Der Mai brachte viel Regen. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caſpar und Frau von Kannawurf ganze Nachmittage lang durch die Umgegend. Caſpar vernachläſſigte plötzlich ſein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: „Ich bin der dummen Schreiberei überdrüſſig.“ Was ihm von den maßgebenden Perſonen höchlichſt verübelt wurde.
Der von Hickel neuaufgenommene und für die Dauer ſeiner Abweſenheit ſtreng unterwieſene Burſche ward gleich zu Anfang ſo läſtig, daß ſich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann darüber beſchwerte. Weniger aus Einſicht als um der ſchönen Frau gefällig zu ſein, geſtattete der Hofrat, daß Caſpar ſeine Spaziergänge mit ihr allein unternehme. „Hoffentlich entführen Sie mir den Hauſer nicht,“ ſagte er mit ſeinem fiskaliſch-ſchlauen Lächeln zu der Sprachloſen.
Nun aber machte wieder Quandt Schwierigkeiten. „Ich beſtehe auf meiner Inſtruktion,“ war ſein eiſernes Sprüchlein. Eines Morgens erſchien daher Frau von Kannawurf in der Studierſtube des Lehrers und ſtellte ihn kühn zur Rede. Quandt konnte ihr nicht ins Geſicht ſehen; er war vollkommen verdattert und wurde abwechſelnd rot und blaß. „Ich bin ganz zu Ihren Dienſten, Madame,“ ſagte er mit dem Ausdruck eines Menſchen, der ſich auf der Folter zu allem entſchließt, was man von ihm haben will.
Frau von Kannawurf ſchaute ſich mit gelaſſener Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Sie ſich eigentlich innerlich zu Caſpar?“ fragte ſie auf einmal. „Lieben Sie ihn?“
Quandt ſeufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn ſo lieben, wie ſeine achtungswerten Freunde glauben, daß er es verdient,“ antwortete er meiſterhaft verſchnörkelt.
Frau von Kannawurf erhob ſich. „Wie ſoll ich das verſtehen?“ brach ſie leidenſchaftlich aus, „wie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf Händen tragen?“ Ihr Geſicht glühte, ſie trat dicht vor den erſchrockenen Lehrer hin und ſah ihn drohend und traurig an.
Doch ſie beſänftigte ſich ſchnell und ſprach nun von andern Dingen, um den ihr erſtaunlichen Mann beſſer kennen zu lernen. Ihr war jeder Menſch ein Wunder und faſt alles, was Menſchen taten, etwas Wunderbares. Deshalb erreichte ſie ſelten ein vorgeſetztes Ziel. Sie vergaß ſich und überſchritt die Grenze, die ein oberflächlicher Verkehr bedingt.
Quandt ärgerte ſich nachher gründlich über ſeine nachgiebige Haltung. Was mag denn da wieder dahinter ſtecken? grübelte er. So oft die kleinen Briefchen von Frau von Kannawurf an Caſpar kamen, öffnete er und las ſie, ehe er ſie dem Jüngling gab. Er brachte nichts heraus; der Inhalt war zu unverfänglich. Wahrſcheinlich verſtändigen ſie ſich in irgendeiner Geheimſprache, dachte Quandt und ſtellte gewiſſe wiederkehrende Phraſen zuſammen in der Hoffnung, damit den Schlüſſel zu finden. Caſpar wehrte ſich gegen dieſe Eingriffe, worauf Quandt ihm mit ungewöhnlicher Beredſamkeit das Recht der Erzieher auf die Korrespondenz ihrer Pfleglinge bewies.
Schließlich bat Caſpar ſeine Freundin, ihm nicht mehr zu ſchreiben. So unverfänglich wie die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er unſichtbar die beiden hätte belauſchen können, ihre Geſpräche gefunden. Es kam vor, daß ſie ſtundenlang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Iſt es nicht ſchön im Wald?“ fragte dann die junge Frau mit dem innigſten Klang ihrer ſüßen Stimme und einem kleinen, vogelhaft zwitſchernden Lachen. Oder ſie pflückte eine Blume vom Wieſenrain und fragte: „Iſt das nicht ſchön?“
„Es iſt ſchön,“ antwortete Caſpar.
