, Schlimmes ahnend, finſter zu Boden; Herr von Tucher vermochte ſeinen Unwillen kaum zu bemeiſtern, und über die bartloſen Lippen des Präſidenten huſchte ein halb mokantes, halb verächtliches Lächeln; ſeine gebietende Haltung erinnerte an einen durch Pflichtverſäumniſſe vielfach beleidigten Fürſten, als er ſich mit der ſchroffen Aufforderung zu ſeinen Begleitern wandte: „Führen Sie mich zu dieſem Wirtshaus!“
Die Dunkelheit war eingebrochen, über dem Dach des Rathauſes ſtand fahlleuchtend der Mond. Schweigend ſchritten die drei Männer den Berg hinab, und kaum waren ſie, das winklige Gaſſengewirr verlaſſend, auf den Weinmarkt getreten, als Daumer ſtehenblieb und mit erregter Stimme flüſterte: „Da iſt er.“
In der Tat ſahen ſie Caſpar, der gleich einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus dem Tor des Krokodilwirtshauſes wankte. Der Präſident und Herr von Tucher blieben ebenfalls ſtehen, und ſie bemerkten jetzt, daß der Jüngling plötzlich innehielt, zurückſchauderte und, ein maßloſes Staunen in den vor Angſt weit aufgeriſſenen Augen, zu Boden ſtarrte. Die drei Männer näherten ſich eilig, um zu erfahren, was es ſei. Sie ſahen nichts weiter als die Mondſchatten des Jünglings und ſeines Begleiters auf dem Pflaſter.
Caſpar wagte nicht mehr ſich zu regen, weil er jede Bewegung ſeines Körpers nachgeahmt ſah von dem unbegreiflichen Ding. Seine Lippen waren wie zum Schrei geöffnet, ſeine Wangen ſchneeweiß und die Knie ſchlotterten ihm. War es doch, als ob alles Grauenhafte und Geheimnisvolle einer Welt, in die ein Ungefähr ihn geſchleudert, ſich zu dem ſeltſam zuckenden Gebild am Boden verdichtet habe.
Daumer, Herr von Tucher und der Wärter bemühten ſich um ihn, der Präſident ſtand wortlos daneben. Als er emporblickte, bemerkte Daumer, der ihn heimlich und geſpannt beobachtete, in ſeinem ſtrengen Geſicht eine unverſtellte Erſchütterung.
Es fehlte nicht viel, ſo wäre Hill, den der Zorn des Präſidenten am erſten traf, noch am ſelben Abend aus ſeinem Amt gejagt worden; nur die mutige Fürſprache des Herrn von Tucher rettete ihn und lenkte das Gewitter auf ſchuldigere Perſonen ab, denn die Vernachläſſigung, die der Gefangene erlitten, war allzu offenbar. Seiner ungeſtümen Art gemäß ſuchte der Präſident ſogleich den Bürgermeiſter Binder auf, dem er die heftigſten Vorwürfe machte. Herr Binder konnte nicht umhin, dem Präſidenten kleinmütig beizupflichten; die Entſchiedenheit, mit der er den Gegenſtand behandelt ſah, übte tiefen Eindruck auf ihn, und er mußte einen kaum wieder gutzumachenden Fehler vor ſich ſelber eingeſtehen. Von ſeiner Seite war nur Lauheit im Spiel geweſen, die Scherereien mit der Regierung hatten ihn verdroſſen, jetzt auf einmal, da der mächtige Mann ſeine Stimme für den Findling erhob, wurde er ſich ſeiner Bereitwilligkeit bewußt, alles Fördernswerte für Caſpar Hauſer zu tun, und er erklärte ſich ohne weiteres einverſtanden, als Herr von Feuerbach verlangte, der Knabe müſſe ſeiner bisherigen Lage entriſſen werden. „Er ſoll in eine geordnete Pflege kommen,“ ſagte der Präſident, „Profeſſor Daumer hat ſich freiwillig erboten, ihn zu ſich ins Haus zu nehmen, und ich wünſche nicht, daß dieſer Schritt im geringſten verzögert werde.“
Binder verbeugte ſich. „Ich werde morgen mit dem früheſten die nötigen Anſtalten treffen,“ antwortete er.
