Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 17. Man erfährt einiges über Herrn Quandt ſowie über eine vorläufig noch ungenannte Dame Die Überſiedlung Caſpars ins Lehrerhaus fand ohne Zwiſchenfälle ſtatt. „Nun wohlan denn,“ ſagte Quandt während der erſten gemeinſamen Mahlzeit, als die Suppenſchüſſel aufgetragen wurde, „jetzt beginnt für Sie ein neues Leben, Hauſer. Hoffentlich iſt es ein Leben der Gottesfurcht und des Fleißes. Wenn wir uns lobenswert betätigen und in unſern Gedanken nicht den Schöpfer aller Dinge vergeſſen, wird unſer irdiſches Bemühen ſtets von Erfolg gekrönt ſein.“ Nach Tiſch mußte Quandt zur Schule, und als er um vier Uhr zurückkam, erkundigte er ſich befliſſen, was Caſpar die Zeit über getrieben habe. Seine Frau konnte ihm nur ungenügenden Beſcheid geben, und er tadelte ſie deshalb. „Wir müſſen aufpaſſen, liebe Jette,“ ſagte er, „wir müſſen die Augen offen halten.“ In der Tat, Quandt paßte auf. Wie ein emſiger Buchhalter legte er in ſeinem Innern ein Konto an, um alle Worte und Handlungen ſeines Pflegebefohlenen zu verzeichnen. Bei dieſer umſichtigen Geſchäftsführung ſtellte es ſich bald heraus, daß Soll und Haben einander nicht die Wage hielten, daß die Schuldſeite nach und nach bedenklich überlaſtet wurde. Das betrübte den Lehrer aufrichtig; jedoch gab es ein geheimes Winkelchen in ſeiner Bruſt, worin er ſich deſſen freute. Es war nämlich mit dieſem Manne derart beſchaffen, daß er in einer merkwürdigen Zweiheit exiſtierte. Der eine Teil war die öffentliche Perſon, der Bürger, der Steuerzahler, der Kollege, das Familienhaupt, der Patriot; der andre Teil war ſozuſagen der Quandt an ſich. Jener war ein Heros der Tugend, eine wahre Muſterſammlung von Tugenden; dieſer lag verſteckt in einer ſtillen Ecke und belauerte die liebe Gotteswelt. Die öffentliche Perſon, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allgemeinen Angelegenheiten, wohingegen der Quandt an ſich vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas paſſierte: ſei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltſtellung eines verdienten Beamten oder ein Diebſtahl bei einer Vereinskaſſa oder ein Radſchaden an der Poſtkutſche oder eine kleine Feuersbrunſt beim reichen Bauern Soundſo oder die ſkandalöſe Heirat der Gräfin Ypſilon mit ihrem Stallburſchen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienhaupt, der Kollege ſeinen Pflichten nachkam, der Quandt an ſich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Poſten, um der Weltregierung auf die Finger zu ſchauen, und ſtets beſorgt, daß keinem mehr Ehre geſchah, als er nach genauer Bilanz über ſeine Verdienſte und Mängel, ſeine Vorzüge und Laſter füglich beanſpruchen durfte. Der öffentliche Quandt ſchien zufrieden mit ſeinem Los, der geheime fand ſich allerorten und zu jeder Zeit zurückgeſetzt, beleidigt, vor den Kopf geſtoßen und in ſeinen vornehmſten Rechten gekränkt. Nun ſollte man denken, mit zwei ſo verſchieden geſinnten Koſtgängern unter einem Dach ſei ſchwer zu wirtſchaften. Nichtsdeſtoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid iſt ein boshaftes Tier; er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwiſchen den zwei Seelen, und wie oft der ſtärkſte Damm nicht genügt, um eine verheerende Überſchwemmung zu verhindern, ſo brach eben dieſer Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbeſtellten Gefilde des Gottes- und Menſchenfreundes Quandt. Und was gab es doch nicht alles in der Welt, worüber das tückiſche Untier ſich gefräßig hermachen konnte! Da hatte einer einen Orden bekommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen hockte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein andrer zehntauſend Taler geerbt, der ſchon ohnehin die Woche zweimal Paſteten aß und Moſelwein trank; da wurde ein Name lobend in der Zeitung erwähnt, ohne daß man erforſchen konnte, ob ihm eine ſolche Auszeichnung von Rechtswegen zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Entdeckung gemacht, auf die man, hätte man ſich zufällig mit dem Gegenſtand beſchäftigt, leichterdings auch hätte verfallen können. Warum denn der? Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufrühreriſche Quandt. Es war ein beſtändiger und unſichtbarer Zweikampf mit dem Schickſal unter der Parole: Warum der andre, warum nicht ich? Vielleicht litt der gute Quandt unter ſeiner Abſtammung; ſein Vater war Paſtor geweſen, mütterlicherſeits kam er von Bauern her. Er beſaß viel vom Bauern und vom Paſtor: ſein ſehr irdiſches Streben war rundherum mit Theologie behangen. Dabei war der Bauer dem Paſtor beſtändig im Wege, denn wo hätte man je gehört, daß ein auf Religion und Friedfertigkeit geſtimmtes Gemüt rachſüchtig, mißgünſtig und ehrgeizig geweſen wäre? Die Wahrheit liebte Quandt über alles; er ſagte es, er beteuerte es und es war auch ſo. Nichts war ihm offenbar genug; nirgends ſtimmte die Rechnung; überall hatten die Menſchen eine falſche Addition gemacht oder den Kaſus verwechſelt. Er ſagte und beteuerte, daß er niemals in ſeinem Leben gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und wirklich ſtand es feſt und war nachzuweiſen, daß er mit dem einzigen Buſenfreund, den er je beſeſſen, einem Schulamtskandidaten in Tauberbiſchofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte, weil er ihm auf eine Lüge gekommen war. Wie ratlos mußte nun Caſpar einer ſo ernſten Wachſamkeit, einer ſolchen Vereinigung von ſeltenen und vorbildlichen Eigenſchaften, wie ſie der beſſere Teil des Lehrers bot, gegenüberſtehen. Wir, der Leſer und ich, haben darin leichtes Spiel, uns kann man nicht betrügen, uns ſind die Kleiderfalten offen und die Haut über dem Herzen iſt uns durchſichtig; wir weilen auf einer höheren Warte, wir ſind Seher und Humoriſten; wir verfolgen Herrn Quandt, wenn er in einen Krämerladen tritt, mit höflicher Gemeſſenheit ein halbes Pfund Käſe verlangt und dabei mit unruhig-eifrigen Augen die Einkäufe ſeiner Nebenmenſchen, gleichviel ob es Köchinnen oder Generale ſind, in ſeinem Innern notiert; wir hören ihn, wenn er mit dem Oberinſpektor Kakelberg ſpricht und ſich mit Schmerz über die zunehmende Verlotterung der Schuljugend beklagt; wir ſehen ihn jeden Sonntagmorgen gebürſtet, friſiert, gewaſchen zum Gottesdienſt eilen und mit Beſcheidenheit ſein Gebetbüchlein aufſchlagen; wir wiſſen, daß er reſpektvoll gegen Höhere und unnachſichtig gegen Geringere iſt, denn ſein Pflichtbewußtſein nach beiden Seiten unterliegt keinem Zweifel. Aber wir wiſſen auch, daß er jeden Abend vor dem Schlafengehen im Nachthemd auf der Kante ſeines Bettes ſitzt und ſich mit düſterer Miene erinnert, daß ihn der Regierungsrat Hermann heute ziemlich nachläſſig gegrüßt hat; mit Bedauern nehmen wir von der Tatſache Kenntnis, daß er ſeine Schüler, ſelbſtverſtändlich nur die faulen und ſtörriſchen, mit einem ſorgſam getrockneten ſpaniſchen Rohrſtock empfindlich zu züchtigen pflegt, und leider dürfen wir nicht verhehlen, daß er ſeine gutmütige Frau nicht immer ſo zart und rückſichtsvoll behandelt, wie es vor Fremden geſchieht, die nach ihren Beobachtungen ohne weiteres der Anſicht ſind, daß dieſe Ehe als das leuchtende Beiſpiel eines guten Einvernehmens zwiſchen Gatten zu betrachten ſei. So war für Caſpar, der den Vorteil unſrer Allwiſſenheit und Allgegenwart natürlich nicht genießt, Herr Quandt eine zwar dunkle und unfrohe, aber durchaus imponierende Geſtalt. Ein bißchen Alpdruck ſpürte er jedesmal, wenn Quandt in wunderlich forſchendem Ton und mit unabgewandtem Blick zu ihm ſprach. Er fühlte ſich anfangs bedrückt in dieſer gar engen Häuslichkeit, in der man faſt nicht einmal mit ſeinen Gedanken allein ſein konnte, und der einzige Troſt war, daß der Graf, der ſchon anfangs Dezember hatte reiſen wollen, noch immer in der Stadt war. Stanhope behauptete zwar, auf wichtige Briefe warten zu müſſen, in Wirklichkeit harrte er jedoch der Rückkehr des Präſidenten Feuerbach, da ihn das Beginnen des Mannes, der Grund ſeines Fernſeins beunruhigte wie den Wanderer ein drohendes Gewitter. Auch Caſpar hielt ihn, und das in eigner Weiſe. Er pflegte den Jüngling jeden Nachmittag für eine oder anderthalb Stunden zum Spazierengehen abzuholen; ſie gingen dann gewöhnlich den Weg zum Schloßberg hinauf und gegen das Bernadotter Tal, das in ſchöner Abgeſchiedenheit wie eine Vorhalle zu den finſter umſchließenden und weitgedehnten Wäldern lag. Caſpar empfand einen ſehr wohltuenden Einfluß von der Bewegung in der kalten, meiſt froſtklaren Luft. Ihre Geſpräche ſtrebten ſtets von einem unverbindend perſönlichen Punkt aus ins Allgemeine, wo das zu Sagende gefahrlos wurde und doch das Lehrhafte wie das Erzählende nicht den Reiz einer anmutenden Vertraulichkeit entbehrte. Es ſchien dem ein Übereinkommen zugrunde zu liegen, ein Friedensſchluß vor einer dumpf gefühlten Wandlung, welche die vergangene Schönheit ihres Verhältniſſes vollends zerſtören mußte. So gingen ſie dahin, anzuſehen wie Freunde, in einer ihrem Schickſalskreis fremden Region aufrichtig einander ergeben, den Unterſchied der Jahre und der Erfahrung ausgleichend durch ein williges Schenken von der einen und ein nicht minder williges Empfangen von der andern Seite. Der Lord fand ſich durch dieſe Form eines Verkehrs lebhaft angezogen, ja im wahrſten Sinn ergriffen. Durfte er ſich doch auch einmal wieder unbefangen fühlen, ohne Joch, von keiner Peitſche zu ausbedungenem Ziel gezwungen; in ſich ſelber ruhend, betrachtſam und nicht ohne Wehmut überſchauend, wie das Leben in ſeiner Bruſt gehauſt und was es