Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 12. Die geheimnisvolle Miſſion und was ihrer Ausführung im Wege ſteht Schon lange hieß es an allen Wirtshaustiſchen, der Lord wolle Caſpar Hauſer an Sohnes Statt annehmen. In der Tat ſtellte Stanhope Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Magiſtrat, ihm den Jüngling zu überlaſſen, er wünſche für ſeine Zukunft zu ſorgen. Der Magiſtrat ließ durch den Bürgermeiſter erwidern: zum erſten, daß ein ſolches Erſuchen [in pleno] vorgetragen werden müſſe; zum zweiten, daß der Lord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen Vermögens erbringen müſſe, damit die Stadt eine ſichere Gewähr für das Wohlergehen ihres Pfleglings habe. Stanhope nahm den Beſcheid ſehr ungnädig auf. Er ging zum Bürgermeiſter, zeigte ihm ſeine Orden, die Beglaubigungen fremder Höfe, ſogar vertrauliche Briefe hoher Fürſtlichkeiten; Herr Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lordſchaft, bedauerte, den einſtimmigen Beſchluß des Kollegiums nicht rückgängig machen zu können. Der Graf war unvorſichtig genug, in einer Geſellſchaft, wo er zu Gaſt geladen war, ſeine Geringſchätzung gegen das pedantiſch-überhebliche Bürgerpack zu äußern. Dies wurde ruchbar, und obgleich er ſich beeilte, in einem Brief an den Magiſtratsvorſtand ſein Benehmen zu entſchuldigen und es als einen durch Weinlaune verurſachten Ausbruch verzeihlichen Ärgers hinzuſtellen, machte die Sache doch böſes Blut. Der Argwohn war einmal geweckt. Man wollte wiſſen, daß er in ſeinem Hotel häufig Perſönlichkeiten von zweifelhaftem Ausſehen empfange, mit denen er hinter verſchloſſenen Türen lange Verhandlungen führte. Wie kommt es überhaupt, fragte man ſich, daß der angeblich ſo reiche und vornehme Mann ſein Quartier in einem Gaſthaus zweiten Ranges nimmt? Fürchtet er am Ende, von ſeinen eignen Landsleuten geſehen zu werden, wenn er wie ſie im „Adler“ oder im „Bayriſchen Hof“ wohnt? Dies ſchien plauſibel, wenn man einer unverfolgbaren Nachricht trauen durfte, die irgendwer eines Tages verbreitete und nach welcher der Lord ehedem als Traktätchenverkäufer im Dienſt der Jeſuiten in Sachſen herumgezogen ſei. Stanhope beeilte ſich zu reiſen. Er ſtattete dem Bürgermeiſter in ſeiner Kanzlei einen Abſchiedsbeſuch ab und ſprach von dringlichen Geſchäften, die ihn wegberiefen; bei ſeiner Rückkunft werde er den geforderten Vermögensnachweis vorlegen. Zugleich deponierte er fünfhundert Gulden in guten Scheinen, welche Summe ausſchließlich für die kleinen Wünſche und Bedürfniſſe ſeines Lieblings zu verwenden ſei. Der Bürgermeiſter wandte ein, daß eigentlich Herr von Tucher die Verwaltung dieſes Geldes übernehmen müſſe, doch der Lord ſchüttelte den Kopf und meinte, in Herrn von Tuchers Verfahren liege zu viel vorgefaßte Strenge, er handle nach einem erdachten Ideal von Tugend, eine ſo zarte Lebenspflanze könne nur in liebevollſter Nachſicht aufgezogen werden. „Seien wir doch eingedenk, daß das Schickſal eine alte Schuld an Caſpar abzutragen hat und daß es engherzig iſt, immerfort hemmen und beſchneiden zu wollen, wo die Natur ſelbſt gegen den Willen der Menſchen ein ſo herrliches Gebilde erzeugt hat.“ Der Ernſt dieſer Worte wie auch das hoheitsvolle Weſen des Lords machten großen Eindruck auf den Bürgermeiſter. Er ſprach nochmals ſein Bedauern darüber aus, daß die Abſichten des Grafen nicht ſogleich verwirklicht werden konnten, und verſicherte, daß die Stadt es ſich ſtets zur Ehre rechnen würde, einen ſolchen Gaſt in ihren Mauern zu beherbergen. Von hier begab ſich Stanhope unverweilt zu Herrn von Tucher. Man ſagte ihm, der Baron ſei mit einigen Bekannten auf die Jagd geritten, auch Caſpar ſei ausgegangen, müſſe aber in Bälde zurückkehren, er möge zu warten geruhen. Ungeduldig ſchritt er in dem großen Salon auf und ab. Er nahm die Brieftaſche heraus, zählte Geld, notierte mit dem Bleiſtift Ziffern auf ein Blatt, wobei er mit den Zähnen knirſchte und der feine weiße Hals ſich langſam dunkelrot färbte wie bei einem Trinker. Er ſtampfte auf den Boden, das Geſicht war förmlich aufgeriſſen, der Blick glitzerte. „Gottverdammte Beſtien,“ murmelte er, und auf den ſchmalen Lippen lag eine wilde Verachtung. Da war nichts mehr von der Gemeſſenheit und Würde des Edelmanns. O, Herr Graf, muß der Vorhang des öffentlichen Theaters nur für eine Viertelſtunde fallen, damit der Schauſpieler, überdrüſſig der gutgelernten Rolle, ſein geſchminktes Antlitz zu furchtbarer Wahrheit verändere? Schade, daß kein Spiegel in dem Raum angebracht war, vielleicht hätte er den Lord zur Beſinnung gebracht und zur Behutſamkeit ermahnt, denn es brauchte ja nur ſchnell eine Tür aufzugehen, und das Stück begann von neuem. Aber zeugte dieſer Umſtand nicht zugunſten des Grafen? Wäre mehr Beherrſchung nicht ein Beweis von größerer Kunſt geweſen? Der echte Komödiant tragiert ſein Spiel auch leeren Räumen vor und macht ſelbſt die Wände zu Zuſchauern. In dieſer Bruſt aber waren noch Stimmen des Verrats, in ihrer Tiefe war noch Sturm, ihr dumpfes Höhlengetier hatte noch Augen, die vom Strahl der Wandelbarkeit getroffen wurden. Es ſcheint, daß der Lord ein ſchlechter Rechner war, denn die aufgeſtellten Zahlen wollten nicht das notwendige Ergebnis liefern, ſo daß er immer wieder von neuem begann und mit gerunzelter Stirn einzelne Poſten auf ihre Richtigkeit prüfte. „Für Popularitätszwecke entſchieden zu wenig,“ ſagte er mürriſch, eine Äußerung, deren Unbedachtſamkeit dadurch gemildert war, daß ſie in engliſcher Sprache getan wurde. Dann noch ein ſonderbares Wort, unheimlich anzuhören, nicht wie aus einem geiſtreichen Schauſpiel, ſondern wie aus einem Räuberdrama: „Wenn der Graue ſich wieder blicken läßt, will ich ihn in den Schwanz kneifen; ſeine Beute iſt wahrhaftig groß genug. Kronen ſind keine Marktware, er mag ehrlicher im Teilen ſein.