Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 13. Geſpräch zwiſchen einem, der maskiert bleibt, und einem, der ſich enthüllt Es regnete in Strömen, als die Kaleſche des Lords am ſpäten Abend über den Ansbacher Schloßplatz donnerte. Dazu ſcheuten die Pferde plötzlich vor einem über den Weg trottenden Hund, und der elſäſſiſche Kutſcher fluchte in ſeinem greulichen Dialekt ſo laut, daß ſich hinter den dunkeln Fenſterquadraten ein paar weiße Zipfelmützen zeigten. Die Zimmer im Gaſthof zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tänzelte mit einem Parapluie vors Tor und begrüßte den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten und Kratzfüßen. Stanhope ſchritt an ihm vorüber zur Treppe, da trat ihm ein Herr in der Uniform eines Gendarmerieoffiziers entgegen, ſehr eilfertig, mit regentriefendem Mantel und ſtellte ſich ihm als Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt habe, Seiner Lordſchaft vor einigen Wochen beim Rittmeiſter Weſſenig in Nürnberg flüchtig, „leider allzu flüchtig“, begegnet zu ſein. Er nehme ſich die Freiheit, dem Herrn Grafen ſeine Dienſte in der unbekannten Stadt anzubieten, und bitte um Vergebung für die einem Überfall ähnliche Störung, aber es ſei zu vermuten, daß Seine Lordſchaft wenig Zeit und vielerlei Geſchäfte habe, darum wolle er nicht verſäumen, in erſter Stunde nachzufragen. Stanhope ſchaute den Mann verwundert und ziemlich von oben herab an. Er ſah ein friſches, volles Geſicht mit eigentümlich kecken und dabei zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurücktretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier einer ſeine ganze Perſon als Werkzeug antrug, gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war ihm der begehrlich ſtreberiſche Glanz ſolcher Blicke, ſchon glaubte er ſeinen Mann in- und auswendig zu kennen. Aber woher wußte der Dienſtbefliſſene davon? Wer hatte ihn auf die Fährte gebracht? Eine feine Naſe war ihm jedenfalls zuzutrauen. Der Lord dankte ihm kurz und erbat ſich für eine beſtimmte Stunde ſeinen Beſuch, worauf der Polizeileutnant militäriſch grüßte und ebenſo eilig, wie er gekommen war, wieder in den Regen hinausrannte. Stanhope bewohnte den ganzen erſten Stock und ließ ſogleich in allen Zimmern Kerzen aufſtellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt waren; während der Kammerdiener den Tee bereitete, nahm er ein in Saffian gebundenes Andachtsbüchlein aus der Reiſetaſche und begann darin zu leſen. Oder wenigſtens hatte es den Anſchein, als leſe er, in Wirklichkeit dachte er hundert zerſtreute Gedanken, die Ruhe des kleinen Landſtädtchens war ihm unheimlicher als Kirchhofsſtille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt rufen, befragte ihn über dies und jenes, über die Verhältniſſe im Ort, über den anſäſſigen Adel und die Beamtenſchaft. Der Wirt zeigte ſich den neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte noch die ſelige Markgrafenzeit erlebt, und mit dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren ziervollen Rokokopaläſtchen die Flucht vor dem heranſauſenden Kriegsſturm ergriffen hatten, war es aus mit dem Glanz der Welt; ein ſtinkendes Rattenneſt war ſie geworden, ein Aktentrödelmarkt mit dem hochtrabenden Namen Appellationsſenat, eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch. Damals, ach, damals! Wie verſtand man zu ſchäkern, wie heiter war das Treiben, man ſpielte, man parlierte, man tanzte — und der dicke Mann fing vor den Augen des Lords an, einige gravitätiſche Menuettpoſen und Pas de deux zu illuſtrieren, wozu er eine verſchollene Melodie trällerte und mit zwei Fingern jeder Hand ſchelmiſch die Rockſchöße hob. Der Lord blieb vollkommen ernſthaft. Er fragte auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der Stadt ſei, doch bei dieſen Worten zog der Dicke ein ſäuerliches Geſicht. „Die Exzellenz?“ grollte er. „Ja, die iſt da. Wohler wäre uns, ſie wär’ nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert ſie uns auf und faucht uns an, wenn wir ein bißchen pfeifen. Er kümmert ſich um alles, ob die Straßen gekehrt ſind, ob die Milch verwäſſert iſt; überall iſt er hinterher, aber Galanterie hat er keine im Leib. Nur eines verſteht er gründlich, er iſt ein ſcharfer Eſſer, und halten zu Gnaden, Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müſſen Sie alles loben, was auf ſeinen Tiſch kommt.“ Stanhope entließ den Schwätzer huldvoll, dann bezeichnete er dem Diener die Kleider, die für morgen inſtand zu ſetzen ſeien, und begab ſich zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er ſich ſpät, ſchickte den Lakaien in die Wohnung Feuerbachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der Mann kam mit der Botſchaft zurück, der Herr Staatsrat könne heute und wohl auch in den nächſten Tagen nicht empfangen, er erſuche Seine Lordſchaft, ihm das Anliegen ſchriftlich mitzuteilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß er ſich überſtürzt habe, und fuhr ſogleich zum Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war. Indeſſen hatte ſich die Kunde von ſeiner Anweſenheit verbreitet, und nach weiteren vierundzwanzig Stunden war ſchon ein Sagenkranz um ſeine Perſon geflochten. Ein halb Dutzend mit Goldguineen gefüllte Säcke ſeien auf dem Reiſewagen des Fremdlings aufgeſchnallt geweſen, hieß es, und er wolle das Markgrafenſchloß ſamt dem Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanendaunen mit ſich und geſtickte Wäſche, er ſei ein Vetter