Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens 10. Botſchaft aus der Ferne Es war aber von da an nicht mehr auszuhalten mit Frau Behold. Wahrſcheinlich bereitete ſich in dieſer Zeit ſchon der furchtbare Gemütszuſtand vor, der ſpäterhin ihr Schickſal verhängnisvoll beſchloß. Jedermann ſcheute ſich, mit ihr zu tun zu haben. Kaum hatte ſie ſich irgendwo hingeſetzt, ſo ſprang ſie auch ſchon wieder auf, um fünf Uhr früh war ſie ſchon munter, lärmte in den Zimmern und auf den Stiegen und klopfte Caſpar aus dem Schlaf, wobei ſie ein ſolches Gepolter an ſeiner Tür machte, daß er mit wehem Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu keiner Arbeit fähig war. Bei Tiſch ſollte er nicht reden, und wenn er einmal Widerſpruch hielt, drohte ſie, ihn beim Geſinde in der Küche eſſen zu laſſen. Kam ein Fremder und Caſpar wurde gerufen, ſo erging ſie ſich in biſſigen Wendungen. „Ich bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfiſch etwas herausbringen,“ ſagte ſie etwa; „man hat Ihnen ſicherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von Klugheit an ihm finden werden. Überzeugen Sie ſich doch; ſehen Sie zu, ob die arme Seele ein vernünftiges Wort hergibt.“ Solches machte den Gaſt, wer er auch war, verlegen, und Caſpar ſtand da und wußte nicht, wohin er ſchauen ſollte. Wie früher mußten Menſchen her, um die Räume des Hauſes zu füllen, Gelächter ſollte über die morſchen Stiegen hallen und kniſternde Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen. Aber die Tage waren von den Nächten ſo verſchieden wie der Ballſaal, wenn die Lichter brennen und dann, wenn die Leute gegangen ſind, der Pförtner die Kerzen auslöſcht und Mäuſe über die befleckten Teppiche huſchen. In einem ſolchen Daſein wächſt Schuld wie das Unkraut auf nichtgepflügtem Acker. Große Schuld kann reinigen in Buße oder Leiden; die kleinen Verſäumniſſe und unnennbaren Miſſetaten, die an vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben die Seele und freſſen das Mark des Lebens auf. Jedenfalls war Frau Behold eine ſehr moraliſche Natur, weil ſie dem Menſchen nicht verzeihen konnte, der ihre Tugend ins Wanken gebracht hatte, wenngleich nur für eine ſchwüle Gewitterſtunde. Aber lag es bloß daran? War ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf geſtellt durch das unerwartete Bild der Unſchuld, das ihr der Jüngling dargeboten hatte? Eine ſolche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich, um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr geſchehen und ſie verlangte nach Rache. Den Freunden Caſpars blieb der veränderte Zuſtand im Hauſe Behold nicht verborgen. Bürgermeiſter Binder war der erſte, der mit Nachdruck erklärte, Caſpar dürfe nicht länger dort verbleiben. Daumer unterſtützte dieſe Meinung lebhaft, und der Redakteur Pfiſterle, hitzig und unbequem wie immer, beſchimpfte in ſeiner Zeitung den Magiſtratsrat und äußerte den Verdacht, man wünſche den Findling unſchädlich zu machen und die Stimmen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, welche die Anrechte ſeiner geheimnisvollen Geburt durchſetzen wollten. „Da lebt er, der rätſelhafte Knabe, dem ein unſichtbares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein einſames Tier, das ſich nur mit ein paar ſchüchternen Sprüngen ans Licht getraut und, während es über den Acker hüpft, poſſierlich mit Schwanz und Ohren wackelt, um ſeine Feinde zu ergötzen, dabei aber ängſtlich nach allen Seiten ſpitzt, um bald wieder ins erſte beſte Loch zu kriechen.“ So der aufgeregte Schreibersmann. Danach entſchloſſen ſich die Stadtväter nach mancherlei Beratungen, wie vordem einen Erziehungs- und Koſtbeitrag aus der Gemeindekaſſe auszuſetzen, und weil niemand ſo wie Herr von Tucher geeignet ſchien, dem Elternloſen ein Obdach zu bieten, legte man ihm die Sache beweglicherweiſe ans Herz, appellierte an ſeine Großmut und an die ausgezeichnete Stellung ſeiner Familie, deren Name allein genügen würde, den Jüngling vor gemeinen Verfolgungen zu ſchützen. Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das plötzliche Gezeter gegen die Beholdſchen verdroß ihn. „Erſt ſeid ihr froh geweſen, für den jungen Menſchen einen Unterſchlupf zu finden, und auf einmal wird hohes Kammergericht geſpielt,“ ſagte er; „ſoll ich annehmen, daß es mir beſſer ergeht? Ich will nicht Gefahr laufen, daß mein Privatleben von oben bis unten beſchnüffelt wird, ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, ſein Kikeriki in meinen Frieden zu krähen.