Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 25. Ein unterbrochenes Spiel Im Verlauf der folgenden Wochen gab es in den Salons und Bürgerſtuben der Stadt allerlei ſonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß das Gerede beſtimmte Formen annahm, wollte man doch in dem plötzlichen Tod des Präſidenten Feuerbach auch weiterhin nichts ſehen als die Frucht einer myſteriöſen Verſchwörung. Eine greifbare Äußerung fiel natürlich nicht; die Flüſterer nahmen ſich in acht. Sehr insgeheim raunten ſie ſich zu, auch Lord Stanhope ſei an dieſer Verſchwörung beteiligt, und nach und nach tauchte das beſtimmte Gerücht auf, der Lord gehe damit um, einen Kriminalprozeß gegen Caſpar Hauſer anzuſtrengen, und habe ſich zu dem Ende ſchon der Hilfe eines bedeutenden Rechtsgelehrten verſichert. Auf einmal bekannte ſich kein Menſch mehr zu dem früheren Enthuſiasmus für den Grafen, das großartige Andenken, das er hinterlaſſen, war verwiſcht, und in einigen maßgebenden Familien, wo er der Abgott geweſen, ſprach man bereits mit ängſtlicher Vorſicht ſeinen Namen aus. Caſpars Freunde wurden beſorgt. Frau von Imhoff ſuchte eines Tages den Polizeileutnant auf und erkundigte ſich, was von dem Gemunkel zu halten ſei. Mit kühlem Bedauern erwiderte Hickel, daß die öffentliche Meinung in dieſem Punkt nicht fehlgehe. „Das Blatt hat ſich eben gewendet,“ ſagte er; „Seine Lordſchaft ſieht in Caſpar Hauſer jetzt nur einen gewöhnlichen Schwindler.“ Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizeileutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne Gruß. Ei, die ſanften Seelen, höhnte Hickel für ſich, das Grauſen faßt ſie an. Hickel hatte eine neue Wohnung auf der Promenade gemietet und lebte wie ein großer Herr. Woher mag er die Mittel haben? fragten die Leute. Er hat Glück am Kartentiſch, ſagten einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er fortwährend große Summen verliere. Auch damit war der Geſprächsſtoff nicht erſchöpft. Eine andre Seltſamkeit: Im Sommer war aus der Infanteriekaſerne ein Soldat auf unaufgeklärte Weiſe verſchwunden. Zu andrer Zeit wäre ein ſolches Ereignis vielleicht unbeachtet geblieben. Jetzt hefteten ſich auch daran allerlei Fabeleien. Es wurde geſagt, jener Soldat, der den Hauſer beaufſichtigt, habe von gewiſſen Geheimniſſen Kenntnis erhalten und ſei beiſeitegeſchafft worden. Man wurde furchtſam; man verſchloß bei Nacht ſorgfältig die Haustüren. Es war nicht mehr geheuer in der guten, ſtillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde beargwöhnt. Selbſt Frau von Kannawurf erfuhr ſolchen Argwohn, wenngleich um ſie etwas Unantaſtbares war, das den verleumderiſchen Worten die Kraft raubte. Dennoch fiel es auf, daß ſie ſich des Umgangs mit ihresgleichen entzog und ſich anſtatt deſſen häufig unter Menſchen der niederſten Volksklaſſe herumtrieb. Sie verbrachte viele Stunden in geiſtloſem Geſpräch mit Bauernweibern und Arbeiterfrauen, ſtieg zu ihrem Türmer hinauf oder geſellte ſich zu den Kindern, die von der Schule heimkehrten. Da geſchah es denn oft, daß ſie zum maßloſen Staunen der begegnenden Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben und Mädchen um ſich verſammelt hatte und in ihrer Mitte lächelnd durch die Gaſſen zog. Wahrſcheinlich iſt ſie eine Demagogin, hieß es. Geſinnungstüchtige Eltern verboten ihren Sprößlingen, ſich an den ſkandalöſen Aufzügen zu beteiligen. Kein Zweifel, auch die Behörde fand das Treiben anſtößig, denn einmal am Abend hatte man beobachtet, daß der Polizeileutnant vor dem Imhoffſchlößchen Poſten faßte; zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit unbeweglich unter einem Baum