Jakob Waſſermann: Caſpar Hauſer // oder // Die Trägheit des Herzens Dies iſt ein Roman baſierend auf hiſtoriſchen Berichten und Unterlagen. Scan: https://archive.org/details/casparhauserode00wassgoog Hörbuch: https://archive.org/details/caspar_hauser_1208_librivox 0. Vorwort Es iſt noch dieſelbe Sonne, // die derſelben Erde lacht; // aus demſelben Schleim und Blute // ſind Gott, Mann und Kind gemacht. // Nichts geblieben, nichts geſchwunden, // alles jung und alles alt, // Tod und Leben ſind verbunden, // zum Symbol wird die Geſtalt. 1. Der fremde Jüngling In den erſten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg ſonderbare Gerüchte über einen Menſchen, der im Veſtnerturm auf der Burg in Gewahrſam gehalten wurde und der ſowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatperſonen täglich mehr zu ſtaunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr ſiebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er ſelbſt vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich ausſprechen, und dieſe wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahinterſteckte und ſie nur unverſtandene Zeichen ſeiner Angſt oder ſeiner Luſt wären. Auch ſein Gang glich dem eines Kindes, das gerade die erſten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferſe berührte er zuerſt den Boden, ſondern trat ſchwerfällig und vorſichtig mit dem ganzen Fuße auf. Die Nürnberger ſind ein neugieriges Volk. Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erklommen die zweiundneunzig Stufen des finſtern alten Turmes, um den Fremdling zu ſehen. In die halbverdunkelte Kammer zu treten, wo der Gefangene weilte, war unterſagt, und ſo erblickten ihre dichtgedrängten Scharen von der Schwelle aus das wunderliche Menſchenweſen, das in der entfernteſten Ecke des Raumes kauerte und meiſt mit einem kleinen weißen Holzpferdchen ſpielte, das es zufällig bei den Kindern des Wärters geſehen und das man ihm, gerührt von dem unbeholfenen Stammeln ſeines Verlangens, geſchenkt hatte. Seine Augen ſchienen das Licht nicht erfaſſen zu können; er hatte offenbar Furcht vor der Bewegung ſeines eignen Körpers, und wenn er ſeine Hände zum Taſten erhob, war es, als ob ihm die Luft dabei einen rätſelhaften Widerſtand entgegenſetzte. Welch ein armſeliges Ding, ſagten die Leute; viele waren der Anſicht, daß man eine neue Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmenſch etwa, und unter den berichteten Seltſamkeiten war nicht die geringſte die, daß der Knabe jede andre Nahrung als Waſſer und Brot mit Abſcheu zurückwies. Nach und nach wurden die einzelnen Umſtände, unter denen der Fremdling aufgetaucht war, allgemein bekannt. Am Pfingſtmontag gegen die fünfte Nachmittagsſtunde war er plötzlich auf dem Unſchlittplatz, unweit vom neuen Tor, geſtanden, hatte eine Weile verſtört um ſich geſchaut und war dann dem zufällig des Weges kommenden Schuſter Weikmann geradezu in die Arme getaumelt. Seine bebenden Finger wieſen einen Brief mit der Adreſſe des Rittmeiſters Weſſenig vor, und da nun einige andre Perſonen hinzukamen, ſchleppte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeiſters. Dort fiel er erſchöpft auf die Stufen, und durch die zerriſſenen Stiefel ſickerte Blut. Der Rittmeiſter kam erſt um die Dämmerungsſtunde heim, und ſeine Frau erzählte ihm, daß ein verhungerter und halbvertierter Burſche auf der Streu im Stall ſchlafe; zugleich übergab ſie ihm den Brief, den der Rittmeiſter, nachdem er das Siegel erbrochen, mit größter Verwunderung einige Male durchlas; es war ein Schriftſtück, ebenſo humoriſtiſch