“ Auch die Familie, beſonders ſeine Mutter, erhob Einſpruch und warnte ihn, ſich in Abenteuer zu begeben. Es hieß ſogar, die alte Freifrau habe dem Sohn einen unangenehmen Auftritt bereitet und ihm geſagt, wenn er den Hauſer zu ſich nehmen wolle, möge er nur deſſen Unterhalt aus Gemeindekoſten beſtreiten, ſie gebe keinen Groſchen dafür her. Aber Herr von Tucher war ein Pflichtmenſch. Er fand, daß es ſeine Pflicht ſei, Caſpar aufzunehmen. Da er in ihm ſchon einen halb Verlorenen ſah, ſtellte er ſich vor, daß er damit einen unglücklich Irrenden wieder auf die gebahnten Wege des Lebens führen könne. Der gute Caſpar ermangelt vielleicht nur einer männlich-kräftigen Hand, ſagte er ſich; die Faſeleien von Übernatur und Ausnahmsweſen, das beſtändige Beſtarrt- und Bewundertwerden, alles das war ihm verderblich; Einfachheit, Ordnung, überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer geſunden Zucht werden ihm heilſam ſein. Probieren wir’s! Herr von Tucher hatte ſich alſo hier eine Aufgabe geſtellt, und das war das wichtigſte. Er erklärte: „Ich bin bereit, den Findling zu betreuen, knüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man mich in allen Dingen gewähren und daß niemand, wer es auch ſei, ſich einfallen läßt, mich in meinen Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher Abſicht zwiſchen mich und Caſpar zu treten.“ Natürlich wurde das zugeſagt und verſprochen. Kaum hatte Frau Behold gehört, was ſich hinter ihrem Rücken abſpielte, ſo beſchloß ſie, den Ereigniſſen zuvorzukommen. Sie wartete eine Nachmittagsſtunde ab, während welcher Caſpar nicht zu Hauſe war, ließ alles, was ſein Eigentum war, Kleider, Wäſche, Bücher und ſonſtige Gegenſtände, in eine Kiſte werfen und dieſe ohne Deckel auf die Straße ſtellen. Dann ſperrte ſie ſelber das Tor zu und lehnte ſich befriedigt lächelnd zum Erkerfenſter des erſten Stockwerks heraus, um auf Caſpars Rückkehr zu harren und die Verblüffung des angeſammelten Volkes zu genießen. Caſpar kam bald; er wurde von ſeinem Leibpoliziſten über das Vorgefallene belehrt, und indes der Mann von Amts wegen aufs Rathaus trollte, um Meldung zu erſtatten, lehnte ſich Caſpar gegen ſeine Kiſte und ſchaute hin und wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es dauerte gute zwei Stunden, bis man ſich auf dem Rathaus entſchieden hatte, was zu tun ſei, und Herr von Tucher benachrichtigt worden war. Währenddem fing es an zu regnen, und hätte nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfenſack herbeigebracht, mit dem ſie die Kiſte bedeckte, ſo wäre Caſpars ganzes Hab und Gut durchnäßt worden. Endlich zeigte ſich der Poliziſt wieder in Begleitung eines Tucherſchen Bedienten; ſie brachten ein Handwägelchen mit und ſchleppten die Kiſte hinauf. Nun ging’s fort, und ein einfältig ſchwatzender Haufen Menſchen folgte bis in die Hirſchelgaſſe ans Tucherhaus. Es begann nun wieder ein ganz neues Leben für Caſpar. Vor allem hörte der Beſuch der Schule auf und anſtatt deſſen kam zweimal täglich ein junger Lehrer ins Haus, ein Studioſus namens Schmidt. Sodann wurde jedem unberufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner wurde das Reiten nicht mehr geſtattet. „Derlei Übungen ſind für Ariſtokraten und reiche Leute, nicht aber für einen Menſchen, der zu bürgerlichem Brotverdienſt erzogen werden muß und ſicherlich einſt darauf angewieſen ſein wird, ſich mit ſeiner Hände Arbeit durchzuſchlagen,“ ſagte Herr von Tucher. Daraus war erſichtlich, daß er den Redereien von vornehmer Abſtammung, die im Lauf der Zeit keineswegs verſtummt waren, nicht die mindeſte Bedeutung zumaß. „Die gegebenen Verhältniſſe ſind ſchwierig genug,“ erwiderte Herr von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Möglichkeit dieſer Art hinwies; „ich bin durchaus nicht geſonnen, einem ſolchen Phantom, und mehr iſt es nicht, meine Grundſätze zu opfern.