geſtanden. Es iſt wahr, Frau von Kannawurf war eine auffallende Perſon und benahm ſich auffallend. Aber ihre kurioſen Handlungen hatten einen Anſchein von Leichtigkeit, ja Läſſigkeit. Sie hatte eine Art von Lächeln, in welchem ſich ſelbſtvergeſſene Hingebung an irgendein Gedachtes, Gefühltes mit der Verzweiflung über die eigne Unzulänglichkeit aufs rührendſte miſchten. Sie lebte an allem und in allem, ſtarb mit jedem Seufzer gleichſam dahin, flog mit jeder Freude in eine entrückte Region. Eines Abends im Auguſt trat ſie ins Zimmer ihrer Freundin, warf ſich wie atemlos vom Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu ſprechen fähig. „Was haſt du nur wieder getrieben, Clara?“ ſagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt nicht leben, das heißt ſich verbrennen.“ „Es hilft nichts,“ murmelte das junge Weib erſchlafft, „ich muß reiſen.“ Frau von Imhoff ſchüttelte liebenswürdig tadelnd den Kopf. Dieſe Worte hatte ſie ſeit drei Monaten des öfteren vernommen. „Bis zu unſerm Familienfeſt wirſt du doch noch bleiben, Clara,“ erwiderte ſie herzlich. Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal dazu, einen Entſchluß nicht auszuführen, ſagte Clara von Kannawurf zu ſich ſelbſt; und nach einer Pauſe des Schweigens wandte ſie das Geſicht der Freundin entgegen und fragte: „Warum, Bettine, kannſt du Caſpar nicht zu dir ins Haus nehmen? Er ſoll und darf nicht länger beim Lehrer Quandt bleiben. Dieſes Haus zu betreten iſt mir unmöglich. Seine Lage iſt ſchauderhaft, Bettine. Wozu ſage ich dir das! Du weißt es, ihr wißt es ja alle; ihr bedauert es alle, aber keiner rührt nur den Finger. Keiner, keiner hat den Mut zu tun, was er getan zu haben wünſcht, wenn das geſchehen iſt, was er im ſtillen fürchtet.“ Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht unglücklich genug, um mit Aufopferung des eignen einem fremden Schickſal mich hinzugeben,“ verſetzte ſie endlich. Clara ſtützte den Kopf in die Hand. „Ihr leſt ein ſchönes Buch, ihr ſeht ein ergreifendes Theaterſtück und ſeid erſchüttert von dieſen nur eingebildeten Leiden,“ fuhr ſie bewegt und eindringlich fort. „Ein trauriges Lied kann dir Tränen entlocken, Bettine; erinnere dich nur, wie du weinteſt, als Fräulein von Stichaner neulich den ‚Wanderer‘ von Schubert ſang. Bei den Worten: Dort, wo du nicht biſt, iſt das Glück, haſt du geweint. Du konnteſt eine Nacht lang nicht ſchlafen, als man uns erzählte, drüben in Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind verhungern laſſen. Warum iſt es immer nur das Unwirkliche oder das Ferne, woran ihr eure Teilnahme verſchwendet? Warum immer nur dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und nicht dem lebendigen Menſchen, deſſen Not handgreiflich iſt? Ich verſteh’ es nicht, verſteh’ es nicht, das quält mich, daran, ja daran verbrenn’ ich.“ Das leiſe, melodiſche Stimmchen verging in einem Hauchen. Frau von Imhoff ſtützte den Kopf in die Hand und ſchwieg lange. Dann erhob ſie ſich, ſetzte ſich neben Clara, ſtreichelte die Stirn der Freundin und ſagte: „Sprich mal mit ihm. Er ſoll zu uns kommen. Ich will es durchſetzen.“ Clara umſchlang ſie mit beiden Armen und küßte ſie dankbar. Aber nicht mit freiem Herzen hatte Frau von Imhoff dieſen Entſchluß gefaßt, und ſie atmete ſeltſam erleichtert auf, als ihr am andern Tag Frau von Kannawurf die Eröffnung machte, Caſpar habe ſich unbegreiflicherweiſe hartnäckig gegen den Vorſchlag geſträubt, das Haus des Lehrers zu verlaſſen. Zuerſt habe er keinen Grund für ſeine Weigerung nennen wollen, als er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe er geſagt: „Dort hat man mich hingebracht, und dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es heißt, beim Lehrer Quandt hat er’s nicht gut genug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die Imhoffs genommen. Ich hab’ ja mein Brot und mein Bett, mehr brauch’ ich nicht, und das Bett iſt das Allerbeſte, was ich auf der Welt kennen gelernt habe, alles andre iſt ſchlecht.