des Königs von England und Caſpar Hauſer ſein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis in die Nieren, ſah ſich als Mittelpunkt kleinſtädtiſchen Schwatzes und war es zufrieden. Der Hofrat hatte ihm keine Erklärung über das Verhalten des Präſidenten zu geben vermocht. Um die dienſtlichen Schritte zu beraten, ſuchten ſie den Archivdirektor Wurm auf, der bei Feuerbach großes Vertrauen genoß. Stanhope ſpürte, daß man nur mit ſcheuer Vorſicht an die Sache ging; die amtsſäſſigen Herren konnten ſich keines freien Verhältniſſes zu einem Manne rühmen, deſſen Hand wie Eiſenlaſt auf ihnen ruhte. Am Abend folgte Stanhope der Einladung in einen Familienkreis. Als er hier die Rede auf den Präſidenten brachte, wurde eine Reihe von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils bizarr klangen, oder man berichtete, wie um den Mangel an Liebe und echtem Sichbeſcheiden durch Umſtände zu verdecken, welche das Mitleid herausforderten, von dem Unglück, welches Feuerbach an zweien ſeiner Söhne erlebe, von einer zerrütteten Ehe, von der menſchenhaſſenden Einſamkeit, in welcher der Alte hauſte, und in der man doch wieder etwas wie eine dunkle Verſchuldung ſehen wollte. „Er iſt ein Fanatiker,“ ließ ſich ein kahlköpfiger Kanzleivorſtand vernehmen, „er würde, wie Horatius, ſeine eignen Kinder dem Henkersknecht ausliefern.“ „Er vergibt niemals einem Feind,“ ſagte ein andrer klagend, „und dies beweiſt keine chriſtliche Geſinnung.“ „Das alles wäre nicht ſo ſchlimm, wenn er nicht in jedem Menſchen eine Art von Übeltäter ſehen würde,“ meinte die Dame des Hauſes, „und bei jeder Harmloſigkeit gleich das ganze Strafgeſetz aufmarſchieren ließe. Neulich ging ich um die Dämmerung mit meiner Tochter auf der Triesdorfer Straße ſpazieren, und wir waren unbedachtſam genug, ein paar Äpfel von den Bäumen zu pflücken; auf einmal ſteht die Exzellenz vor uns, ſchwingt den Stock in der Luft und ſchreit mit einer fürchterlich krähenden Stimme: Oho, meine Gnädige, das iſt Diebſtahl am Gemeindegut! Nun bitt’ ich einen Menſchen, Diebſtahl! Was ſoll denn das heißen?“ „Du mußt aber auch ſagen, Mama,“ fügte die Tochter hinzu, „daß er dabei ganz pfiffig geſchmunzelt hat und ſich kaum das Lachen verbeißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd, die Äpfel in den Graben warfen.“ Der bloße Name des Mannes glich einem Steinblock im Strom, vor dem das Waſſer ſtaut und aufprallt. Stanhope machte kein Hehl aus ſeiner Bewunderung für den Präſidenten. Er zitierte Stellen aus ſeinen Schriften, ſchien ſelbſt die trockenſten juriſtiſchen Abhandlungen zu kennen und pries die von Feuerbach durchgeführte Abſchaffung der Folter als eine Tat, die über die Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel zu blenden, wie irgendein andres. Auf allen Gaſſen, in allen Salons gab es alsbald nur einen einzigen Geſprächsſtoff, und das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der Held und die Zuflucht der unſchuldig Verfolgten; Lord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord Stanhope, der Freigeiſt, Lord Stanhope, der Liebling des Glücks und der Mode, Lord Stanhope, der Melancholiſche, und Lord Stanhope, der Strengreligiöſe. So viel Tage, ſo viel Geſichter; heute iſt Lord Stanhope kalt, morgen iſt er leidenſchaftlich; zeigt er ſich hier heiter und ungebunden, dort wird er tiefſinnig und würdevoll ſein; Gelehrſamkeit und leichte Tändelei, die Stimme des Gemüts und ſittliche Forderung: es kommt nur auf das Regiſter an, das der geſchickte Orgelſpieler braucht. Wie intereſſant ſein Aberglauben, wenn er in einem Zirkel bei Frau von Imhoff ſeine Furcht vor Geſpenſtern bekennt und ſchildert, daß er dabei geweſen, wie ein Landsmann in den Krater des Veſuv zur Hölle gefahren ſei; wie entzückend die Ironie, mit der er bei andrer Gelegenheit gottloſe Gedichte von Byron zu rezitieren verſteht. Die Elemente miſchen ſich, man weiß nicht wie. Es iſt eine Luſt, die Welle zu Schaum zu ſchlagen und den kleinen provinzlichen Sumpf im vergoldeten Kahn zu durchfahren. Am fünften Tag kam der Jäger zurück. Er brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen Stanhope durch ſeine Reiſe nach Ansbach zum Teil zuvorgekommen war, aus denen als bemerkenswert etwas wie Furcht vor den Maßnahmen Feuerbachs auffiel. Es wurde ihm geboten, ſich dem Präſidenten in jedem Fall zu fügen, da Widerſtand Verdacht erweckt hätte; das Äußerſte zu verſuchen, aber ſich zu fügen und neue Minen zu graben, wenn die alten wirkungslos geworden. Von einem gefährlichen Dokument war die Rede, das einſtweilen beiſeitegebracht oder unſchädlich gemacht werden müſſe, von deſſen Inhalt aber jedenfalls Abſchrift zu nehmen ſei. Das überreichte Schreiben ſollte im Beiſein des Jägers zerriſſen und verbrannt werden. Dies geſchah. Vor allem brachte der Burſche Geld, herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf. Am nächſten Abend lud er einige der vornehmſten Familien der Stadt zu einem geſelligen Beiſammenſein in die Räume des Kaſinos. Man raunte ſich zu, daß er die Speiſen nach beſonderen Rezepten habe bereiten laſſen und die Muſikpiecen mit dem Kapellmeiſter ſelbſt durchprobiert habe. Vor Beginn des Tanzes erhielt jede Dame ein ebenſo ſinniges wie koſtbares Angebinde: ein kleines Schildchen von Gold, auf welchem in emaillierter Schrift die Deviſe ſtand: „[Dieu et le cœur.]