“ Herr von Tucher war ein Mann, der unerſchütterlich an ſeine Grundſätze glaubte. Grundſätze zu haben, war für ihn das erſte Element des Lebens, nach ihnen zu handeln, ein ſelbſtverſtändliches Gebot. Es gehörte zu dieſen Grundſätzen, daß er von Anfang an eine Entfernung zwiſchen ſich und Caſpar ſchuf, die den Reſpekt ſicherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohnehin ſeine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemeſſene Gang, der kühle Blick, die Tadelloſigkeit in Kleidung und Manieren kennzeichneten auch ganz und gar ſein Inneres. Strenge erſchien ihm wichtig; er zeigte Caſpar ein ſtrenges Geſicht. Die oberſte Maxime war: ſich nicht rühren laſſen. Daneben war es billig, für erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren. Die Stunden vom Morgen bis zum Abend waren aufs genaueſte eingeteilt. Am Vormittag der Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufſicht des Dieners oder Poliziſten, am Nachmittag beſchäftigte ſich Caſpar allein. Neben ſeiner Stube war eine kleine Kammer als Werkſtätte eingerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt hatte, verfertigte er allerlei Tiſchler- und Papparbeiten, wozu er viel Geſchick bewies. Auch an Uhren und deren Zerlegung und Zuſammenſetzung fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn von Tucher vollkommen. Er konnte nicht umhin, den eiſernen Fleiß des Jünglings und ſeinen hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewundern. Es gab nicht Widerſpruch noch Auflehnung, niemals tat Caſpar weniger, als von ihm gefordert wurde. Ganz klar, man hat mich falſch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute, die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu behandeln gewußt, zum erſtenmal erfährt er den Segen einer folgerechten Leitung. Die Grundſätze triumphierten. Das häufige und lange Alleinſein war Caſpar zuerſt angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obwaltete, und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen, die ihm Zerſtreuung und Unterhaltung verſprachen. Wenn auf der ſonſt ſo öden Hirſchelgaſſe Lärm entſtand, riß er das Fenſter auf und lehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es wieder ſtille war. Es brauchten nur zwei alte Weiber ſchwatzend ſtehenzubleiben, gleich war unſer Caſpar auf dem Poſten und lauſchte. Er wußte genau, um welche Zeit die Bäckerjungen am Morgen vom Webersplatz herkamen, und ergötzte ſich an ihrem Pfeifen. Sobald der Poſtillon am Laufertor ſein Horn blies, unterbrach er die Arbeit und ſeine Augen glänzten. So machte ihn auch jedes Geräuſch aus dem Innern des weitläufigen Hauſes ſtutzig, und nicht ſelten lief er zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufgeregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte, die unbekannt klang. Die Dienſtleute wurden darauf aufmerkſam; ſie ſagten, er ſei ein Türenhorcher und lege es darauf an, ſie dem Baron zu verklatſchen. Vor dem Hauſe ſelber empfand Caſpar eine unbeſtimmte Hochachtung; er ſchritt faſt auf Zehen über die Korridore, etwa wie man in der Gegenwart eines vornehmen Herrn leiſe ſpricht. In ſtolzer Zugeſchloſſenheit thronte der Bau abſeits vom Getriebe, und wer Einlaß heiſchte, mußte ſich von einem langbärtigen Pförtner beſichtigen und befragen laſſen. Die Mauern waren ſo gewaltig in die Erde gebohrt, Faſſade, Dach und Giebel ſo majeſtätiſch gefügt und verwachſen, als hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunſt des Baumeiſters ihnen zu ſolchem Anſehen verholfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe feſſelte Caſpars Auge gern am Abend, wenn die feinverſchnörkelten Formen, durchglüht von bläulichem Dunſt, ſich ineinanderwirkend zu beleben ſchienen. Bisweilen gewahrte er hinter einem verſperrten Fenſter einen eisgrauen Scheitel über einem pergamentenen Geſicht. Es war die alte Freifrau, die ſich ſonſt ihm niemals zeigte. Man ſagte ihm, daß ſie von ſchwacher Geſundheit ſei und ängſtlich das Zimmer hüte. Dies Fremdſein Wand an Wand erregte ſein Nachdenken. Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter lauter fremden Menſchen herumging und von der Mitleidsſchüſſel ſpeiſte. Einer nahm ihn und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er wurde geholt. Ein andres Haus; eines Tages wirft man ſein Zeug auf die Gaſſe: wieder woandershin. Wie ging das zu? Andre lebten ſtändig an ihrer Stelle, kannten ihr Bett von Kindheit an, keiner durfte ſie losreißen, ſie hatten Rechte. Das war es, ſie hatten angeſtammte und gewaltige Rechte. Es gab Arme, die um Geld dienten, die zu den Füßen derer lagen, welche man als reich bezeichnete, ſelbſt die ſtanden irgendwo feſt auf der Erde, hielten irgend etwas feſt in den Händen, ſie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte ſie für die Arbeit und ſie konnten hingehen und ſich ihr Brot kaufen. Der eine machte Röcke, der zweite Schuhe, der dritte baute Häuſer, der vierte war Soldat, und ſo war einer dem andern Schutz und Hilfe und bekam einer vom andern Speiſe und Trank. Warum konnte man ſie nicht wegreißen von der Stelle, wo ſie hauſten? Darum war es, ja, darum war’s: weil ſie eines Vaters und einer Mutter Sohn waren. Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen jeden zur Gemeinſchaft der Menſchen und zeigten ſomit allen andern an, woher er gekommen ſei und was er ſein wollte. Das war es, Caſpar wußte nicht, woher er gekommen ſei; aus irgendeinem unentdeckbaren Grund war er, er ganz allein vaterlos, mutterlos. Und er mußte es herausbringen, warum. Er mußte zu erfahren ſuchen, wer und wo ſein Vater und ſeine Mutter waren, und vor allem mußte er hingehen und ſich ſeinen Platz erobern, von dem man ihn nicht vertreiben konnte. An einem Winterabend betrat Herr von Tucher Caſpars Zimmer und fand ihn tief in ſich gekehrt. Zwei- oder dreimal wöchentlich pflegte Herr von Tucher nach beendetem Tagewerk ſeinen Zögling zu beſuchen, um ſich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag dies im Schema des Erziehungsplanes. Das Prinzip verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er eine würdevolle Unnahbarkeit bewahre; das Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natürlichen Verkehrs zu verzichten. Und wenn es ihm auch manchmal ſchwer wurde, ſolche Überwindung zu üben, ſei es durch ein eignes Bedürfnis, ſich mitzuteilen, oder weil ein ſtumm forſchender Blick Caſpars an ſein Herz faßte, es gab kein Schwanken, das Prinzip, grimmig wie ein Vitzliputzli, verſtattete nicht, daß man die Grenze der Zurückhaltung mehr als nützlich überſchreite. Wie er aber Caſpar ſo gewahrte, verborgenem Sinnen hingegeben, ergriff ihn der Anblick doch und ſeine Stimme nahm wider Willen einen milderen Klang an, als er den Jüngling um die Urſache ſeines Nachdenkens befragte. Caſpar überlegte, ob er ſich aufſchließen dürfe. Wie bei jeder Gemütsbewegung war die linke Seite ſeines Geſichtes konvulſiviſch durchzuckt. Dann ſtrich er mit einer ihm eignen unnachahmlich lieblichen Geſte die Haare von der einen Wange gegen das Ohr zurück und fragte mit einem Ton aus innerſter Bruſt: „Was ſoll ich denn eigentlich werden?“ Herrn von Tucher beruhigten dieſe Worte ſogleich. Er machte eine Miene, als wolle er ſagen: die Rechnung ſtimmt. Darüber habe er auch ſchon nachgedacht, erwiderte er; Caſpar möge ihm doch ſagen, wozu er am meiſten Luſt habe. Caſpar ſchwieg und ſchaute unentſchloſſen vor ſich hin. „Wie wäre es mit der Gärtnerei?“ fuhr Herr von Tucher wohlwollend fort. „Oder wie wäre es, wenn du Tiſchler würdeſt oder Buchbinder? Deine Papparbeiten ſind ganz vortrefflich, und du könnteſt das Buchbindergewerbe in kurzer Zeit erlernen.“ „Dürft’ ich dann alle Bücher leſen, die ich einbinden ſoll?“ fragte Caſpar verſonnen, der ſo geduckt ſaß, daß ſein Kinn die Tiſchplatte berührte. Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das hieße eben den Beruf vernachläſſigen,“ antwortete er. „Ich könnte ja auch Uhrmacher werden,“ ſagte Caſpar; er hatte in dieſem Augenblick eine ziemlich überſpannte Vorſtellung von einem Uhrmacher; er ſah einen Mann, der im Innern hoher Türme ſteht und den Glocken zu läuten befiehlt, der goldene Rädchen ineinander fügt und durch einen Zauberſpruch die Zeit unſichtbar macht und in ein winziges Gehäuſe bannt. Überhaupt mit ſolchen Namen war es ſchwer; nicht ſein Wollen lag dahinter, ſondern ein unbegreiflich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem Gehaben Caſpars doch kein wahrer Ernſt, erhob ſich und ſagte kalt, er werde ſich die Sache überlegen. Am nächſten Abend wurde Caſpar in Herrn von Tuchers Zimmer gerufen. „Ich bin nun mit Bezug auf unſer geſtriges Geſpräch zu folgendem Entſchluß gelangt,“ ſagte der Baron; „du bleibſt das Frühjahr und den Sommer über noch in meinem Haus. Wenn du fleißig biſt, kann deine Ausbildung in den Elementarfächern bis zum September beendet ſein, deſſen verſichert mich auch Herr Schmidt. Damit nun der Tag ein ununterbrochenes Ganzes für dich wird, ſollſt du des Mittags nicht mehr mit mir eſſen, ſondern alle Mahlzeiten auf deinem Zimmer einnehmen. Ich werde bald mit einem anſtändigen Buchbindermeiſter ſprechen; wir wiſſen dann, woran wir ſind. Biſt du’s zufrieden, Caſpar? Oder haſt du andre Wünſche? Nur friſch heraus mit der Sprache, du kannſt noch immer wählen.