“ Da fruchtete keine Einrede mehr. „Schließlich könnt ihr ja mit mir anſtellen, was ihr wollt,“ fügte er hinzu, „aber daß ich freiwillig hingehen ſoll, das wird nicht geſchehen. Wozu auch? Lang kann’s nimmer dauern.“ So war ihm denn das Wort entſchlüpft. War deshalb der tiefe Glanz in ſeinen Augen? Blickte er deshalb mit ſtummer Spannung die Straßen entlang, wenn er morgens zum Appellgericht ging? War’s deswegen, daß er ſtundenlang am Fenſter lehnte und hinüberſpähte gegen die Chauſſee? Daß er gierig aufhorchte, wenn er irgendwo zwei Menſchen leiſe miteinander reden ſah? Daß er täglich dabei ſein mußte, wenn der Poſtwagen ankam, und daß er den Briefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe? Dem rätſelhaften Weſen tat die Zeit keinen Abbruch. Es lag Frau von Kannawurf daran, ihn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem innigen Verhältnis zur umgebenden Welt entziehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen mußte. Sie ſann immer auf Ablenkung, und jenes Familienfeſt, von dem ihre Freundin Bettine geſprochen, gab Gelegenheit, damit Caſpar wieder einmal aus ſich heraus und einer anteilvollen Welt gegenübertrete. Die Feier wurde von Herrn von Imhoff zu Ehren der Goldenen Hochzeit ſeiner Eltern veranſtaltet und ſollte am zwölften September ſtattfinden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des Hauſes, hatte zu der Gelegenheit ein ſinnreiches Bühnenſpiel in Verſen verfaßt, welches von einigen Damen und Herren der Geſellſchaft ausgeführt werden ſollte. Bei den Proben, die im oberen Saal des Schloſſes abgehalten wurden, zeigte es ſich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle eines ſtummen Schäfers darſtellte, ſeines plumpen Benehmens halber unfähig war, den Part zu gewünſchter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau von Kannawurf, die ſelbſt mitſpielte, den Einfall, dieſe Rolle Caſpar zu übertragen. Die Anregung fand Beifall. Caſpar willigte ein. Da er eine Perſon vorzuſtellen hatte, die nichts zu ſprechen brauchte, glaubte er ſich der Aufgabe leichterdings gewachſen, die ſeiner alten Neigung für das Theater entgegenkam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenngleich das phraſenhafte Weſen des Stücks nicht eben ſein Gefallen erweckte, ſo erfreute er ſich doch an der wechſelvollen Bewegung innerhalb eines abgemeſſenen Vorgangs. Das harmloſe Spiel hatte einen berechneten und für das Publikum unſchwer durchſchaubaren Bezug auf ein ſchon weit zurückliegendes Ereignis in der Familie der Imhoffs. Einer der Brüder des Barons hatte ſich zu Anfang der zwanziger Jahre an burſchenſchaftlichen Umtrieben beteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch des Vaters und nebenbei von den politiſchen Behörden verfolgt, nach Amerika entflohen. Nach erlaſſener Amneſtie war er zurückgekehrt, hatte vor dem Familienhaupt alle freiheitlichen Ideen abgeſchworen, und von da ab hatte ihm die väterliche Gnade wieder geleuchtet. Dieſe etwas philiſtröſe Begebenheit hatte den Hauspoeten zu ſeiner Dichtung begeiſtert. Ein König gibt einem ihn beſuchenden Freund und Waffengenoſſen ein Gaſtmahl. Ein zweiter Polykrates, brüſtet er ſich bei dieſem Anlaß mit ſeiner Macht, dem Frieden ſeiner Länder, den Tugenden ſeiner Untertanen. Die Höflinge an der Tafel beſtärken ihn voll ſchmeichleriſchen