„So trocken, ſo ernſthaft?“
„Daß es ſchön iſt, weiß ich noch nicht gar lange,“ bemerkte Caſpar tief, „das Schöne kommt zuletzt.“
Ihn machte der Frühling diesmal glücklich. Mit jedem Atemzug fühlte er ſich eigentümlich bevorzugt. Wahrhaftig, daß es ſchön war, hatte er bis jetzt noch nie bedacht. Die ſeiende Welt ſchlang ſich wie ein Kranz um ihn. Solang die Sonne am blauen Himmel ſtand, leuchteten ſeine Augen in verwundertem Glück. Er iſt wie ein Kind, das man nach langer Krankheit zum erſtenmal in den Garten führt, ſagte ſich Frau von Kannawurf. Ihr gütiges Herz klopfte höher bei dem Gedanken, daß ſie vielleicht nicht ohne Einfluß auf dieſe Stimmung war. Bisweilen wand ſie junges Waldlaub um ſeinen Hut, und dann ſah er ſtolz aus. Aber er war doch immer in ſich gekehrt und immer ſo verhalten, als ringe er mit einem großen Entſchluß.
Eines Tages kamen ſie überein, daß er ſie einfach Clara und ſie ihn Caſpar nennen ſolle. Sie amüſierte ſich über die geſchäftsmäßige Geſetztheit, mit der er ſeinerſeits dieſen Vertrag einhielt. Er beluſtigte ſie überhaupt oft, beſonders wenn er ihr kleine Moralpredigten hielt oder etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert tadelte. Er ermahnte ſie auch, nicht gar ſo viel herumzulaufen und ihre Geſundheit zu ſchonen. Nun ſah es ja manchmal wirklich aus, als habe ſie die Abſicht, ſich zu ermüden und zu erſchöpfen. Eine ihrer Leidenſchaften beſtand darin, auf Türme zu ſteigen; auf dem Turm der Johanniskirche wohnte ein alter Glöckner, ein weiſer Mann in ſeiner Art, durch lange Einſamkeit beſchaulich und ſanft geworden; ſie ſcheute nicht die Anſtrengung der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm wie mit einem Freund oder lehnte über die eiſerne Brüſtung der ſchmalen Galerie und ſchaute über das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte ſie auch ſo ins Herz geſchloſſen, daß er zu gewiſſen Abendſtunden nach der Richtung des Imhoffſchlößchens verabredete Zeichen mit ſeiner Laterne gab.
Jeden Tag machte ſie neue Reiſepläne, denn ſie gefiel ſich nicht in der kleinen Stadt. Caſpar fragte, warum ſie denn ſo fortdränge, aber darüber wußte ſie im Grund keinen Aufſchluß zu geben. „Ich darf nicht wurzeln,“ ſagte ſie, „ich werde unglücklich, wenn ich zufrieden bin, ich muß immer auf Entdeckungsfahrten gehen, ich muß Menſchen ſuchen.“ Sie blickte Caſpar zärtlich an, indes ihr kleiner Mund unaufhörlich zuckte.
Einmal, und das war das einzige Mal überhaupt, daß davon geſprochen wurde, erwähnte ſie der Feuerbachſchen Schrift. Caſpar griff nach ihrer Hand, die er mit ſonderbarer Kraft ſo ſtark preßte, als wolle er damit das Wort zerquetſchen, das er vernommen. Frau von Kannawurf ſtieß einen leiſen Schrei aus.
Es war ſchon Abend; ſie gingen noch bis zu der Straßenkreuzung, an der ſie ſich gewöhnlich voneinander trennten. Da ſagte Frau von Kannawurf raſch und eindringlich, indem ſie ſich nah zu ihm ſtellte und auf ſeine Stirn ſtarrte: „Alſo wollen Sie es auf ſich nehmen?“
„Was?“ entgegnete er mit ſichtlichem Unbehagen.