„Nicht, bevor ich ſelbſt mit dem Knaben geſprochen,“ verſetzte der Präſident haſtig; „ich werde um zehn Uhr auf dem Turm ſein und bitte, daß man mich eine Stunde lang mit dem Gefangenen allein laſſe.“
Auch Daumer war ziemlich erregt heimgekommen. Kaum daß er, nach tagelanger Abweſenheit, Mutter und Schweſter ordentlich begrüßte. „Die Herrſchaften müſſen artig gewütet haben,“ grollte er, indem er unaufhörlich durch das Zimmer wanderte, „der Knabe iſt ja ganz verſtört. Das heiß’ ich menſchlich ſein, das heiß’ ich Einſicht haben! Barbaren ſind ſie, Schlächter ſind ſie! Und unter ſolchem Volk zu leben bin ich gezwungen!“
„Warum ſagſt du es ihnen nicht ſelbſt?“ bemerkte Anna Daumer trocken. „Hinter deinen vier Wänden zu ſchimpfen fruchtet wenig.“
„Sag mal, Friedrich,“ wandte ſich nun die alte Dame an ihren Sohn, „biſt du denn wirklich feſt davon überzeugt, daß du dein Herz nicht wieder einmal an einen Götzen wegwirfſt?“
„Aus deiner Frage erkennt man, daß du ihn noch immer nicht geſehen haſt,“ antwortete Daumer faſt mitleidig.
„Das wohl; es war mir ein zu groß Gerenne.“
„Alſo. Wenn man von ihm ſpricht, kann man nicht übertreiben, weil die Sprache zu ärmlich iſt, um ſein Weſen auszudrücken. Es iſt wie eine uralte Legende, dies Emportauchen eines märchenhaften Geſchöpfs aus dem dunkeln Nirgendwo; die reine Stimme der Natur tönt uns plötzlich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis. Seine Seele gleicht einem koſtbaren Edelſtein, den noch keine habgierige Hand betaſtet hat; ich aber will danach greifen, mich rechtfertigt ein erhabener Zweck. Oder bin ich nicht würdig? Glaubt ihr, daß ich nicht würdig bin dazu?“
„Du ſchwärmſt,“ ſagte Anna nach einem langen Stillſchweigen faſt unwillig.
Daumer zuckte lächelnd die Achſeln. Dann trat er an den Tiſch und ſagte in einem Ton, deſſen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten Widerſtand im voraus zu bekämpfen ſchien: „Caſpar wird morgen in unſer Haus ziehen; ich habe Exzellenz Feuerbach darum angegangen und er hat meiner Bitte willfahrt. Ich hoffe, daß du nichts dawider einzuwenden haſt, Mutter, und daß du mir glaubſt, wenn ich verſichere, es iſt eine Sache von großer Bedeutung für mich. Ich bin höchſt wichtigen Entdeckungen auf der Spur.“
Mutter und Tochter ſahen erſchrocken einander an und ſchwiegen.
Am nächſten Morgen um zehn fanden ſich Daumer, der Bürgermeiſter, der Stadtkommiſſär, der Gerichtsarzt und einige andre Perſonen im Burghof vor dem Gefängnisturm ein und warteten dritthalb Stunden auf den Präſidenten, der bei dem Findling oben war. Daumer, der Geſpräche mit andern vermeiden wollte, ſtand faſt ununterbrochen an der Umfaſſungsmauer und blickte auf das maleriſche Gaſſen- und Dächergewirr der Stadt hinunter.
Als der Präſident endlich unter den Wartenden erſchien, drängten ſich alle mit Eifer heran, um die Meinung des berühmten und gefürchteten Mannes zu hören. Doch das Geſicht Feuerbachs zeigte einen ſo düſteren Ernſt, daß niemand ihn mit einer Anrede zu beläſtigen wagte; ſein machtvolles Auge blickte brennend nach innen, die Lippen waren gleichſam aufeinander geballt, auf der Stirn lag eine von Nachdenken zitternde ſenkrechte Falte. Das Schweigen wurde vom Bürgermeiſter mit der Frage unterbrochen, ob Exzellenz nicht geruhen wolle, das Mittageſſen in ſeinem Haus zu nehmen. Feuerbach dankte; dringende Geſchäfte nötigten ihn zu ſofortiger Rückkehr nach Ansbach, entgegnete er. Darauf wandte er ſich an Daumer, reichte ihm die Hand und ſagte: „Sorgen Sie ſogleich für die Überſiedlung des Hauſer; der arme Menſch braucht dringend Ruhe und Pflege. Sie werden bald von mir hören. Gott befohlen, meine Herren!“
Damit entfernte er ſich in raſchen, kleinen, ſtampfenden Schritten, eilte den Hügel hinab und verſchwand alsbald gegen die Sebalderkirche. Die Zurückbleibenden machten etwas enttäuſchte Mienen. Da ſie alle überzeugt waren, daß der Scharfſinn dieſes Mannes ohne Grenzen ſei und daß kein andres als ſein Auge das Dunkel durchdringen könne, welches über Untat und Verbrechen brütete, waren ſie verſtimmt über eine Schweigſamkeit, die ihnen beabſichtigt und planvoll erſchien.
Am Abend befand ſich Caſpar in der Wohnung Daumers.