In den Nachmittagsſtunden eines der letzten Apriltage rollte ein vornehmer Reiſewagen vor die Einfahrt des Hotels zum wilden Mann, und alsbald verließ ein hochgewachſener Herr den Schlag und begrüßte leutſelig den herbeiſtürzenden Wirt, der eines ſolchen Gaſtes nicht gewärtig war, da in ſeinem Hauſe faſt nur Kaufleute und Handlungsreiſende verkehrten. Der Fremde forderte die beſten Zimmer, und ohne ſich nach dem Preis zu erkundigen, ſchritt er durch das Spalier von Gaffern in das weitbogige Tor. Diener und Kutſcher trugen die Koffer, den Nachtſack und ſonſtige Reiſegegenſtände in die Halle. Der Ankömmling verlangte von ſelbſt das Fremdenbuch, und bald konnte jeder ehrfürchtig-ſchaudernd die mit Rieſenſchrift geſchriebenen Worte leſen: „Henry Lord Stanhope, Earl of Cheſterfield, Pair von England.“
Das Ereignis machte ſolches Aufſehen in der Gegend, daß noch ſpät abends Leute auf der Gaſſe ſtanden und zu den hellen Fenſtern emporſtarrten, hinter denen der erlauchte Herr logierte. Am nächſten Morgen gab der Lord in der Wohnung des Bürgermeiſters ſowie bei einigen Notabilitäten der Stadt ſeine Karte ab, und ſchon wenige Stunden darauf erhielt er in ſeinem Quartier die Gegenbeſuche, vor allem denjenigen Binders, der ſich der früheren Anweſenheit des Lords natürlich wohl erinnerte.
In der ziemlich langen Unterredung mit dem Bürgermeiſter geſtand Graf Stanhope ohne Umſchweife, daß wie jenes erſte Mal ſo auch heute die Perſon des Caſpar Hauſer den Grund ſeines Aufenthaltes in der Stadt bilde. Er hege für den Findling die größte Teilnahme, ſagte er und ließ durchblicken, daß er etwas Entſcheidendes für ihn zu unternehmen geſonnen ſei.
Der Bürgermeiſter erwiderte, er verſtatte Seiner Herrlichkeit, ſoweit es die Vorſchriften erlaubten, freien Spielraum.
„Was für Vorſchriften?“ fragte der Lord raſch.
Binder verſetzte, Herr von Tucher ſei Kurator des Findlings, habe weitgehende Rechte und werde der Einmiſchung eines Fremden nicht freundlich gegenüberſtehen; außerdem könne man ohne Wiſſen des Staatsrats Feuerbach keine Veränderung befürworten, die das Leben Caſpar Hauſers betreffe.
Der Lord machte ein bekümmertes Geſicht. „Da werde ich einen ſchweren Stand haben,“ bemerkte er. Hierauf erkundigte er ſich, ob man wegen des Überfalls im Daumerſchen Hauſe irgend Anhaltspunkte gewonnen habe und ob die ſeinerzeit von ihm ausgeſetzte Prämie keinen Empfänger habe finden können. Dies mußte Binder verneinen; er entgegnete, die ſo großmütig zur Verfügung geſtellte Summe liege unangetaſtet auf dem Rathaus und Seine Lordſchaft könne ſie zu beliebiger Stunde zurückerhalten, da doch jede Entdeckungsausſicht nunmehr geſchwunden ſei.
Die nächſten Tage verbrachte der Lord ausſchließlich mit der Erfüllung geſellſchaftlicher Pflichten. Zu Mittag, zum Tee und zu Abend war er eingeladen oder gab kleine, aber exzellente Mahlzeiten in ſeinem Hotel, wozu er eigens einen franzöſiſchen Koch in Dienſt nahm. Wenn es ſeine geheime Abſicht war, ſich auf dieſe Weiſe Freunde und Bewunderer zu verſchaffen, ſo blieb ihm darin nichts zu wünſchen übrig. Wenn er den Zweck verfolgte, all die guten Leute und ihre Geſinnungen kennen zu lernen, ſo fiel ihm das nicht ſonderlich ſchwer; man gab ſich rückhaltlos, man fühlte ſich geehrt durch ſeine Gegenwart, man beſtaunte ſeine geringſten Handlungen.
Jeder Anlaß war ihm recht, um das Geſpräch auf Caſpar Hauſer zu lenken; er wollte wiſſen, immer Neues wiſſen, ſchwelgte in den rührenden Einzelheiten, die man zu berichten wußte, fand es aber dabei doch nicht notwendig — eine Unterlaſſung, die allerdings auffallend gefunden wurde —, den Profeſſor Daumer zu beſuchen, ſondern begnügte ſich damit, den Gefängniswärter Hill zu ſich kommen zu laſſen und ihn auszufragen.