dem zwecklos ſpielenden Geiſt übrig gelaſſen, der ja das eigentliche Element iſt, in welchem der Menſch den Menſchen erkennt. Er ging über die Tiefen ſeines Daſeins hin wie über eine gebrechliche Brücke, die der leichteſte Windhauch in den Abgrund ſtürzen kann. Am liebſten redete er über Menſchenlos und Menſchendinge: erzählte, wie der begonnen, wie jener geendet, was dieſen ins Unheil geſtürzt und jenem zu Anſehen verholfen; wie er einen im Glück gewahrt, an der Tafel des Königs ſchwelgend, und wie ſelbiger zwei Jahre ſpäter in einer Dachkammer elend krepiert war. Ungleich ging es zu auf Erden; in ſchwer erklimmbarer Höhe blühten die Blumen; nichts ſicher, nichts von Beſtand, nirgends Verlaß. Gewiſſe Regeln durften nicht unbeachtet bleiben, nach welchen das Wirken des einzelnen ſich zu fügen hatte. Stanhope erwähnte das Buch des Lord Cheſterfield, eines Vorfahrs und weitläufigen Verwandten, der in berühmten Briefen an ſeinen Sohn gar treffliche Maximen gegeben hatte; ganze Seiten daraus wußte er aus dem Gedächtnis herzuſagen. Derſelbe Cheſterfield habe, um den Ahnenſtolz des Adels zu verſpotten, in ſeinem Schloß zwei Bilder aufhängen laſſen, einen nackten Mann und ein nacktes Weib, und darunter geſchrieben: Adam Stanhope, Eva Stanhope. Der Graf gab ſeiner Überraſchung darüber oft draſtiſchen Ausdruck, einen wie klugen Kopf er in Caſpar bei aller Einfalt und Schweigſamkeit entdeckte: immer zutreffend im Widerpart, durchaus weltlich geſtimmt, in Frage und Antwort aus erſter Hand, das Gegenſätzliche mühelos erfaſſend und phantaſievoll verknüpfend. Die Wandlung kam bald. Ein unbedeutender Anlaß führte ſie herbei. Eines Tages, während der Rückkehr nach der Stadt, ſprach ſich Stanhope darüber aus, wie fruchtbar es für die innere Haltung eines Menſchen ſei, wenn er ſeine Erlebniſſe nicht leichtſinnig vorüberfließen laſſe, ſondern ſie moraliſch zu nützen ſuche, indem er durch ſchriftliche oder mündliche Mitteilung den Stoff ſeines Nachdenkens bereichere. Caſpar fragte, wie er das meine; ſtatt der Antwort ſtellte der Graf, den dieſer Umſtand längſt beunruhigte, die lauernde Gegenfrage, ob Caſpar noch ein Tagebuch führe. Caſpar bejahte. „Und willſt du mir nicht gelegentlich daraus vorleſen?“ Caſpar erſchrak, überlegte und antwortete zögernd, ja, er wolle es tun. „So nehmen wir die gute Stunde wahr und machen uns gleich daran,“ ſagte Stanhope. „Ich wünſche nur einen ungefähren Einblick zu erhalten und bin neugierig, wie du ſo etwas anpackſt.“ Zu Hauſe angelangt, begleitete der Lord Caſpar auf deſſen Zimmer und nahm, der Erfüllung des Verſprechens gewärtig, auf dem Kanapee Platz. Im Ofen praſſelte Feuer; draußen herrſchte ſeit dem Mittag ſtarker Tauwind; es dämmerte ſchon, die Hügel waren violett umſchleiert. Caſpar machte ſich unter ſeinen Büchern zu ſchaffen, doch Minute auf Minute verging, ohne daß er ſich im geringſten anſchickte zu tun, was Stanhope erwartete. „Nun, Caſpar,“ meldete ſich endlich ungeduldig der Graf, „ich bin bereit.“ Da gab ſich Caſpar einen Ruck und ſagte, er könne nicht. Stanhope ſah ihn groß an; Caſpar ſchlug die Augen nieder. Das Tagebuch ſei unter vielen andern Sachen verſteckt, und es ſei unbequem, es zu erreichen, murmelte er ſtockend. „So ſo,“ verſetzte der Lord und lachte faſt lautlos durch die Naſe. „Wie flink du in Ausflüchten biſt, Caſpar; ich hätte nicht geglaubt, daß du ſo flink in ... Ausflüchten biſt. Ei, ſieh doch!“ In dieſem Moment klopfte und ſcharrte es an der Tür, der Lord rief und die Geſtalt Quandts ſchob ſich langſam ins Zimmer. Er tat erſtaunt, den Herrn Grafen hier zu finden, und fragte, ob Seiner Lordſchaft eine kleine Erfriſchung gefällig ſei. Der Lord dankte ſtumm und heftete den Blick fortgeſetzt auf Caſpar. Quandt merkte gleich, daß da was auf der Pfanne brodelte. Er erkundigte ſich, ob Seine Herrlichkeit Anlaß habe, mit dem Hauſer unzufrieden zu ſein. Stanhope entgegnete, er habe allerdings einigen Grund, ſich zu ärgern, und in kurzen Worten teilte er dem Lehrer mit, worum es ſich handle. Hierauf, zu Caſpar gewandt, ſagte er laut und markiert: „Wenn es von vornherein nicht in deiner Abſicht lag, mir von deinen Intimitäten Kenntnis zu geben, ſo hätteſt du es nicht verſprechen dürfen. Und wenn du dein Verſprechen bereut haſt, ſo durfteſt du es ſchicklich wieder zurücknehmen. Aber ſtatt deſſen zu einer ſolchen“ — eine beredte kleine Pauſe — „Ausflucht zu greifen, das ſcheint mir deiner und meiner nicht würdig.