in einigen Punkten wie in andern von grauſamer Deutlichkeit. Der Rittmeiſter begab ſich in den Stall und ließ den Fremdling aufwecken, was mit vieler Anſtrengung zuſtande gebracht wurde. Die militäriſch gemeſſenen Fragen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit ſinnloſen Lauten beantwortet, und Herr von Weſſenig entſchied ſich kurzerhand, den Zuläufer auf die Polizeiwachtſtube bringen zu laſſen. Auch dieſes Unternehmen war mit Schwierigkeiten verknüpft, denn der Fremdling konnte kaum mehr gehen; Blutſpuren bezeichneten ſeinen Weg, wie ein ſtörriſches Kalb mußte er durch die Straßen gezogen werden, und die von den Feiertagsausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spaß an der Sache. „Was gibt’s denn?“ fragten die, welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten. „Ei, ſie führen einen betrunkenen Bauern,“ lautete der Beſcheid. Auf der Wachtſtube bemühte ſich der Aktuar umſonſt, mit dem Häftling ein Verhör anzuſtellen; er lallte immer wieder dieſelben halb blödſinnigen Worte vor ſich hin, und Schimpfen und Drohen nutzte nichts. Als einer der Soldaten Licht anzündete, geſchah etwas Sonderbares. Der Knabe machte mit dem Oberkörper tanzbärenhaft hüpfende Bewegungen und griff mit den Händen in die Kerzenflamme; aber als er dann die Brandwunde verſpürte, fing er ſo zu weinen an, daß es allen durch Mark und Bein ging. Endlich hatte der Aktuar den Einfall, ihm ein Stück Papier und einen Bleiſtift vorzuhalten, danach griff der wunderliche Menſch und malte mit kindiſch-großen Buchſtaben langſam den Namen Caſpar Hauſer. Hierauf wankte er in eine Ecke, brach förmlich zuſammen und fiel in tiefen Schlaf. Weil Caſpar Hauſer — ſo wurde der Fremdling von nun ab genannt — bei ſeiner Ankunft in der Stadt bäuriſch gekleidet war, nämlich mit einem Frack, von dem die Schöße abgeſchnitten waren, einem roten Schlips und großen Schaftſtiefeln, glaubte man zuerſt, es mit einem Bauernſohn aus der Gegend zu tun zu haben, der auf irgendeine Weiſe vernachläſſigt oder in der Entwicklung verkümmert war. Der erſte, der dieſer Meinung entſchieden widerſprach, war der Gefängniswärter auf dem Turm. „So ſieht kein Bauer aus,“ ſagte er und deutete auf das wallende, hellbraune Haar ſeines Häftlings, das etwas nicht ausdrückbar Unberührtes hatte und glänzend war wie das Fell von Tieren, die in Finſternis zu leben gewohnt ſind. „Und dieſe feinen weißen Händchen und dieſe ſammetweiche Haut und die dünnen Schläfen und die deutlichen blauen Adern zu beiden Seiten des Halſes, wahrhaftig, er gleicht eher einem adligen Fräulein als einem Bauern.“ „Nicht übel bemerkt,“ meinte der Stadtgerichtsarzt, der in ſeinem zu Protokoll gegebenen Gutachten neben dieſen Merkmalen die beſondere Bildung der Knie und die hornhautloſen Fußſohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel iſt klar,“ hieß es am Schluß, „daß man es hier mit einem Menſchen zu tun hat, der nichts von ſeinesgleichen ahnt, nicht ißt, nicht trinkt, nicht fühlt, nicht ſpricht wie andre, der nichts von geſtern, nichts von morgen weiß, die Zeit nicht begreift, ſich ſelber nicht ſpürt.“ Die hohe Polizeibehörde ließ ſich durch ein ſolches Urteil nicht aus dem vorgeſetzten Gang der Unterſuchung lenken; es beſtand der Verdacht, daß der Stadtgerichtsarzt durch ſeinen Freund, den Gymnaſialprofeſſor Daumer, beeinflußt und zu dieſen Überſchwenglichkeiten verführt worden ſei. Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt, den Fremdling insgeheim zu belauern. Er ſpähte oft durch das verborgene Loch in der Türe, wenn ſich der Knabe allein wähnen mußte; aber es war immer derſelbe traurige Ernſt in den bald ſchlaffen und beklommenen, bald wie durch den Anblick eines unſichtbaren Furchtgebildes verzerrten und zerriſſenen Zügen. Es war auch vergeblich, nachts, wenn er ſchlief, an ſein Lager zu ſchleichen, hinzuknien, auf den Atem zu horchen und zu warten, ob er verräteriſche Worte aus dem Innern auf die Lippen trug; Leute, die Übles im Schild führen, pflegen nämlich aus dem Schlaf zu reden, auch ſchlafen ſie eher bei Tag als bei Nacht, wo ſie ihren Gedanken und Entwürfen nachhängen, aber dieſen umfing der Schlummer, ſobald die Sonne ſank, und er erwachte, wenn ſich der erſte Morgenſtrahl durch die verſchloſſenen Läden zwängte. Es konnte Argwohn wecken, daß er jedesmal zuſammenzuckte, wenn die Tür ſeines Gefängniſſes geöffnet wurde; wahrſcheinlich jedoch gab ſich darin nicht die Angſt eines ſchuldbewußten Gemüts zu erkennen, ſondern vielmehr eine übermäßige Erregbarkeit der Sinne, denen jeder Laut von außen zu qualvoller Nähe kam. „Unſre Herren auf dem Rathaus werden noch viel Papier beſchmieren müſſen, wenn ſie auf dem Weg weiterkommen wollen,“ ſagte der gute Hill eines Morgens — es war der dritte Tag der Haft Caſpar Hauſers — zu Profeſſor Daumer, der den Fremdling beſuchen wollte; „ich kenne gewiß alle Schliche des Lumpenvolks, aber wenn {der} Burſche ein Simulante iſt, will ich mich hängen laſſen.“ Hill ſperrte auf, und Profeſſor Daumer trat in die Kammer. Wie gewöhnlich erſchrak der Gefangene, aber als der Ankömmling einmal im Raum war, ſchien ihn Caſpar Hauſer nicht mehr zu gewahren und ſchaute, bezaubert im dumpfen Nichtwiſſen, ſtill vor ſich nieder. Da geſchah es, als Hill den Fenſterladen geöffnet hatte, daß der Knabe, vielleicht wie nie zuvor in ſeinem Leben, den gefeſſelten Blick erhob, ihn von der ſchweigenden, gleichmäßigen Furcht wegkehrte, die das Innere ſeiner Bruſt beherbergen mochte, und ihn durchs Fenſter hinausſchweifen ließ in das beſonnte Freie, wo Ziegeldach an Ziegeldach ſich ſteil und glühendrot auf einem Hintergrund von bläulich dämmernden Wieſen und Wäldern malte. Er ſtreckte ſeine Hand aus; Überraſchung und freudloſes Staunen verzog ſeine Lippen, zögernd griff er mit dem Arm in das funkelnde Gemälde, als ob er das bunte Durcheinander draußen mit den Fingern anfaſſen wolle, und als er ſich überzeugt hatte, daß es nichts war, etwas Fernes, Trügeriſches, Ungreifbares, da verfinſterte ſich ſein Geſicht, und er wandte ſich unwillig und enttäuſcht ab. Am ſelben Nachmittag kam der Bürgermeiſter Binder in Daumers Wohnung und teilte im Verlauf eines Geſprächs über den Findling mit, daß die Herren vom Stadtmagiſtrat eher feindlich und ungläubig als wohlwollend gegen dieſen geſtimmt ſeien. „Ungläubig?“ entgegnete Daumer verwundert, „in welcher Beziehung ungläubig?“ „Nun ja, man nimmt an, daß der Burſche ſein Gaukelſpiel mit uns treibt,“ verſetzte der Bürgermeiſter. Daumer ſchüttelte den Kopf. „Welcher Menſch von Verſtand oder Geſchicklichkeit wird ſich aus purer Heuchelei dazu herbeilaſſen, von Brot und Waſſer zu leben, und alles, was dem Gaumen behagt, mit Ekel von ſich weiſen?“ fragte er. „Um welches Vorteils willen?“ „Gleichviel,“ antwortete Binder unſchlüſſig; „es ſcheint eine verwickelte Geſchichte. Da niemand ſagen noch vermuten kann, worauf das Spiel hinaus will, iſt Vorſicht um ſo mehr geboten, als man durch leichtſinnige Gutgläubigkeit den gerechten Hohn der Urteilsfähigen herausfordert.“ „Das klingt ja beinahe, als ob nur die Zweifler und Neinſager urteilsfähig heißen könnten,“ bemerkte Daumer ſtirnrunzelnd. „Von der Gilde haben wir leider genug.