Hill, von dieſer Auszeichnung etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, ſchilderte ſo beweglich, daß es von einem unter Verbrechern ergrauten Mann wunderbar zu hören war, jenes hold verlorene Weben und ergreifende Darniederſinken Caſpars während ſeines Aufenthalts im Turm; zum Schluß rief er, glühend vor Eifer, er, was an ihm liege, er werde die Unſchuld des Jünglings bezeugen, und wenn Gott ſelber das Gegenteil behaupte. Graf Stanhope war ſichtbar erſchüttert; er lächelte, ſagte, hier ſei ja nicht von Schuld die Rede, und entließ den Mann fürſtlich belohnt.
Nun endlich entſchloß er ſich, Herrn von Tucher und damit auch Caſpar ſelbſt gegenüberzutreten. Wenn man ihn verwundert gefragt hatte, weshalb er dies ſo lang verzögere, hatte er erwidert, er bedürfe dazu ſeiner ganzen Sammlung und Seelenkraft, denn vor dem Augenblick, wo er Caſpar zum erſtenmal ſehen werde, ſei ihm bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtsabend.
Herr von Tucher befand ſich in ſeinem Arbeitszimmer, als man ihm die Karte des Engländers brachte. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß er von der Anweſenheit Stanhopes in der Stadt Kenntnis hatte und von deſſen Umtrieben unterrichtet war. Da er in jedem Fall einen Friedensſtörer in ihm ſah, war er nicht zugunſten des Mannes voreingenommen.
Nach allen Beſchreibungen hatte er in dem Fremden eine liebenswürdige und gewinnende Erſcheinung zu finden erwartet; gleichwohl war er überraſcht, als er den vornehmen Gaſt auf ſich zuſchreiten ſah, und im Nu ſchwand ſeine durch das Hörenſagen und trübe Vorgefühle entſtandene Abneigung.
Es war allerdings etwas Gefährliches um den Mann, das ſpürte Herr von Tucher auf den erſten Blick, doch ebenſoſehr lag ein beſtrickender Reiz von Weltlichkeit und geiſtreicher Anmut über ſeiner Perſon. Da ſeine Haltung ſtolz war, erſchien die Zartheit der ſchlanken Geſtalt nicht weibiſch; die Züge, durchaus engliſch markant, waren edel geſchnitten und ließen die fahle Färbung der Haut vergeſſen; das wechſelnde Feuer der durchſichtigen Augen erinnerte bald an die ſanfte Gazelle, bald an die Ruhe des Tigers, kurz, Herr von Tucher wurde in einen Zuſtand angenehmer Spannung und Erregung verſetzt, der durch das ſchnell in Fluß gebrachte Geſpräch nicht im mindeſten betrogen wurde.
Die bloßen Fragen des Lords nach Caſpars leiblicher und geiſtiger Verfaſſung bekundeten ſchon einen Menſchen von hoher Einſicht und Kenntnis des Lebens, und was er ſagte, eroberte die Zuſtimmung des Hörers mühelos.
Auf die Beweggründe des Hierſeins kam er von ſelbſt zu ſprechen. Was er vorbrachte, klang unbeſtimmt genug; er war augenſcheinlich ein Meiſter in der Kunſt, ſeine wahren Abſichten zu verſchleiern, aber kein Argwohn konnte Herrn von Tucher beifallen. Der Name Stanhope gab ausreichende Bürgſchaft. Was konnte einen Lord Stanhope verhindern, deutlich zu ſein? War es nicht Feingefühl und angeſtammter Takt, ſo war es eine Verſchwiegenheit, die zugleich das Gelöbnis enthielt, zur gebotenen Stunde alles ſchicklich offenbar zu machen. Herr von Tucher fand ſich dadurch eher verpflichtet als enttäuſcht; ohne die ausgeſprochene Bitte des Lords abzuwarten, fragte er höflich, ob es ihm genehm ſei, Caſpar zu ſehen. Indem er die Verſicherung der Dankbarkeit ſeines Gaſtes lächelnd abwehrte, läutete er und gab Auftrag, daß man den Jüngling hole.