“ Er erhob ſich und verließ das Zimmer. Quandt folgte ihm. Unten im Flur blieb Stanhope ſtehen und fragte den Lehrer kurz angebunden, ob er ſich in der verfloſſenen Zeit ſchon ein Urteil über die Fähigkeiten und den guten Willen Caſpars gebildet habe. „Eben wollte ich Eure Lordſchaft ergebenſt erſuchen, mir zur Beſprechung dieſes Punktes eine Viertelſtunde Gehör zu ſchenken,“ erwiderte Quandt. Er nahm das Öllämpchen vom Nagel und bekomplimentierte den Lord in ſein Studio. Indes ſich Stanhope in den Lederſtuhl ſetzte, Bein auf Bein kreuzte und gelangweilt in die Luft ſtarrte, ramſchte Quandt ſeine Notizblätter zuſammen und ſagte, er habe den Hauſer gleich vom erſten Tag an tüchtig vorgenommen, ihm diktiert, ihn leſen und rechnen laſſen, die deutſche und lateiniſche Grammatik abgefragt, alles aus dem Gröbſten und nur des Überblicks halber. „Und das Ergebnis?“ fragte Stanhope, wobei die Langweile ſeine Naſenflügel auseinander dehnte. „Das Ergebnis? Leider ziemlich troſtlos, leider!“ Es mußte ein Schmerz für Herrn Quandt ſein, denn in dieſem „leider“ lag ein tiefgefühlter Ton. Es mußte ein Schmerz für ihn ſein, daß Caſpars Handſchrift ſo viel zu wünſchen übrigließ. „Er hat nichts Freies und Zügiges in ſeiner Hand, und mit der Orthographie ſteht er auf geſpanntem Fuß,“ ſagte er. Es mußte ein Schmerz für Quandt ſein, wenn ein Menſch den Dativ nicht in allen Fällen vom Akkuſativ unterſcheiden konnte. „Von der funktionellen Bedeutung des Konjunktivs hat er nicht die geringſte Vorſtellung,“ ſagte Quandt und fuhr fort: „Im ſprachlichen Ausdruck ſcheint er nicht ungewandt, hier ragt er ſogar über ſeine ſonſtige Bildungsſtufe hinaus, und er kennt die Sätze und ihre Verbindungen ſo weit, daß er den Punkt, das Kolon, das Anführungs-, Frage- und Ausrufungszeichen genau und das ſogar von Sprachforſchern ſo verſchieden in Anwendung gebrachte Semikolon manchmal richtig zu ſetzen weiß.“ Immerhin ein Lichtſtrahl. Hingegen die Arithmetik, o weh! Er beherrſcht die vier Grundrechnungen in gleichbenannten Zahlen noch nicht mit Sicherheit. „Eine Null wird für ihn bald da, bald dort zum unüberwindlichen Hindernis,“ ſagte Quandt. Die Lehre von den Brüchen, vom Kettenſatz, von den einfachen und zuſammengeſetzten Proportionen: ein hoffnungsloſes Dunkel. „Erſtaunlicherweiſe arbeitet er jedoch in dieſen Dingen am willigſten,“ ſagte Quandt. „Wie erklären Sie ſich das?“ erkundigte ſich der Lord mit der Neugierde eines Verſchlafenen, den man an den Füßen kitzelt. „Ich erkläre mir das ſo: Jedes Exempel ſtellt ſich als ein für ſich beſtehendes Ganzes dar. Ein ſolches zu geſtalten, dazu hat er immer Luſt und Verlangen, und es macht ihm Spaß, wenn er es vollendet ſieht. Was ihn aber lange beſchäftigt, erregt ſein Mißbehagen und kann ihn ſogar zu allerlei unwahren Entſchuldigungen veranlaſſen. Daher zeigt er ſich auch verdrießlich bis zum Zorn, wenn er ein leichtes Exempel falſch gerechnet hat und den Fehler der Oberflächlichkeit nicht finden kann.“ Weiter, weiter: Geſchichte, Geographie, Malen, Zeichnen ... Was die Geſchichte betreffe, ſo habe Quandt noch niemals und bei keinem Menſchen eine ähnliche Gleichgültigkeit gefunden, ſowohl gegen vaterländiſche Begebenheiten wie gegen welthiſtoriſche Fakta, gegen Monarchen, Staatsmänner, Schlachten, Umwälzungen, Helden und Entdecker. „Nur die Anekdote feſſelt ihn, ein Geſchichtlein, damit kann man ihn ködern.“ Traurig! Und die Geographie? „Auf der Erdkugel fühlt er ſich keineswegs zu Hauſe,“ ſagte Quandt. „Auch iſt er oft zerſtreut; er merkt nicht auf. Die nürnbergiſche Schwärmerei über ſein wunderbares Gedächtnis iſt mir ein Rätſel, ein unſagbares Rätſel, Mylord.“ Mylord hatte genug. Vom Malen und Zeichnen wollte Mylord nichts mehr wiſſen; er unterbrach den Lehrer, der Proben zeigen wollte, und warf ein, daß ihm die Ausbildung in dieſen Nebenfächern zwar wünſchenswert erſcheine, daß er aber kein großes Gewicht darauf lege. „Wünſchenswert, jawohl,“ verſetzte Quandt, „und das Wünſchenswerte ſollte doch gepflegt werden. Der Geiſt eines Menſchen iſt wie ein Zuchtgarten, in welchem das Schöne und das Nützliche nebeneinander gedeihen dürfen. Ich glaube, der mächtigſte Anſporn für den Hauſer iſt ſeine Eitelkeit. Wenn man es verſteht, ſeine Eitelkeit zu befriedigen, kann man ihn zu allem haben. Noch eine Frage, Mylord, haben Sie beſondere Wünſche wegen des Religionsunterrichts? Ich habe ſchon mit Herrn Pfarrer Fuhrmann geſprochen, der ſich erboten hat, zweimal wöchentlich Caſpar eine Stunde zu geben. Die Bibel habe ich ſelbſt mit ihm durchzunehmen begonnen.“ Stanhope hatte nichts dawider; er wollte aufbrechen, aber mit verlegenem Stottern brachte Quandt jetzt das Quartiergeld aufs Tapet, ſeine Frau liege ihm über die zunehmende Teuerung am Hals. Der Lord, ganz Seigneur, bewilligte kurzerhand einen Zuſchuß; es wurde vereinbart, daß Caſpar einen Mittagstiſch für zwölf und einen Abendtiſch für acht Kreuzer erhalten ſolle. Um den übeln Eindruck dieſer Erörterung zu verwiſchen, die ihn beſchämte und demütigte, äußerte Quandt den Wunſch, Seiner Lordſchaft nach deren Abreiſe periodiſchen Bericht über die Fortſchritte Caſpars zu ſenden. Stanhope, ſchon völlig ergeben, ſtellte dies ſeinem Belieben anheim. „Es wäre ratſam,“ ſchlug Quandt vor, „Hauſers Briefe an Eure Herrlichkeit zugleich als Stilübungen zu betrachten. Ich könnte, ohne natürlich am Gedanken etwas zu verändern, die Hauptfehler korrigieren und mit roter Tinte eine Zenſur darunter ſchreiben. So hätten Sie immer ein Bild ſeiner derzeitigen Fähigkeiten.