Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 20. Quandt begibt ſich auf ein heikles Gebiet Kaum war Caſpar zu Haus in die Wohnſtube getreten, ſo merkte er, daß etwas Beſonderes los ſein mußte. Quandt ſaß am Tiſch und korrigierte mit finſterer Miene die Schülerhefte, die Lehrerin wiegte den Säugling auf den Knien und erwiderte, dem Beiſpiel ihres Mannes folgend, ſeinen Abendgruß nicht. Die Lampe war noch nicht angezündet, ein ſcharlachner Abendhimmel flammte durch die Fenſter, und als Caſpar ſeinen Hut aufgehängt, ging er wieder hinaus in den Hof. Dort ſpielte das vierjährige Söhnchen des Lehrers mit Schusſern, Caſpar ſetzte ſich daneben auf die Steinbank; nach einer Weile erſchien Quandt, und kaum hatte er die beiden beieinander geſehen, als er hineilte, das Kind bei der Hand ergriff und es raſch wie von einem mit anſteckender Krankheit Behafteten wegführte. Caſpar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus. Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf die Frau allein. „Was gibt es denn bei uns, Frau Lehrerin?“ fragte er. „Na, wiſſen Sie denn nicht?“ verſetzte die Frau befangen. „Haben Sie denn nichts davon gehört, daß ſich die Magiſtratsrätin Behold zum Fenſter heruntergeſtürzt hat? Es ſteht in der Nürnberger Zeitung heut.“ „Heruntergeſtürzt?“ flüſterte Caſpar aufgeregt. „Ja; vom Dachboden ihres Hauſes hat ſie ſich in den Hof geſtürzt und den Kopf zerſchmettert. Die ganze letzte Zeit her ſoll ſie ſich wie eine Verrückte aufgeführt haben.“ Caſpar wußte nichts zu ſagen; ſeine Augen erweiterten ſich, und er ſeufzte. „Es ſcheint Ihnen ja nicht beſonders nahezugehen, Hauſer,“ ließ ſich plötzlich die Stimme Quandts vernehmen, der leiſe hereingetreten war, als er die beiden ſprechen gehört hatte. Caſpar wandte ſich um und ſagte traurig: „Sie war ein ſchlechtes Weib, Herr Lehrer.“ Quandt ſtellte ſich dicht vor ihn hin und rief ſchneidend: „Unſeliger, der du dich nicht entblödeſt, das Andenken einer Toten zu beſudeln! Das ſoll Ihnen unvergeſſen bleiben! Nun haben Sie Ihre ſchwarze Seele enthüllt! Pfui, pfui, ſage ich, und abermals pfui! Gehen Sie mir aus den Augen! Fällt es Ihnen denn nicht aufs Herz, daß die Hingegangene am Ende vielleicht durch Sie, durch den Kummer über den erlittenen Undank zu einer ſolchen Tat getrieben wurde? Ahnen Sie das nicht? Freilich, ein Selbſtſüchtling wie Sie ſchert ſich wenig um die Leiden andrer Menſchen, ihm iſt nur das eigne Wohlergehen wichtig.“ „Mann, Mann, beruhige dich doch,“ miſchte ſich die Lehrerin ein mit einem ſcheuen Blick auf Caſpar, der aſchfahl geworden war und mit völlig geſchloſſenen Augen daſtand, während er die Fingerſpitzen ſeiner Hände gegeneinander gelegt hatte. „Du haſt recht, Frau,“ erwiderte Quandt, „ich vergeude meine Entrüſtung an taube Ohren. Was kann an einem Menſchen noch zu beſſern ſein, der ſelbſt dem Tod gegenüber nicht ein bißchen Andacht und Demut aufbringt? Da iſt Hopfen und Malz verloren.