“ Beklagenswerter Lord! Auch die Einſamkeit hat ihre Laute. Durch eine ſchlechtverſchloſſene Fenſterſpalte zwängt ſich der Wind, und es gleicht einer Stimme, oder das Holz der jahrhundertalten Möbel zieht ſich zuſammen, und es klingt wie ein Schuß oder wie ein Miniaturgewitter. Zudem war Graf Stanhope abergläubiſch; das Rieſeln der Kalkkörner hinter den Tapeten erinnerte ihn an den Tod; wenn er mit dem linken Fuß ein Zimmer betrat, wurde ihm übel und ängſtlich. Dies war hier geſchehen; er nahm ſich zuſammen und ſchwieg, um ſo mehr als er vom Flur herauf Caſpars helle Stimme hörte; er begab ſich wieder in ſeine Rolle, die Augen gewannen ihren gazellenhaften Glanz zurück, er holte einen Band Rousſeauſcher Schriften aus dem Bücherregal in der Ecke, ſetzte ſich in den Lehnſtuhl und begann mit ſinniger Miene zu leſen. Und doch, als Caſpar eintrat, als das freudeverklärte Antlitz aus dem Dämmer tauchte, da zitterte empfundener Schmerz über die Züge des Lords und eine plötzliche Verzagtheit raubte ihm die Sprache. Ja, er wurde verwirrt, er lenkte den Blick abſeits, und erſt als Caſpar, durch das fremdere Weſen betroffen, ihn leiſe anrief, brach er das Schweigen; es lag nahe, die bevorſtehende Reiſe als Grund der Verſtimmung anzuführen, aber der Zuſtand inneren Zurückbebens und jähen Wankelmutes in ſolchen Augenblicken war dem Lord nicht unbekannt, wenngleich er ſich heute ſtärker als ſonſt fühlbar machte. Ihm war dann, als ob der Anblick des Jünglings den vorgeſetzten Willen lähme, als ob mühſam aufgebaute Pläne zuſammenbrächen, wie von einem Orkan gefaßt, ſo daß er das Werk wieder von vorn beginnen konnte, wenn er allein war und ſich erholt hatte; er glich dann der Penelope, die, was ſie tagsüber kunſtvoll geſponnen, bei Nacht wieder in ſeine Fäden trennte. Caſpars wehmütige Klage bei der unerwarteten Kunde wurde nicht beſchwichtigt durch den Hinweis, daß ſein eignes Wohl dieſe Trennung erforderlich mache, auch nicht durch die Verſicherung Stanhopes, daß er ſobald als möglich, vielleicht ſchon nach Verlauf eines Monats, zurückkehren werde. Caſpar ſchüttelte den Kopf und ſagte mit erſtickter Stimme, die Welt ſei gar zu groß; er umklammerte den Freund und bat flehentlich, mitgenommen zu werden, der Graf ſolle den Diener entlaſſen, er, Caſpar, wolle dienen, er brauche kein Bett, auch keinen Lohn, er wolle wieder von Brot und Waſſer leben. „Ach, tu es, Heinrich!“ rief er unter Tränen. „Was ſoll ich denn ohne dich hier anfangen?“ Der Lord ſtand auf und befreite ſich ſanft aus den Armen des Jünglings. Der Troſt, den er ſpenden durfte, rettete ihn vor ſich ſelbſt und verlieh ſeinen Worten größeres Gewicht. „Daß du ſo kleinmütig biſt, Caſpar, beweiſt ein kleines Vertrauen zu mir,“ ſagte er, „wie kannſt du nur glauben, daß Gott, der uns endlich vereinigt hat, uns nun wieder voneinander reißen wird? Das hieße ſeine Weisheit und Güte verdächtigen. Die Welt iſt ein Bau von hoher Harmonie, und der Menſch findet ſich zum Menſchen durch ein auserwähltes Geſetz; halte du deine Beſtimmung feſt, ſo tragen dich Raum und Zeit ans Ziel, und ob ich eine Stunde lang oder wochenlang von dir fort bin, gilt gleichviel vor der Gewißheit der Erfüllung. Wartet doch mancher bis zum Tod auf den Erlöſer und wird nicht ungeduldig. Auch mußt du dich beherrſchen lernen, Caſpar; Fürſtenſöhne weinen nicht.“ Es war mittlerweile dunkel geworden; der Lord führte Caſpar zum offenen Fenſter und ſprach bewegt: „Blick auf zum Himmel, Caſpar, ſchau, wie die Sterne durch das Firmament brechen! In dieſem Zeichen wollen wir uns erkennen.“ Mit Befriedigung bemerkte Stanhope, daß Caſpar nachdenklich wurde und, feierlich geſtimmt, ſich der zügelloſen Verzweiflung ſchämte, die keinen Zwang des Wechſels anerkennen, keine Zukunft gegen die beglückte Gegenwart in Kauf nehmen wollte. Es war, als ſpüre Caſpar die höhere Notwendigkeit, welche die Schickſale ſteigert und heimlich ineinander ſtickt; vielleicht erwachte ſein verwundert umherſchauendes Auge in dieſer Stunde zum Begreifen und der Damm, der den Strom der Sehnſucht hemmte, wurde eine Kraft der Seele; die beſiegte Leidenſchaft adelt den Jüngling zum Mann. Fürſtenſöhne weinen nicht; ein ſtarkes Wort; der leiſe Windhauch, der die Vorhänge bauſchte, flüſterte es nach. Der Lord ſchaute auf die Uhr und erklärte, daß er Eile habe, er wolle der Hitze wegen die Nacht durch fahren. Vor dem Wagen unten nahm er Abſchied; Stanhope reichte Caſpar einen kleinen mit Goldſtücken gefüllten Beutel; er gebot ihm, damit nach ſeinem Belieben zu ſchalten und keiner Einrede Gehör zu leihen. Dieſe unbedachte oder vielleicht ſchlau berechnete Weiſung verſchuldete ein ernſtes Zerwürfnis zwiſchen Caſpar und ſeinem Vormund. Herr von Tucher erfuhr von dem abermaligen Geſchenk des Grafen und verlangte, daß Caſpar ihm das Geld abliefere. Caſpar weigerte ſich wiederum, Herr von Tucher beſtand jedoch mit ſeiner ganzen Autorität darauf, und er würde Gewalt angewendet haben, wenn nicht Caſpar, eingeſchüchtert durch Drohungen wie durch das Gefühl der Abweſenheit ſeines mächtigen Freundes, klein beigegeben hätte. Doch verharrte er in dumpfer Auflehnung, und dies brachte Herrn von Tucher außer ſich. „Ich werde dich aus dem Haus ſtoßen,“ rief er, nicht mehr fähig, ſich zu beherrſchen, „ich werde deine Schande der Welt offenbaren; man ſoll dich endlich kennen lernen, du Schlack!“ Caſpar, betrübt und erregt, glaubte in ſeiner Weiſe ebenfalls drohen zu ſollen. „Ach, wenn das der Graf wüßte, der würde Augen machen!