Eifers in ſeinem Glückswahn, nur der Gaſtfreund wagt das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des Herrſchers doch einen Makel bemerke. Der König fühlt ſich getroffen und läßt jenen hart an, auch weiß er zu verhindern, daß der Freund weiterſpreche, da ſeine Gemahlin Zeichen eines großen Seelenſchmerzes von ſich gibt. Unterdeſſen ziehen im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit Lachen und munteren Zwiegeſprächen auf, und Muſik begleitet die Erntefeier. Plötzlich entſteht ein Stillſchweigen; die Geigen, die Rufe, das Gelächter verſtummen, und auf die Frage des Königs wird mitgeteilt, der ſchwarze Schäfer, der ſich ſchon ſeit Menſchengedenken nicht im Land habe ſehen laſſen, ſei unter das Volk getreten. Der Gaſtfreund begehrt zu wiſſen, was für eine Bewandtnis es mit dieſem Schäfer habe, und man antwortet ihm, der Wunderbare beſitze die Gabe, durch ſeinen bloßen Anblick bei jedem Menſchen die Erinnerung an deſſen ſtärkſte Schuld wachzurufen, Schuldloſe aber den Gegenſtand langgehegter Sehnſucht ſchauen zu laſſen. Zur Beſtätigung deſſen hört man auch aus der Mitte des Volkes Weinen und allerlei klagende Töne. Der König befiehlt, daß ſich der Fremdling entferne, doch die Königin, unterſtützt von den Bitten des Gaſtfreunds und der Höflinge, fleht den Gemahl an, ihn heraufkommen zu laſſen. Der König fügt ſich, und alsbald betritt der ſtumme Schäfer die Szene. Er ſchaut den König an; der verhüllt ſein Geſicht; er ſchaut die Königin an, und dieſe, dunkel ergriffen, ergeht ſich in einem längeren Selbſtgeſpräch, aus welchem deutlich wird, daß ihr erſtgeborener Sohn wegen einer unbeſonnen angeſtifteten Verſchwörung vom Vater verſtoßen wurde und ſeitdem verſchollen iſt. Mit ausgebreiteten Armen, unwiderſtehlich gezogen, geht ſie auf den Schäfer zu, und ſiehe, es iſt der reuig zurückgekehrte Prinz. Man erkennt, man umarmt ihn, das Eis des königlichen Herzens ſchmilzt, und alles löſt ſich in Wonne auf. Caſpar benahm ſich nicht ungeſchickt. Im Lauf der Vorbereitungen fand er von ſich ſelbſt aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte ſich ſo hinein, als ob ſein alltägliches Leben von ihm abgelöſt wäre. Ähnlich verhielt es ſich mit Frau von Kannawurf, die die Königin machte; auch ſie gab ſich ihrer Aufgabe mit einem Ernſt hin, der das Spielhafte des Vorgangs undienlich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner ſchattenhaft werden ließ. So webten die beiden gleichſam in einer eignen Welt für ſich. Es war ein ſehr warmer Septembertag, als gegen ſechs Uhr abends die geladenen Gäſte erſchienen, im ganzen etwa fünfzig Perſonen, die Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert, die Männer in Fräcken und geſtickten Uniformen. Das Podium für die Komödie nahm die Schmalwand des Saales völlig ein, Kuliſſen und Requiſiten, auch eine Anzahl Statiſten waren vom Direktor des Schloßtheaters zur Verfügung geſtellt worden. Die Tafel befand ſich in einem Nebenſaal; dort hatte ſich auch die Muſikkapelle eingefunden, denn nach dem Eſſen ſollte getanzt werden. Um ſieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen, alles begab ſich auf die Plätze. Der Vorhang rollte auf, und der König begann ſeine überhebliche Tirade. Der Gaſtfreund, vom Verfaſſer ſelbſt gemimt, hielt reſpektvollen Widerpart, dann kam das heitere Zwiſchenſpiel auf dem Hof, und das Folgende nahm ſeinen ruhigen Fortgang. Nun trat Caſpar auf. Das ſchwarze Gewand kleidete ihn trefflich und hob die Bläſſe ſeines Geſichts. Sein Erſcheinen auf der Bühne hatte eine unmittelbare Wirkung. Das Huſten und Räuſpern hörte auf; Totenſtille entſtand. Wie er den König und die Königin anblickte, wie er auf ſie zuſchritt und traumhaft lächelte, das war ergreifend. Einige ſahen ihn ſogar zittern und beobachteten, daß ſich ſeine Finger wie im Krampf in die Hand ſchloſſen. Nun der Monolog der Königin; auch dies klang anders, als Schauſpieler ſonſt ſich geben, ſie tritt an den Jüngling heran, ſie legt die Arme um ſeinen Hals_... In dieſem Augenblick eilte ein Mann aus dem Hintergrund des Saales bis vor die Rampe und rief ein gellendes: „Halt!