“ Stanhope fand dieſen Gedanken unvergleichlich. Sie traten nun in den Flur, Quandt trug wieder das Öllämpchen voran. Auf einmal prallte er zurück und hielt das Lämpchen hoch. Am Stiegengeländer ſtand eine dunkle Geſtalt. Es war Caſpar. Aha, der hat gehorcht, fuhr es Quandt durch den Kopf. Er drehte ſich um und ſah den Lord beziehungsvoll an. Caſpar trat auf Stanhope zu und bat ihn mit bewegter Stimme, noch einmal auf ſein Zimmer zu kommen. Der Graf antwortete kalt, er habe wenig Zeit, Caſpar möge ſein Anliegen hier vorbringen. Caſpar ſchüttelte den Kopf; der Lord dachte, Caſpar habe ſich eines Beſſern beſonnen, er ſtellte ſich, als ob es ihn Überwindung koſte, dem Wunſch zu willfahren, dann ging er mit kleinen, wie gezählten Schritten die Stiege hinan. Quandt folgte unaufgefordert und blieb im Zimmer oben als ſtumme Perſon neben der Tür ſtehen. Caſpar ſagte, er wolle dem Lord das Tagebuch gerne zeigen, aber dieſer möge ihm verſprechen, nichts darin zu leſen. Der Lord verſchränkte die Arme über der Bruſt. Dies wurde ihm denn doch zu bunt. Aber er antwortete mit der Ruhe einer vollendeten Selbſtbeherrſchung: „Du kannſt mir wohl glauben, daß ich ohne deine Einwilligung nicht in deine Privatangelegenheiten dringen werde.“ Caſpar öffnete die Schublade des Kommodekäſtchens und hob den Zipfel eines Seidentüchleins, unter welchem das blaue Heft lag. Der Graf näherte ſich und blickte in wortloſer Befremdung bald auf das Heft, bald auf Caſpar. „Was für eine kindiſche Zeremonie!“ ſtieß er finſter heraus. „Ich hatte nicht die geringſte Begierde geäußert, deinen papierenen Schatz zu ſehen. Soviel ich weiß, wollteſt du mir daraus vorleſen; mit Flunkereien bitte ich mich zu verſchonen.“ Auch Quandt war nun herangekommen, und mit zweifelnden Blicken maß er das myſteriöſe Heft. Caſpar ſchaute währenddem, auch indes der Lord das Zimmer ſchweigend verließ, mit einem chineſiſch-ſchiefen, ſchief-beſinnenden Blick vor ſich hin, einem Blick der Verſunkenheit und Jenſeitigkeit, wie ihn manche Köpfe auf ſehr alten Bildern haben. „Wenn ich meine unmaßgebliche Meinung äußern darf,“ ſagte Quandt, der den Grafen zum Tor begleitete, „ſo muß ich geſtehen, ich glaube nicht an dieſes Tagebuch. Ich glaube nicht, daß ein Charakter wie der des Hauſer von ſich ſelbſt aus den Antrieb findet, ein Tagebuch zu führen. Ich kann mir nicht helfen, Mylord, aber ich glaube nicht daran.“ „Ja, denken Sie denn, daß er uns da bloß leeres Papier gezeigt hat?“ verſetzte Stanhope ſchroff. „Das nicht, aber_...“ „Was alſo?“ „Je nun, man muß der Sache nachgehen, man muß ſich damit beſchäftigen, man muß ſehen, was dahinter ſteckt.“ Stanhope zuckte die Achſeln und ging. Er hatte gehofft, aus den Aufzeichnungen des Jünglings mancherlei über ſich ſelbſt zu hören; dies lockte; er wußte, daß er dort auf einem hohen Poſtament ſtand und daß er vergöttert worden war; es iſt ſchön, vergöttert zu werden, wie wenig Ähnlichkeit man auch mit einem Gott haben mag, und wenngleich das Götterbild vom Sockel geſtürzt war, um ſeine Trümmer mußte noch eine reizende Romantik blühen. Dies lockte. An das Verräteriſche des Büchleins dachte er nicht, wollte er nicht denken, damit mochten ſich die Schergen abfinden. Trotzdem begab er ſich am nächſten Mittag ins Lehrerhaus, trat in Caſpars Zimmer und forderte kurz und ſtreng von dem Jüngling die Ablieferung der Briefe, die er ihm während ihrer Trennung nach Nürnberg geſchrieben. Caſpar gehorchte ohne zu fragen. Die Briefe, es waren nur drei, darunter der gefährliche, geſchwätzige, den der Graf zu fürchten hatte, lagen in einer beſonderen Mappe in einer Hülle von Goldpapier. Stanhope zählte ſie nach, ſteckte ſie in die Bruſttaſche und ſagte dann etwas milderen Tons: „Du holſt mich heute abend um acht Uhr vom Hotel ab. Wir ſind aufs Schlößchen zu Frau von Imhoff geladen. Zieh dich gut an.“ Caſpar nickte. Stanhope ſchritt zur Tür. Die Klinke in der Hand, drehte er ſich noch einmal um: „Morgen reiſe ich.“ In der Krümmung ſeines Mundes lag Überdruß und Grauen. Ihm graute plötzlich vor dieſer Stadt und vor ihren Menſchen, ihm graute vor etwas, das er wie eine hölliſche Unholdfratze über ſich in der Luft hängen ſah und dem er durch die Geſchwindigkeit ſeiner Pferde zu entrinnen hoffte. Den Präſidenten zu erwarten hatte er aufgegeben, denn Feuerbach hatte ſeinem Stellvertreter geſchrieben, er käme erſt nach Neujahr. „Morgen ſchon?