„Alles —?“
„Ja, alles,“ ſagte er dumpf, „aber ich weiß nicht, ich bin ja ganz allein.“
„Natürlich allein, aber etwas andres wünſchen Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das iſt es eben, nur nicht mehr drunten, ſondern droben —“ Sie konnte nicht weiterreden, er legte die eine Hand auf ihren Mund und die andre auf den ſeinen. Dabei glänzten ſeine Augen beinahe voll Haß. Plötzlich dachte er mit einer Art freudiger Beſtürzung: ob meine Mutter ſo ähnlich iſt wie dieſe da? Er hatte ein durſtiges und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es war zugleich etwas in ihm, wovor ihn widerte. „Ich geh’ jetzt heim,“ ſtieß er mit wunderlichem Unwillen hervor und entfernte ſich voll Eile.
Frau von Kannawurf ſah ihm nach, und als die Dunkelheit ſchon längſt ſeine Geſtalt verſchlungen hatte, heftete ſie noch die großen Kinderaugen in die Richtung ſeines Weges. Es war ihr furchtbar bang ums Herz. Er iſt ſicher der mutigſte aller Menſchen, dachte ſie, er ahnt nicht einmal, wieviel Mut er beſitzt; was bewegt mich doch ſo ſehr, wenn ich mit ihm rede oder ſchweige? Warum ängſtigt’s mich ſo, wenn ich ihn ſich ſelbſt überlaſſen weiß?
Sie ging heimwärts und brauchte zu einem Weg von wenig mehr als tauſend Schritten über eine halbe Stunde. Im Weſten leuchteten Blitze wie feurige Adern.
Caſpar hatte ſich frühzeitig zu Bett begeben. Es mochte ungefähr vier Uhr morgens ſein, da wurde er durch einen lauten Ruf aufgeweckt. Es war auf der Straße außerhalb des Hofs, und die Stimme rief: „Quandt! Quandt!“
Caſpar, noch im Halbſchlaf, glaubte die Stimme Hickels zu erkennen. Es wurde irgendwo ein Fenſter geöffnet, der von der Straße ſagte etwas, was Caſpar nicht verſtehen konnte, bald hernach ging eine Tür im Haus. Es blieb dann eine Weile ruhig. Caſpar legte ſich auf die Seite, um weiterzuſchlafen, da pochte es an ſeine Zimmertür. „Was gibt’s?“ fragte Caſpar.
„Machen Sie auf, Hauſer!“ antwortete Quandts Stimme.
Caſpar ſprang aus dem Bett und ſchob den Riegel zurück. Quandt, vollſtändig angekleidet, trat auf die Schwelle. Sein Geſicht ſah im Morgengrauen grünlich fahl aus.
„Der Präſident iſt tot,“ ſagte er.
In einem ſchwindelnden Gefühl ſetzte ſich Caſpar auf den Bettrand.
„Ich bin im Begriff hinzugehen, wenn Sie ſich anſchließen wollen, machen Sie raſch,“ fuhr Quandt murmelnd fort.
Caſpar ſchlüpfte in die Kleider; er war wie betrunken.
Zehn Minuten darauf ſchritt er neben Quandt auf dem Weg zur Heiligenkreuzgaſſe. Im Garten vor dem Feuerbachſchen Haus ſtanden Leute, die halb verſchlafen, halb beſtürzt ausſahen. Ein Bäckerjunge ſaß auf der Treppe und heulte in ſeine weiße Schürze hinein. „Glauben Sie, daß man nach oben darf?“ fragte Quandt den Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Geſicht und tief in die Stirn gedrücktem Hut auf und ab ging.
„Die Leiche iſt ja noch gar nicht in der Stadt,“ ſagte ein alter Artilleriehauptmann, an deſſen Schnurrbart kleine Regentropfen hingen.