“ Danach nahm der Lord ſein Glas und forderte die Anweſenden auf, mit ihm das Wohl eines Menſchen auszubringen, der ihm ſo teuer ſei, daß er den Namen vor ſo vielen Ohren gar nicht auszuſprechen wage, wüßten doch alle, wen er meine: jenes wunderbare Geſchöpf, vom Schickſal wie auf eine Warte der Zeit hingeſtellt: [Dieu et le cœur], dies gelte ihm, dem Mutterloſen, deſſen die Mütter gedenken möchten, welche Kinder geboren, und die Jungfrauen, die ſich der Liebe weihten. Man war gerührt; man war außerordentlich gerührt. Ein paar weiße Taſchentücher flatterten in ſanften Händen, und eine ergriffene Baßſtimme murrte: „Seltener Mann.“ Der ſeltene Mann, als ob er ſeine eigne Bewegung nicht anders meiſtern könne, begab ſich auf den anſtoßenden Balkon und ſchaute ſinnend auf das Volk, das teils in ehrfürchtig flüſternden Gruppen ſtand, teils in der Dunkelheit auf und ab promenierte. Viele auch hatten ſich, der Muſik lauſchend, an die gegenüberliegende Mauer gedrängt, und eine ganze Reihe von Geſichtern glänzte fahl in dem aus den Fenſtern flutenden Lichtſchein. Da gewahrte Stanhope den Uniformierten, der ſich ihm bei ſeiner Ankunft in der Stadt präſentiert. Er hatte ihn ſeitdem völlig aus dem Gedächtnis verloren, der Mann war zur feſtgeſetzten Stunde im Hotel geweſen, doch hatte Stanhope die Verabredung nicht gehalten, und jener hatte nur die Karte zurückgelaſſen. Jetzt ſtand er wenige Schritte entfernt unter einem Laternenpfahl, und ſein Geſicht ſchien auffallend böſe. Ein Unbehagen überlief den Lord. Er verbeugte ſich höflich nach der Richtung, wo der Regungsloſe ſtand. Darauf hatte der nur gewartet; er trat näher, und dicht am Balkon ſtehend, war ſein Geſicht etwa in Bruſthöhe des Grafen. „Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre,“ ſagte Stanhope und reichte ihm die Hand; „ich hatte das Unglück, Ihren Beſuch zu verſäumen, ich bitte mich zu entſchuldigen.“ Der Polizeileutnant ſtrahlte vor Ergebenheit und heftete den Blick andächtig auf den redenden Mund des Grafen. „Schade,“ verſetzte er, „ich hätte ſonſt gewiß den Vorzug, den heutigen Abend in Mylords Geſellſchaft zu verbringen. Man rechnet meine Wenigkeit hier gleichfalls zu den oberen Zehntauſend, haha!“ Stanhope rückte kaum merklich den Kopf. Was für ein unangenehmer Geſelle, dachte er. „Waren Eure Herrlichkeit ſchon beim Staatsrat Feuerbach?“ fuhr der Polizeileutnant fort. „Ich meine heute. Die Exzellenz war nämlich bis jetzt ſtarrköpfig, wollte mit Eurer Herrlichkeit nur ſchriftlich unterhandeln. Es iſt mir endlich gelungen, den eigenſinnigen Mann andern Sinnes zu machen.“ All das wurde in der biederſten Weiſe vorgebracht; doch Stanhope zeigte ein befremdetes Geſicht. „Wie das?“ fragte er ſtockend. „Nun ja, ich kann bei dem guten Präſidenten manches durchſetzen, woran andre ſich umſonſt die Zähne ausbeißen,“ erwiderte Hickel, ebenfalls mit dem heiterſten und gefälligſten Ausdruck. „Solche Hitzköpfe ſind um den Finger zu wickeln, wenn man ſie zu nehmen verſteht. Haha, das iſt luſtig: um den Finger gewickelte Hitzköpfe, haha!“ Stanhope blieb eiſig. Er empfand einen an Ekel grenzenden Widerwillen. Der Polizeileutnant ließ ſich nicht beirren. „Mylord ſollten keinesfalls lange überlegen,“ ſagte er. „Wenn auch die Angelegenheit jetzt nicht gerade ſonderlich drängt, ſo treffen Sie doch den Staatsrat in einem Zuſtand von Unentſchloſſenheit, dünkt mich, der auszunutzen iſt. Und was das bedrohliche Dokument anbelangt_...“ Er hielt inne und machte eine Pauſe. Stanhope fühlte, daß er bis in den Hals erbleichte. „Das Dokument? Von welchem Dokument ſprechen Sie?“ murmelte er haſtig. „Sie werden mich vollſtändig verſtehen, Herr Graf, wenn Sie mir eine halbe Stunde Gehör ſchenken wollen,“ antwortete Hickel mit einer Unterwürfigkeit, die ſich beinahe wie Spott ausnahm. „Was wir uns zu ſagen haben, iſt nicht unwichtig, muß aber keineswegs noch heute geſagt werden. Ich ſtehe zu jeder beliebigen Zeit zur Verfügung.“ Seiner Unruhe trotzend, glaubte Stanhope Gleichgültigkeit zeigen zu ſollen. Obwohl ein Stichwort gefallen war, das er nicht überhören durfte, verſchanzte er ſich hinter einer vornehmen Unnahbarkeit. „Ich werde mich ſicherlich an Sie wenden, wenn ich Ihrer bedarf, Herr Polizeileutnant,“ ſagte er kurz und wandte ſich ſtirnrunzelnd ab. Hickel biß ſich auf die Lippen, ſchaute mit einiger Verblüffung dem Grafen nach, der durch die offene Saaltür verſchwunden war, und ging dann leiſe pfeifend über die Straße. Plötzlich drehte er ſich um, verbeugte ſich höhniſch und ſagte mit geſchraubter Verbindlichkeit, wie wenn Stanhope noch vor ihm ſtünde: „Der Herr Graf ſind im Irrtum; auch bei dero Gnaden wird mit Waſſer gekocht.“ Als Stanhope wieder unter ſeine Gäſte getreten war, zog er den Generalkommiſſär von Stichaner ins Geſpräch. Im Verlauf der Unterhaltung äußerte er, er habe ſich entſchloſſen, dem Präſidenten morgen ſeinen Beſuch zu machen; wenn Feuerbach auch dann bei ſeinem wunderlichen Starrſinn verbleibe, werde er es als vorſätzlichen Affront auffaſſen und abreiſen. Er ſagte das mit ſo lauter Stimme, daß einige danebenſtehende Herren und Damen es hören mußten; unter dieſen befand ſich auch Frau von Imhoff, die mit Feuerbach ſehr befreundet war. An ſie hatte ſich der Lord offenbar wenden wollen. Frau von Imhoff war aufmerkſam geworden, ſie blickte herüber und ſagte etwas verwundert: „Wenn ich mich nicht täuſche, Mylord, ſo hat Exzellenz ja Ihnen einen Beſuch abgeſtattet. Ich traf ihn ſpät nachmittags in ſeinem Garten, als er eben im Begriff war, zum ‚Stern‘ zu gehen. Sie waren wohl nicht zu Hauſe?