“ Die Spieler auf der Szene fuhren erſchrocken zuſammen, die Zuſchauer erhoben ſich, und eine allgemeine Unruhe entſtand. „Wer iſt das? Wer wagt das? Was gibt’s?“ wurde durcheinander gerufen; man drängte nach vorn, die Frauen ſchrien ängſtlich, Stühle wurden umgeworfen, und nur mit Mühe gelang es dem Hausherrn, eine gefährliche Panik zu verhüten. Indes ſtand der Urheber der Verwirrung noch immer unbeweglich vor dem Podium. Es war Hickel. Bleich und feindſelig ſtierte er auf die Szene und ſchien nichts zu gewahren außer Caſpar und Frau von Kannawurf, die, aneinander gedrängt, furchtſam in den verdunkelten Saal ſchauten. Der erſte, der ſich an Hickel wandte, war der junge Doktor Lang. In ſeinem Phantaſiekoſtüm des „Gaſtfreundes“ trat er an den Rand der Eſtrade und fragte wütend nach dem Grund einer ſo unverantwortlichen Handlungsweiſe. Der Polizeileutnant holte tief Atem und ſagte laut mit einer gläſernen Stimme: „Ich muß die hochgeehrte Verſammlung tauſendmal um Entſchuldigung bitten, und da ich ſelbſt zu den hier Geladenen gehöre, wird meine Verſicherung vielleicht Glauben finden, daß mir ein ſolcher Schritt nicht leicht geworden iſt. Aber ich kann nicht dulden, daß der Hauſer ein frivoles Amüſement zu einer Stunde fortſetzt, wo ich die Nachricht von einem ſchrecklichen Unglück erfahren habe, das ihn wie keinen andern trifft und für ſein ferneres Leben von folgenſchwerer Bedeutung ſein wird.“ Finſtere, neugierige und unwillige Augen blickten auf den Polizeileutnant. Der Doktor Lang entgegnete zornig: „Unſinn! Eine Teufelei iſt es, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen iſt, ſo kann weder ich noch irgend jemand von den Anweſenden Ihnen das Recht zu einer ſo groben Eigenmächtigkeit zugeſtehen. Iſt es ſchlimm, was Sie zu melden haben, ſo war um ſo mehr Grund zu warten, unſer Spiel war ja am Ende. Es iſt ein Wahnſinn, ein Mißbrauch der Gaſtfreundſchaft.“ „Jawohl, der Doktor hat recht,“ riefen einige Stimmen. Hickel ſenkte den Kopf und legte die Hand vor die Stirn. „Darf ich wiſſen, worum es ſich handelt?“ trat nun Herr von Imhoff dazwiſchen. Hickel raffte ſich empor und erwiderte dumpf: „Graf Stanhope hat ſeinem Leben freiwillig ein Ende gemacht.“ Es entſtand eine lange Stille. Faſt alle blickten auf Caſpar, der gegen eine Soffitte lehnte und langſam die Augen ſchloß. „Er hat ſich erſchoſſen?“ fragte Herr von Imhoff. „Nein,“ antwortete Hickel, „er hat ſich erhängt.“ Raſchelnde Laute des Schreckens ließen ſich vernehmen. Herr von Imhoff biß ſich auf die Lippen. „Weiß man Näheres?“ fuhr er fort zu fragen. „Nein. Das heißt, ich habe nur eine allgemein gehaltene Nachricht von ſeinem Jäger. Er war bei einem Freund, dem Grafen von Belgarde, an der normanniſchen Küſte zu Beſuch. Am Morgen des vierten September fand man ihn im Turmzimmer des Schloſſes an einer Seidenſchnur hängend als Leiche.“ Herr von Imhoff ſah zu Boden. Als er wieder aufblickte, fixierte er den Polizeileutnant fremd und ſagte: „Es tut uns allen von Herzen leid. Ich glaube, daß niemand in dieſem Saal iſt, der dem unglücklichen Mann nicht ein lebendiges Andenken bewahren wird. Nichtsdeſtoweniger, Herr Leutnant, bleiben Sie mir Ihres ſonderbaren Vorgehens halber Rechenſchaft ſchuldig.