“ Als Caſpar in ſein Zimmer kam, glänzte noch die letzte Glut des Sonnenuntergangs über den Hügeln. Er ſetzte ſich ans Fenſter, nahm einen der Blumentöpfe zur Hand und ſchaute darauf nieder. Die Stengel in den Hyazinthenkelchen ſchüttelten ſich, und ihm war, als vernehme er fernes Geläute. Er wünſchte ſich das Angeſicht einer Blume, um keinen Blick eines Menſchenauges erwidern zu müſſen. Oder er wünſchte wenigſtens ſich im Schoß einer Blume bergen zu können, ſolange bis das Jahr vorüber war, von deſſen Wende er ſo vieles hoffte. Dort könnte man ſtille ſein und warten. In den nächſten Tagen wurde der Magiſtratsrätin keine Erwähnung getan, Quandt vermied es ſorgfältig, den Namen der Frau Behold zu nennen. Um ſo mehr war er überraſcht, als Caſpar ſelbſt davon anfing; am Samſtag beim Mittageſſen ſagte er plötzlich, es gereue ihn, was er über die Tote geſagt, er ſehe ein, daß es unrecht ſei, eine Verſtorbene anzuklagen. Quandt horchte hoch auf. Aha, dachte er, ſein Gewiſſen regt ſich! Aber er entgegnete nichts, ſondern verzog nur das Geſicht, als wolle er ſagen: Laſſen wir das, ich weiß mein Teil. Doch ſtach ihn die Galle, und während ſie alle drei ſchweigend die Suppe löffelten, konnte er ſich nicht enthalten zu ſagen: „Sie müßten ſich doch eigentlich bis in den Fußboden hinein ſchämen, Hauſer, wenn Sie an Ihr Benehmen gegen die unſchuldige Tochter der Magiſtratsrätin denken.“ „Wieſo?“ verſetzte Caſpar verwundert. „Was hab’ ich denn getan?“ „Ei, wollen Sie auch jetzt noch das Lämmchen ſpielen?“ antwortete der Lehrer abſchätzig. „Gottlob hab’ ich alles ſchriftlich und eigenhändig von der Seligen, da hilft kein Leugnen.“ Caſpar ſtaunte unruhig vor ſich hin. Er fragte wieder, da ging Quandt zum Sekretär, holte aus einer Schublade den Brief der Frau Behold hervor und las, neben Caſpar ſtehend, mit dumpfer Stimme vor: „Iſt viel Gerede geweſen von ſeinem keuſchen Sinn und ſeiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hierüber kann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab’s mit meinen eignen Augen geſehen, wie er ſich meiner damals dreizehnjährigen Tochter_... unziemlich und unmißverſtehlich näherte.“ Caſpar begriff allmählich. Langſam legte er Löffel und Brot beiſeite, und der Biſſen blieb ihm im Munde ſtecken. Seine Augen wurden ganz dunkel, er erhob ſich, rief mit jammernder Stimme: „Ach, dieſe Menſchen, dieſe Menſchen!“ und ſtürzte hinaus. Das Ehepaar ſah einander an. Die Lehrerin legte die Hand breit auf das Tiſchtuch und ſagte nachdrücklich: „Nein, Quandt, ich kann’s nicht glauben. Da muß ſich die ſelige Rätin geirrt haben. Er weiß doch nicht mal, was eine Frau iſt.“ Auch Quandt war gerührt. „Das eben ſteht dahin, das wäre zu beweiſen,“ meinte er kopfſchüttelnd. „Du biſt leichtgläubig, meine Gute. Ich erinnere dich nur daran, daß er bei der Geburt unſers Mädchens zu meiner Befremdung wie ein gereifter Mann über die Sache ſprach. Es war mir das gleich enorm verdächtig. Immerhin gebe ich zu, daß Frau Behold in dem Brief zu weit gegangen ſein mag und daß ich mich infolgedeſſen zu einer Übereilung habe hinreißen laſſen. Aber ich muß dahinterkommen, wie weit ſeine Wiſſenſchaft in dem Punkte geht, denn an ſein Kindergemüt, das weißt du, glaub’ ich nun einmal nicht.“ „Du mußt ihn wieder verſöhnen, Quandt, es war zu arg, das da,“ ſagte die Lehrerin. Quandt machte eine bedenkliche Miene. „Verſöhnen? Ja, gut; ich will’s gern tun. Aber er iſt dann immer ſo lieb und anſchmiegſam, daß man ihm ſchwer widerſtehen kann, und dadurch wird das objektive Urteil getrübt. Ich werde morgen einmal mit dem Pfarrer Fuhrmann über das Thema ſprechen.