“ „Ich verließ mein Hotel um acht Uhr,“ antwortete Stanhope. Eine Stunde ſpäter ſchickten ſich viele zum Aufbruch an. Der Lord erbot ſich, Frau von Imhoff, deren Gatte verreiſt war, in ſeinem Wagen nach Hauſe zu bringen. Da ſie der Weg vorüberführte, ließ Stanhope beim „Stern“ halten und erkundigte ſich, ob in ſeiner Abweſenheit jemand vorgeſprochen habe. In der Tat hatte Feuerbach ſeine Karte abgegeben. Am andern Vormittag um elf Uhr hielt die gräfliche Karoſſe in der Heiligenkreuzgaſſe vor dem Tor des Feuerbachſchen Gartens. Mit ariſtokratiſch gebundenen Schritten, die gertenhaft biegſame Geſtalt unnachahmlich geſtreckt, näherte ſich Stanhope dem landhausähnlichen Gebäude, indem er genau die Mitte der kahlen Baumallee einhielt. Sein Anzug bekundete peinliche Sorgfalt; in dem Knopfloch des braunen Gehrocks glühte ein rotes Ordensbändchen, die Krawatte war durch eine Diamantſchließe gehalten und wie ein geiſtiger Schmuck umſpielte ein müdes Lächeln die glattraſierten Lippen. Als er ungefähr zwei Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er eine brüllende Stimme aus dem Haus, zugleich rannte eine Katze vor ihm über den Kies. Ein böſes Omen, dachte er, verfärbte ſich, blieb ſtehen und ſchaute unwillkürlich zurück. Es war ſo neblig, daß er ſeinen Wagen nicht mehr ſah. Er zog die Glocke am Tor und wartete geraume Weile, ohne daß geöffnet wurde. Indes dauerte das Geſchrei drinnen fort, es war eine Männerſtimme in Tönen wilder Wut. Stanhope drückte endlich auf die Klinke, fand den Eingang unverſperrt und betrat den Flur. Er ſah niemand und trug Bedenken, weiterzugehen. Plötzlich wurde eine Tür aufgeriſſen, ein Frauenzimmer ſtürzte heraus, anſcheinend eine Magd, und hinterher eine gedrungene Geſtalt mit mächtigem Schädel, in welcher Stanhope ſofort den Präſidenten erkannte. Doch erſchrak er dermaßen vor dem zornverzerrten Geſicht, den geſträubten Haaren und der durchdringenden Stimme, daß er wie angewurzelt ſtehen blieb. Was hatte ſich ereignet? War ein Unheil paſſiert? Ein Verbrechen zu Tag gekommen? Nichts von alledem. Bloß ein ſtinkender Qualm zog durch den Korridor, weil ein Topf mit Milch in der Küche übergelaufen war. Die Frauensperſon hatte ſich beim Waſſerholen verſchwatzt, und da war es denn ein gar würdeloſer Anblick, den alten Berſerker zu ſehen, wie er mit den Armen fuchtelte und bei jeder jammernden Widerrede der Geſcholtenen von neuem raſte, die Zähne fletſchte, mit den Füßen ſtampfte und ſich vor Bosheit überſchrie. Ein komiſches Männlein, dachte Stanhope voll Verachtung; und vor dieſem kleinen Provinztyrannen und Polizeiphiliſter habe ich gebebt! Sich vornehm räuſpernd, ſchritt er die drei Stufen empor, die ihn noch von dem lächerlichen Kriegsſchauplatz trennten, da wandte ſich Feuerbach blitzſchnell um. Der Lord verneigte ſich tief, nannte ſeinen Namen und bat nachſichtig lächelnd um Entſchuldigung, wenn er ſtöre. Schnelle Röte überflog das Geſicht Feuerbachs. Er warf einen ſeiner jähen, faſt ſtechenden Blicke auf den Grafen, dann zuckte es um Naſe und Mund, und auf einmal brach er in ein Gelächter aus, in welchem Beſchämung, Selbſtironie und irgendeine gemütliche Verſicherung lag, kurz, es hatte einen befreienden, wohltuenden und überlegenen Klang. Mit einer Handbewegung forderte er den Gaſt zum Eintreten auf; ſie kamen in ein großes wohlerhaltenes Zimmer, das bis in jeden Winkel von außerordentlicher Akkurateſſe zeugte. Feuerbach begann ſogleich über ſein bisheriges Verhalten gegen den Lord zu ſprechen, und ohne Gründe anzuführen, ſagte er, die Notwendigkeit, die ihn beſtimmt, ſei ſtärker als die geſellſchaftliche Pflicht. Doch habe er eingeſehen, daß er einen Mann von ſolchem Rang und Anſehen nicht verletzen könne, zumal ihm ſchätzenswerte Freunde ſo viel Anziehendes berichtet hätten, deshalb habe er Seine Lordſchaft geſtern aufgeſucht. Stanhope verbeugte ſich abermals, bedauerte, daß er Seiner Exzellenz nicht habe aufwarten können, und fügte beſcheiden hinzu, er müſſe dieſe Stunde zu den höchſten ſeines Lebens rechnen, vergönne ſie ihm doch die Bekanntſchaft eines Mannes, deſſen Ruf und Ruhm einzig und über die Grenzen der Sprache wie der Nation hinausgedrungen ſei. Von neuem der jähe, ſcharfe Blick des Präſidenten, ein ſchamhaft ſatiriſches Schmunzeln in dem verwitterten Geſicht und dahinter, faſt rührend, ein Strahl naiver Dankbarkeit und Freude. Der Lord ſeinerſeits ſtellte vollendet einen Mann der großen Welt dar, der vielleicht zum erſtenmal befangen iſt. Sie nahmen Platz, der Präſident durch die Gewohnheit des Berufs mit dem Rücken gegen das Fenſter, um ſeinen Gaſt im Licht zu haben. Er ſagte, eine der Urſachen, weshalb er ihn zu ſprechen verlange, ſei ein geſtern eingetroffener Brief des Herrn von Tucher, worin ihm dieſer nahelege, Caſpar zu ſich ins Haus zu nehmen. Dieſe plötzliche Sinnesänderung ſei ihm um ſo merkwürdiger erſchienen, als er ja wiſſe, daß Herr von Tucher den Abſichten des Grafen geneigt geweſen; er habe den Faden verloren, die ganze Geſchichte ſei ihm verſchwommen geworden, er habe nun ſehen und hören wollen. Im Tone größten Befremdens erwiderte Stanhope, er könne ſich das Vorgehen Herrn von Tuchers durchaus nicht erklären. „Man braucht den Menſchen nur den Rücken zu kehren und ſie verwandeln ihr Geſicht,“ ſagte er geringſchätzig. „Das iſt nun ſo,“ verſetzte der Präſident trocken. „Ich will übrigens Ihre Erwartung nicht hinhalten, Herr Graf. Wie ich ſchon dem Bürgermeiſter Binder mitteilte, kann es auf keinen Fall geſchehen, daß Ihnen Caſpar überlaſſen werde. Ein ſolches Anſinnen muß ich gänzlich und ohne Bedenken abweiſen.