Es entſtand nun eine Stille; Herr von Tucher verblieb in unwillkürlichem Lauſchen an der Tür, und der Lord ſaß mit übergeſchlagenen Beinen, den Kopf in die behandſchuhte Linke geſtützt, das Geſicht dem offenen Fenſter zugekehrt. Es war ein ſonniger Sonntagnachmittag; der Himmel lag blauſtrahlend über dem fächrigen Geſchiebe der roten Dächer, zwitſchernde Schwalben ſchoſſen längs der grauen Häuſerfronten hin. Als Caſpar in das Zimmer trat, veränderte Stanhope langſam die Richtung ſeines Blickes, und ohne jenen eigentlich anzuſehen, ſchien er doch das ganze Bild des Menſchen in ſich feſtzuketten. Noch während Caſpar, durch ein paar raſche Worte des Herrn von Tucher über die Perſon des illuſtern Mannes belehrt, auf den Grafen zuging, erhob ſich dieſer und ſagte mit überraſchender Erregung und ſichtlich tiefberührt: „Caſpar! Alſo endlich! Geſegnete Stunde!“ Dann ſtreckte er die Arme nach ihm aus, und wie zu einem Tor, das ihm nach ſehnſuchtsvollem Harren aufgetan worden, begab ſich Caſpar in dieſe geöffneten Arme, ein heller, ſcharfer, kühler Strahl der Freude durchfuhr ihn von oben bis unten, und er vermochte weder zu ſprechen noch ſich zu regen.
Das war er, der aus weiter Ferne kam. Von ihm der Ring, von ihm die Botſchaft. Schon oben, als er die Kaleſche vor dem Haus ſtillhalten gehört, war eine Erſtarrung von Caſpars Gliedern gefallen, und als der Diener ihn rief, war es, als ob ein Morgenſchein das Haus durchglühe. Als er die Schwelle des Zimmers erreicht hatte, ſah Caſpar nur ihn, den Fremden, Fremdvertrauten, und wie wenn ihm bisher die Hälfte ſeines Herzens gefehlt hätte, fühlte er ſich auf einmal ganz geworden, rund und neu: mit gebadetem Auge ſah er ſich ſelbſt, zweckvoll erſchaffen. Mild an ihre Glocke ſchlug die Uhr und das Licht des Nachmittags war wie Honig und ſüß zu ſchmecken.
Auf den Lord übte die wunderbare Ergriffenheit Caſpars anſcheinend große Wirkung. Für die Dauer mehrerer Sekunden war ſein Geſicht heftig bewegt und die Augen trübten ſich wie in peinvollem Erſtaunen. Er war ohne Zweifel verwirrt, die allzeit dienſtbare Phraſe verſagte ſich ihm, und bei der erſten zärtlichen Anrede klang die ſonſt ſeidenweiche Stimme rauh. Mit der Hand ſtreichelte er Caſpars Haare, preßte die Wange des Jünglings gegen ſeinen Buſen, und ein verlorener Blick traf den ſtumm abſeits ſtehenden Herrn von Tucher, der mit Verwunderung die ungewöhnliche Szene beobachtete. Stanhope bat ihn dann, weil das Verhüllte des Vorgangs zu irgendeiner Klärung drängte, ob er Caſpar für einige Stunden mit ſich nehmen dürfe, ein Anſuchen, dem Herr von Tucher nicht widerſtehen konnte.
Bald darauf ſaß Caſpar an der Seite des Lords im Wagen; der Poliziſt mußte natürlich mit und ſaß hintenauf. Während das Gefährt zum Tor hinaus gegen die Maxfeldgärten rollte, entſpann ſich langſam ein Geſpräch.
Caſpar klagte, zum erſtenmal durfte er klagen. Doch war er ſchon verſöhnt mit dem Augenblick, wo geſchehenes Unrecht als ſolches erkannt und verſtanden wurde. Die Welt ſchien ſchlecht bis auf dieſen Tag, jetzt tat ſich ihr Himmel auf und es zeigte ſich ein waltender Arm.