“ Geſagt, getan. Doch leider zeigte Quandt bei dieſem Anlaß die Umſtändlichkeit einer alten Jungfer und umſchrieb das, was er ſagen wollte, mit blühenden Redefiguren, als ob zwiſchen Mann und Weib nur Beziehungen ätheriſcher Art wären, die zuweilen unglücklicherweiſe in den Staub gezogen und befleckt würden durch beleidigende, aber nicht auszurottende Zwiſchenfälle. Der geiſtliche Herr mußte lächeln. Nach einigem verwunderten Nachdenken antwortete er, er habe an Hauſers Charakter nach dieſer Richtung etwas Anſtößiges nicht im geringſten beobachtet, Caſpar ſcheine ihm in allem, was das Verhältnis der Geſchlechter betreffe, noch ein vollſtändiges Kind. Zum Beweis deſſen erzählte er dem Lehrer, daß Caſpar vor ungefähr einem Monat beim Leſen einer Bibelſtelle, die ihm aufgefallen war und die er ihm ſo gut es ging erklärt, mit ſchönem Zaudern von einer gewiſſen wiederkehrenden Beunruhigung geſprochen habe, einem Zuſtande, der ihn ſicherlich ſchon oft bedrängt und für deſſen Deutung er nirgends eine vertrauende Anſprache gefunden. Der alte Mann verſicherte, daß ihm die Art und Weiſe, wie Caſpar dies vorgebracht, unvergeßlich ſein werde, es habe wie ein ahnungsloſer Vorwurf gegen die Natur geklungen, die etwas mit ihm anſtellte, wogegen er ſich nicht wehren könne. Quandt ließ ſich kein Wort entgehen. Er ſah das mit ganz andern Augen an. Er erblickte darin die Merkmale einer verderbten Phantaſie. Doch äußerte er von ſeiner Anſicht gegen den Pfarrherrn nichts, ſondern begab ſich in ſtillem Vorbedacht nach Hauſe, legte ſich emſig auf die Lauer und paßte die Gelegenheit ab. Am Tag darauf ſollte Caſpar bei Imhoffs eſſen, er kam aber wieder zurück, denn die Baronin war krank und lag zu Bett. Beim Abendtiſch kam das Geſpräch darauf, und da Quandt ſein Bedauern ausdrückte, ſagte Caſpar: „Ach, die wird vielleicht nie mehr ganz geſund.“ „Was reden Sie da, Hauſer,“ fiel die Lehrerin ein, „ſo eine junge Frau, ſo reich und ſo ſchön.“ „Ach,“ entgegnete Caſpar wehmütig, „Reichtum und Schönheit tun’s nicht. Die hat ſich ſchon zu ſehr hinuntergegrämt.“ „Ja, hat ſie denn ihren Kummer am Ende Ihnen anvertraut?“ forſchte Quandt ungläubig. Caſpar beantwortete die Frage nicht und fuhr wie zu ſich ſelbſt redend fort: „Nichts fehlt ihr auf der Welt, nur der Mann iſt nicht wie er ſein ſollte, hat andre lieber. Warum? Er iſt doch ſonſt ſo geſcheit! Aber wenn ſich die Frau auch zu Tod betrübt, deshalb wird es nicht beſſer. Und die Leute hinterbringen ihr alles; ich hab’ ihr geſagt, das ſind keine Freunde, die Ihnen ſolches Zeug erzählen, wahre Freunde ſind das nicht.“ „Hm,“ machte Quandt und ſchaute eigentümlich lächelnd auf ſeinen Teller. Er beſiegte ſein Schamgefühl und fragte mit gezwungener Leichtigkeit, ob denn Herr von Imhoff in neuerer Zeit ſeiner Frau wieder Anlaß zur Sorge gegeben habe, ſeines Wiſſens habe doch erſt im März eine Verſöhnung ſtattgefunden. „Ja, freilich hat er Anlaß gegeben,“ verſetzte Caſpar unbefangen, „es iſt ja wieder ein Kind von ihm da.