“ Ein flüchtiger Schauer lief Caſpar über den Rücken. Er ſchüttelte ſich ein wenig, ſetzte ſich nieder und ſchwieg. Herr von Tucher wollte ihn nicht weiter bedrängen, er wollte ihm Zeit laſſen. Eine Weile ging er hin und her, dann nahm er vor dem Flügel Platz und ſpielte einen langſamen Sonatenſatz. Es geſchah dies nicht aus zufälliger Laune; am Dienſtag und Freitag von ſechs bis ſieben Uhr abends ſpielte Herr von Tucher Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälderuhr ſoeben ſechs gekrächzt hatte, wäre eine Verſäumnis ſehr gegen die Regel geweſen. Es war eine ziemlich ſchwermütige Melodie. Für Caſpar war dergleichen eine Qual; ſo gern er Märſche, Walzer und luſtige Lieder hörte — die Anna Daumer, die kann ſpielen, ſagte er immer_—, ſo unbehaglich war ihm bei ſolchen Tönen. Als Herr von Tucher den Schlußakkord des Stückes angeſchlagen hatte, ſich auf dem Drehſeſſel umkehrte und Caſpar fragend anſchaute, dachte er, er ſolle ſich äußern, wie es ihm gefalle, und er ſagte: „Das iſt nichts. Traurig kann ich von alleine ſein, dazu brauch’ ich keine Muſik.“ Herr von Tucher zog erſtaunt die Brauen in die Höhe. „Was maßeſt du dir an?“ entgegnete er ruhig. „Ich habe kein muſikaliſches Urteil von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, deinen Geſchmack in dieſer Hinſicht zu veredeln. Im übrigen geh auf dein Zimmer.“ Caſpar war es ganz lieb, daß er nicht mehr mit dem Baron zu eſſen brauchte. Das ſteife Beieinanderſitzen erſchien ihm jedesmal unſinnig und läſtig. Vieles entzückte ihn an dieſem Manne, beſonders ſeine Ruhe und ſein ſachtes Sprechen, das überaus Reinliche ſeines Körpers, die porzellanweißen Zähne und vor allem die roſigen gewölbten Nägel der langen Hände. Er kannte viele Leute mit blaſſen Nägeln und mißtraute ihnen; blaſſe Nägel erweckten ihm die Vorſtellung des Neides und der Grauſamkeit. Doch immer hatte Caſpar das Gefühl, als ob Herr von Tucher auf irgendwelche Art ſchlechte Nachrichten über ihn erhielte und ſich davon betören laſſe; es war ihm manchmal, als müſſe er ihm zurufen: es iſt ja alles nicht wahr! Aber was? Was ſollte nicht wahr ſein? Das wußte Caſpar nicht zu ſagen. In ſeiner Einſamkeit war ihm zumute, als ſeien die Menſchen ſeiner überdrüſſig und gingen damit um, ſich ſeiner zu entledigen. Er war voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten, wo der Mond am Himmel ſtand, verlöſchte er die Lampe früher als ſonſt, ſetzte ſich ans Fenſter und verfolgte unverwandt die Bahn des Geſtirns. An Vollmondtagen ward er häufig unwohl, es fror ihn am ganzen Leibe, erſt der Anblick des Mondes ſelbſt nahm den Druck von ſeiner Bruſt. Er wußte, von welchem Dach oder zwiſchen welchen Giebeln die helle Scheibe emporſteigen müſſe, hob ſie wie mit Händen aus der Tiefe des Himmels heraus, und wenn Wolken da waren, zitterte er davor, daß ſie den Mond berühren könnten, weil er glaubte, das ſtrahlende Licht müſſe befleckt werden. Sein Ohr ſchien in dieſer Zeit manchmal den Lauten einer Geiſterwelt zu lauſchen. Eines Morgens erhob er ſich während des Unterrichts plötzlich, ging zum Fenſter und beugte ſich weit hinaus. Herr Schmidt, der Studioſus, ließ ihn gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er ihn zurück. Caſpar richtete ſich auf und ſchloß das Fenſter, ſein Geſicht war ſo bleich, daß der Studioſus beſorgt fragte, was ihm ſei. „Mir war, wie wenn jemand käme,“ verſetzte Caſpar. „Wie wenn jemand käme? Wer denn?“ „Ja, wie wenn mich jemand unten gerufen hätte.“ Der Studioſus fand dies wunderlich. Er dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage geſtellt. Es war da neuerdings in der Stadt viel von einer ſeltſamen Geſchichte die Rede, die Caſpar betraf oder auf ihn gedeutet wurde und die in allen Journalen, auch draußen im Reich, des langen und breiten durchgehechelt wurde. Aber weil Herr von Tucher dem Studioſus aufs ſtrengſte verboten hatte, mit Caſpar jemals über ſolche Dinge zu ſprechen, nahm er ſich zuſammen und ſchwieg. Nun hatte Caſpar ſeit Monaten die Gewohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die Hand kamen und die er ſich zum Teil heimlich zu verſchaffen wußte — denn Herr von Tucher fürchtete von dieſer Seite her Beeinfluſſungen mit gutem Grund_—, aufs genaueſte durchzuleſen. Hin und wieder geſchah es, daß er irgendeine Nachricht, eine Mitteilung über ſich ſelbſt entdeckte, und obgleich er noch nie etwas Weſentliches gefunden hatte, bekam er jedesmal Herzklopfen, ſobald er nur ſeinen Namen gedruckt ſah. Kurze Zeit nach jenem kleinen Zwiegeſpräch mit dem Lehrer ſpielte ihm der Zufall eine ſchon mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpoſt“ in die Hände, und beim Leſen fand er folgende eigentümliche Erzählung: Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fiſcher bei Breiſach eine ſchwimmende Flaſche aus dem Rheinſtrom gezogen, und dieſe Flaſche enthielt einen Zettel, auf welchem geſchrieben ſtand: „In einem unterirdiſchen Kerker bin ich begraben. Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf meinem Thron ſitzt. Grauſam bin ich bewacht. Keiner kennt mich, keiner vermißt mich, keiner rettet mich, keiner nennt mich.“ Dann kam ein halb unleſerlicher und verſtellter Name, von dem alle deutlichen Buchſtaben auch im Namen Caſpar Hauſer enthalten waren. Alles das war damals ſchon von einigen Zeitungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel jeglichen Anhaltspunktes natürlich wieder in Vergeſſenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vorfall aus einem alten Jahrgang der ‚Magdeburger Zeitung‘ neuerdings ans Licht gebracht. Andre Journale bemächtigten ſich der Angelegenheit, die nach und nach viel Staub aufwirbelte. Auf einmal wurde nachgewieſen, daß ſeinerzeit ein Piariſtenmönch von einer gewiſſen Regierung bezichtigt wurde, die Flaſche in den Rhein geworfen zu haben. Es ſtellte ſich ferner heraus, daß derſelbe Mönch plötzlich verſchwunden und eines ſchönen Tages im Elſaß, in einem Wald der Vogeſen, ermordet aufgefunden worden war. Den Täter hatte man nie entdeckt. „Wenn auf dieſe Spur hin das Myſterium, das über dem Findling ſchwebt, nicht endlich gelüftet wird,“ rief der Querulant in der ‚Morgenpoſt‘, nachdem er die Geſchichte alſo ausführlich berichtet hatte, „dann gebe ich keinen Pfifferling für unſre ganze Juſtizpflege!“ Caſpar las und las. Zwei Stunden verbrachte er damit, die wunderliche Hiſtoria immer wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes einzelne Wort zu überlegen. Dabei überraſchte ihn der Studioſus; er vergewiſſerte ſich, daß es eben dieſelbe Affäre ſei, von der er neulich nicht ſprechen gewollt, und ſagte haſtig: „Ei, was treiben Sie da, Caſpar? Was ſagen Sie übrigens dazu? Die meiſten Leute halten es für Quark, trotzdem es ein unwiderlegliches Faktum iſt, daß die Sache damals in der ‚Magdeburger Zeitung‘ geſtanden hat. Was ſagen Sie dazu, Hauſer?“ Caſpar hörte kaum; als der Mann ſeine Frage wiederholte, erhob er das Geſicht, ſchlug den feuchten Blick zum Himmel empor und ſagte leiſe: „Ich hab’ es nicht geſchrieben, was da vom Kerker ſteht.“ „Vom Kerker und vom Throne,“ fügte der Studioſus mit ſonderbarem und begierigem Lächeln hinzu. „Daß Sie es nicht geſchrieben haben, glaub’ ich ſchon, Sie haben ja das Schreiben erſt bei uns gelernt.“ „Aber wer kann es geſchrieben haben?“ „Wer? Das iſt eben die Frage. Vielleicht einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund vielleicht.“ „Vom Kerker und vom Throne,“ lallte Caſpar mit willenloſem Mund. Er begab ſich in die Ofenecke, kauerte ſich auf einem Schemel zuſammen und verſank in tiefe Grübelei. Weder Ruf noch Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu wecken, und der Studioſus, der ſich ſchuldig fühlte, blieb, um kein Aufſehen zu machen, die Stunde über ſitzen und entfernte ſich dann ſtill. Am ſelben Abend war eine Aſſemblee im Tucherſchen Haus, alle Freunde der Familie waren geladen, und eine halbe Stunde lang dauerte das Wagengeraſſel vor dem Haus. Als die erſten Tanzweiſen vom Saal heraufſchallten, begab ſich Caſpar in den Korridor und horchte. Er hatte nicht mehr Zutritt zu ſolchen Feſten. Während er noch ſtand, ans Geländer gepreßt, den Kopf vorgebeugt, und er ſich ſo recht verſtoßen vorkam, berührte eine Hand ſeine Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf ſilberner Platte einige Süßigkeiten brachte. Caſpar ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Süßes mag ich nicht,“ worauf der Diener ihn mürriſch mit den Blicken maß und ſich zu gehen anſchickte. Da kamen Schritte von der zweiten Treppe her, die unbeleuchtet war, und unverſehens ſtand die alte Freifrau in grauſeidenem Kleid und ſeidener Haarſchärpe vor den beiden; indem ſie ihre blauen Augen ſtreng in die des Jünglings bohrte, ſagte ſie ſtolz und befremdet: „Süßes mag er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?