“ Der Bürgermeiſter zuckte die Achſeln und blickte den jungen Lehrer mit jener milden Ironie an, welche die Waffe der Erfahrenen gegenüber den Enthuſiaſtiſchen iſt. „Wir haben eine neuerliche Unterſuchung durch den Gerichtsarzt beſchloſſen,“ fuhr er fort. „Der Magiſtratsrat Behold, der Freiherr von Tucher und Sie, lieber Daumer, ſollen dieſer Unterſuchung kommiſſariſch beiwohnen. Der aufzunehmende Akt wird dann, zuſammen mit den bereits vorhandenen polizeilichen Protokollen, der Kreisregierung überſchickt.“ „Ich verſtehe: Akten, Akten,“ ſagte Daumer ſpöttiſch lächelnd. Der Bürgermeiſter legte ihm die Hand auf die Schulter und erwiderte gutmütig: „Seien Sie nicht ſo überlegen, Verehrter; unſre Welt ſchmeckt nun einmal nach Tinte, und daran habt ihr Bücherwürmer doch wahrlich nicht die wenigſte Schuld. Übrigens,“ er griff in die Rockbruſt und brachte ein zuſammengefaltetes Stück Papier zum Vorſchein, „als Mitglied der Kommiſſion werden Sie gebeten, Einblick in ein wichtiges Dokument zu nehmen. Es iſt der Brief, den unſer Gefangener beim Rittmeiſter Weſſenig abgegeben hat. Leſen Sie.“ Das mit keiner Namensunterſchrift verſehene Schreiben lautete: „Ich ſchicke Ihnen hier einen Burſchen, Herr Rittmeiſter, der möchte ſeinem König getreu dienen und will unter die Soldaten. Der Knabe iſt mir gelegt worden im Jahre 1815, in einer Winternacht, da lag er an meiner Tür. Hab’ ſelber Kinder, bin arm, kann mich ſelber kaum durchbringen, er iſt ein Findling, und ſeine Mutter hab’ ich nicht erfragen können. Hab’ ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelaſſen, kein Menſch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein Haus heißt, und den Ort weiß er auch nicht. Sie dürfen ihn ſchon fragen, er kann es aber nicht ſagen, denn mit der Sprache iſt es noch ſchlecht bei ihm beſtellt. Wenn er Eltern hätte, wie er keine hat, wär’ was Tüchtiges aus ihm geworden, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, da kann er es gleich. Mitten in der Nacht hab’ ich ihn fortgeführt, und er hat kein Geld bei ſich, und wenn Sie ihn nicht behalten wollen, müſſen Sie ihn erſchlagen und in den Rauchfang hängen.“ Als Daumer geleſen hatte, gab er dem Bürgermeiſter das Schriftſtück zurück und ging mit ernſter Miene auf und ab. „Nun, was halten Sie davon?“ forſchte Binder; „einige unſrer Herren ſind der Anſicht, der Unbekannte ſelbſt könne den Brief geſchrieben haben.“ Daumer hielt mit einem Ruck in ſeiner Wanderung inne, ſchlug die Hände zuſammen und rief: „Ach, du himmliſche Gnade!“ „Dazu iſt natürlich gar kein Grund vorhanden,“ beeilte ſich der Bürgermeiſter hinzuzufügen. „Daß bei der Abfaſſung des Schreibens eine zweckvolle Tücke gewaltet hat, daß es dazu beſtimmt iſt, Nachforſchungen zu erſchweren und irrezuführen, iſt offenbar. Es iſt eine ſchnöde Kaltherzigkeit im Ton, die mir von Anfang an den Verdacht erregt hat, daß der Jüngling das unſchuldige Opfer eines Verbrechens iſt.“ Eine mutige Meinung, in welcher der Bürgermeiſter durch einen Vorgang ſehr beſtärkt wurde, der ſich ereignete kurz nachdem die Herren von der Kommiſſion am folgenden Morgen das Gefängnis Caſpar Hauſers betreten hatten. Während der Wärter damit beſchäftigt war, den Knaben zu entkleiden, ließ ſich drunten in einer Gaſſe am Burgberg eine Bauernmuſik hören und zog mit klingendem Spiel an der Mauer vorüber. Da lief ein grauenhaft anzuſchauendes Zittern über den Körper Hauſers, ſein Geſicht, ja ſogar ſeine Hände bedeckten ſich mit Schweiß, ſeine Augen verdrehten ſich, alle