“ ſagte er erbittert und mit naiver Bedeutſamkeit, als ob es in der Macht des Grafen läge, jedes Unrecht zu ſühnen. „Der Graf? Auch gegen ihn machſt du dich ja des Undanks ſchuldig,“ verſetzte Herr von Tucher. „Wie oft hat er mir verſichert, er habe dich zur Folgſamkeit und Treue ermahnt, habe dich himmelhoch gebeten, deinen Wohltätern keinen Anlaß zur Klage zu geben. Du aber mißachteſt ſein Gebot und biſt ſeiner großmütigen Liebe ganz und gar unwürdig.“ Caſpar erſtaunte. Von ſolchen Ratſchlägen des Grafen wußte er nichts, eher vom Gegenteil; er beſtritt daher, daß der Lord dergleichen geſagt habe. Da ſchalt ihn Herr von Tucher mit verächtlicher Ruhe einen Lügner, woraus erſichtlich iſt, daß das ſo weiſe aufgerichtete Erziehungsſyſtem ſich nicht einmal für ſeinen Schöpfer als tragfähig genug erwies, um Ausbrüche empörter Leidenſchaft und verwundeten Selbſtgefühls hintanzuhalten. Die Grundſätze waren endgültig in die Flucht geſchlagen. Herr von Tucher war des unerquicklichen Kampfes müde; obwohl entſchloſſen, Caſpar nicht länger zu behalten, verſchob er die Ausführung ſeines Vorſatzes bis zur Rückkehr des Grafen. Um nicht durch Caſpars Anblick der beſtändigen Pein der Enttäuſchung ausgeſetzt zu ſein, folgte er der Einladung eines Vetters und begab ſich für den Reſt des Sommers auf ein Landgut in der Nähe von Hersbruck, wo ſeine Mutter ſchon ſeit drei Monaten weilte. Da es Ferienzeit war und der Lehrer ohnedies nicht ins Haus kam, brauchte er für den Unterricht Caſpars keine Maßnahmen zu treffen; er empfahl ihm fleißiges Eigenſtudium, trug Sorge für ſeine täglichen Bedürfniſſe, ließ ihm vier Silbertaler an Taſchengeld zurück und ging nach kaltem Abſchied, die Aufſicht über ihn der Polizei und einem alten Diener des Hauſes überlaſſend. Caſpar zählte die Tage und durchſtrich jeden vergangenen mit roter Kreide auf dem Kalender. Das lautloſe Haus, die verödete Gaſſe, in der die Sonne brütete, ließen ihm das Alleinſein ſtetig fühlbar werden. Geſellſchaft hatte er keine, Fremde, die noch immer zahlreich kamen, zahlreicher noch, ſeit die paſſionierte Teilnahme eines Lord Cheſterfield den Findling wie mit einem Nimbus umgab, wurden nicht zugelaſſen, die früheren Bekannten aufzuſuchen hatte er keine Luſt. Am Abend nahm er manchmal ſein Tagebuch zur Hand und ſchrieb; da war ihm dann der Freund näher, es glich einer Unterhaltung mit ihm durch die trennende Ferne. Ohne das Gelöbnis des Stillſchweigens über das, was Stanhope ihm anvertraut, zu vergeſſen, wurde doch auf ſolche Weiſe das Papier zum Mitwiſſer der myſteriöſen Andeutungen. Aber aus ſeiner Art, ſie zu faſſen, erhellte klar, daß er ſich im mindeſten nicht dabei zurechtfinden konnte. Es war ein Märchen. Er verſtand nicht den Bau der Ordnungen, nicht das labyrinthiſch verſchlungene Gefüge der menſchlichen Geſellſchaft. Noch war das Schloß mit ſeinen weiten Hallen ein Traum: da wehten die Schauer unbekannter Sterne. Nur heimzugehen war ſein Wunſch, dies Wort hatte Sinn und Kraft. Wehe, wenn er zum Begreifen erwachte; erſt wenn die Finſternis entwichen, kann der verirrte Wanderer ermeſſen, wie weit er von ſeinem Ziel verſchlagen worden. Anfangs September erhielt Caſpar die erſte kurze Nachricht vom Grafen, die auch deſſen bevorſtehende Rückkehr meldete. Seine Freude war groß, doch war ihr ein ahnender Schmerz zugemiſcht, als könne es zwiſchen ihm und dem Freund nicht mehr werden wie vordem, als hätte die Zeit ſein Antlitz verwandelt. Bei jedem Wagenrollen, jedem Läuten am Tor dehnte ſich ſein Herz bis zum Springen. Als der Erwartete endlich erſchien, war Caſpar keines Lautes mächtig; er taumelte nur ſo und griff um ſich, wie wenn er an der Wahrheit der Erſcheinung zweifle. Der Lord veränderte Haltung und Miene; es ſah aus, als verſchiebe er ein vorgeſetztes Andersſein für ſpäter, das Lauern ſeiner Blicke verſank in der weicheren Regung, in die der Jüngling ihn ſtets verſetzte, der einzige Menſch vielleicht, dem er Macht über ſein Inneres zugeſtehen mußte und deſſen Geſchick er zugleich hinter ſich herſchleifte wie der Jäger das erbeutete Wild. Er fand Caſpar ſchlecht ausſehend und fragte ihn, ob er genug zu eſſen gehabt habe. Der Bericht über die mit Herrn von Tucher vorgefallenen Streitigkeiten entlockte ihm nur Sarkasmen, doch ſchien er nicht weiter mißgelaunt darüber. „Haſt du denn bisweilen an mich gedacht, Caſpar?“ erkundigte er ſich, und Caſpar antwortete mit dem Blick eines treuen Hundes: „Viel, immer.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe ſogar an dich geſchrieben, Heinrich.“ „An mich geſchrieben?“ wiederholte der Lord verwundert. „Du wußteſt doch meinen Aufenthalt nicht!“ Caſpar drückte die Hände zuſammen und lächelte. „In mein Buch hab’ ich’s geſchrieben,“ ſagte er. Der Graf wurde nervös, doch ſtellte er ſich zutraulich. „In welches Buch? Und was haſt du denn geſchrieben? Darf ich’s nicht leſen?“ Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Alſo Heimlichkeiten, Caſpar?“ „Nein, keine Heimlichkeiten, aber zeigen kann ich dir’s nicht.