Doch nicht ſo ſehr um das Nahgeſchehene handelte ſich’s: hier war einer, der wiſſen mußte! Caſpar fragte. Kühn und leidenſchaftlich fragte er: wer bin ich? wer war ich? was ſoll ich? wo iſt mein Vater? wo meine Mutter? Und die Antwort des Grafen? Verlegenheit. Eine Umarmung. „Geduld, Caſpar; bis morgen nur Geduld: das läßt ſich nicht in einem Atemzug abtun, allzuviel iſt zu ſagen. Erzähl mir lieber: wie haſt du gelebt? Erzähl von deinen Träumen. Man ſagt mir, du habeſt wunderbare Träume. Erzähl!“
Caſpar ließ nicht lange bitten. Die weſensvollen Gebilde machten den Lauſcher ſtutzig, er umſchloß Caſpar feſter und verbarg ſo ſein Geſicht vor ihm; bei der geſchilderten Erſcheinung der Mutter fuhr er wie vor Schreck zuſammen, und abermals ſuchte er abzulenken, wollte Einzelheiten über das Leben Caſpars im Daumerſchen, im Beholdſchen Hauſe wiſſen; der Gegenſtand war gefahrlos. Stanhope fand ſich ergötzt durch Caſpars urſprüngliche und bezeichnende Ausdrucksweiſe, die komiſche Anwendung von Sprichwörtern und Nürnberger Redensarten. Auf dem Rückweg fragte er, wo Caſpar den Ring habe, den er ihm geſchickt. „Hab’ mich nicht getraut, ihn an den Finger zu tun,“ antwortete Caſpar.
„Warum denn nicht?“
„Weiß nicht warum.“
„War er dir nicht ſchön genug?“
„O nein; umgekehrt wird ein Schuh draus. Viel zu ſchön war er mir. Hab’ immer Herzklopfen gehabt, wenn ich ihn angeſehen.“
„Aber jetzt wirſt du ihn tragen?“
„Ja, jetzt will ich ihn tragen. Jetzt weiß ich, er gehört wirklich mir.“
Der Wagen hielt vor dem Tor, Stanhope nahm zärtlichen Abſchied von Caſpar und beſtellte ihn für den nächſten Vormittag in den Gaſthof. „Auf Wiederſehen, Liebling!“ rief er ihm noch zu.
Caſpar ſtand beklommen. Jetzt kroch die Zeit wieder träge. Jeder Schritt ins Haus war ein ſchmerzliches Sichentfernen aus dem Kreis des herrlichen Mannes; was jetzt die Hand, der Blick berührte, war alt, war tot.
Schon um zehn Uhr morgens war er im „Wilden Mann“. Der Unterrichtsſtunde war er einfach entlaufen; hätte ihn jemand abzuhalten verſucht, er wäre an einem Strick vom Fenſter heruntergeklettert.
Der Lord kam ihm in der oberen Halle entgegen, küßte ihn vor vielen Zuſchauern auf die Stirn und führte ihn ins Empfangszimmer, wo auf einem Tiſchlein Geſchenke für Caſpar lagen: eine goldene Uhr, goldene Hemdknöpfe, ſilberne Schuhſchnallen und feine weiße Wäſche. Caſpar traute ſeinen Augen nicht, der Überſchwang des Dankes verſperrte ihm die Kehle, er wußte nichts andres, als immer nur die freigebige Hand des Spenders in der ſeinen feſtzuhalten.
Der Lord nahm den ſtillen Anſturm mit gerührtem Schweigen auf. Aber nachdem ſie ein paarmal Arm in Arm durch die Mitte des Raumes gewandelt waren und Caſpar noch immer mit ſichtbarer Anſtrengung nach Zeichen ſeiner Erkenntlichkeit rang, ermahnte ihn Stanhope ſanft, er möge doch jeden Dank unterlaſſen. „Dieſe Dinge ſind ja nur geringfügige Merkmale meiner Liebe zu dir,“ ſagte er; „das Wirkliche, das Große, was ich für dich tun will, bleibt der Zukunft vorbehalten. Inzwiſchen bleibe du ſo, wie du biſt, mein Caſpar, denn ſo biſt du mir eben recht; nicht geräuſchvoll in Worten, aber zuverläſſig in deinem Herzen. Zuverläſſig und treu ſollſt du mir bleiben, ein Sohn, ein Kamerad, ein Freund.“
Caſpar ſeufzte. Das war zu viel des Glücks. Nie hätte er geglaubt, daß ein Menſchenmund ſo ſprechen könne. Zur Beteuerung war er ohnmächtig, nur ſein Auge gab Kunde in einem ſchwärmeriſchen Blick.
Stanhope öffnete eine Tür und geleitete den Jüngling zu einer kleinen Frühſtückstafel, die im Nebenzimmer bloß für ſie beide gedeckt war. Sie nahmen Platz, der Lord füllte Wein in die Gläſer und lächelte ſonderbar, als Caſpar erklärte, er trinke niemals Wein. „Wie wird es dann werden, Caſpar, wenn wir zuſammen in die Länder des Südens reiſen? Auf allen Hügeln glüht dort der Wein und die Luft iſt voll davon. Was ſchauſt du mich ſo an? Glaubſt du mir nicht?“
„Wirklich? Werden wir wirklich zuſammen reiſen?“ fragte Caſpar jubelnd.