“ Hickel verbeugte ſich ſtumm. Die Hausfrau und mit ihr einige andre Damen waren bemüht, die Gäſte zu beruhigen, aber während die Diener die Kerzen des großen Kronleuchters anzündeten, meldete man Frau von Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, infolge der ausgeſtandenen Aufregung unwohl geworden ſei und ſich auf ihr Zimmer begeben habe. Sie folgte ſogleich nach. Dies war ein Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierungspräſident und der Generalkommiſſär mit ihren Frauen verließen zuerſt den Saal, und ſchließlich blieben nur ein paar intime Freunde des Barons um dieſen verſammelt und nahmen in gedrückter Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz. „Ich hab’ es immer geahnt, daß uns der gute Lord noch einmal eine grimmige Überraſchung bereiten würde,“ ſagte Herr von Imhoff. „Was wird aber nun mit dem armen Hauſer geſchehen?“ meinte einer aus der Geſellſchaft. Man ſprach allerlei Vermutungen darüber aus; die Unterhaltung kam in Fluß, und wie oft ein unglückliches Ereignis dazu dient, die Phantaſie der entfernt Beteiligten wohltätig anzuregen, ſo auch hier. Man gab ſich bis über Mitternacht lebhaften Geſprächen hin. Caſpar hatte ſich während des raſchen Aufbruchs der Gäſte in dem kleinen Ankleidezimmer für die Schauſpieler verſteckt. Die jungen Leute entledigten ſich eilfertig ihres Koſtüms und verſchwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, um die Lichter auszulöſchen, und dieſer entdeckte Caſpar. Als Caſpar gegen die Treppe zu ging, hörte er Schritte hinter ſich, und Frau von Kannawurf trat an ſeine Seite. Sie fragte ihn, ob er nach Hauſe wolle, und er bejahte. „Es regnet,“ ſagte ſie unten beim Tor und ſtreckte die Hand hinaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen vorübergehen zu laſſen, aber es wurde ein heftiger Guß daraus, und das Waſſer knatterte lärmend auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. Ein kaltfeuchter Luftſtrom ſchlug ihnen entgegen, und Frau von Kannawurf forderte Caſpar auf, mit ihr ins Zimmer zu gehen, es könne allzulang dauern. Er folgte ſtill. Oben machte ſie Licht, dann ſtand ſie und ſah verſonnen in die Flamme. Ihre Schultern bebten fröſtlich. Caſpar hatte ſich auf das Sofa geſetzt. Allgemach ſpürte er eine ſo große Müdigkeit, daß es ihn förmlich hintüberzog, und er mußte ſich auf den Rücken legen. Da trat Clara zu ihm und ergriff ſeine Hand, die er ihr jedoch haſtig wieder entriß. Er machte die Augen zu, und einen Moment lang war ſein Geſicht vollkommen leblos. Frau von Kannawurf ſtieß einen matten Angſtruf aus und fiel neben ihm auf die Knie. Dann rief ſie ihre Kammerzofe und bat um Waſſer; ſie ſchenkte ein Glas voll und reichte es ihm zu trinken. Er trank ein paar Schlücke. „Was iſt dir, Caſpar?“ flüſterte ſie, und zum erſtenmal duzte ſie ihn. Er lächelte dankbar. „Du biſt wie eine Schweſter,“ ſagte er ſcheu und berührte mit den Fingern das Haar ihres über ihn gebeugten Kopfes. Dieſes Wort Schweſter hatte in ſeinem Mund einen eignen Klang; es tönte wie ein nie zuvor geſprochenes Wort. Clara ſchmiegte ſich an ſeine Seite; ihr war, als müßte ſie ihn wärmen, er aber rückte ängſtlich fort, da wollte ſie ſich wieder erheben, doch betaſtete er mit der Hand ihren Arm und ſah ſie an mit einem bittenden Ausdruck von Schmerz und Liebe. „Clara,“ ſagte er, und ſie glaubte vergehen zu ſollen oder zu einem andern Leben erwachen zu müſſen, denn die ſchüchtern-flehentliche Art, wie er dieſen Namen ausſprach, hatte etwas Überirdiſches. Es kam nun ſo, daß Stunde auf Stunde verging und ſie immer nebeneinander lagen, ſtumm, ſtumm, regungslos und über und über zitternd beide. Sie ſtreckte die Hand nach ihm aus, und der Atem ſeines Mundes floß in die Luft gleich dem ihren. Als es von der Schloßuhr zwölf ſchlug, ſchauerte Clara zuſammen. Sie erhob ſich und ſagte mit tiefer Beteuerung vor ſich hin: „Nie, nie, nie, nie.