“ Stanhope brach das Geſpräch ab, nahm ſich aber vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er war wieder im „Wilden Mann“ abgeſtiegen, doch lebte er anders als vorher. Zu jeder Mahlzeit beſtellte er Champagner und teure Weine und trieb den größten Aufwand, als ſei es ihm darum zu tun, Reichtum zu zeigen. Er brachte ſeine eigne Equipage mit, deren Räder vergoldet waren, während am Schlag Wappen und Adelskrone prangten. Als Dienerſchaft hatte er einen Jäger und zwei Kämmerlinge, und dieſe drei Betreßten erregten das Staunen der Nürnberger. Er ſäumte nicht, ſein Anſuchen um die Überlaſſung Caſpar Hauſers zu erneuern. Zum Beleg ſeines günſtigen Vermögensſtandes wies er, ſcheinbar nur nebenbei, auf die Kreditbriefe hin, die er ſeit ſeiner Rückkunft beim Marktvorſteher Simon Merkel deponiert hatte. Es lag darin eine Gebärde von Prahlerei, als ſeien ſo geringfügige Summen kaum der Rede wert; in der Tat aber waren die Akkreditive, von deutſchen Wechſelhäuſern aus Frankfurt und Karlsruhe ausgeſtellt, von rieſiger Höhe. Der Magiſtrat ſah ſich jedes ſtichhaltigen Einwands gegen die Wünſche des Lords beraubt. In der Verſammlung der Stadtväter wurde die Frage aufgeworfen: ja warum? Was will er eigentlich mit dem Hauſer? Darauf las Bürgermeiſter Binder mit beſonderem Nachdruck eine Stelle aus der Zuſchrift des Grafen vor, worin es hieß: „Der Unterzeichnete fühlt um ſo mehr den Beruf, ſich des unglücklichen Findlings anzunehmen, als er bei langem Umgang mit ihm die ſelbſt einem Vaterherzen wohltuende Erfahrung gemacht hat, wie ſehr ihm dies kindliche Gemüt in liebender Anhänglichkeit und Dankbarkeit ergeben iſt.“ „Fragen wir alſo den Hauſer ſelber,“ hieß es, „man muß wiſſen, ob er Luſt hat, dem Grafen zu folgen.“ Caſpar wurde vor Gericht zitiert. In tiefer Bewegung erklärte er, er ſei überzeugt, daß der Herr Graf den innigſten Anteil an ſeinem Schickſal nehme, erklärte, mit dem Grafen gehen zu wollen, wohin ihn dieſer auch führen werde. Trotz alledem verzögerte ſich die förmliche Bewilligung des Magiſtrats durch eine Reihe erſt ſcheinhafter und ungreifbarer Umſtände, die aber nach und nach zu entſchiedenem Widerſtand erwuchſen, bis ſie ſich ſchließlich in einer einzelnen Stimme Gehör verſchafften, welcher niemand zu widerſtehen wagte. Der übermäßige Eifer des Lords, ſich der Perſon Caſpars zu verſichern, rührte den unterirdiſch murrenden Argwohn immer wieder empor. Sein pomphaftes Auftreten mißfiel dem Bürger, der einer beſcheidenen Lebensführung, auch bei Großen, mehr Vertrauen entgegenbrachte als einer Verſchwendungsſucht, die nur die ſchlechten Inſtinkte des Pöbels nährte. Es erbitterte, wenn der Graf in ſeiner Prunkkaroſſe daherfuhr, mit Abſicht die belebteſten Plätze wählte und nach rechts und links Kupfermünzen ins Volk ſtreute, das ſich dann, jeder Würde bar, vor dem in nachläſſiger Leutſeligkeit thronenden Fremdling im Kot wälzte. Man ſprach davon, daß Stanhope vom Marktvorſteher Merkel auf die Kreditbriefe hin hohe Summen entlehnt habe. Merkel, wenngleich er geſichert ſchien, wurde zur Vorſicht ermahnt; es lief das Gerücht, der Lord dürfe die Papiere gar nicht angreifen oder doch nur bis zu einer vorgeſchriebenen Grenze. Mittlerweile war Herr von Tucher vom Land zurückgekehrt. Die Entwicklung der Dinge war ihm bekannt; er wollte für ſeinen Teil ein klares Ende herbeiführen. Er richtete an den Lord einen ziemlich weitläufigen Brief, in welchem er ihn ſchließlich vor die Wahl ſtellte: entweder den Jüngling ganz zu ſich zu nehmen und ihn, den Baron, damit ſeiner Verantwortlichkeitspflicht zu entheben, oder einen jährlichen Beitrag auszuſetzen, welcher es ermögliche, Caſpar einem verſtändigen und gebildeten Mann vollſtändig zu übergeben; in letzterem Falle müſſe Seine Herrlichkeit allerdings die Güte haben, jedem Verkehr mit Caſpar ſchriftlich wie mündlich für die Dauer mehrerer Jahre zu entſagen; er ſeinerſeits würde ſich dafür gern verbinden, dem Lord regelmäßigen Bericht über Caſpars Tun und Treiben abzuſtatten. In der ſonſtigen Faſſung des Schreibens herrſchte jedoch die gebotene Devotion vor. „Mit dem wärmſten Dank habe ich, hochzuverehrender Herr, die zahlloſen Beweiſe des Wohlwollens anzuerkennen, mit denen Sie mich ſeit den wenigen Wochen Ihres Hierſeins überſchüttet haben,“ hieß es unter anderm; „aus dem Grund meiner Seele habe ich die ungeheuchelte Verehrung an den Tag zu legen, zu welcher mich Ihre Herzensgüte und Ihr ſeltener Edelmut zwingen. Aus dieſer Geſinnung entſpringt mir auch die Pflicht des Vertrauens, zu der Sie mich ſo oft aufgefordert haben, und ſo trete ich vor Ihnen, edler Mann, geraden und offenen Sinnes auf mit der Zuverſicht, daß Sie meinen Worten ein geneigtes Ohr ſchenken werden. Caſpar iſt nicht der, für den Sie ihn zu halten ſcheinen. Wie konnten Sie auch dieſes wunderliche Zwitterding kennen lernen, da ihn ja im Umgang mit Ihnen, dem er alles verdankt und von dem er alles erwartet, was ſein Sinn begehrt, auch alles dazu einlud, im beſten Licht zu leuchten. Herr Graf! Sie haben ihm eine Freundſchaft bezeigt, wie man ſie nur einem Gleichgeſtellten ſchenkt. Bei der unbegrenzten Eitelkeit, mit welcher die Natur neben ſo reichen Gaben ſeine Seele verunſtaltet hat und die von einfältigen Menſchen hier noch großgezogen wurde, haben Sie unſchuldigerweiſe ein Gift in ſein an ſich ſchon krankes Weſen gemiſcht, das kein Seelenarzt, auch nicht der geſchickteſte, wird jemals wieder daraus entfernen können. Ich bin von nichts weiter entfernt, als Ihnen damit einen Vorwurf zu machen, ich bitte Sie inſtändig, auch nicht einen ſolchen finden zu wollen. Sie ſind außer Schuld. Aber feſtſtellen muß ich, daß während der ganzen Zeit, die Caſpar in meinem Hauſe weilte, kein Anlaß war, mit ihm unzufrieden zu ſein, während er ſeit Ihrem Aufenthalt dahier, ich ſage es mit blutendem Herzen und mit der Zaghaftigkeit, die mir Liebe und Ehrfurcht gegen Sie, vortrefflicher Mann, gebieten, wie umgewandelt und verkehrt iſt.