“ Quandt erſchrak. Da haben wir’s, dachte er. Und ſo hart es ihn auch ankam, er beſchloß, Caſpar gleich auf den Zahn zu fühlen. Er wechſelte mit ſeiner Frau einen Blick des Einverſtändniſſes und bat ſie, ſie ſolle nach den Kindern ſchauen. Als nun die Frau das Zimmer verlaſſen hatte, wandte ſich der Lehrer, blaß und aufgeregt durch die Schwierigkeit ſeines Vorhabens, an Caſpar und fragte ihn unvermittelt, ob er ſchon einmal mit einem Frauenzimmer etwas gehabt habe, es lägen verſchiedene Mutmaßungen vor, und Caſpar möge offen wie mit einem Vater zu ihm reden. Dieſe Worte ſtimmten Caſpar dankbar; er ſah in ihnen ein Zeichen von Teilnahme, obgleich er ihren Sinn und Zweck nicht verſtand, ſondern bloß das trübe Element, aus dem ſie ſtiegen, furchtſam ahnte. Er überlegte. „Mit einem Frauenzimmer? Ja wie?“ murmelte er. „Meine Frage iſt doch deutlich, Hauſer; ſtellen Sie ſich nicht ſo kindiſch.“ „Ja, ich verſteh’ ſchon,“ ſagte Caſpar eilig, um die gute Laune des Lehrers nicht zu verſcherzen; „und da iſt auch was geweſen.“ „Na, nur heraus damit! Nur Mut!“ Und harmlos begann Caſpar zu erzählen: „So vor ungefähr ſechs Wochen hab’ ich meinen Sonntagsanzug zur Putzerin in die Uzensgaſſe getragen. Sie wiſſen doch, Herr Lehrer, es iſt das kleine Haus neben dem Bäcker. Wie ich hingekommen bin, war der Laden verſperrt, da bin ich hinauf in die Wohnung gegangen und hab’ an die Tür geklopft. Da hat mir ein junges Mädle aufgemacht und war im Nachtkleid, weiter hat ſie nichts am Leib gehabt, die ganze Bruſt hat man ſehen können, es war ſcheußlich. Sie hat mir die Sachen abgenommen und hat geſagt, ſie wollt’ es der Putzerin ausrichten. Ich war immer noch vor der Tür. Komm nur herein, ſagt ſie. Da bin ich hinein und frage, was ſie will. Da hat ſie angefangen vor mir herumzutänzeln, hat gelacht und ſonderliches Zeug geredet, hat mich gefragt, ob ich ihr Bräutigam ſein will, und zuletzt_—“ er zögerte lächelnd. „Zuletzt? Was zuletzt?“ fragte Quandt, indem er den Kopf weit vorbeugte. „Zuletzt hat ſie verlangt, ich ſoll ihr einen Kuß geben.“ „Nun, und?“ „Da hab’ ich ihr geſagt, dazu ſoll ſie ſich einen andern wünſchen, ich verſteh’ mich nicht aufs Schmatzen.“ „Und weiter?“ „Weiter? Weiter war nichts. Ich bin dann fortgegangen und ſie hat mir vom Fenſter aus nachgeſchaut.“ „Wie konnten Sie denn das bemerken?“ „Weil ich mich umgedreht hab’.“ „Soſo. Umgedreht. Wie heißt die Perſon?“ „Das weiß ich nicht.“ „Das wiſſen Sie nicht? Hm. Und_... ein zweites Mal waren Sie nicht dort?“ Caſpar verneinte. „Schöne Geſchichten,“ murmelte Quandt und erhob ſich mit einem Blick zum Himmel. Er ſpürte vorſichtig nach. Er erfuhr, daß bei jener Putzmacherin wirklich ein Frauenzimmer zweifelhafter Gattung zur Miete wohne. Der Erzählung Caſpars noch näher auf den Grund zu gehen hinderte ihn die Rückſicht auf ſeinen Ruf, hatte er doch ohnehin den Eindruck gewonnen, daß der Jüngling an der ganzen Begebenheit ſo unſchuldig nicht ſein konnte, als er ſich anſtellte; denn, ſo argumentierte er, zu einem derartig niedrigen Benehmen wie dem jenes weiblichen Geſchöpfs kann nur ein Menſch Anlaß geben, dem eine gewiſſe moraliſche Unzulänglichkeit auf der Stirn geſchrieben ſteht. Ja, wenn er nicht lügen würde, dann wäre alles anders, dachte Quandt; aber er