„Das weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er folgte etwas beklommen Caſpar, der ins Haus eingetreten war. Im unteren Stock ſtanden alle Türen offen. In der Küche ſaßen zwei Mägde vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten geſchlagen war. Sie ſchienen angſtvoll zu horchen. Caſpar und Quandt vernahmen eine durchdringende Stimme, die ſich näherte. Sie ſahen alsbald eine weibliche Geſtalt mit hochgehobenen Armen durch eines der Zimmer laufen. Sie ſchrie vor ſich hin wie raſend.
„Die Unglückliche,“ ſagte Quandt verſtört.
Es war Henriette. Ihr Geſchrei dauerte ununterbrochen fort, bis einige Damen erſchienen, darunter Frau von Stichaner. Quandt begab ſich mit Caſpar an die Schwelle des Staatsgemachs. Die Frauen bemühten ſich um Henriette, ſie aber ſtieß jede mit den Fäuſten von ſich. „Ich hab’s gewußt,“ ſchrie ſie, „ich hab’s gewußt, ſie haben ihn mir vergiftet, haben ihn vergiftet!“ Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihr Blick war rot. Sie ſtürmte in ein andres Zimmer, das loſe Nachtgewand flatterte hinter ihr, und immer gellender ſchallte ihr Geſchrei: „Sie haben ihn vergiftet! vergiftet! vergiftet!“
Caſpar hatte keinen andern Ruhepunkt für ſein Auge als das Napoleonbild, dem er gegenüberſtand. Es kam ihm vor, als müſſe der gemalte Kaiſer ſchon müde ſein von der unabläſſigen majeſtätiſchen Drehung, die ſein Hals machte.
„Laſſen Sie uns gehen, Hauſer,“ ſagte Quandt, „es iſt zuviel des Jammers.“
Im Flur ſtand der Regierungspräſident Mieg im Geſpräch mit Hickel. Der Polizeileutnant berichtete alle Einzelheiten der Kataſtrophe. In Ochſenfurt am Main habe Seine Exzellenz über Unwohlſein geklagt und ſei zu Bett gegangen; in der Nacht habe er gefiebert, der gerufene Arzt habe ihm zur Ader gelaſſen und habe behauptet, die Krankheit ſei bedeutungslos. Am Morgen darauf ſei plötzlich das Ende eingetreten.
„Und welcher Urſache ſchrieb der Arzt ſeinen Tod zu?“ erkundigte ſich Herr von Mieg und verbeugte ſich gleichzeitig, da Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf an ſeine Seite traten. Frau von Imhoff weinte.
Hickel zuckte die Achſeln. „Er glaubte an Herzſchwäche,“ erwiderte er.
Ungeachtet des frühen Morgens war ſchon die ganze Stadt auf den Beinen. Über dem Dach des Appellgerichts wehten zwei ſchwarze Fahnen.
Caſpar blieb den Tag über in ſeinem Zimmer. Niemand ſtörte ihn. Er lag auf dem Sofa, die Hände unterm Kopf, und ſtarrte in die Luft. Spät nachmittags bekam er Hunger und ging in die Wohnſtube. Quandt war nicht da. Die Lehrerin ſagte: „Um vier Uhr iſt die Leiche angekommen; Sie ſollten eigentlich hingehen, Hauſer, und ihn nochmal ſehen, bevor er begraben wird.“
Caſpar würgte an einem Stück Brot und nickte.
„Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit den Totenweibern,“ fuhr die Lehrerin geſchwätzig fort, „aber die Männer denken immer, alles geht ſo, wie ſie’s ausrechnen.“
Der Flur des Feuerbachſchen Hauſes war angefüllt von Menſchen. Caſpar drückte ſich in einen Winkel und ſtand eine Weile unbeachtet. Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche Geruch, der im Hauſe herrſchte, benahm ihm die Sinne. Da ſpürte er ſich bei der Hand gepackt. Aufſchauend, erkannte er Frau von Imhoff. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, in deſſen Mitte der Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbachs ſaßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag regungslos über die Leiche hingeworfen. Am Fenſter ſtanden der Hofrat Hofmann und der Archivdirektor Wurm. Sonſt war niemand im Zimmer.