“ Eine ſolche Sprache mußte auch dem verwöhnteſten Ohr ſchmeicheln. Nichtsdeſtoweniger gab ſich Lord Stanhope den Anſchein, durch den Brief des Freiherrn herausgefordert und verletzt worden zu ſein, ſprach auch überall in Geſellſchaft davon. In einer Eingabe an das Kreisgericht in Ansbach, die ſich als notwendig erwieſen und worin er ſeine Bereitwilligkeit anzeigte, nicht nur während ſeines Lebens für Caſpar Hauſer zu ſorgen, ſondern auch deſſen Erhaltung für den Fall ſeines Todes zu ſichern, erwähnte er, daß zwiſchen ihm und Herrn von Tucher Verhältniſſe eingetreten ſeien, die ihm für jetzt und künftig jeden Verkehr unmöglich machten; es ſei deshalb von Wichtigkeit, daß Caſpar tunlichſt bald in eine andre Umgebung verſetzt werde. Hofrat Hofmann in Ansbach beeilte ſich, Herrn von Tucher von der verhüllten Anklage des Lords zu unterrichten. Herr von Tucher war außer ſich. Er teilte der Behörde ſeinen an Stanhope gerichteten Brief wörtlich mit, ſchilderte noch einmal und in düſteren Farben den unheilvollen Einfluß des Grafen auf Caſpars Charakter und erſuchte um ſchleunige Decharge von einer Vormundſchaft, die ihm, wie er ſich ausdrückte, Sorgen, Plagen und Laſten und zuletzt noch Undank und Verargung ſeines redlichen Willens zugezogen habe. Da das Ansbacher Amt ein Gutachten über die Perſon des Lords gewünſcht, ſchrieb er zurück, er habe den Herrn Grafen als einen ſeltenen Mann von ausgezeichneten Eigenſchaften kennen gelernt. Das Gerücht bezeichne ihn als ſehr vermöglich, er ſelbſt behaupte, eine jährliche Rente von zwanzigtauſend Pfund Sterling, alſo dreimalhunderttauſend Gulden, zu genießen, welches Einkommen ihn übrigens als Earl und erblichen Pair von Großbritannien noch keineswegs unter die reichen Edelleute ſeines Landes ſetze. „Vorausgeſetzt, daß die hochlöbliche Kuratelbehörde genügende Sicherheit erlangt,“ ſchloß er ſein mächtig langes Schreiben, „auch ſolche, die über gewiſſe bedenkliche Konjunkturen in England Aufſchluß gibt, habe ich als Vormund gegen die Adoption Caſpar Hauſers durch Lord Stanhope, ſonderlich in finanzieller Hinſicht, nichts einzuwenden.“ Ein umſtändliches Verfahren, ein endloſer Inſtanzenweg. Stanhope zappelte ſchon vor Ungeduld und Wut. Doch ſchienen ungeachtet des geſchäftigen Klatſches und der widerſtreitenden Meinungen alle Hinderniſſe beſeitigt, und er ſah ſich dem von Anfang an mit langſamer Zähigkeit verfolgten Ziele nahe, als plötzlich alles wieder vernichtet wurde. Der Präſident Feuerbach legte nämlich ſein Veto ein gegen die Entfernung Caſpars aus Nürnberg. Er ſchickte einen Privatboten an den Bürgermeiſter Binder und ließ ihn wiſſen, daß er ſoeben von ſeiner Badekur in Karlsbad zurückgekommen und was im Werke ſei als vollkommene Neuigkeit vernehme. Er unterſagte jede Entſcheidung, bevor er den ihm verworren und verdächtig erſcheinenden Fall geprüft und die auszuführenden Schritte gutgeheißen habe. Der Bürgermeiſter fand ſich verbunden, den Lord ſogleich von der neuen Wendung der Dinge in Kenntnis zu ſetzen. Stanhope empfing und las das Briefchen Binders in ſeinem Hotel gerade während man ihn raſierte. Er ſtieß den Bader beiſeite, ſprang auf und rannte, noch mit dem Seifenſchaum auf ſeiner Wange, heftig erregt durch das Zimmer. Es dauerte geraume Zeit, bis er ſich ſeiner Toilettenpflicht wieder erinnerte; er zerriß den Zettel, den ihm Binder geſchickt, in hundert kleine Stücke und ſaß dann unter dem Raſiermeſſer mit einem Geſicht ſo voll Haß und Galle, daß die Hand des erſchrockenen Barbiers zu zittern begann und er ſich nach vollendeter Arbeit eilig aus dem Staube machte. Zu ſpät bedachte der Graf, daß er ſich vergeſſen habe; aber wie empfindlich mußte der Schlag ſein, der ihn getroffen, wenn dadurch die eherne Ruhe und Zurückhaltung eines ſo vom Zweck Umpanzerten erſchüttert werden konnte! Mit fliehender Hand ſchrieb er einige Zeilen, ſchloß und ſiegelte den Brief, ließ den Jäger kommen, gebot ihm, ein Pferd zu ſatteln, und trug ihm auf, die Botſchaft vor Ablauf von achtundvierzig Stunden an Ort und Stelle zu bringen, koſt’ es, was es wolle. Der Mann entfernte ſich ſchweigend. Er kannte ſeinen Herrn. Er wußte, daß ſein Herr ſich nicht mit Späßen beſchäftigte, Liebeshändeln und kleinen Intrigen. Er kannte dieſes Geſicht an Seiner Lordſchaft, dieſe Spannung eines gräßlichen Entweder-Oder, dieſe Miene eines angeſtrengten Wettläufers, dieſe krampfhafte Faſſung des Haſardſpielers. Man hatte dergleichen Ritte ſchon oft unternommen bei Tag wie bei Nacht; man mußte eine verſchwiegene Zunge haben, um die unbehaglichen Zutaten ſolcher Obliegenheiten vor einer wißbegierigen Welt bergen zu können, denn es hatte nicht ſelten den Anſchein, als ob man der Mittler lichtſcheuer Geſchäfte ſei. Eile war ſtets geboten; man kam auch ſtets zurecht, doch jenes „Koſt’ es, was es wolle“ war ein bißchen aufſchneideriſch, man erhielt nicht immer ſeinen Lohn, man mußte oft wochenlang warten und heimlich nach den Brocken haſchen, die von der gräflichen Tafel abgetragen wurden; Seine Herrlichkeit war eben nicht bei Kaſſa, man erwartete Gelder aus England oder aus Frankreich oder man wurde ſogar um Geld zu irgendeinem vornehmen Herrn geſchickt, und es war auffallend, daß dem gräflichen Verlangen häufig nicht eben dienſteifrig begegnet wurde, der vornehme Herr ließ in ſeiner Sprache eher etwas von Geringſchätzung als von Ehrfurcht gegen die Perſon des Lords merken. Woran hing das alles? Wohin liefen die Fäden, die dieſes über den Pöbel erhobene Schickſal an die gemeine Notdurft knüpften? Der edle Abkömmling eines edeln Geſchlechts, ſeine Tage in einer erbärmlichen Spelunke friſtend, einer der ſtolzeſten Namen eines ſtolzen Reiches, abhängig von der ſchmierigen Freundlichkeit eines Gaſtwirts, verdammt, ſeines Lebens Mark und Kern mit eignen Füßen in den Schlamm zu treten, das ſtrenge Gedächtnis unantaſtbarer Ahnen