„Gewiß werden wir das. Denkſt du denn, daß ich mich von dir trennen will? Oder denkſt du, daß ich dich in dieſer Stadt laſſe, wo dir ſo viel Übles widerfahren iſt?“
„Alſo fort? Wirklich fort? Fort in die weite Ferne!“ rief Caſpar, preßte wie außer ſich beide Hände vor den Mund und zog in freudigem Krampf die Schultern bis an die Ohren. „Was wird aber Herr von Tucher dazu ſagen? Und der Herr Bürgermeiſter? Und der Herr Präſident?“ fügte er hinzu, vor lauter Haſt plappernd, während ſich in ſeinem Geſicht die ganze Betrübnis malte, die er bei der Vorſtellung empfand, jene Männer könnten die Pläne des Grafen mißbilligen oder zunichte machen.
„Sie werden es geſchehen laſſen, ſie werden keine Gewalt mehr über dich haben, dein Weg führt dich über ſie empor,“ antwortete Stanhope ernſt und ſah Caſpar zugleich mit einem ſcharfen, ja durchbohrenden Blick an.
Caſpar erbleichte, von einem grenzenloſen Gefühl überwältigt. Während in ſeiner Bruſt Wunſch und Zweifel, dunkel umſchlungen, alle Kräfte der Seele an ſich zogen, erhob ſich vor ſeinem Geiſte leuchtender als je das Bild der Frau aus dem Traumſchloß. Mit einer ergreifenden Gebärde des Flehens wandte er ſich zu Stanhope und fragte: „Herr Graf, werden Sie mich zu meiner Mutter bringen?“
Stanhope legte Meſſer und Gabel beiſeite und ſtützte den Kopf in die Hand. „Hier liegen furchtbare Geheimniſſe, Caſpar,“ flüſterte er dumpf. „Ich werde reden und ich muß reden, aber du mußt ſchweigen, keinem andern Menſchen darfſt du vertrauen als mir. Deine Hand, Caſpar, dein Gelöbnis! Herzensmenſch! Unglücklich-Glücklicher, ja, ich will dich zu deiner Mutter bringen, die Vorſehung hat mich erwählt, dir zu helfen!“
Caſpar ſank hin, die Beine trugen ihn nicht mehr, ſein Kopf fiel auf die Knie des Grafen. Die Luftadern pochten um ihn, ein Schluchzen löſte die ungeheure Spannung ſeiner Bruſt. „Wie ſoll ich denn zu dir reden?“ fragte er mit der Kühnheit eines Trunkenen, denn die Formeln, in denen man ſonſt zu Menſchen ſpricht, erſchienen ihm fremd, ſie taten ſeiner dankbaren Liebe nicht genug.
Der Lord hob ihn ſachte empor und ſagte zärtlich: „Recht ſo, das traute Du ſoll zwiſchen uns herrſchen; du ſollſt mich Heinrich nennen, als ob ich dein Bruder wäre.“
In ſo inniger Nähe erblickte ſie der eintretende Bediente, der den Bürgermeiſter und den Regierungskommiſſär anmeldete. Durch die geöffnete Tür forderte der Lord die Wartenden ins Zimmer. Es ſah aus, als wünſche er, daß die beiden Zeugen ſeiner Liebkoſungen gegen Caſpar würden. Er tat, als könne er ſich nicht von ihm trennen; da die Beſucher nach ehrfürchtigem Gruß Platz genommen, ſchritt er, noch leiſe plaudernd und ihn bei der Schulter umſchlungen haltend, mit Caſpar auf und ab, ſodann begleitete er ihn zur Stiege, eilte zurück, ging ans Fenſter, beugte ſich hinaus, ſah Caſpar nach und winkte ihm mit dem Taſchentuch. Die Verwunderung ſeiner Gäſte wohl bemerkend, mäßigte er ſich trotzdem nicht, im Gegenteil, er gebärdete ſich wie ein Verliebter, der ſeine Empfindungen ohne Scheu preisgibt.
Die Geſchenke des Lords wurden einige Stunden nachher ins Tucherſche Haus gebracht. Herrn von Tuchers Erſtaunen beim Anblick der wertvollen Gaben war groß. „Ich werde dieſe Gegenſtände an mich nehmen und aufbewahren,“ äußerte er zu Caſpar nach einigem Nachdenken; „es ſteht einem zukünftigen Buchbinderlehrling nicht an, derlei auffallenden Luxus zu treiben.“
Da hätte man Caſpar ſehen ſollen! „O nein,“ rief er aus, „das gehört mir! Das iſt mein, und ich will’s haben, das darf mir keiner nehmen!“ Seine Haltung war geradezu drohend, und ſein Blick funkelte.