lügt, er lügt, und das iſt das Fürchterliche. Hat er mir nicht erzählt, die Herzogin von Kurland habe ihm ein Dutzend geſtickter Taſchentücher geſchenkt? Kein Wort wahr. Hat er nicht behauptet, er kenne den Miniſterialrat von Spieß und habe im Schloßtheater mit ihm geſprochen? Lüge. Hat er nicht dem Muſikus Schüler weisgemacht, er habe die Idyllen von Geßner geleſen, und als ich ihn danach fragte, wußte er kein Wort darüber zu ſagen, wußte nicht einmal, was eine Idylle iſt? Gibt er nicht immer vor, dringende Beſorgungen zu haben, einmal für den Präſidenten, das andre Mal für den Hofrat, und ſpäter zeigt es ſich, daß er bloß herumgebummelt iſt, um einen neuen Schlips ſpazierenzutragen? Steht das nicht alles feſt, oder bin ich ſelbſt ſo dumm und ſo ungerecht, daß ich dieſen Dingen eine Bedeutung zumeſſe, die niemand ſonſt darin finden kann? Quandt wandte ſich an den Pfarrer Fuhrmann und legte ihm Punkt für Punkt die verdammenswerten Vergehungen vor. „Sehen Sie denn nicht, lieber Quandt,“ ſagte darauf der Pfarrer, „daß das lauter armſelige, kleine Lüglein ſind, kaum daß ſie den Namen verdienen? Es iſt das mehr ein Sichliebmachenwollen oder eine durch ihre Ohnmacht bemitleidenswerte Anſtrengung, Feſſeln abzuſtreifen, oder gar nur das harmloſe Vergnügen an einem Wort, an einer Redensart. Vielleicht ſpielt er nur mit ſeiner Zunge, wie er andre Menſchen damit ſpielen ſieht, nur eben viel ungeſchickter.“ „So?“ ereiferte ſich Quandt, „dann will ich Ihnen, Hochwürden, eine Geſchichte erzählen, die den ſtrikten Beweis des Gegenteils erbringt. Hören Sie zu. Vorige Woche findet unſre Magd des Morgens ſeinen Leuchter mit abgebrochener Handhabe; ſie zeigt es meiner Frau, meine Frau macht mich darauf aufmerkſam, und ich konſtatiere, daß der Henkel nicht abgebrochen, ſondern abgeſchmolzen iſt; das Rohr war bis ganz hinunter von der Hitze des Lichtes ſchwarzgebrannt und von außen rötlichblau überflammt, in der Schale konnte man deutlich ſehen, wie hoch das zerfloſſene Unſchlitt gereicht und wie es an mehreren Stellen abgeſchabt war; von der ganzen Kerze, die Hauſer den Abend zuvor erhalten, war keine Spur mehr da. Nun müſſen Sie wiſſen, daß ich ihm ſtreng verboten hatte, bei Kerzenlicht zu leſen oder zu arbeiten; trotzdem wollte ich ihn ſchonen und ließ ihn nur durch meine Frau verwarnen. Aber da leugnet er plötzlich alles ab, verſichert, daß er die Kerze weder wiſſentlich habe verbrennen laſſen, noch dabei eingeſchlafen ſei und erkühnt ſich am Ende zu der Behauptung, es ſei gar nicht ſein Leuchter, ſondern der der Magd, denn beide ſähen gleich aus. Was ſagen Sie dazu?“ Der Pfarrer zuckte die Achſeln. „Wir dürfen doch nicht vergeſſen, daß er trotz allem ein Weſen von beſonderer Beſchaffenheit iſt,“ erwiderte er nachdenklich. „Ich habe mich ſelbſt davon überzeugt. Ich beſitze eine kleine Elektriſiermaſchine, mit der ich manchmal ein bißchen experimentiere. Neulich nahm ich das Ding vor, während Caſpar dabei war, ließ die Funken ſpringen und lud die Leidener Flaſche. Da wird mir der arme Menſch bleich und zuſehends bleicher, fängt zu zittern an, ſpreizt die Finger ſtarr von ſich und ſein Körper zuckt wie ein Hecht, den man auf den Sand wirft. Ich war ſehr erſchrocken und räumte das Zeug beiſeite, worauf er wieder in ſeinen gewöhnlichen Zuſtand zurückkehrte. Doch ſchmerzte ihn der Kopf noch tagelang nachher, wie er mir geſtand; wenn er im Bette lag, hatte er kalten Schweiß, und die Dinge, die er anfühlte, ſtachen ihn wie mit winzigen Nadeln. Bezeichnenderweiſe ſagte er, beim Gewitter ſei ihm jedesmal ähnlich, da kitzle ihn und brenne ihn das Blut, daß er immerfort ſchreien möchte.