preiszugeben, wofür? Woran hing das alles? Jede gegenwärtige Stunde war eine Ruine der Vergangenheit, jeder Tag die Trümmerſtätte eines goldenen Ehemals; ehemals, da der Name Stanhope in den Hauptſtädten Europas noch jene Rolle geſpielt, die ſeinem Träger ſelbſt nur noch wie eine Sage erſchien, als der jugendliche Lord das Entzücken der Salons von Paris und Wien geweſen war, als er reich geweſen und den Reichtum benutzt hatte, um ſeine maßloſe Jugend damit zu ſättigen und der Welt ſeiner Standesgenoſſen das Schauſpiel einer Verſchwendung ohnegleichen zu geben. Seine Feſte und Gaſtmähler waren berühmt geweſen. Er war von Land zu Land gereiſt mit einem Hofſtaat von Köchen, Sekretären, Kammerdienern, Handwerkern und Spaßmachern. Er hatte bei einer Pergola in Madrid für fünfundzwanzigtauſend Livres Blumen an die Frauen verteilen laſſen. Er hatte während des Wiener Kongreſſes die Könige und Fürſten bewirtet, Wettrennen veranſtaltet, die allein ein Vermögen verſchlangen, und Oratorien und Opern für eigne Rechnung aufführen laſſen. Seine luxuriöſen Launen hielten die Geſellſchaft in Atem; er beſchenkte ſeine Freunde mit Villen und Landgütern und ſeine Freundinnen mit Perlenketten. Er war jahrelang der Timon des Kontinents geweſen, um den ſich eine Armee von geilen Schmarotzern drängte, die alle ihr Profitchen an ihm machten und ihre ausſchweifenden Gelüſte bei ihm befriedigten. Seine Gutherzigkeit und Freigebigkeit war ſprichwörtlich geworden, ſeine Art, mit immer gefüllten Händen Gold um ſich her zu ſtreuen, achtlos, ob es in die Goſſe oder auf die Teppiche fiel, glich dem Wahnſinn oder einer tollen Probe auf die menſchliche Habgier. Dann das Ende: Falliſſement und Selbſtmord eines Bankiers beſchleunigten den unaufhaltſamen Zuſammenbruch. Es war an einem Abend im Palais Bourbon, man hatte hoch geſpielt, Stanhope verlor viele Tauſende, um ſo bezaubernder wirkte ſein unbefangenes Geplauder, das Feuer und die Anmut ſeines Geiſtes. Der Geſandte, Lord Caſtlereagh, trat zu ihm und machte ihm eine haſtige Mitteilung. Man ſah ihn erblaſſen, ein Lächeln von eigner Schwermut gefror auf den feinen Zügen, andern Tags reiſte er. Er glaubte in der Heimat das zurückgezogene Leben eines Landedelmannes führen zu können, dies mißlang. Die Güter waren überſchuldet, von allen Seiten drängten Gläubiger, außerdem graute ihm vor der Einſamkeit, haßte er die menſchenloſe Natur. Er floh. Der Glanz vergangener Zeiten mußte Fetzen borgen für ein Daſein, das allmählich von innen ausgehöhlt wurde durch die Angſt um das nackte Brot. Es war ſtill um ihn geworden; ſeine Wanderzüge waren eine Jagd nach den früheren Freunden und Genoſſen, aber auf einmal gab es keinen mehr, der nicht alles vorher gewußt hätte und aus ſicherer Schanze heraus Verdammnis predigte. In einem römiſchen Hotel nahm er, verzweifelt, erſchöpft, aller Hoffnung bar, Strychnin. Eine junge Sizilianerin pflegte und rettete ihn. Das Gift, das ſeinen Körper verlaſſen hatte, ſchien von ſeiner Seele Beſitz zu ergreifen. Er rang mit dem Dämon, der ihn niedergeſtoßen; er wurde wild und kalt; ſeine ans Erhabene ſtreifende Menſchenverachtung erleichterte ihm, die Schwächen ſeiner Umgebung zu benutzen. Er begab ſich in den Dienſt hoher Herren und ſtudierte die ſchmutzigen Myſterien ihrer Vorzimmer und ihrer Hintertreppen. Er wurde Emiſſär des Papſtes und bezahlter Agent Metternichs. Bald war ſein Name ausgeſtrichen aus der Liſte der Untadeligen und jenen Abenteurern zugezählt, die an den Grenzbezirken der Geſellſchaft eine gefürchtete Korſarenrolle ſpielen. Die außerordentlichen Talente, die er beſaß, machten ihm keine Aufgabe ſchwer; der unabläſſige Zwang zu handeln, die Vielfältigkeit der Beziehungen erſtickten die Stimmen des Gewiſſens und die Empfindung dunkler Schmach. Oben geächtet und bei aller Nützlichkeit gemieden, war er in den Niederungen noch immer der erlauchte Mann; er wurde ein geübter Menſchenjäger und Seelenfänger; was dem Druck des Unglücks entſprungen war, wurde Metier; das unwiderſtehliche, ſanfte Lächeln: Metier; die edeln Manieren, das ritterliche Betragen, die gewinnende Konverſation, die treffliche Bildung: alles Metier; jedes Zucken der Wimpern, jede Verbeugung war Geſchäft; alles hatte Folgen, alles Urſache, ein nachläſſiges Wort konnte das Mißlingen einer Aufgabe bedeuten — und doch, wie entbehrungsvoll war ein ſolches Daſein, wie jämmerlich der Lohn! Und wie ging es bei alldem langſam bergab, ins Kleine hinein, als ob die Kette, an der er zog, von ſelber und ohne daß ſie ſich lockerte, Glied um Glied abſetzte, um ihn in den Abgrund zu zerren. Eines Tages hieß die Kriegsloſung Caſpar Hauſer. Der Auftrag war deutlich, ſeine Quelle klar, die Umſtände finſter wie nichts zuvor. Man ſagte: Du biſt der rechte Mann, das Unternehmen iſt ſchwer, aber einträglich, es ſcheint von geringer Bedeutung, doch Ungeheures ſteht auf dem Spiel. Die Verhandlungen wurden nicht von Geſicht zu Geſicht geführt, alles war hinter Vorhängen verſteckt, jeder Mittler trug das Wort eines namenloſen Gebieters. Das Geſpenſtertreiben reizte die Phantaſie, der Abgrund begann zu leuchten. Das Ausſpinnen des Plans hatte etwas von Wolluſt; der ſeltene Vogel mußte meiſterlich beſchlichen werden. Ja, der Auftrag war deutlich, er hatte Hand und Fuß. Du haſt den Findling aus dem Bereich zu entfernen, in welchem er anfängt für uns gefährlich zu werden, lautete die Weiſung; nimm ihn zu dir, nimm ihn mit in ein Land, wo niemand von ihm weiß; laß ihn verſchwinden, ſtürze ihn ins Meer oder wirf ihn in eine Schlucht oder miete das Meſſer eines Bravo oder laß ihn unheilbar krank werden, wenn du dich auf Quackſalberei