“ flüſterte Caſpar betrübt; und nach einer Pauſe fügte er ſcheu hinzu: „Was abgemacht iſt, das gilt aber?“ „Was abgemacht iſt, das bleibt beſtehen.“ Die Einladung der Imhoffs war zugleich eine Abſchiedsfeier für den Grafen. Es waren gebeten: der Regierungspräſident Mieg, der Hofrat Hofmann, der Direktor Wurm, Generalkommiſſär von Stichaner mit Frau und Töchtern und einige andre Herrſchaften; alle kamen in großer Gala. Man war ſehr geſpannt auf Caſpars erſtes Erſcheinen in der hieſigen Geſellſchaft. Sein Auftreten enttäuſchte nicht. Wie fetierte man ihn, bemühte man ſich um ihn; man ſagte ihm Komplimente, die lächerlichſten Komplimente, lobte ſeine kleinen Ohren und ſchmalen Hände, fand, daß ihm die Narbe auf der Stirn, die vom Schlage des Vermummten herrührte, intereſſant zu Geſicht ſtehe, beſtaunte ſein Reden und ſein Schweigen und wähnte damit den Lord zu entzücken, der ſich jedoch über eine gemeſſene Höflichkeit hinaus nicht verpflichtete und dem überſchwenglichen Weſen der Damen ſeinen verbindlichſten Sarkasmus entgegenſetzte. Nachdem die Tafel aufgehoben war, erſchien der Kämmerling des Lords und brachte ein Paket, welches in ungefähr einem Dutzend Exemplaren das in Kupfer geſtochene Porträt Stanhopes enthielt, worauf er in Pairstracht mit der Grafenkrone dargeſtellt war. Er verteilte die Bilder an „die lieben Ansbacher Freunde“, wie er mit bezauberndem Lächeln ſagte. Das Kunſtwerk erfuhr die lauteſte Bewunderung, ſowohl in bezug auf die Ähnlichkeit wie auf die Ausführung; als jeder ſeinen Dank gezollt, kam das Geſpräch auf Bilder überhaupt, und es entſtand eine Meinungsverſchiedenheit darüber, ob man aus den Zügen eines Porträts auf die Charaktereigenſchaften der betreffenden Perſon ſchließen könne. Der Hofrat Hofmann, als der negative Geiſt, der er überhaupt war, beſtritt es mit großer Lebhaftigkeit und mit Aufwand von vielen Gründen; er ſagte, jedes Bildnis gebe ſchließlich doch nur eine Eſſenz der beſten oder einſchmeichelndſten oder am offenſten ſich darbietenden Eigenſchaften, es komme dem Maler oder Stecher nur darauf an, einen beſonderen, ſeinem Kunſtweſen verwandten Zug bis zur vorgeſetzten Wirkung zu übertreiben, ſo daß von der wahren Art des betreffenden Menſchen kaum noch etwas übrigbleibe. Dem wurde heftig widerſprochen; das hänge ja vor allem von dem Genie des Künſtlers ab, wurde erwidert, und Lord Stanhope, der die Äußerungen des Hofrats bei dieſem Anlaß als einen Mangel an Delikateſſe empfinden mußte, ereiferte ſich ſehr gegen ſeine ſonſtige Gepflogenheit und behauptete, er ſeinerſeits getraue ſich aus jedem Bildnis, wen es auch darſtelle und von weſſen Hand auch immer es gefertigt ſei, die ſeeliſche Beſchaffenheit der abgebildeten Perſon zu erraten. Bei dieſen Worten lächelte die Hausfrau bedeutungsvoll. Sie verſchwand in einem Nebenraum und kehrte alsbald mit einem goldgerahmten ovalen Ölbild zurück, das ſie, noch immer lächelnd, in kurzer Entfernung von dem Grafen aufrecht auf den Tiſchrand ſtellte. Die Gäſte drängten ſich herzu, und faſt von allen Lippen erſcholl ein Ausruf der Bewunderung. Es war ein äußerſt lebendig und natürlich gemaltes Bild, welches eine junge Frau von verblüffender Schönheit darſtellte: ein Geſicht weiß wie Alabaſter und überhaucht von zartem Roſenrot; klare und ebenmäßige Züge, einen Blick, dem offenbar die Kurzſichtigkeit etwas Poetiſches und Schüchternes gab, und im ganzen der Phyſiognomie ein himmliſches Leuchten von Gefühl. „Nun, Mylord?“ fragte Frau von Imhoff ſchelmiſch. Stanhope nahm eine neunmalweiſe Miene an und ließ ſich vernehmen: „Wahrlich, in dieſem Geſchöpf verbindet ſich orientaliſche Weichheit mit andaluſiſcher Grazie.“ Frau von Imhoff nickte, als ob ſie das Geſagte vortrefflich fände. „Schön, Mylord,“ meinte ſie, „wir wollen etwas über den Charakter der Dame wiſſen.“ „O, man will mich attrappieren!“ verſetzte Stanhope heiter. „Nun gut. Ich denke, es iſt das eine Frau, welche jede Art von Leiden oder Ungemach mit außerordentlicher Langmut zu ertragen verſteht. Sie iſt ſanft, ſie iſt gottesfürchtig, ſie liebt den idylliſchen Frieden des Landlebens, ihre Neigungen gehören den ſchönen Künſten_—“ Frau von Imhoff konnte nicht mehr an ſich halten und brach in beluſtigtes Lachen aus. „Ich bin ſicher, Graf, daß Sie nur, um mich zu necken, eine ſo falſche Deutung unternommen haben,“ ſagte ſie. Der Hofrat machte ein mokantes Geſicht, Stanhope errötete. „Wenn ich mich blamiert habe, ſo belehren Sie mich eines Beſſern, gnädige Frau,“ antwortete er galant. „Um das zu können, müßte ich Ihre Geduld länger als wünſchbar in Anſpruch nehmen,“ ſagte Frau von Imhoff plötzlich ernſt. „Ich müßte Ihnen von dem ungewöhnlichen Schickſal dieſer Frau erzählen, die meine beſte Freundin iſt, und ich würde Gefahr laufen, die gute Stimmung zu zerſtören, in der Sie ſich alle befinden.