Das Geſicht des Toten war gelb wie eine Zitrone. Um die Winkel des ſcharfen, verbiſſenen Mundes hatten ſich große Muskelknoten gebildet. Das ſchiefergraue Kopfhaar glich einem kurzgeſchorenen Tierfell. Es war nichts mehr von Größe in dieſen Zügen, nur zähneknirſchender Schmerz und eine unmenſchliche, eiſige Angſt.
Caſpar hatte noch nie einen Toten geſehen. Sein Geſicht bekam einen qualvoll-wißbegierigen Ausdruck, die Augäpfel drehten ſich in die Winkel, und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn und Mund. Sein ganzes Herz löſte ſich in Tränen auf.
Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der Bahre, und als ſie den Jüngling ſah, verzerrten ſich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er ſterben müſſen!“ ſchrie ſie mit einer Stimme, vor der alle erbebten.
Caſpar öffnete die Lippen. Weit nach vorn gebeugt, ſtarrte er das halbwahnſinnige Weib an. Zweimal klopfte er ſich mit der Hand gegen die Bruſt — er ſchien zu lachen —, plötzlich gab er einen dumpfen Laut von ſich und ſtürzte ohnmächtig zu Boden.
Alle waren erſtarrt. Die Söhne des Präſidenten waren aufgeſtanden und ſchauten bekümmert auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor Wurm eilte, als er ſich gefaßt hatte, zur Tür, wahrſcheinlich um einen Arzt zu rufen. Der beſonnene Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man ſolle kein unnötiges Aufſehen machen. Frau von Imhoff kniete neben Caſpar und befeuchtete ſeine Schläfe mit ihrem Riechwaſſer. Er kam langſam zu ſich, doch dauerte es eine Viertelſtunde, bis er ſich erheben und gehen konnte. Frau von Imhoff begleitete ihn hinaus. Damit ſie ſich nicht durch die Menge der Beſucher im Korridor zu drängen brauchten, führte ſie ihn über eine Hintertreppe in den Garten und anerbot ſich, ihn nach Haus zu bringen. „Nein,“ ſagte er unnatürlich leiſe, „ich will allein gehen.“ Er ſteckte ſeine Naſe in die Luft und ſchnüffelte unbewußt. Sein Puls ging ſo ſchnell, daß die Adern am Hals förmlich flogen.
Er entwand ſich dem liebreichen Zuſpruch der jungen Frau und ging mit trägen Schritten gegen die Hauptallee des Gartens. Vor dem Portal ſtieß er auf den Polizeileutnant. „Nun, Hauſer!“ redete ihn Hickel an.
Caſpar blieb ſtehen.
„Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß,“ ſagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort erſetzen?“
Caſpar antwortete nichts und ſchaute gleichſam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob er aus Glas wäre.
„Guten Abend,“ ertönte da eine glockenhelle Stimme, die Caſpar wunderſam berührte. Frau von Kannawurf trat an ſeine Seite. Hickels Geſicht wurde um eine Schattierung bleicher. „Gnädigſte Frau,“ ſagte er mit einer Galanterie, die ſich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Gelegenheit benutzen, Ihnen meine ungemeſſene Verehrung zu Füßen zu legen?“
Frau von Kannawurf trat unwillkürlich einen Schritt zurück und ſah erſchrocken aus.
Der Polizeileutnant hatte die Miene eines Menſchen, der ſich in ein tiefes Waſſer ſtürzt. Er beugte ſich nieder, und ehe Frau von Kannawurf es hindern konnte, packte er ihre Hand und drückte einen Kuß darauf, und zwar mit den nackten Zähnen; als er ſich aufrichtete, waren ſeine Lippen noch getrennt. Ohne eine Silbe weiter zu ſprechen, eilte er davon.