Fibern lauſchten dem Schrecken entgegen, dann ſtieß er einen tieriſchen Schrei aus, ſtürzte zu Boden und blieb zuckend und ſchluchzend liegen. Die Männer erbleichten und ſahen einander ratlos an. Nach einer Weile näherte ſich Daumer dem Unglücklichen, legte die Hand auf ſein Haupt und ſprach ein paar tröſtende Worte. Dies wirkte beruhigend auf den Jüngling, und er wurde ſtille; nichtsdeſtoweniger ſchien der ungeheure Eindruck des gehörten Schalls ſeinen Leib von innen und von außen verwundet zu haben. Tagelang nachher zeigte ſein Weſen noch die Spuren der empfundenen Erſchütterung; er lag fiebernd auf dem Strohſack, und ſeine Haut war zitronengelb. Teilnahmsvollen Fragen gegenüber war er allerdings herzlich bewegt, und er ſuchte nach Worten, um ſeine Erkenntlichkeit zu beweiſen, wobei ſein ſonſt ſo klarer Blick ſich in dunkler Pein trübte; beſonders für den Profeſſor Daumer, der zwei- bis dreimal täglich zu ihm kam, legte er eine zärtliche Dankbarkeit, ſchweigend oder ſtammelnd, dar. Bei einem dieſer Beſuche war Daumer mit dem Knaben ganz allein, und das zum erſtenmal; der Wärter hatte auf ſeine Bitte das untere Tor abgeſperrt. Er ſaß dicht neben dem Gefangenen, er redete, fragte, forſchte, alles mit einem vergeblichen Aufwand von Innigkeit, Geduld und Liſt. Zum Schluß beſchränkte er ſich darauf, das Tun und Laſſen des Jünglings voll Spannung zu beobachten. Plötzlich ſtieß Caſpar Hauſer ſeine verworrenen Laute aus: er ſchien etwas zu fordern und ſpähte ſuchend herum. Daumer erriet bald und reichte ihm den gefüllten Waſſerkrug, den Hill auf die Ofenbank geſtellt hatte. Caſpar nahm den Krug, ſetzte ihn an die Lippen und trank. Er trank in langen Schlücken, mit beſeligter Gelöſtheit und einem begeiſterten Aufleuchten der Augen, wie wenn er für den kurzen Zeitraum des Genuſſes vergeſſen hätte, daß das dämoniſch Unbekannte auf allen Seiten ihn bedrängte. Daumer geriet in eine ſeltſame Aufregung. Als er nach Hauſe kam, durchmaß er länger als eine halbe Stunde mit großen Schritten ſein Studierzimmer. Gegen acht Uhr pochte es an der Tür, ſeine Schweſter trat ein und rief ihn zum Abendeſſen. „Was glaubſt du, Anna,“ rief er ihr lebhaft und mit beziehungsvollem Ton zu, „zweimal zwei iſt vier, wie?“ „Es ſcheint ſo,“ erwiderte das junge Mädchen, verwundert lachend, „alle Leute behaupten es. Haſt du denn entdeckt, daß es anders iſt? Das ſähe dir ähnlich, du Aufwiegler.“ „Nicht gerade das hab’ ich entdeckt, aber doch etwas der Art,“ ſagte Daumer heiter und legte den Arm um die Schulter der Schweſter. „Ich will einmal unſre braven Philiſter tanzen laſſen! Ja, tanzen ſollen ſie mir und ſtaunen.“ „Betrifft es etwa gar den Findling? Haſt du was mit ihm vor? Sei nur auf der Hut, Friedrich, und laß dich nicht in Scherereien ein, man iſt dir ohnedies nicht grün.“ „Gewiß,“ gab er, raſch verſtimmt, zur Antwort, „das Einmaleins könnte Schaden leiden.“ „Nun, weiß man noch gar nichts über den Sonderling?“ fragte bei Tiſch Daumers Mutter, eine ſanfte alte Dame. Daumer ſchüttelte den Kopf. „Vorläufig kann man nur ahnen, bald wird man wiſſen,“ entgegnete er mit ſtarr nach oben gerichtetem Blick. Am folgenden Tag brachte die „Morgenpoſt“ einen Artikel, der die Überſchrift trug: Wer iſt Caſpar Hauſer? Wenngleich auf dieſen Appell keiner der Leſer eine Antwort zu erteilen vermochte, wurde der Zudrang der Neugierigen ſo groß, daß das Bürgermeiſteramt ſich genötigt ſah, die Beſuchsſtunden durch eine ſtrenge Vorſchrift zu regeln. Bisweilen ſtanden die Leute Kopf an Kopf vor der offenen Tür des Gefängniſſes, und in allen