“ Stanhope ſchwieg. Ein ſchlaffer Unwillen malte ſich in ſeinen Zügen. Er blickte unabläſſig auf die Füße des Präſidenten, und als ob ihn das Sprechen Überwindung koſte, ſagte er endlich: „Laſſen Sie mich Ihnen, Exzellenz, vor Augen führen, daß Caſpars Lage in Nürnberg unhaltbar iſt. Aufs ſonderbarſte angefeindet und von keinem unter allen, die ſich ſeine Schützer nennen, verſtanden; mit dem Druck einer Dankesſchuld beladen, die das Schickſal ſelbſt für ihn aufgenommen hat und die er niemals wird bezahlen können, da ihm ja ſonſt jeder Tag und jedes Erlebnis zu einer wucheriſchen Zinſenabgabe würde und er, ein Junger, ein Wachſender, der er iſt, ſein Daſein für ſich verzehren muß, iſt er waffenlos ausgeſetzt. Zudem will die Stadt, wie mir ausdrücklich verſichert wurde, nur noch bis zum nächſten Sommer für ihn ſorgen und ihn dann einem Handwerksmeiſter in die Lehre geben. Das, Exzellenz, dünkt mich ſchade.“ (Hier erhob der Lord ſeine Stimme ein wenig, und ſein Geſicht mit den niedergeſchlagenen Augen erhielt den Ausdruck verbiſſenen Hochmuts.) „Es dünkt mich ſchade, die ſeltene Blume in einen von aller Welt zerſtampften Raſen ſetzen zu laſſen.“ Der Präſident hatte aufmerkſam zugehört. „Gewiß, das alles iſt mir bekannt,“ antwortete er. „Eine ſeltene Blume, gewiß. War doch ſein erſtes Auftreten derart, daß man einen durch ein Wunder auf die Erde verlorenen Bürger eines andern Planeten zu ſehen vermeinte, oder jenen Menſchen des Plato, der, im Unterirdiſchen aufgewachſen, erſt im Alter der Reife auf die Oberwelt und zum Licht des Himmels geſtiegen iſt.“ Stanhope nickte. „Meine Hinneigung zu ihm, die dem allgemeinen Urteil übertrieben erſchienen iſt, entſtand mit dem erſten Hörenſagen über ſeine Perſon; ſie findet auch in der Geſchichte meines Geſchlechts etwas wie eine ataviſtiſche Rechtfertigung,“ fuhr er in kühlem Plauderton fort. „Einer meiner Ahnen wurde unter Cromwell geächtet und floh in ein Grabgewölbe. Die eigne Tochter hielt ihn verborgen und nährte ihn, bis die Flucht gelang, kümmerlich mit erſtohlenen Brocken. Seitdem weht vielleicht ein wenig Grabesluft um die Nachgeborenen. Ich bin der Letzte meines Stammes, ich bin kinderlos. Nur noch ein Traum oder, wenn Sie wollen, eine fixe Idee bindet mich ans Leben.“ Feuerbach warf den Kopf zurück. Die Linie ſeines Mundes zuckte in die Länge wie ein Bogen, deſſen Sehne zerriſſen iſt. Plötzlich lag Größe in ſeiner Gebärde. „Eine innere Verantwortung hindert mich, Ihnen zu willfahren, Herr Graf,“ ſagte er. „Hier ſteht ſo Ungeheures auf dem Spiel, daß jeder Gnadenbeweis und jedes Liebesopfer daneben gar nicht mehr in Frage kommt. Hier iſt den in Abgründen kauernden Dämonen des Verbrechens ein Recht zu entreißen und dem bangen Auge der Mitwelt, wenn nicht als Trophäe, ſo doch als Beweis dafür entgegenzuhalten, daß es auch dort eine Vergeltung gibt, wo Untaten mit dem Purpurmantel bedeckt werden.“ Der Lord nickte wieder — doch ganz mechaniſch. Denn innerlich erſtarrte er. Es wurde ihm ſchwül vor der elementaren Gewalt, die aus der Bruſt dieſes Mannes zu ihm redete, und die ſelbſt das Pathos verzehrte, das ihm anfangs unbehaglich war und ihn ironiſch geſtimmt hatte. Er fühlte, daß gegen dieſen Willen zu kämpfen, der ſich wie Unwetter verkündigte, ein ausſichtsloſes Mühen ſein würde, und wenn es ein Beſchluß über ihm war, durch den er in das Labyrinth lichtſcheuer Verrichtungen mehr geglitten als geſchritten war, ſo fand er ſich jetzt ratlos und ohnmächtig darin, und es wurde ihm auf einmal wichtig, einen Anſchein von Ehre und Tugend aus dem Chaos ſeines Innern zu retten. Er beugte ſich vor und fragte ſanft: „Und iſt das Recht, das Sie jenen entreißen wollen, die Leiden deſſen wert, dem es zukommt?“ „Ja! Auch dann, wenn er daran verbluten müßte!“ „Und wenn er verblutet, ohne daß Sie Ihr Ziel erreichen?“ „Dann wird aus ſeinem Grab die Sühne wachſen.“ „Ich ermahne Sie zur Vorſicht, Exzellenz, um Ihretwillen,“ flüſterte Stanhope, indem ſein Blick langſam von den Fenſtern zur Tür wanderte. Feuerbach ſah überraſcht aus. Es war etwas Verräteriſches in dieſer Wendung, in irgendeinem Sinn verräteriſch. Aber die blauen Augen des Lords ſtrahlten durchſichtig wie Saphire, und eine frauenhafte Trauer lag in der Neigung des ſchmalen Hauptes. Der Präſident fühlte ſich hingezogen zu dem Manne, und unwillkürlich nahmen ſeine Worte einen milden, ja faſt liebreichen Klang an, als er ſagte: „Auch Sie? Auch Sie ſprechen von Vorſicht? Meine Sprache ſcheint Ihnen kühn; ſie iſt es. Ich bin es ſatt, auf einem Schiff zu dienen, das durch die Verblendung ſeiner Offiziere in den ſchmählichen Untergang rennt. Aber ich könnte mir denken, daß es einem Bürger des freien England unbegreiflich iſt, wenn ein Menſch wie ich ſeine Ruhe und die Sicherheit der Exiſtenz aufgeben muß, um das Gewiſſen des Staats für die primitivſten Forderungen der Geſellſchaft wachzurütteln. Es iſt überflüſſig, mich zur Vorſicht zu mahnen, Mylord. Ich würde alles das auch demjenigen ins Ohr ſchreien, der ſich mir als Denunziant bekennte. Ich fürchte nichts, weil ich nichts zu hoffen habe.“ Stanhope ließ einige Sekunden verſtreichen, bevor er verſonnen antwortete: „Mein Unkenruf wird Sie weniger verwundern, wenn ich Ihnen geſtehe, daß ich nicht uneingeweiht in die Verhältniſſe bin, auf die Sie hindeuten. Ich bin nicht das Werkzeug des Zufalls. Ich bin nicht ohne äußeren Antrieb zu dem Findling gekommen. Es iſt eine Frau, es iſt die unglücklichſte aller Frauen, als deren Sendboten ich mich betrachte.