Aus Herrn von Tuchers Zügen wich alle Farbe. Ohne eine Silbe zu erwidern, verließ er das Zimmer. Alſo ein Undankbarer, dachte er bitter, ein Undankbarer! Einer, der eigenſüchtig die Gelegenheit nutzt und den einen Wohltäter verleugnet, wenn der andre beſſer zahlt!
Die Grundſätze hörten auf zu triumphieren. Sie machten ein zerknirſchtes Geſicht und hüllten ſich in Sack und Aſche.
Nachgiebigkeit wäre in dieſem Fall eine unwürdige Schwäche, deren ich mich ſchämen müßte, ſagte ſich Herr von Tucher. Aber was tun? Soll ich Gewalt anwenden? Gewalt iſt unmoraliſch. Er wandte ſich an Lord Stanhope und trug ihm die Sache vor. Der Graf hörte ihn freundlich an, er gab ſich Mühe, die Vergehung Caſpars als eine kindiſche Maßloſigkeit zu verteidigen, und verſprach, ihn dahin zu bringen, daß er dem Vormund die Geſchenke freiwillig überreiche.
Herr von Tucher war von der Liebenswürdigkeit des Lords bezaubert und verließ ihn in beſter Zuverſicht. Auf den verheißenen Gehorſam Caſpars wartete er aber vergeblich. Kein Zweifel, die Mühe des Lords war ohne Erfolg geblieben; kein Zweifel, Caſpar verſtand es, den gütigen Mann zu beſchwatzen. Kein Zweifel, dieſer Burſche war mit allen Salben geſchmiert, ein Charakter voll Heimlichkeit und Liſt. Viel zu ſtolz, um einen Dritten zum Mitwiſſer ſeiner niederſchmetternden Erfahrungen zu machen, begnügte ſich Herr von Tucher vorläufig, den Ereigniſſen ruhig zuzuſehen, wenn auch mit dem Verdruß eines Mannes, der ſich hintergangen fühlt. Daß Caſpar ſich nicht ein einziges Mal bewogen fand, über die Art ſeiner Beziehung zu dem Lord, über den Gegenſtand ihrer Geſpräche ſich zu äußern, verletzte ihn tief; einen ſolchen Mangel an zutraulicher Mitteilſamkeit hätte er zum allerwenigſten erwartet.
In der erſten Zeit hatte ſich der Lord darauf beſchränkt, Caſpar im Tucherſchen Haus zu beſuchen oder ihn höchſtens nach förmlich erbetener Erlaubnis des Barons zu einer Spazierfahrt abzuholen. Allmählich änderte ſich das, und er beſtellte den Jüngling an fremde Orte, wo Caſpars unvermeidliche Leibwache ſich fünfzig Schritte entfernt halten mußte. Herr von Tucher führte beim Bürgermeiſter Beſchwerde; er behauptete, der Lord handle damit ſeiner ausdrücklich gegebenen Zuſage entgegen. Aber was konnte Herr Binder tun? Durfte er den vornehmen Herrn zur Rede ſtellen? Er wagte einmal eine ſchüchterne Andeutung. Der Lord beruhigte ihn mit einem Scherz; um nicht für wortbrüchig zu gelten, war es leicht, den Verſtoß auf Caſpars Unbeſonnenheit zu ſchieben.
So ſah man die beiden auffallenden Geſtalten häufig am Abend durch die Gaſſen wandeln. Arm in Arm; im eifrigen Geſpräch achteten ſie der Blicke nicht, die ſie verfolgten. Meiſt gingen ſie über den Stadtgraben und dann auf die Burg; hier durfte ſich Caſpar wehmütiger Erinnerung überlaſſen; der düſtere Turm barg die größten Schreckniſſe ſeines Lebens, und wenn er auf die Stadt niederſchaute, wo zwinkernde Lichter aus vielen Fenſtern das dunkelverſchlungene Gaſſengewirr belebten, vernahm er mit ganz andern Gefühlen die Stundentöne der Glocke; jetzt band und einte die Zeit ihre Schläge und zerriß ſie nicht mehr zu Pauſen des Grauens.