Mit weiten Augen blickte ihm Frau von Kannawurf nach. „Grauenhaft iſt mir der Menſch,“ flüſterte ſie. Caſpar blieb völlig teilnahmlos. Frau von Kannawurf begleitete ihn ſchweigend nach Hauſe.
Als er in ſeinem Zimmer war, bekamen ſeine Augen einen geiſterhaften Glanz und flammten in der Dämmerung wie zwei Glühwürmer. Er ſtellte ſich in die Mitte des Raumes, und vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, ſagte er in beſchwörendem Ton folgendes:
„Kenn’ ich dich, ſo nenn’ ich dich. Biſt du die Mutter, ſo höre mich. Ich geh’ zu dir. Ich muß zu dir. Einen Boten ſchick’ ich dir. Biſt du die Mutter, ſo frag’ ich dich: warum das lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr, und die Not iſt groß. Caſpar Hauſer heißen ſie mich, aber du nennſt mich anders. Zu dir muß ich gehn ins Schloß. Der Bote iſt treu, Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten. Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“
Plötzlich ergriff ihn eine ſonderbare Ruhe. Er ſetzte ſich an den Tiſch, nahm einen Bogen Papier und ſchrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit hinderte, dieſelben Worte nieder. Darauf faltete er den Bogen zuſammen, und da er kein Wachs beſaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unſchlitt aufs Papier träufeln und drückte das Siegel darauf, das ein Pferd vorſtellte mit der Legende: Stolz, doch ſanft.
Es verging eine halbe Stunde; er ſaß regungslos da und lächelte mit geſchloſſenen Augen. Bisweilen ſchien es, als bete er, denn ſeine Lippen bewegten ſich ſuchend. Er dachte an Schildknecht. Er wünſchte ihn herbei mit aller Kraft ſeiner Seele.
Und als ob dieſem Wünſchen die Macht innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, ſchallte auf einmal vom Hof herauf der wohllautende Triolenpfiff. Caſpar ging zum Fenſter und öffnete; es war Schildknecht. „Ich komm’ hinunter,“ rief ihm Caſpar zu.
Unten angelangt, packte er Schildknecht beim Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf die einſame Gaſſe. Dort forderte er ihn ſtumm auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er zögernd inne und ſpähte umher. Sie kamen beim Häuschen des Zolleinnehmers vorüber und auf einen Wieſenplan. Auf dem Rain ſtand ein Bauernwagen. Caſpar ſetzte ſich auf die Deichſel und zog Schildknecht neben ſich. Er näherte ſeinen Mund dem Ohr des Soldaten und ſagte: „Jetzt brauch’ ich Sie.“
Schildknecht nickte.
„Es geht um alles,“ fuhr Caſpar fort.
Schildknecht nickte.
„Da iſt ein Brief,“ ſagte Caſpar, „den ſoll meine Mutter bekommen.“
Schildknecht nickte wieder, diesmal voll Andacht. „Weiß ſchon,“ antwortete er, „die Fürſtin Stephanie —“
„Woher wiſſen Sie’s?“ hauchte Caſpar betroffen.