“ Dann ſchritt ſie zum Fenſter und öffnete es. Der Regen hatte längſt aufgehört, das Firmament war klar, der ganze Sternenhimmel lag funkelnd vor ihr da. Ihre volle Bruſt drängte den unbekannten Welten entgegen, denn von dieſer, auf der ſie lebte, war ſie ſatt. Sie ſagte zu Caſpar, er könne die Nacht im Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu ſehen, ob Frau von Imhoff noch wach ſei. Sie ſchritt am Speiſeſaal vorbei, wo die Herren noch beim Wein ſaßen und laut redeten. Die Baronin hatte ſich gleichfalls noch nicht zur Ruhe begeben. Clara teilte ihr mit, daß Caſpar bis jetzt bei ihr geweſen ſei. Frau von Imhoff nickte, ſah aber die Freundin etwas verlegen und verwundert an. „Ich werde morgen früh meinen Koffer packen und reiſen,“ ſagte Clara leiſe und mit einem Ausdruck unwiderruflicher Beſtimmtheit, der ihr bisweilen eigen war und ihre kindlichen Züge ſeltſam hart und leidend machte. Frau von Imhoff erhob ſich überraſcht und trat nahe an die Freundin heran. Plötzlich fielen ſie einander in die Arme, und Clara ſchluchzte. Sie verſtanden ſich; es war nicht nötig zu ſprechen. Als ſich Clara losriß, ſagte ſie, ſie werde Caſpar noch in die Stadt begleiten. „Das kannſt du unmöglich tun,“ wandte Frau von Imhoff ein, „oder ich werde dir wenigſtens den Diener mitgeben.“ „Bitte, nicht,“ antwortete Clara lächelnd, „du weißt doch, daß ich keine Furcht habe. Es beirrt mich auch, wenn man meinethalben ängſtlich iſt. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich auf den einſamen Rückweg.“ Eine Viertelſtunde ſpäter wanderte ſie mit Caſpar über die noch feuchte Straße gegen die Stadt. Sie redeten auch jetzt nichts, und vor dem Lehrerhaus reichten ſie einander die Hände. „Jetzt gehſt du wahrſcheinlich fort von mir, Clara,“ ſagte da plötzlich Caſpar und ſchaute ſie mit einem verſchleierten Blick an. Sie war ebenſo erſtaunt wie bewegt über dieſe Worte, die ein tiefes Vorgefühl verrieten. Wie ſchön ſind ſeine Augen, dachte ſie, ſie ſind hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er doch auch ſonſt einem Reh, das traurig-verwundert im dunkeln Wald ſteht. „Ja, ich gehe,“ erwiderte ſie endlich. „Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“ „Ich komme wieder,“ verſicherte ſie mit einer gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Aufſchrei erſtarb. „Ich komme wieder. Wir werden uns ſchreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“ „Ich komme wieder; das hab’ ich ſchon einmal gehört,“ ſagte Caſpar bitter. „Bis Weihnachten iſt lang. Und ſchreiben tu’ ich nicht. Was hat man vom Schreiben, iſt ja doch nur Papier. Geh nur, leb wohl.“ „Es kann nicht anders ſein,“ flüſterte Clara, und ihr Blick ſuchte die Sterne. „Sieh, Caſpar, dort oben iſt das Ewige. Wir wollen es nicht vergeſſen wie alle andern. Wir wollen nichts vergeſſen. Ach, vergeſſen, vergeſſen, darin liegt alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne, Caſpar, und wenn du hinaufſchauſt, bin ich bei dir.“ Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Leb wohl,“ ſagte er matt. Im Erdgeſchoß wurde ein Fenſter geöffnet, und das mit einer Bettmütze gekrönte Haupt des Lehrers wurde ſichtbar, um gleich darauf wieder zu verſchwinden. Es war eine ſchweigende Mahnung. Ich will Bettine bitten, daß ſie ihn täglich beſucht, überlegte Clara, während ſie allein durch die öden Gaſſen ging; ich bring’ ihm Unheil, wenn ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir entgegen, wie er fürchterlicher nicht zu denken iſt. Schweſter! Wie war mir doch, als er mich Schweſter nannte! Die himmliſche Seligkeit pochte mir an die Bruſt. So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden, und mehr noch; aber, gerechter Gott, mehr darf es nicht ſein. Ihn anzutaſten! Seinen Schlummer ſtören! O verbrecheriſche Lippen, denen ein Kuß nichts bedeutet! Hätt’ ich’s getan, ich müßte ſeine Mörderin heißen, was kann ich Beſſeres tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn ſchützen; vermeſſen, wollt’ ich durch meine armſelige Gegenwart ihn behütet glauben; ein ſo edles Ding kann nicht zugrunde gehen, weil ſich zwei Augen von ihm wenden. Dieſe wirre und aufgeregte Gedankenfolge entſchleiert ein rettungslos verſtricktes Gemüt, das in ſeiner Schwärmerei den Entſchluß eines Opfers faßt, verzagt, geblendet durch den Anblick von ſo viel Schickſal und in ſeiner Betrübnis irregehend an den Kreuzwegen der Liebe. Den Blick beſtändig zum Himmel gerichtet, und zwar auf das ſchöne Sternbild des Wagens, das wie ein erſtarrter Zackenblitz im Dunkelblauen ſchwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal des Schloſſes eine Geſtalt lehnte. Sie prallte erſt zurück, als ihr die nächtige Perſon den Weg verſtellte. O Gott, der Grauenvolle, dachte ſie. Hickel, denn dieſer war es, verneigte ſich gegen die beſtürzte Frau. „Vergebung, Madame, Vergebung,“ murmelte er. „Und nicht nur für dieſen Überfall, auch für das andre. Sie ſind zu ſchön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten, zu erwägen, daß Ihre ſublime Schönheit mit meinem Kopf umſpringt wie ein mutwilliger Knabe mit ſeinem Kreiſel, wenn Sie in Betracht ziehen wollten, daß es ſelbſt beim Komödieſpiel einen Punkt gibt, wo die verrückt gewordene Phantaſie den Gegenſtand ihrer Wünſche beſudelt und das Bildliche eiferſüchtig für ein Wirkliches hält, ſo würden Sie vielleicht Ihren zerknirſchten Diener durch ein tröſtliches Wort beglücken.“ Alles dies klang einfältig, formlos, geziert, höhniſch und verzweifelt. Er ſchien die Worte zwiſchen den Zähnen zu zerquetſchen, und man konnte ihm anſehen, daß er ſich nur mit Anſtrengung ſteif und ruhig hielt. Clara trat einen Schritt zurück, verſchränkte die Arme, drückte ſie feſt gegen die Bruſt und ſagte befehlend: „Laſſen Sie mich vorbei!“ „Madame, von Ihrem Mund hängt zur Stunde manches ab,“ fuhr Hickel fort und hob den Arm mit der ſtarren Bewegung einer Wachsfigur. „Ich bin nie ein Bettler geweſen. Hier ſteh’ ich und bettle. Verleugnen Sie nicht Ihr Geſicht, das einen Engel glauben läßt!“ Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der auf ſie gewartet, öffnete ſogleich. Als ſie drinnen war, ſpürte ſie eine entſetzliche Übelkeit. In ihrem Hirn war etwas wie zerriſſen. Auf der Treppe ſtockte ſie; ihr war, als müſſe ſie umkehren und den furchtbaren Mann noch einmal anreden. Als Caſpar am nächſten Nachmittag zu Imhoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, daß Frau von Kannawurf ſchon abgereiſt ſei. Er bat Frau von Imhoff, ſie möchte ihm Claras Bild zeigen, das er ſeit dem erſten Geſellſchaftſabend, dem er im Schloſſe beigewohnt, nicht mehr geſehen. Die Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das Porträt zwiſchen zwei Ahnenbildniſſen an der Wand hing. Er ſetzte ſich davor und betrachtete es lange mit ſtummer Aufmerkſamkeit. Als er ging, verſprach Frau von Imhoff, ihm eine Zeichnung von dem Bild anfertigen zu laſſen. Er war ſo zerſtreut, daß er nicht einmal dankte. 26. Quandt unternimmt den letzten Sturm auf das Geheimnis