verſtehſt, aber verrichte das Werk gründlich, ſonſt iſt uns nicht gedient. Unſers Dankes biſt du verſichert; wir notieren unſern Dank mit der und der Summe bei Israel Blauſtein in X. Was war zu überlegen? Alle Not konnte zu Ende ſein. Jedes Zögern machte ſchon mitſchuldig; den untätigen Wiſſer zu beſeitigen war für jene ein Zwang. Es gab keine Wahl. Der Beginn des Unternehmens lag weit zurück; ſchon damals, wo man den Mordgeſellen in Daumers Haus geſchickt, hatte Stanhope Befehl, einzugreifen, falls der Anſchlag, an dem er ſelber unbeteiligt war, nicht gelingen ſollte. Die Roheit und Verworfenheit der angewandten Mittel ſchreckten ihn, beleidigten ſeinen guten Geſchmack, rüttelten ſein beſſeres Weſen auf. Er floh, er verbarg ſich. Das Elend und drohender Hunger lockten ihn wieder ins Garn, und ſo machte er ſich auf „aus weiter Ferne“, um ſein Opfer zu betören. Doch wie ſonderbar war ſchon das erſte Begegnen und Zuſammenſein! Welch eine Stimme! Welch ein Auge! Was erſchütterte den Verderber und riß ihn hin? Er wurde betört, er! Dieſer Vogel verſtand auch zu ſingen, das hatte der Netzeknüpfer nicht bedacht. Auf einmal ſah er ſich geliebt. Nicht wie Frauen lieben, das hatte er erfahren, das kann gewürdigt und auch vergeſſen werden, es liegt im Fluß der Dinge begründet, Zufall und Trieb haben gleichen Anteil daran; auch nicht wie Männer lieben oder Eltern oder Geſchwiſter oder wie ein Kind liebt; Geſetz und Aneignung, Not und Wille binden die Kreatur an ihresgleichen; doch im tiefſten Grund ruht Wetteifer, Kampf und Feindſchaft. Dies aber war anders, ungeahnt und wunderſam rührte die Schönheit einer Seele an das ummauerte Herz. Es gibt eine Sage, die von einem Land erzählt, wo nicht Tau noch Regen fiel, daher entſtand Trockenheit und Waſſermangel, weil nur ein einziger Brunnen war, der Waſſer erſt in großer Tiefe enthielt; wie nun die Leute zu verſchmachten anfingen, da kam ein Jüngling zu dem Brunnen, der die Zither ſpielte und ſeinem Inſtrument ſo ſüße Melodien entlockte, daß das Waſſer bis zur Mündung des Brunnens heraufſtieg und im Überfluß dahinſtrömte. So wie dem Brunnen erging es dem Lord, wenn der Jüngling Caſpar bei ihm weilte und die ſüßen Melodien ſeines Weſens ſpielte. Sein Geiſt ſtieg aus der Tiefe, ein jammernder Blick flog rückwärts, Scham entzündete das bebende Gemüt, leicht ſchien es das Übel ungeſchehen zu machen, er fand ſich ſelbſt wieder, es ſtrahlte ihm aus dieſem Antlitz das Bild der eignen noch unbefleckten Jugend entgegen, und ſo, wie er hätte ſein können, wenn das Schickſal nicht ſein Edelſtes zermalmt hätte, ſo ſah er ſich genommen, geglaubt und verherrlicht. Und ſo wahr, ſo reich, ſo grundlos ſchenkend, daß der verruchteſte Geizhals und Böſewicht ſeine Truhe nach Koſtbarkeiten durchwühlt hätte, nur um ſich der Qual der Verſchuldung zu entledigen. Aber er gab — nichts. Er konnte ſich nicht ſelber geben, denn ſeine Perſon war zum voraus verſchrieben, ſein Leben war von denen bezahlt, denen er diente, bezahlt ſein Tag und ſeine Nacht, bezahlt ſeine Reue, ſein Unfrieden, ſein ſchlechtes Gewiſſen. Er führte eine Tat im Schilde, die jede Falte ſeines Geſichts mit Lüge bemalte, aber bisweilen dachte er in Wirklichkeit daran, mit Caſpar zu fliehen. Doch wohin? Wo gab es eine Ruheſtatt für den Geächteten eines Erdteils? Ach, wenn er die ſtillen Stunden mit Caſpar verbrachte und dieſes Antlitz ihm zugeneigt war, in dem der reine Glanz des Menſchen wohnte, da fühlte er, daß auch er noch ein Menſch war, und er konnte in unermeßlicher Wehmut vor ſich hintrauern. Dann vergaß er Zweck und Sendung und rächte ſich an jenen, deren ſchuldiges Opfer er war, indem er hinwarf, was er von ihren Geheimniſſen wußte, und doppelten Verrat beging. Er erfüllte Caſpar mit Erwartungen auf Macht und Größe, das war ſeine Gegengabe, das Geſchenk des Geizhalſes. Ein Glück, daß der Zauber an Kraft verlor, wenn er von dem Jüngling entfernt war und er nicht mehr jenen fragenden Blick auf ſich laſten fühlte, bei dem ihm zumute war, als ſei ein Geſandter Gottes neben ihn hingeſtellt. Inmitten der finſtern Überlegung und im Verfolg der furchtbaren Pläne ſchrieb er gleichwohl kurze leidenſchaftliche Briefchen an den Umgarnten, wie dies: „In der erſten Woche, da ich dich kennen lernte, hieß ich mich deinen Vaſall; ſollteſt du je für eine Frau dasſelbe fühlen, was du für mich empfindeſt, ſo bin ich verloren.“ Oder: „Wenn du einmal Kälte an mir bemerkſt, ſo ſchreibe es nicht einer Herzloſigkeit zu, ſondern nimm es für den Ausdruck jenes Schmerzes, den ich bis ans Grab in mich verſchließen muß; meine Vergangenheit iſt ein Kirchhof, als ich dich fand, hatte ich Gott ſchon halb verloren, du warſt der Glöckner, der mir die Ewigkeit einläutete.“ Es waren Wendungen im Geſchmack der Zeit, beeinflußt durch Modepoeten, aber ſie bekundeten doch die Ratloſigkeit eines bis ins Innerſte verworrenen Gemüts. So hin- und hergeriſſen, hemmte er ſelbſt den Gang ſeiner Unternehmung. Er ließ geſchehen, was geſchah, und unterlag dem Anprall der Ereigniſſe, denn ſie waren mächtiger als ſeine Entſchlüſſe. Er wußte, daß er ſein ſchändliches Werk enden würde und enden müſſe, aber er zauderte, und dies Zaudern gab ihm Zeit, ſein Geſchick zu beklagen. Er verſuchte ſich eine Ausrede vor dem Himmel zu ſchaffen, indem er betete, und vor dem Richter in ſich ſelbſt, indem er aus ſeinem Daſein ein Fatum machte. Den an Genuß und Wohlleben hängenden Geiſt beſchwichtigte er durch den Sophismus, daß die Notwendigkeit ſtärker ſei als Liebe und Erbarmen, und das klare Bild des Endes eskamotierte er hinweg mit einem billigen: es wird ja ſo ſchlimm nicht