“ Aber man wollte ſich nicht damit zufriedengeben, und Frau von Imhoff mußte ſchließlich dem allgemeinen Drängen willfahren. „Meine Freundin kam als Mädchen von achtzehn Jahren an den Hof einer mitteldeutſchen Reſidenz,“ begann ſie mit einer reizenden Befangenheit. „Sie war vater- und mutterlos und in ihrer Exiſtenz ganz auf ihren Bruder angewieſen. Dieſer Bruder, ich will ihn der Kürze wegen den Freiherrn nennen, galt trotz ſeiner Jugend, er war nur um zehn Jahre älter denn ſeine ſchöne Schweſter, für einen Mann von hervorragenden Talenten; der Fürſt, obwohl ſchwächlich und ausſchweifend, wußte ſeine Fähigkeiten vollauf zu würdigen, gab eine der höchſten Stellen des Landes unter ſeine Verwaltung und überhäufte ihn mit Ehren und Auszeichnungen. Doch nahm der Freiherr an den Vergnügungen des Hofes nur inſofern teil, als er die Schweſter in die Salons und Geſellſchaften des Adels einführte, und er hatte auch die Genugtuung, daß ſie nicht nur durch ihre Schönheit, ſondern auch durch Geiſt, Anmut und ein ſelten befeuertes Naturell der Mittelpunkt jedes Kreiſes wurde, in dem ſie ſich ſehen ließ. „Eines Tages nun wurde das ruhige Zuſammenleben der beiden Menſchen auf eine furchtbare Weiſe zerſtört. Faſt zufällig machte der Freiherr die Entdeckung, daß in der Finanzverwaltung des Landes ganz ungeheuerliche Unterſchleife ſtattgefunden hatten, es handelte ſich um viele Hunderttauſende von Talern, und daß der Fürſt ſelbſt, in Bedrängnis geraten durch eine arge Mätreſſen- und Protektionswirtſchaft, bei dieſen zum Nachteil des Volkes ausgeführten Manipulationen beteiligt war. Der Freiherr wußte ſich keinen Rat. Er vertraute ſich der Schweſter an. Dieſe ſagte ihm: Hier gibt es kein Schwanken, geh zum Fürſten und mach ihn ohne Rückhalt auf die Schwere eines ſolchen Verbrechens aufmerkſam. Es geſchah. Der Fürſt geriet in Zorn, wies dem jungen Mann die Tür und deutete ihm an, daß er ſeinen Abſchied zu nehmen habe. Als der Freiherr ſeiner Schweſter von dem unerwarteten Ausgang ſeines Unternehmens Mitteilung machte, drängte ſie ihn, die Geſchichte vor die verſammelten Landſtände zu bringen. Auch dazu erklärte ſich der Freiherr bereit, eröffnete ſich aber vorher noch einem ſeiner Freunde, der den Entſchluß zu billigen ſchien. Derſelbe Freund ſchrieb ihm am nächſten Abend ein Briefchen, worin er ihn dringlichſt aufforderte, einer wichtigen Beſprechung halber ſogleich in ein nahe der Stadt gelegenes Luſthaus zu kommen. Ohne Zögern folgte der Freiherr dem Ruf, ließ, trotzdem es ſchon ſpät und die Nacht finſter war, ſein Pferd ſatteln und ritt davon. „Seit dieſer Stunde wurde er nicht mehr geſehen. Einige Leute wollten gegen Mitternacht in der Nähe jenes Luſthauſes Schüſſe gehört haben, aber wie dem auch ſein mochte, der Freiherr war verſchwunden, und was mit ihm geſchehen war, blieb ein unerklärtes Rätſel. Den Schmerz der Schweſter kann man ſich denken. Doch vom erſten Tag an verſchmähte ſie es, dieſem Schmerz ſich hinzugeben, und entfaltete eine erſtaunliche Tätigkeit. Da ſie nach und nach den Tod des Bruders glauben mußte, ſetzte ſie alles daran, um wenigſtens ſeinen Leichnam ausfindig zu machen. Sie nahm Arbeiter auf, die in der Umgebung des Luſthauſes wochenlang die Erde aufgraben mußten, mit Güte, mit Liſt, mit Drohungen beſchwor ſie den angeblichen Freund des Bruders, zu reden, wenn er etwas wiſſe; es war umſonſt, er behauptete, nichts zu wiſſen. Niemand wollte etwas wiſſen. Sie warf ſich dem Fürſten zu Füßen, der ſie huldvoll anhörte und, anſcheinend ſelbſt ergriffen, alles zu tun verſprach, um der Sache auf die Spur zu kommen. Es war umſonſt. Einige Tage darauf erkrankte ſie, ohne Zweifel durch Gift; der Verſuch wiederholte ſich. Plötzlich aber ſtarb der Fürſt an einem Schlagfluß. Ihres Bleibens an jenem ſchrecklichen Ort war nun nicht mehr. Sie begann zu reiſen und ſuchte an allen kleinen und großen Höfen Deutſchlands, ſpäter ſogar in London und Paris Miniſter, Monarchen und Männer der Öffentlichkeit zu gewinnen, um Sühne oder wenigſtens Aufklärung zu erlangen. Stellen Sie ſich das Leben vor,“ fuhr Frau Imhoff fort, „das meine Freundin auf ſolche Weiſe länger als drei Jahre führte, immer unterwegs, immer in Haſt, mit beſtändigen Widerwärtigkeiten kämpfend. Ein großer Teil ihres Vermögens ging nach und nach durch ihre fruchtloſen Anſtrengungen verloren. Als ſie nun endlich einſehen mußte, daß ſie nichts erreichen würde, daß die Verbrüderung der Schlechten und Gleichgültigen zu mächtig iſt, entſagte ſie mit derſelben Entſchloſſenheit, die ſie bisher an den Tag gelegt, allen