“ Der Präſident ſprang empor, als ob ein Blitz im Zimmer gezündet hätte. „Herr Graf!“ rief er außer ſich. „Sie wiſſen alſo_—“ „Ich weiß,“ verſetzte Stanhope ruhig. Nachdem er mit düſterer Miene beobachtet hatte, wie der Präſident krampfhaft die Stuhllehne gepackt hielt, ſo daß die Arme ſichtbar zitterten, und wie das große Geſicht ſich verfaltete und bewegte, fuhr er mit monotoner Stimme und einem matten, ſeltſam ſüßlichen Lächeln fort: „Sie werden mich fragen: Wozu die Umwege? Was wollen Sie mit dem Knaben? Ich antworte Ihnen: Ich will ihn in Sicherheit bringen, ich will ihn in ein andres Land bringen, ich will ihn verbergen, ich will ihn der Waffe entziehen, die fortwährend gegen ihn gezückt iſt. Kann man klarer ſein? Wollen Sie noch mehr? Exzellenz, ich habe Kenntnis von Dingen, die mein Blut gefrieren laſſen, ſelbſt wenn ich nachts erwache und in der Pauſe zwiſchen Schlaf und Schlaf daran denke, wie man an ein Fieberbild denkt. Erſparen Sie mir die Ausführlichkeit. Rückſichten, bindender als Schwüre, machen meine Zunge lahm. Auch Sie ſcheinen ja, es iſt mir rätſelhaft, auf welche Weiſe, Einblick gewonnen zu haben in dieſen grauenhaften Schlund von Schande, Mord und Jammer; ſo darf ich Ihnen wohl ſagen, daß ich, der den Königen und Herren der Erde ſehr genau und ſehr nah ins Geſicht geſchaut hat, niemals ein Antlitz ſah, dem Geburt und Geiſt einen gleich hohen Adel und der Schmerz eine ergreifendere Macht verliehen haben als dem jener Frau. Ich ward ihr Sklave mit dem Augenblick, wo das Bild ihrer tragiſchen Erſcheinung zum erſtenmal mein Gemüt belud. Es wurde meine Lebensidee, die ihr vom Schickſal zugefügten Wunden in ihrem Dienſt zu mildern. Ich will ſchweigen darüber, wie ich Gewißheit über den Zuſtand der gemarterten und am Rand des Todes hinſiechenden Seele gewann und wie ſich mir von denen, die ein Jahrzehnte hindurch fortgeſponnenes Gewebe von Leiden um das unbeſchützte Daſein der Unglücklichen flochten, langſam Stirn um Stirn entſchleierte. Das Haupt der Meduſe kann nicht gräßlicher ſein. Genug damit, daß ich meine wahre Natur unterdrücken und mich harmlos geben mußte; ich mußte lügen, ſchmeicheln, ſchleichen und Ränke durch Ränke ſchlagen, ich habe mich verkleidet und täuſchungsvolle Aufgaben übernommen. Dabei fraß mir der Zorn am Mark und ich fragte mich, wie es möglich ſei, weiterzuleben mit ſolcher Wiſſenſchaft in der Bruſt. Aber das iſt es ja eben: man lebt weiter. Man ißt, man trinkt, man ſchläft, man geht zu ſeinem Schneider, man promeniert, man läßt ſich die Haare ſcheren, und Tag reiht ſich an Tag, als ob nichts geſchehen wäre. Und genau ſo iſt es mit jenen, von welchen man glaubt, daß das böſe Gewiſſen ihre Sinne verwüſten und ihre Adern verdorren müſſe, ſie eſſen, trinken, ſchlafen, lachen, amüſieren ſich, und ihre Taten rinnen von ihnen ab wie Waſſer von einem Dach.“ „Sehr wahr! Das iſt es, ſo iſt es!“ rief Feuerbach leidenſchaftlich bewegt. Er eilte ein paarmal durch das Zimmer, dann blieb er vor Stanhope ſtehen und fragte ſtreng: „Und weiß die Frau von allem_—? Weiß ſie von ihm? Was iſt ihr bekannt? Was erwartet, was hofft ſie?“ „Aus perſönlicher Erfahrung kann ich darüber nichts melden,“ entgegnete der Lord mit derſelben traurigen und matten Stimme wie bisher. „Vor kurzem wurde bei der Gräfin Bodmer erzählt, ſie habe laut aufgeweint, als man den Namen Caſpar Hauſer vor ihr genannt. Mag ſein, ganz glaubwürdig iſt es nicht. Hingegen iſt mir ein andrer Vorfall bekannt, der auf eine faſt überſinnliche Beziehung ſchließen läßt. Eines Mittags vor zwei Jahren befand ſich die Fürſtin allein in der Schloßkapelle und verrichtete ihr Gebet. Nachdem ſie geendet und ſich erheben wollte, ſah ſie plötzlich über dem Altar das Bild eines ſchönen Jünglings, deſſen Geſicht einen unendlichen Kummer ausdrückte. Sie rief den Namen ihres Sohnes, Stephan hieß er, der Erſtgeborene, dann fiel ſie in Ohnmacht. Später erzählte ſie die Viſion einer vertrauten Dame, und dieſe, die Caſpar ſelbſt in Nürnberg geſehen hatte, war von der Ähnlichkeit tief berührt. Und das Wunderbare iſt, daß die Erſcheinung ſich am ſelben Tag und zur ſelben Stunde gezeigt hatte, wo der Mordanfall im Hauſe Daumers ſtattfand. So viel iſt klar, daß ſich auf beiden Seiten ein geheimnisvolles Zuſammenſtreben offenbart. Ferner iſt es klar, Exzellenz, daß jedes Zaudern Gefahr bedeutet und ein leichtfertiges Vergeuden günſtiger Gelegenheit. Ich rufe Ihnen das in ernſter Not entgegen. Es könnte kommen, daß unſre Verſäumniſſe vor einen Richterſtuhl gefordert werden, wo keine Reue das Geſchehene ausgleicht.