Der Lord wurde nicht müde zu erzählen. Er erzählte von ſeinen Reiſen. Er verſtand es, Dinge und Begebenheiten mit einfachen Worten zu malen. Caſpar erfuhr von den Alpen und daß dort Berge mit ewigem Schnee ſeien und glückliche Täler, wo freie Menſchen lebten. Er ſah Italien — das Wort war ſchon ein Rauſch —, geſchmückte Kirchen, enorme Paläſte, Gärten mit wunderbaren Statuen, voller Roſen, Lorbeer und Orangen, einen märchenhaft blauen Himmel und die ſchönſten Frauen. Er ſah das Meer und Schiffe mit blanken Segeln auf der Flut. Seine Sehnſucht wurde ſo groß, daß er manchmal plötzlich lachen mußte. Einmal wirklich dort ſein dürfen in den Ländern der Sonne und der unbekannten Früchte, dort ſein dürfen, und das bald, ſolche Hoffnung machte das Herz ſtillſtehen. Es war eine Freude, die weh tat.
An einem regneriſchen Abend befanden ſie ſich im Hotel. Der Lord öffnete eine Truhe und zeigte einiges von den Schätzen, die er auf ſeinen Reiſen geſammelt. Da waren ſeltene Münzen und Steine; Kupferſtiche, Statuetten, Gemmen, Kameen, Perlen und altertümliches Geſchmeide; ein geweihter Roſenkranz aus dem Heiligen Land; ein ſilberner Becher mit kunſtvoll gravierten Figuren; eine Bibel mit den herrlichſten Initialen und Malereien, ein Damaszenerdolch mit goldenem Griff, der Siegelring eines Papſtes, ein indiſcher Mantel aus Seide, beſtickt mit Sternen; ein pompejaniſches Lämpchen und altfranzöſiſche Porzellanväschen und vieles andre, alles ſeltſam, alles fremdartig, alles mit einem Duft von weiter Welt und großem Schickſal.
„Das habe ich vom Kurfürſten von Mainz bekommen,“ ſagte der Lord etwa, „und dies iſt ein Geſchenk des Herzogs von Savoyen; dieſe ſchöne Miniature habe ich bei einem Händler in Barcelona gekauft, und dies Tonfigürchen ſtammt aus Syrakus. Da iſt ein Talisman, den hat mir Scheik Abderrahman verehrt, und dieſe orientaliſchen Stoffe hat mir meine Baſe aus Syrien geſchickt; ſie iſt eine wunderliche Perſon, zieht mit Arabern und Beduinen durch die Wüſte, ſchläft in Zelten und treibt Alchimie und Aſtrologie.“
Welche Laute, welche Fernen! Mit offenbarer Luſt ſchürte der Graf das Feuer des Verlangens in Caſpar. Vielleicht nahm er es mit ſeinen Verheißungen ernſt. Vielleicht bereitete es ihm bloß eine Wonne, Wunſch und Lüſte aufzupeitſchen. Vielleicht war es nur ein Spiel der Rede. Vielleicht aber das furchtbare Vergnügen, dem Vogel im Bauer, im nie zu öffnenden, ſo lange vom Flug durch den goldnen Äther zu erzählen, bis endlich der jubelnde Freiheitsgeſang durch ſeine Kehle bricht.
Wie er ſprach, wie er die Worte beſaß! Zwiſchen den Lippen und den weißen Zähnen ſpielte das Lächeln wie ein liſtiges Tierchen. Er war nicht gleichmäßig heiter. Was war das? Oft zog Finſternis über ſein Geſicht. Bisweilen pflegte er aufzuſtehen und wie ein Lauſcher an die Tür zu treten. Seine Liebkoſungen waren nicht ſelten voll Schwermut, dann ſaß er wieder ſchweigend da, und ſein ſuchender Blick glitt düſter an dem Jüngling vorüber. Da faßte Caſpar einmal Mut und fragte: „Biſt du denn eigentlich glücklich, Heinrich?“
„Glücklich, Caſpar? O nein. Glücklich, was ſprichſt du da? Haſt du ſchon von Ahasver gehört, dem ewigen Juden, dem ewigen Wanderer? Er gilt als der unglücklichſte aller Menſchen. Ach, ich möchte mein Leben vor dir aufblättern, denn auf ſeinen dunkeln Seiten liegt der Gram. Aber ich darf nicht, ich kann nicht. Später vielleicht, wenn dein eignes Geſchick ſich entſchieden hat, wenn du mit mir in meine Heimat gehſt ...“
„Iſt denn das möglich, wird denn das ſein?“