“ Sie kam von unten; Caſpar roch deutlich den Menſchendunſt an ihren Gewändern. Es war ihre Art, ſich früh zurückzuziehen. Bevor ſie zur Ruhe ging, pflegte ſie täglich durch das ganze Haus zu wandern, um nachzuſehen, ob kein Feuer ſei und kein Dieb ſich eingeſchlichen habe. Vor ihren rauh klingenden Worten duckte Caſpar den Kopf. Es iſt anzunehmen, daß ſeine Phantaſie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich ſpürte er eine lähmende Furcht. Schwärze ſtieg um ſeine Augen, es war ihm, als habe er die Stimme des Vermummten gehört, und den Arm ausſtreckend, ſchrie er bittend: „Nicht ſchlagen, nicht ſchlagen!“ Die alte Dame, die es ſo ſchlimm eben nicht gemeint hatte, blickte verwundert und erſchrocken auf. Indes hatte Caſpars lauter Schrei die Aufmerkſamkeit einiger Gäſte erregt, die im unteren Flur auf und ab ſpazierten. Sie wandten ſich an Herrn von Tucher, und dieſer ging die Treppe empor, gefolgt von einigen Herren. Unter der Geſellſchaft im Saal verbreitete ſich das Gerücht, es ſei etwas paſſiert, und da Caſpars Aufenthalt im Hauſe natürlich bekannt war, dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer vorgefallene. Es entſtand ein Schweigen, die Tanzmuſik verſtummte, viele drängten hinaus, beſonders die jungen Damen waren erregt, und eine Anzahl von ihnen ſtieg die Treppe empor und blieb ſchauend ſtehen. Herr von Tucher, der dies alles aufs peinlichſte empfand, wie ihm denn jedes unnütze Aufſehen ein Greuel war, ſchickte ſich an, Caſpar zur Rede zu ſtellen, wurde aber durch das verſteinerte Bild des Jünglings abgeſchreckt, auch machte ihn die beſtürzte Haltung ſeiner Mutter ſtutzig. Es ging etwas Ungeheures in Caſpar vor. Ihm war, als habe er, was jetzt geſchah, ſchon einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es ihn zurück, und die Zeit ſchien ihren Atem anzuhalten. Da war die alte Frau, fürſtlich geſchmückt und majeſtätiſch anzuſehen; wie, glich ſie nicht einem Weib, das einſt in ein Gemach gekommen, wo auch er geweſen war, und hatte ihre Gegenwart nicht alle andern erſtarren laſſen? Lag nicht jemand auf dem Bett und vergrub den Kopf in die Kiſſen? Da war der Diener, der eine ſilberne Platte in Händen hielt; war das nicht alt? Stand nicht auch damals einer da, der Geſchenke brachte oder Süßes oder Koſtbares? Da waren feierlich gekleidete Männer, die auf einen Befehl zu harren ſchienen, darauf warteten, daß einer käme, noch feſtlicher angetan als ſie ſelbſt, vor dem ſie ſich verneigen mußten? Und dieſe ſchlanken weißen Mädchen in weißen Schleiern, deren Blicke tief und bang waren? Und hier oben die Dämmerung, die ſich über zahlloſe Marmorſtufen hinab ins Licht verlor? Caſpar hätte jauchzen mögen, denn er erſchien ſich fremd und zugleich von allen angebetet; ſie ſenkten das Haupt, ſie erkannten den Herrn in ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er kam, er ſpürte, was jenes Wort vom Kerker und vom Throne zu bedeuten hatte; ein geiſterhaftes Lächeln umſpielte ſeine Lippen. Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen Auftritt ein möglichſt ſtilles Ende. Er führte Caſpar in ſein Zimmer, gebot ihm, ſich zu Bett zu begeben, wartete, bis er lag, verlöſchte dann ſelbſt das Licht und ſagte beim Hinausgehen in ſcharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen wegen ſeiner ungehörigen Aufführung zur Rechenſchaft ziehen. Darum ſcherte ſich Caſpar wenig. Es wurde auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung. Herr von Tucher ſah ein, daß den Grundſätzen eigentlich nichts zuleide geſchehen war. Sein Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung, Caſpar ſei mondſüchtig und werde ſicherlich einmal aufs Dach ſteigen und herunterſtürzen. Herr von Tucher konnte den Mond nicht abſchaffen; da der Jüngling krankhaften Zuſtänden unterworfen ſchien, durfte man ihn für gewiſſe Fehltritte nicht verantwortlich machen. Ob Caſpar Tiſchler oder Buchbinder werden ſolle, war noch immer unentſchieden. Es mußte hierzu die Meinung des Präſidenten Feuerbach eingeholt werden. Herr von Tucher nahm ſich vor, im April nach Ansbach zu fahren und mit dem Präſidenten zu ſprechen. Caſpar aber war voller Erwartung. Er wartete auf einen, der kommen mußte, auf einen, der irgendwo unter den Menſchen ging und den Weg zu ihm ſuchte, und ſo feſt