„Hab’s geleſen. Hab’s in dem Buch vom Staatsrat geleſen.“
„Und weißt auch, wo du hingehen mußt, Schildknecht?“
„Weiß es. Iſt ja unſer Land.“
„Und willſt ihr den Brief geben?“
„Will es.“
„Und ſchwörſt bei deiner Seligkeit, daß du ihr ſelber den Brief gibſt? Aufs Schloß gehſt? In die Kirche, wenn ſie dort iſt? Ihren Wagen aufhältſt, wenn ſie auf der Straße fährt?“
„Iſt kein Schwören nötig. Ich tu’s, und wenn’s Knollen regnet.“
„Wenn ich’s tun wollte, Schildknecht, ich käm’ nicht bis ins nächſte Dorf. Sie würden mich abfangen und einſperren.“
„Weiß es.“
„Wie willſt du’s anſtellen?“
„Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald ſchlafen, bei Nacht laufen.“
„Und wo den Brief verſtecken?“
„Unter der Sohle, im Strumpf.“
„Und wann kannſt du fort?“
„Wann’s beliebt. Morgen, heute, gleich, wenn’s beliebt. Iſt zwar Fahnenflucht, macht aber nichts.“
„Wenn’s gelingt, macht es nichts. Haſt du Geld?“
„Nicht einen Taler. Macht aber nichts.“
„Nein. Geld iſt nötig. Brauchſt viel Geld. Geh mit mir, ich hole Geld.“
Caſpar ſprang empor und ſchritt in der Richtung des Imhoffſchlößchens voran. Am Tor gebot Caſpar dem Soldaten zu warten. Er ging hinein und ſagte zum Pförtner, er müſſe Frau von Kannawurf ſprechen. Es war etwas in ſeinem Ausſehen, was dem alten Hausmeiſter Beine machte. Frau von Kannawurf kam ihm alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege in einen kleinen Saal, der nicht erleuchtet war. Ein wandhoher Spiegel glitzerte im Mondſchein. Der Pförtner machte Licht und entfernte ſich zögernd.
„Fragen Sie mich nichts,“ ſagte Caſpar mit fliegendem Atem zu der Freundin, die keines Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten. Geben Sie mir zehn Dukaten.“
Sie blickte ihn ängſtlich an. „Warten Sie,“ antwortete ſie leiſe und ging hinaus.
Es dünkte Caſpar eine Ewigkeit, bis ſie wiederkam. Er ſtand am Fenſter und ſtrich beſtändig mit der einen Hand über ſeine Wange. Still, wie ſie gegangen, kehrte Frau von Kannawurf zurück und reichte ihm eine kleine Rolle. Er nahm ihre Hand und ſtammelte etwas. Ihr Geſicht zuckte über und über, ihre Augen ſchwammen wie im Nebel. Verſtand ſie ihn? Sie mußte wohl ahnen; doch ſie fragte nicht. Ein trübes Lächeln irrte um ihre Lippen, als ſie Caſpar hinausbegleitete. Sie war ergreifend ſchön in dieſem Augenblick.
Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors und guckte ernſthaft in den Mond. Sie gingen zuſammen ſtadtwärts; nach ein paar hundert Schritten blieb Caſpar ſtehen und gab Schildknecht den Brief und die Geldrolle. Schildknecht ſagte keine Silbe. Er blies ein wenig die Backen auf und ſah harmlos aus.
Vor dem Kronacher Buck meinte Schildknecht, es ſei beſſer, wenn man ſie nicht mehr beieinander ſähe. Ein Händedruck, und ſie ſchieden. Dann drehte ſich Schildknecht noch einmal um und rief anſcheinend fröhlich: „Auf Wiederſehen!“
Caſpar blieb noch lange wie verhext an demſelben Fleck ſtehen. Er hatte Luſt, ſich ins Gras zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, für die er plötzlich Dankbarkeit empfand.
Spät kam er heim, blieb aber glücklicherweiſe ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen Beſprechung halber zum Hofrat Hofmann befohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre nur, Jette,“ ſagte er, „der Staatsrat hat ſich während der letzten Tage, die er mit dem Polizeileutnant beiſammen war, von der Sache des Hauſer gänzlich losgeſagt. Er ſoll ſogar mit dem Plan umgegangen ſein, die Denkſchrift für den Hauſer öffentlich als einen Irrtum zu erklären.“
„Wer hat’s geſagt?“ fragte die Lehrerin.