weiteren Verſuchen, zog in eine kleine Univerſitätsſtadt und warf ſich mit einem wunderbaren Eifer auf das Studium der Politik, der Jurisprudenz und der Nationalökonomie. Nicht als ob ſie ſich damit gegen die Welt verſchloß, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache mit einer öffentlichen vertauſcht. Ihre glühende Seele, für den Gedanken der Völkerfreiheit und der Menſchenrechte entflammt, ſuchte Betätigung. Vor zwei Jahren heiratete ſie einen unbedeutenden und keineswegs geliebten Mann; es geſchah deshalb, weil ſich der Mann, dem ſie ſich ſchon geweigert hatte, aus Leidenſchaft zu ihr im Bade die Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und ſie nahm ihn. Doch wurde die Ehe ſchon nach wenigen Monaten in friedlichem Einverſtändnis gelöſt, der Mann iſt nach Amerika gegangen und Farmer geworden. Meine Freundin fing abermals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald aus Wien, bald aus Athen; ſeit einigen Monaten weilt ſie in Ungarn. Überall unterſucht ſie die Lage der Bauern und die Not des arbeitenden Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfindſam, ſondern mit ſachlicher Gründlichkeit; ihr profundes Wiſſen und ihre Kenntnis der Geſetze, Verfaſſungen und öffentlichen Einrichtungen hat ſchon manchem gelehrten Herrn Bewunderung abgezwungen. Sie iſt heute fünfundzwanzig Jahre alt und ſieht faſt immer noch ſo aus wie auf dieſem Bild, das vor ſechs Jahren gemalt wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl glauben, Mylord, daß bei ihr von orientaliſcher Weichheit und ſanfter Leidensdemut nicht wohl die Rede ſein kann. Sanft iſt ſie, ja ſie iſt ſanft, aber ganz anders, wie man ſich das gewöhnlich vorſtellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges und Tätiges, denn es iſt in ihr ein kühner Geiſt und ein erhabenes Vertrauen zu allem, was menſchlich iſt. Immer iſt ihr die Gegenwart das Höchſte.“ Ein lautloſes Schweigen bezeugte der Erzählerin die tiefe Wirkung, die ſie hervorgerufen. Und iſt es denn nicht prächtig, iſt es nicht prächtig-ſpannend und angenehm-gruſelig, ſich dergleichen im wohldurchheizten, hellerleuchteten Zimmer vorerzählen zu laſſen? Der Mann am Kamin reibt ſich gemütlich die Hände, wenn es draußen ſtürmt und wettert. Dem Mann am Kamin verurſacht es ein ſüßprickelndes Behagen, wenn er ſich vorſtellt, daß draußen einige Leute ohne Überzieher und Handſchuhe herumſpazieren. Er, der Mann am Kamin, iſt ſogar imſtande, mit ſolchen Unglücklichen auf das lebhafteſte zu ſympathiſieren. Caſpar war, als Frau von Imhoff zu ſprechen angefangen, etwas außerhalb des Zuhörerkreiſes geſeſſen, dann hatte er ſich langſam erhoben, war näher gekommen, bis er an ihrer Seite ſtand, und hatte wie verzaubert auf ihren redenden Mund geblickt. Jetzt, da ſie fertig war, lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung und erhielten etwas unendlich Anziehendes. Frau von Imhoff geſtand ſpäter, daß ihr ein ſolcher Ausdruck kindlicher Freude noch nirgends vorgekommen ſei; ja, es glich dem Lachen eines kleinen Kindes, nur daß ſich eine höhere und reinere Kraft des Bewußtſeins darin zu erkennen gab und die Empfindung ſeines Innern mit den ſtärkſten Farben malte. Die Umſitzenden waren neugierig, was er ſagen würde, und beugten ſich vor, doch er ſtellte nur die zaghafte Frage: „Wie heißt denn die Frau?“ Frau von Imhoff legte den Arm um ſeine Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu verraten ſtehe ihr jetzt nicht zu, ſpäter vielleicht werde er es erfahren, auch an ihm nehme ſie herzlichen Anteil. Er blieb nachdenklich. Auch als die Geſelligkeit wieder geräuſchvoller wurde und das jüngſte Fräulein von Stichaner am Klavier Lieder ſang, behielt er ſeinen ſchief-beſinnenden Blick. Sonderbar wurde ſein Gefühl durch das ſo beweglich geſchilderte Schickſal jener Unbekannten nach außen getrieben, und wie durch den Wink eines unſichtbaren Geiſtes öffnete ſich zum erſtenmal ſein Herz den Leiden eines andern Ichs, einer fremden Exiſtenz. Es kann doch nicht ſo mit den Frauen beſchaffen ſein, wie ich’s mir immer eingebildet habe, dachte er. Das gab ihm zu denken. An irgendeinem Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt, und ein zwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen: das eine wohlvertraut und nicht geliebt, das zweite unfaßbar wie Schatten, fern wie der Mond, verſchwiſtert beinahe dem der nie geſehenen Mutter. Auf der Brücke zwiſchen Abend und Abend ſchreitet das Leben; was es heute ſchenkt, wird morgen Beſitz. Ohne dieſe Stunde hätte ein Ereignis der folgenden Nacht, bei dem er nur der flüchtige und kaum bemerkte Zeuge war, nicht ſo gewaltig in ſein Inneres gewuchtet, daß er tagelang danach ſich in der ſchmerzlichſten Verwirrung befand. 18. Joſeph und ſeine Brüder