Geſichtern war die Frage zu leſen: Was iſt es mit ihm? Was iſt es für ein Menſch, der die Worte nicht verſteht und dennoch ſprechen kann, die Dinge nicht erkennt und dennoch ſehen kann, der zu lachen vermag, kaum daß ſein Weinen zu Ende, der arglos ſcheint und geheimnisvoll iſt und hinter deſſen unſchuldig leuchtenden Augen vielleicht Übeltat und Schande verborgen ſind? Sicherlich ſpürte der Gefangene, ſpürte es ſchmerzlich, was die lüſtern auf ihn gerichteten Blicke begehrten, und der Wunſch, ihnen zu willfahren, erzeugte möglicherweiſe die erſte erhellende Dämmerung, welche ihm ſelbſt die Vergangenheit langſam begreiflich machte, ſo daß er in beunruhigter Bruſt nach dem Geweſenen taſtete, ein Geweſenes erſt fühlte und die Gegenwart damit verband, im tiefſten ſchaudernd an der Zeit meſſen lernte, was ſie verändernd mit ihm getan, und was er ſah, mit dem verglich, was er ehedem geſehen. Er begriff das Fordernde der Frage und ward des Mittels inne, die verlangenden Mienen zu befriedigen. Mit durſtigen Sinnen ſuchte er das Wort. Sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem ſprechenden Mund der Menſchen. Hier war Daumer in ſeinem Element. Was keinem andern, dem Arzt nicht, dem Wärter nicht, dem Bürgermeiſter nicht, den Protokollanten erſt recht nicht gelingen wollte, das vermochte nach und nach ſeine Behutſamkeit und zweckvolle Geduld. Die Perſon des Findlings beſchäftigte ihn aber auch dermaßen, daß er ſeiner Studien und privaten Obliegenheiten, ja beinahe ſeines öffentlichen Amtes darüber vergaß, und er erſchien ſich wie ein Mann, den das Schickſal vor das ihm allein beſtimmte Erlebnis geſtellt hat, wodurch ſein ganzes Leben und Denken eine glückliche Beſtätigung erfährt. Unter ſeinen Notizen über Caſpar Hauſer lautete eine der erſten wie folgt: „Dieſe in einer fremden Welt hilflos ſchwankende Geſtalt, dieſer ſchlafumfangene Blick, dieſe angſtverhaltene Gebärde, dieſe über einem etwas verkümmerten Untergeſicht edel thronende Stirn, auf welcher Frieden und Reinheit ſtrahlen: es ſind für mich Zeugen von unbeſiegbarer Deutkraft. Wenn ſich die Vermutungen bewahrheiten, mit denen ſie mich erfüllen, wenn ich die Wurzeln dieſes Daſeins aufgraben und ſeine Zweige zum Blühen bringen kann, dann will ich der ſtumpfgewordenen Welt den Spiegel unbefleckten Menſchentums entgegenhalten, und man wird ſehen, daß es gültige Beweiſe gibt für die Exiſtenz der Seele, die von allen Götzendienern der Zeit mit elender Leidenſchaft geleugnet wird.“ Es war ein ſchwieriger Weg, den der eifervolle Pädagoge ging. Da, wo er zu beginnen hatte, war die menſchliche Sprache ein weſenloſes Ding, Wort um Wort mußte erſt ſeinem Sinn angeheftet, Erinnerung erſt erweckt, Urſache und Folge in ihrer Verkettung erſt entſchleiert werden. Zwiſchen einer Frage und der nächſten lagen Welten des Begreifens, ein Ja, ein Nein, oft hilflos hingeworfen, galt noch nichts, wo jeder Begriff erſt aus der Dunkelheit erſtand und die Verſtändigung von Vokabel zu Vokabel ſtockte. Und doch ſchien ein Licht wie aus weit entfernter Vergangenheit den Geiſt des Jünglings viel raſcher zu beflügeln, als ſelbſt der hoffnungsſelige Daumer zu erwarten gewagt hatte. Es war erſtaunlich, mit welcher Leichtigkeit und Kraft er einmal Geſagtes feſthielt und wie er aus dem Chaos unlebendiger Laute das für ihn Lebendige und Bedeutungsvolle bildvoll hervorzauberte, ſo daß es Daumer zumute war, als hebe er bloß Schleier von den Augen ſeines Schützlings, als ſpiele er die Rolle des Lauſchers bei den langſam hervorquellenden Erinnerungen. Er hielt den Körper, indes der Geiſt des Knaben zurückkehrte in den Bezirk, von wo er kam, und eine Kunde brachte, dergleichen kein Ohr je vernommen. 