„Der Polizeileutnant; es heißt auch allgemein ſo. Der Hofrat iſt derſelben Anſicht.“
„Es heißt aber auch, daß der Staatsrat vergiftet worden iſt.“
„Ach was, dummes Geſchwätz,“ fuhr Quandt auf. „Hüte dich nur, daß du dergleichen verlauten läßt. Der Polizeileutnant hat gedroht, daß er die Verbreiter von ſo gefährlichen Redensarten verhaften laſſen und unerbittlich zur Rechenſchaft ziehen werde. Was macht der Hauſer?“
„Ich glaube, er iſt ſchon ſchlafen gegangen. Nachmittags war er bei mir in der Küche und beklagte ſich über die vielen Fliegen in ſeinem Zimmer.“
„Weiter hat er jetzt keine Sorgen? Das ſieht ihm ähnlich.“
„Ja. Ich ſagte ihm, er ſoll ſie doch hinausjagen. Das tu’ ich ja, antwortete er, aber dann kommen immer gleich zwanzig wieder herein.“
„Zwanzig?“ ſagte Quandt mißbilligend. „Wieſo zwanzig? Das iſt doch nur eine willkürliche Zahl?“
Man begab ſich zur Ruhe.
Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg ein und ſtiegen im „Stern“ ab. Daumer ſuchte alsbald Caſpar auf. Caſpar war gegen ſeinen erſten Beſchützer frei und offen, und doch hatte Daumer den quälenden Eindruck, als ſehe und höre ihn Caſpar gar nicht. Er fand ihn blaß, größer geworden, ſchweigſam wie ſtets und von einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugeſchloſſen, ganz eingeſponnen in dieſe Heiterkeit, die, ſeltſam wirkend, dunkle Schatten um ihn warf.
In einem Brief an ſeine Schweſter ſchrieb Daumer unter anderm: „Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den Jüngling zu ſehen. Nein, es iſt mir ſchmerzlich, ihn zu ſehen, und fragſt du mich nach dem Grund, ſo muß ich wie ein dummer Schüler antworten: Ich weiß nicht. Übrigens lebt er hier ganz in Frieden und wird wohl, trübſelig zu melden, all ſeine Tage hindurch als ein obskurer Gerichtsſchreiber oder dergleichen figurieren.“
Während Herr von Tucher am ſelben Nachmittag wieder abreiſte, und zwar ohne ſich um Caſpar zu kümmern, blieb Daumer noch drei Tage in der Stadt, da er Geſchäfte bei der Regierung hatte. Beim Begräbnis des Präſidenten ſah er Caſpar nicht; er erfuhr ſpäter, daß Frau von Imhoff ſeine Anweſenheit zu verhindern gewußt hatte. Er machte bald die kränkende Entdeckung, daß Caſpar ihm gefliſſentlich auswich. Eine Stunde vor ſeiner Abreiſe ſprach er mit dem Lehrer Quandt darüber.
„Kann ein Mann von Ihrer Einſicht um eine Erklärung dieſes Betragens verlegen ſein?“ ſagte Quandt erſtaunt. „Es iſt doch ganz klar, daß er jetzt, wo er eine immer größer werdende Gleichgültigkeit um ſich entſtehen ſieht und die Folgen davon täglich empfinden muß, daß er jetzt durch den Anblick ſeiner Nürnberger Freunde in Verlegenheit gerät und ſie nach Kräften zu meiden ſucht. Denn dort ſtand er ja in floribus und glaubte wunder was für Roſinen in ſeinem Kuchen ſteckten. Wir aber, verehrter Herr Profeſſor, ſind ihm dicht auf der Spur; es wird nicht mehr lange dauern und Sie werden merkwürdige Nachrichten hören.“
Quandt ſah bekümmert aus, und ſeine Worte klangen fanatiſch. Ob danach Daumer gerade mit hoffnungsvoller Bruſt die Fahrt zum heimatlichen Bezirk angetreten habe, ſteht zu bezweifeln. Faſt hätte er wie in jener ſtillen Nacht, als er Caſpar im Geiſt und leibhaftig an ſich gedrückt, klagend über die ſommerlichen Felder gerufen: Menſch, o Menſch! Aber dabei hatte es ſein Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln bemächtigte ſich des verwirrten Mannes; in ſeinem Hirn gährte es wie ſchlechtes Gewiſſen, und langſam, den Entſchluß zur Tat und Sühne weckend, zur viel zu ſpäten Tat und Sühne, entſtand eine erſte Ahnung der Wahrheit.