“ „Und daran glauben Sie?“ rief Quandt, die Hände zuſammenſchlagend. „Ja, warum denn nicht?“ „Nun, wenn Sie daran glauben, befinde ich mich allerdings in einem großen Nachteil gegen den Menſchen, das muß ich zugeben,“ ſagte Quandt. „Das muß ich zugeben,“ wiederholte er bekümmert. So iſt es immer, dachte der Lehrer auf dem Nachhauſeweg; erſt wird entſchuldigt und beſchönigt, und wenn man ſeine triftigen Gründe vorbringt, werden die Achſeln gezuckt, und man tiſcht einem Hiſtörchen auf, die nicht geſtogen und geflogen ſind, und von denen ſich kein Jota beweiſen läßt. Was für ein Satan ſteckt doch in dem Burſchen, daß er überall Neigung und Teilnahme zu erwecken verſteht, wo er ſich auch zeigen mag! Daß kein Menſch ſeine Laſter ſehen will und ganz fremde Leute, darauf verſeſſen, ihn kennen zu lernen, das windigſte Entzücken äußern und ihn verhätſcheln, als ob ſie verzaubert wären, als ob er ihnen ein Liebestränkchen eingegeben hätte! Das erbitterte Quandt. Er ſagte ſich: nehmen wir an, ich träte unter unbekannte Menſchen und gäbe vor, der Heilige Geiſt oder ſein Apoſtel zu ſein oder ſpielte mich als Wundertäter auf, und es fiele dem oder jenem bei, ein wirkliches Wunder zu verlangen, und ich müßte zugeben, es ſei die blanke Spiegelfechterei, was würde da paſſieren? Man würde mich ins Narrenhaus ſtecken oder mit Prügeln traktieren; ja, das würde man, wenn ich auch noch ſo ein Engelsgeſicht aufſetzte, das würde man, und mit Recht; nicht aber würde man mich mit Geſchenken überhäufen und mich anhimmeln und meine ſchönen Augen und weißen Hände bewundern und mir Haare zum Andenken abſchneiden, wie ich das, Gott ſei’s geklagt, von einer verblendeten Menſchheit hier erleben muß. Aus einem Selbſtgeſpräch ſolcher Art geht klar hervor, wieviel Kopfzerbrechen und welche ernſte Seelenkämpfe dem Lehrer aus dem Umgang mit ſeinem Zögling erwuchſen. Und was war früher mit ihm? grübelte Quandt. Wo kommt er eigentlich her? Dahinter müßte doch zu kommen ſein. Wie hat er ſich das alles zurechtgelegt, womit er die Dunkelmänner betört? Ja, das iſt eben das Geheimnis, ſagen die Dunkelmänner. Geheimnis? Es gibt kein Geheimnis; ich verwerfe das Geheimnis. Die Welt von oben bis unten iſt ein klares Gebilde, und wo die Sonne ſcheint, verſtecken ſich die Eulen. Gäbe mir nur der Herrgott einen Wink, wie ich dieſer diaboliſchen Verſtellungskunſt zu Leibe gehen könnte! Man müßte einmal ernſtlich zuſehen, wie es mit dem Tagebuch beſchaffen iſt und was dahinterſteckt. Das Tagebuch ſcheint zu exiſtieren, es ſcheint damit ſeine Richtigkeit zu haben, abgeſehen von allem Geflunker; vielleicht iſt es eine Art Beichtgelegenheit für ihn; man muß dahinterkommen. Die Begebenheiten halfen Quandt, raſcher dahinterzukommen, als er gehofft. 21. Eine Stimme ruft