war der Glaube an dieſen Kommenden, daß er jeden Morgen dachte: heute, und jeden Abend: morgen. Er lebte in einem beſtändigen innerlichen Spähen, und ſeine ahnungsvolle Freude glich einem Traum. Aber wie der Pfau ſeinen Schweif niederſchlägt, wenn er ſeine häßlichen Füße gewahrt, ſo machte ſeine eigne Stimme, ſein eigner Schritt ihn ſchon wieder zaghaft, um wie viel mehr erſt der Anblick von Menſchen, die täglich ſeine Erwartung enttäuſchen mußten. Sein ganzes Treiben in dieſer Zeit war außergewöhnlich, und die aufmerkſam horchende Spannung gegen ein Leeres hin hatte etwas von Wahnwitz. Freilich, zuſammengehalten mit dem Verlauf der Ereigniſſe bot ſie ein andres Geſicht und hätte einem Mann wie Daumer abſonderlichen Stoff für ſeine Ideen geliefert. Es lauerte viel Heimliches und Feindſeliges auf Caſpars Wegen, und es überlief ihn kalt, wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne fiel. Angſtvorſtellungen begleiteten ihn bis in den Schlaf, und weil er oftmals erwachte und die Finſternis ihn quälte, bat er, daß man neben ſeinem Bett ein Öllämpchen brennen laſſe. Dies geſchah. Einſtmals in einer Nacht ſpürte er, noch ſchlummernd, ein eigentümliches Ziehen im Geſicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem ſtreife. Jählings richtete er ſich auf, blickte über Bett und Wand und gewahrte eine große Spinne, die an einem Faden in der Nähe ſeines Kopfes hing. Entſetzt ſprang er aus dem Bett, und unfähig, ſich zu regen, beobachtete er, wie das Tier ſich aufs Kiſſen niederließ und über das weiße Linnen kroch, einen glitzernden Faden hinter ſich herſchleppend. Caſpars ganzer Leib war wie mit einer neuen, ſchaudernden kalten Haut bedeckt. Er preßte die Hände zuſammen und flüſterte angſtvoll und ſeltſam ſchmeichelnd: „Spinne! Was ſpinnſt du, Spinne?“ Die Spinne duckte den gelblichen Leib. „Was ſpinnſt du, Spinne?“ wiederholte er flehend. Das Tier überklomm den Bettpfoſten und gewann die Mauer. „Was ſchickſt du dich denn ſo, Spinne?“ hauchte Caſpar. „Warum ſo eilig? Suchſt du was? Ich tu’ dir nichts_...“ Die Spinne war ſchon oben an der Decke. Caſpar ſetzte ſich auf den Stuhl, wo die Kleider hingen. „Spinne, Spinne!“ ſagte er tonlos vor ſich hin. Es ſchlug vier Uhr draußen und er hatte ſich noch immer nicht ins Bett zurückgetraut. Dann, ehe er ſich hinlegte, wiſchte er Kiſſen und Wand eifrig mit dem Taſchentuch ab. Er trug von der unbekleidet verwachten Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere Tage ans Lager feſſelte. Er wurde traurig, des Wartens war er ſchon müde. Obwohl ihm ſchließlich nichts mehr fehlte, hatte er keine Luſt, das Zimmer zu verlaſſen. Herr von Tucher nahm ſeinen Zuſtand für ein hypochondriſches Zwiſchenſpiel; als er ſich jedoch überzeugte, daß ſowohl ſeine vorſätzliche Gleichgültigkeit wie ſein gütiger Zuſpruch fruchtlos blieben und daß da eine unverſtellte ſeelenvolle Betrübnis waltete, ward er beſorgt. Nun geſchah es an einem dieſer Tage, daß ein auswärtiger Bote im Haus vorſtellig wurde, der zu Caſpar geführt zu werden verlangte, um ihm einen Brief auszuhändigen. Herr von Tucher verweigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem Bedenken überließ ihm der Mann das Schreiben und entfernte ſich wieder. Herr von Tucher hielt ſich für berechtigt, den Brief zu öffnen. Er war von rätſelhafter Faſſung; noch rätſelhafter dadurch, daß ihm ein koſtbarer Diamantring beilag, den Caſpar damit als Geſchenk bekam. Herr von Tucher war unſchlüſſig, was er tun ſolle. Brief und Ring dem Gericht oder dem Präſidenten Feuerbach auszuliefern, erſchien ihm das ratſamſte. Doch widerſprach es immerhin ſeinem Rechtsgefühl. Eine flüchtige Stimmung von Weichheit gegenüber Caſpar ließ ihn den Vorſatz völlig vergeſſen; er hoffte, den Jüngling aus ſeiner Niedergeſchlagenheit aufzurütteln, und dieſen Zweck erreichte er vollkommen. Er brachte Brief und Ring herbei. Caſpar las: „Du, der du das Anrecht haſt, zu ſein, was viele leugnen, vertrau dem Freund, der in der Ferne für dich wirkt. Bald wird er vor dir ſtehen, bald dich umarmen. Nimm einſtweilen den Ring als Zeichen ſeiner Treue und bete für ſein Wohlergehen, wie er für das deine zu Gott fleht.“ Als Caſpar dies geleſen hatte, drückte er das Geſicht gegen den Arm und weinte ſtill für ſich hin. Herr von Tucher ſaß am Tiſch und ließ den ſchönen Stein des Rings nachdenklich im Sonnenlicht ſpielen. 11. Der engliſche Graf