“ Der Lord erhob ſich und trat zum Fenſter. Seine Augenlider waren gerötet, ſein Blick verdunkelt. Wen verriet er eigentlich, wen belog er? Seine Auftraggeber? Den Jüngling, den er an ſich gekettet? Den Präſidenten? Sich ſelbſt? Er wußte es nicht. Er war erſchüttert von ſeinen eignen Worten, denn ſie erſchienen ihm wahr. Wie ſonderbar, alles das erſchien ihm wahr, als ob er der Retter wirklich ſei. Er liebte ſich in dieſen Minuten und hätſchelte ſein Herz. Eine Finſternis des Vergeſſens kam über ihn, und ſofern er Müdigkeit und Ekel zu erkennen gab, galten ſie nur dem weſenloſen Schemen, das an ſeiner Stelle geſeſſen, an ſeiner Statt geredet und gehandelt hatte. Er löſchte zwanzig Jahre Vergangenheit von der Tafel ſeines Gedächtniſſes hinweg und ſtand da — reingewaſchen durch eine Halluzination von Güte und Mitleid. Feuerbach hatte ſich vor ſeinen Schreibtiſch niedergelaſſen. Den Kopf in die Hand geſtützt, ſchaute er ſinnend in die Luft. „Wir ſind die Diener unſrer Taten, Mylord,“ begann er nach langem Schweigen, und die ſonſt polternde oder ſchrille Stimme hatte einen ſanften und feierlichen Klang. „Vor dem ſchlimmen Ende zittern, hieße jede Schlacht aufgeben, bevor ſie geſchlagen. Offenheit gegen Offenheit, Herr Graf! Bedenken Sie, ich ſtehe hier auf einem verlorenen Poſten des Landes. Mein Leben war für eine andre Bahn beſtimmt, einſt glaubte ich es wenigſtens, als in der Verborgenheit einer Kreisſtadt beſchloſſen zu werden. Ich habe meinem König Dienſte geleiſtet, die gewürdigt worden ſind und die vielleicht dazu beigetragen haben, ſeinem Namen das ſtolze Attribut des Gerechten zu verleihen. Noch größere wollte ich leiſten, ſein Volk erhöhen, die Krone zu einem Symbol der Menſchlichkeit machen. Dies ſcheiterte. Ich ward zurückgeſtoßen. Freilich, man hat mich belohnt, aber nicht anders als wie Domeſtiken belohnt werden.“ Er hielt inne, rieb das Kinn mit dem Handrücken und knirſchte mit den Zähnen. Dann fuhr er fort: „Von früher Jugend an habe ich mich dem Geſetz geweiht. Ich habe den Buchſtaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der Menſch war mir wichtiger als der Paragraph. Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel zu finden, die Trieb von Verantwortung ſcheidet. Ich habe das Laſter ſtudiert wie ein Botaniker die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegenſtand der Obſorge; in ſeinem erkrankten Gemüt wog ich ab, was von ſeinen Sünden auf die Verirrungen des Staates und der Geſellſchaft entfiel. Ich bin bei den Meiſtern des Rechts und bei den großen Apoſteln der Humanität in die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur Zukunft bauen. Überflüſſig zu beteuern. Meine Schriften, meine Bücher, meine Erläſſe, meine ganze Vergangenheit, das heißt eine Kette ruheloſer Tage und arbeitsvoller Nächte, ſind Zeugen. Ich lebte nie für mich, ich lebte kaum für meine Familie; ich habe die Vergnügungen der Geſelligkeit, der Freundſchaft, der Liebe entbehrt; ich zog keinen Gewinn aus eroberter Gunſt; kein Erfolg ſchenkte mir Raſt oder nachweisbares Gut, ich war arm, ich blieb arm, geduldet von oben, begeifert von unten, mißbraucht von den Starken, überliſtet von den Schwachen. Meine Gegner waren mächtiger, ihre Anſichten waren bequemer, ihre Mittel gewiſſenlos; ſie waren viele, ich einer. Ich bin verfolgt worden wie ein räudiger Hund; Pasquillanten und Verleumder beſudelten meine gute Sache mit Schmutz. Es war eine Zeit, da konnte ich nicht durch die Straßen der Reſidenz gehen, ohne die gröblichſten Inſulten des Pöbels fürchten zu müſſen. Als ich, durch widerwärtige Intrigen und Anfeindungen gezwungen, mein Profeſſorenamt in Landshut aufgeben mußte, als man den ſtudentiſchen Janhagel gegen mich in Raſerei verſetzt hatte und ich nach meiner Heimat floh, Weib und Kind im Stich laſſend, da trachteten mir bezahlte Schergen nach dem Leben. Es war der große Krieg, alle Ordnung war zerrüttet; von der öſterreichiſchen Partei wurde ausgeſprengt, daß ich mit der franzöſiſchen Partei im Bündnis ſtehe, die dem Kaiſer Napoleon zur Errichtung eines okzidentaliſchen Kaiſerreichs den Weg bahnen und die ſouveränen Fürſten ſtürzen wolle, die Franzoſen verdächtigten umgekehrt meine Beziehungen zu Öſterreich. Es gab einen Mann, einen Amts- und Berufsgenoſſen, einen Gelehrten, berühmt und angeſehen — o, ein feiger Poltron, die Zeit wird ſeinen Namen an einen der Schandpfähle des Jahrhunderts heften!_—, der ſich nicht entblödete, mich öffentlich als Spion zu bezeichnen, und mein Proteſtantentum zum Vorwand nahm, den König gegen mich mißtrauiſch zu machen. Ich erlag nicht. Die Widrigkeiten hatten ein Ende, mein Fürſt nahm mich wieder in Gnaden auf, freilich nur in Gnaden. Ein neuer Herr beſtieg den Thron, ich blieb in Gnaden. Heute bin ich ein alter Mann, ſitze hier in der Stille, immer in Gnaden. Auch meine Feinde ſind beſänftigt oder ſie ſtellen ſich ſo, auch ſie ſind in Gnaden. Aber was es bedeutet, eine aufs Große und Allgemeine gerichtete Exiſtenz vernichtet zu ſehen, bevor noch die letzte Faſer des Geiſtes, der ſie trug und nährte, ihre Kraft verzehrt hat, das empfinden nicht jene, das weiß nur ich.“ Feuerbach ſtand auf und atmete tief. Hierauf griff er zur Schnupftabaksdoſe, nahm eine Priſe, dann wandte er Stanhope voll das Geſicht zu, und unter den barſchen Brauen blitzte ein rührend-ängſtlicher und dankbarer Blick hervor, während er ſagte: „Herr Graf, ich bin mir nicht ganz klar darüber, was mich bewegt, ſo zu Ihnen zu ſprechen. Es erſtaunt mich ſelbſt. Sie ſind der erſte, der zu hören bekommt, was ſo verzweifelt den Klagen eines Zurückgeſetzten ähnelt und doch nur die Erklärung für eine unabänderliche Notwendigkeit bieten ſoll. Es iſt mir in der Angelegenheit Caſpars nichts an dem Beſonderen des Falles gelegen, und nicht das Beſondere der Perſon iſt es, was meinen Beſchluß ſtärkt. An mich tritt der härteſte Zwang heran, der einen Mann von grauen Haaren treffen kann, und nötigt mich zu der Frage an das Schickſal: ob denn alles Geopferte und Gewirkte umſonſt geweſen, ob es mir und den Gleichſtrebenden keine andre Frucht gezeitigt hat als Ohnmacht hier und Gleichgültigkeit dort. Ich muß die Probe machen, ich muß es durchführen, komme, was da