werden! Indeſſen wurde auch nach der haſtigen Abſendung des Jägers die Unſicherheit ſeiner Lage immer größer, die Koſten des Aufenthalts wuchſen beſtändig, die Kreditbriefe nutzten wenig, ſie waren einſtweilen nur ein Aushängeſchild, die Bedrängnis zwang ihn zu Taten, und er faßte den Entſchluß, nach Ansbach zu reiſen und mit dem Präſidenten Feuerbach perſönlich zu unterhandeln. An einem Samſtag zu Ende November gebot er, eilends den Reiſewagen inſtand zu ſetzen, und ſchickte eine Nachricht ins Tucherſche Haus, daß Caſpar ſogleich zu ihm kommen möge. Er aber begab ſich, nachdem er Auftrag erteilt, Caſpar bis zu ſeiner Wiederkehr zurückzuhalten, auf einem Weg, wo er dem Gerufenen nicht zu begegnen fürchten mußte, ſelbſt dorthin, ließ ſich in Caſpars Zimmer führen, gab vor, auf ihn warten zu wollen, und als er allein war, durchſtöberte er in gehetzter Eile alle Schubläden, Bücher und Hefte des Jünglings, um einen vor Wochen von ihm ſelbſt an Caſpar geſchriebenen Brief zu finden, in welchem ihm höchſt unbedachte, auf die Zukunft Caſpars bezügliche Bemerkungen entſchlüpft waren und den er um jeden Preis aus der Welt ſchaffen wollte, denn ſchon hatte man ihn gewarnt, ſchon hatten die Finſteren hinter dem Vorhang gedroht. Sein Suchen war vergeblich. Da öffnete ſich auf einmal die Tür, und Herr von Tucher ſtand auf der Schwelle. In ſeinem ängſtlichen Eifer hatte der Lord die nahenden Schritte überhört. Herr von Tucher ſah mächtig groß aus, da ſein Scheitel den oberen Pfoſten der Türe berührte; in ſeiner Haltung lag ein ſchmerzliches Erſtaunen, und nach einem langen Schweigen ſagte er mit heiſerer Stimme: „Herr Graf! Das ſind doch nicht etwa die Geſchäfte eines Spions?“ Stanhope zuckte zuſammen. „Einen Anwurf ſolcher Art erlauben Sie mir wohl mit Schweigen zu übergehen,“ entgegnete er mit gelaſſenem Hochmut. „Aber was ſoll das,“ fuhr Herr von Tucher fort, „wie ſoll ich den Augenſchein deuten? Mir ahnt, Herr Graf, eine innere Stimme verrät es mir, daß hier nicht alles auf geraden Wegen vor ſich geht.“ Der Lord geriet in Verwirrung; er preßte die eine Hand an die Stirn, und mit flehendem Ton ſagte er: „Ich bedarf mehr des Mitleids und der Nachſicht, als Sie denken, Baron.“ Er zog das Taſchentuch aus der Bruſttaſche, drückte es vor die Augen und begann plötzlich zu weinen, wirkliche, unverſtellte Tränen. Herr von Tucher war ſprachlos. Seine erſte Regung war ein düſterer Argwohn und der Verdacht, daß alle trüben und verſteckten Redereien über Caſpars Schickſal eines ernſtlichen Grundes doch nicht entbehren mochten. Stanhope, als ahne er, was in dem klugen Manne vorging, faßte ſich ſchnell und ſagte: „Nehmen Sie ſich eines ſchwankenden Herzens an. Ich tappe im Dunkeln. Ja, es will in Worte gebracht ſein, ich zweifle an Caſpar! Ich vermag ihn nicht loszuſprechen von gewiſſen Unaufrichtigkeiten und heuchleriſchen Künſten_...“ „Auch Sie alſo!“ konnte ſich Herr von Tucher nicht enthalten auszurufen. „Und ich fahnde nach Beweiſen.“ „Dieſe Beweiſe ſuchen Sie in Schubladen und Schränken, Herr Graf?“ „Es handelt ſich um geheime Aufzeichnungen, die er mir vorenthielt.“ „Wie? Geheime Aufzeichnungen? Davon iſt mir nicht das mindeſte bekannt.“ „Sie ſind nichtsdeſtoweniger vorhanden.“ „Vielleicht meinen Sie am Ende das Tagebuch, das er vom Präſidenten erhalten hat?“ Stanhope griff dieſen Gedanken, der ihn aus der ſchiefen Situation halbwegs rettete, mit Vergnügen auf. „Ja, gerade dieſes, ohne Frage dasſelbe,“ beteuerte er raſch, indem er ſich zugleich gewiſſer verräteriſcher Andeutungen Caſpars darüber entſann. „Ich weiß nicht, wo er es aufbewahrt,“ ſagte Herr von Tucher; „ich würde auch Anſtand nehmen, es Ihnen in ſeiner Abweſenheit auszuliefern. Im übrigen weiß ich zufällig, daß er vor einiger Zeit aus demſelben Tagebuch das Bildnis des Präſidenten, das ſich auf der erſten Seite befand, herausgeſchnitten und das Ihre, Herr Graf, an deſſen Stelle geſetzt hat.“ Damit langte Herr von Tucher nach einer Mappe, die auf dem Schreibpult lag, zog ein darin befindliches Blatt hervor und reichte es Stanhope. Es war Feuerbachs Porträt. Der Lord ſah eine Weile darauf nieder, und beim Anſchauen dieſer jupiterhaften Züge beſchlich ihn eine niegekannte Furcht. „Das iſt alſo der berühmte Mann,“ murmelte er; „ich bin im Begriff, ihn aufzuſuchen, ich erwarte viel von ſeiner unbeſtechlichen Einſicht.“ Doch alles, was er plante, der Weg dorthin, der Zwang, dem furchtbaren Blick dieſer Augen ſtandhalten zu ſollen, verſetzte ihn in eine Befangenheit, deren er nicht Herr werden konnte. „Exzellenz Feuerbach wird zweifellos entzückt ſein, Ihre Bekanntſchaft zu machen,“ ſagte Baron Tucher höflich, und da Stanhope ſich anſchickte zu gehen, bat er ihn, dem Präſidenten ſeine verehrungsvollen Grüße zu übermitteln. Zwei Stunden ſpäter ſauſte der Wagen des Lords auf der Reichsſtraße dahin. Es war ein arger Sturm, in Wellen und Spiralen krümmte ſich der Staub empor, der Lord kauerte, in Tücher eingehüllt, in der Ecke des Gefährts und wandte keinen Blick von der herbſtlich-trübſeligen Landſchaft. Doch ſein krankhaft leuchtendes Auge ſah weder Felder noch Wälder, ſondern ſchien die Ebene nach verborgenen Gefahren zu durchſpähen. Das Auge eines Beſeſſenen oder eines Flüchtlings. Als kurz vor dem Städtchen Heilsbronn das Gedudel eines Leiermanns hörbar wurde, drückte er die Hände gegen die Ohren, wandte ſich ab und ſtöhnte ſeine zur Einſamkeit verdammte Qual in das ſeidene Ruhekiſſen des Wagens. Danach ſaß er wieder aufrecht, hart und kalt wie Stahl, ein Hexenlächeln um die dünnen Lippen. 13. Geſpräch zwiſchen einem, der maskiert bleibt, und einem, der ſich enthüllt