Es ſchüttelte den Lord plötzlich; es war, als werfe er einen Mantel ab oder wolle ſich einem unſichtbaren Druck entziehen. Eine krampfhafte Lebendigkeit ergriff ihn, er begann von Caſpars künftiger Größe zu ſprechen, doch wie ſtets nur in geheimnisvollen Wendungen und mit der feierlichen Ermahnung zur Verſchwiegenheit. Ja, er ſprach von Caſpars Reich, von ſeinen Untertanen, und das zum erſtenmal, wie einem Zwang gehorchend, ſelber ſchaudernd, ſelbſt zitternd, immer von neuem das Gelöbnis des Schweigens betonend, hingeriſſen von einem Phantom gleichſam und alle Gefahr vergeſſend. „Ich will dich führen; ich will deine Feinde zermalmen, du biſt tauſendmal mehr wert als jeder einzelne von ihnen. Wir gehen zuerſt nach dem Süden, um ſie irrezuführen, dann fliehen wir zu mir nach Hauſe, ſchaffen uns einen Hinterhalt, von wo die Verfolger zu treffen ſind, wo man Kräfte ſammeln kann für den entſcheidenden Schlag.“
Wieder zur Tür; wieder lauſchen; nachſehen, ob kein Horcher verſteckt ſei. Dann, ängſtlich ablenkend, ſchilderte der Graf ſeine Heimat, den Frieden eines engliſchen Landſitzes, die herrenhafte Unabhängigkeit auf erbgeſeſſenem Gebiet; die tiefen Wälder und klaren Flüſſe, die balſamiſche Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling, Herbſt und Winter, eingeſchloſſen in einem Ring unſchuldiger Genüſſe.
In ſolchen Bildern lag etwas von der Wehmut reuigen Gewiſſens und dem Schmerz eines auf immer Verſtoßenen. Zum andern Teil aber enthielten ſie viel von der modiſchen Empfindſamkeit, die auch das verhärtetſte Gemüt unter Umſtänden davon ſchwärmen ließ, ſeine ſelbſtgeſchaffene Unraſt am Buſen der Natur zu beſänftigen. Und dann ſprach er doch von ſeinem Leben. Er wußte ſich als einen Mann darzuſtellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Ämtern und greifbaren Glücksgütern beladen, gleichwohl das Opfer feindlicher Mächte iſt. Das Schickſal trat in romantiſcher Verkleidung auf und jagte den Sohn eines verfluchten Geſchlechts unſtet von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehemalige Freunde gegen den edeln Sproß des Hauſes verſchworen und er, ein Mann von fünfzig Jahren, ohne Heim und Weib und Kind, Ahasver!
Derlei Enthüllungen öffneten wie nichts ſonſt Caſpars Herz der Freundſchaft. Denn da war endlich einer, der ſich gab, ſich öffnete, die Vermummung abwarf. Es war bitterſüße Luſt, die angebetete Geſtalt den Sockel verlaſſen zu ſehen, auf dem ſie für alle übrigen thronte.
Was ihn betrifft, er bot in dieſer Zeit das Schauſpiel eines ruhenden Menſchen; außen und innen ruhend, gelöſt von hemmender Feſſel, Blick und Gebärde gelöſt, die Geſtalt aufgerichtet, die Stirn wie entſchleiert, die Lippen geſchwellt von einem beſtändigen Lächeln.
Er wurde ſeiner Jugend inne. Er dehnte ſich aus, es war ihm, als ſei er ein Baum und ſeine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm ſchien, als ſtröme ſein Blut einen Wohlgeruch aus; die Luft ſchrie nach ihm, das Land ſchrie nach ihm, alles war voll von ihm, alles nannte ſeinen Namen.
Er pflegte manchmal laut mit ſich ſelbſt zu reden, und wenn er dabei überraſcht wurde, lachte er. Die Leute, die mit ihm in Berührung kamen, waren bezaubert; ſie fanden kein Ende, die über alles liebliche Erſcheinung zu preiſen, in der Kind und Jüngling zu rührendem Verein gediehen waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche Briefchen ſchrieben, und Herr von Tucher wurde vielfach mit Bitten beläſtigt, ihn von einem Maler konterfeien zu laſſen.
Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal wie verblaſen. Keiner wollte je etwas Schlechtes geſagt haben, die eingefleiſchten Widerſacher duckten ſich, die ganze Stadt warf ſich plötzlich zu ſeinem Beſchützer auf. Es hieß mit immer kühnerer Deutlichkeit, man müſſe ihn gegen die Machenſchaften des engliſchen Grafen in Schutz nehmen.
Eines Tages mußte Stanhope zu ſeiner größten Beſtürzung wahrnehmen, daß er von allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war. Er mußte ſich entſchließen zu handeln.