wolle; ich muß wiſſen, ob ich in Wind geredet und auf Sand geſchrieben habe; ich muß wiſſen, ob die Verſprechungen, mit denen man die Bitterkeit meines Exils verſüßt hat, nur wohlfeile Lockſpeiſe waren; ich muß und will wiſſen, ob man es ernſt meint mit mir und meiner Sache. Ich habe Beweiſe, Graf, es liegen furchtbare Indizien vor; ich kann dreinſchlagen, ich habe den Donnerkeil und kann das Wetter machen, alles iſt von mir fixiert und in einem beſonderen Dokument dargeſtellt; man weiß es, man wird es nicht zum Äußerſten treiben, denn zum Äußerſten bin ich entſchloſſen, um das koſtbare Gut zu wahren, zu dem ich vor Gott und den Menſchen als Hüter beſtellt bin. Immerhin, ich werde warten, große Dinge brauchen viel Geduld. Aber Caſpar darf mir nicht entfernt werden. Er iſt die lebendige Waffe und der lebendige Zeuge, deren ich bedarf, und zwar in ſtets erreichbarer Nähe. Verlöre ich ihn, ſo wäre das Fundament meines letzten Werks dahin, ich ſpür’ es wohl, es iſt das letzte, und jeder Anſpruch auf Gehör würde weſenlos. Und Sie, edler Mann, was verlören Sie? Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht gedenken? Das hieße Gold wegwerfen, um Häckerling zu erhalten.“ Stanhopes Geſicht war nach und nach ſo fahl geworden, als flöſſe kein Blut mehr unter der Haut. Er hatte ſich niedergeſetzt, ſich geduckt, wie wenn er ſich verkriechen wollte; ein paarmal waren Blicke aus ſeinen Augen gebrochen wie wilde Tiere, die ihren Käfig zertrümmert haben, dann rief er ſie wieder zurück, ſaugte ſie in ſich hinein, hielt den Atem an, neſtelte mit den Fingern am Kettchen des Lorgnons, und als der Präſident am Ende war, richtete er ſich mit einer leidenſchaftlichen Bewegung auf. Er hatte Mühe, ſich zu finden, er hatte Mühe, Worte zu finden, in heftigem Wechſel zuckte es um ſeinen Mund, wie wenn er lachen oder einen körperlichen Schmerz verbeißen wollte, und als er die Hand des Präſidenten ergriff, wurde ihm eiskalt; der Doppelgänger ſtand an ſeiner Seite, dieſer Schattenleib des Gelebten, Begangenen, Verſäumten, und ziſchelte ihm das Wort des Verrats ins Ohr, aber ſeine Augen waren feucht, als er ſagte: „Ich verſtehe. Alles, was ich zu antworten vermag, iſt: nehmen Sie mich als Freund, Exzellenz, betrachten Sie mich als Ihren Helfer. Ihr Vertrauen iſt mir wie ein Wink von oben. Doch welche Bürgſchaft haben Sie? Welche Gewähr, daß Sie Ihr Herz nicht einem Unwürdigen eröffnet haben, der nur beſſer zu heucheln verſteht als alle andern? Ich hätte Caſpar entführen können, ich könnte es noch_—“ „Wenn dies Antlitz lügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ſtehen, dann will ich es meinetwegen für ein Hirngeſpinſt erklären, Wahrheit auf Erden zu ſuchen,“ unterbrach ihn Feuerbach lebhaft. „Entführen, Caſpar entführen?“ fuhr er gutmütig lachend fort. „Sie ſcherzen; ich möchte das jedem Manne widerraten, der noch Wert darauf legt, im Sonnenſchein ſpazierenzugehen.“ Stanhope verſank eine Weile in regungsloſes Grübeln, dann fragte er haſtig: „Was ſoll aber geſchehen? Schnelles Handeln iſt Pflicht. Wohin mit Caſpar?“ „Er ſoll hierher nach Ansbach,“ verſetzte Feuerbach kategoriſch. „Hierher? Zu Ihnen?“ „Zu mir, nein. Das iſt leider unmöglich, aus vielen Gründen unmöglich. Ich muß viel allein ſein, ich habe viel zu arbeiten, ich bin viel auf Reiſen, meine Geſundheit iſt erſchüttert, mein Charakter eignet ſich ſchlecht zu der Rolle, die ich dabei übernehmen müßte, und außerdem verbietet es die Sache, ein allzu perſönliches Band zu knüpfen.“ Stanhope atmete auf. „Wohin alſo mit ihm?“ beharrte er. „Ich werde nach einer Familie Umfrage halten, wo er gute Pflege und geiſtige wie ſittliche Unterſtützung findet,“ ſagte der Präſident. „Noch heute will ich mit Frau von Imhoff ſprechen und ihren Rat einholen, ſie kennt die hieſigen Leute. Seien Sie deſſen verſichert, Mylord, daß ich über den Jüngling wachen werde wie über mein eignes Kind. Die Nürnberger Schwabenſtreiche ſind zu Ende. Daß ich Ihrem Verkehr mit Caſpar keinerlei Schranken ſetze, bedarf nicht der Erwähnung. Herr Graf, mein Haus iſt das Ihre. Glauben Sie mir, auch unter der Hülle des Beamten und Richters ſchlägt ein für Freundſchaft empfängliches Herz. Man wird in dieſem Land der Kleingeiſterei nicht verwöhnt durch den Umgang mit Männern.“ Nachdem ſie noch flüchtig über die an Herrn von Tucher und den Nürnberger Magiſtrat zu ſendenden Nachrichten beraten hatten, verabſchiedete ſich Stanhope. Der Präſident ſchritt lange Zeit, in tiefe Gedanken verſunken, auf und ab. Von Minute zu Minute wurde ſein Geſicht unruhiger und finſterer. Ein ſonderbares, nagendes, nicht abzuweiſendes Mißtrauen ſtieg in ſeiner Bruſt empor. Je mehr Friſt verſtrich, ſeit der Graf das Zimmer verlaſſen hatte, je mehr wuchs dieſe peinigende Empfindung. Er war ein zu gewiegter Menſchenkenner, um ſich gewiſſen Merkmalen zu entziehen, die ihn bedenklich ſtimmten. Plötzlich ſchlug er ſich mit der Hand vor die Stirn, begab ſich an den Schreibtiſch und ſchrieb in großer Haſt drei Briefe: einen nach Paris an einen hochgeſtellten engliſchen Freund, einen an den bayriſchen Geſchäftſträger nach London und einen dritten an den Staatsminiſter der Juſtiz, Doktor von Kleinſchrodt, in München. In jenen beiden zog er genaue Erkundigungen über die Perſon des Grafen Stanhope ein, in letzterem meldete er ſeine baldige Ankunft in der Reſidenz und erſuchte um Reiſeurlaub. Alle drei Briefe ließ er zur Stunde mit expreſſer Poſt aufgeben. 14. Nacht wird ſein