2. Bericht Caſpar Hauſers, von Daumer aufgezeichnet Soweit Caſpar ſich entſinnen konnte, war er immer in einem dunkeln Raum geweſen, niemals anderswo, immer in demſelben Raum. Niemals den Menſchen geſehen, niemals ſeinen Schritt gehört, niemals ſeine Stimme, keinen Laut eines Vogels, kein Geſchrei eines Tieres, nicht den Strahl der Sonne erblickt, nicht den Schimmer des Mondes. Nichts vernommen als ſich ſelbſt, und doch nichts von ſich ſelber wiſſend, der Einſamkeit nicht inne werdend. Das Gemach muß von geringer Breite geweſen ſein, denn er glaubte, einmal mit ausgeſtreckten Armen zwei gegenüber liegende Wände berührt zu haben. Vordem aber ſchien es unermeßlich groß; angekettet an ein Strohlager, ohne die Feſſel zu ſehen, hatte Caſpar niemals den Fleck Erde verlaſſen, auf dem er traumlos ſchlief, traumlos wachte. Dämmerung und Finſternis waren unterſchieden, ſo wußte er alſo um Tag und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein er ſah die Schwärze, wenn er einmal in der Nacht erwachte und die Mauern entſchwunden waren. Er hatte kein Maß für die Zeit. Er konnte nicht ſagen, wann die unergründliche Einſamkeit begonnen hatte, er dachte zu keiner Stunde daran, daß ſie einmal enden könne. Er ſpürte keinerlei Verwandlung an ſeinem Leibe, er wünſchte nicht, daß etwas anders ſein ſolle, als es war, es ſchreckte ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn, nichts Vergangenes hatte Worte, ſtumm lief die regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens, ſtumm war ſein Inneres wie die Luft, die ihn umgab. Wenn er am Morgen erwachte, fand er friſches Brot neben dem Lager und den Waſſerkrug gefüllt. Bisweilen ſchmeckte das Waſſer anders als ſonſt; wenn er getrunken hatte, verlor er ſeine Munterkeit und ſchlief ein. Nach dem Aufwachen mußte er dann das Krüglein ſehr oft in die Hand nehmen, er hielt es lange an den Mund, doch floß kein Waſſer mehr heraus; er ſtellte es immer wieder hin und wartete, ob nicht bald Waſſer komme, weil er nicht wußte, daß es gebracht wurde; hatte er doch keinen Begriff, daß außer ihm noch jemand ſein könne. An ſolchen Tagen fand er reines Stroh auf ſeinem Bette, ein friſches Hemd am Körper, die Nägel beſchnitten, die Haare kürzer, die Haut gereinigt. All das war im Schlaf geſchehen, ohne daß er es gemerkt, und kein Nachdenken darüber umflorte ſeinen Geiſt. Ganz allein war Caſpar Hauſer nicht; er beſaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes Pferdchen aus Holz, ein namenloſes, regungsloſes Ding und gleichwohl etwas, in dem ſein eignes Daſein ſich dunkel ſpiegelte. Da er die lebendige Geſtalt in ihm ahnte, hielt er es für ſeinesgleichen, und in den matten Glanz ſeiner künſtlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren Welt gebannt. Er ſpielte nicht mit ihm, nicht einmal lautloſe Zwieſprach hielt er mit ihm, und obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern ſtand, dachte er nie daran, es hin und her zu ſchieben. Aber wenn er ſein Brot aß, reichte er ihm jeden Biſſen hin, bevor er ihn ſelbſt zum Mund führte, und bevor er einſchlief, ſtreichelte er es mit liebkoſender Hand. Das war ſein einziges Tun in vielen Tagen, langen Jahren. Da geſchah es einſt während der Zeit des Wachens, daß ſich die Mauer auftat, und von draußen her, aus dem Niegeſehenen, erſchien eine ungeheure Geſtalt, ein Niegeſehener, der erſte Andre, der das Wörtchen Du ſprach und den Caſpar deshalb den Du nannte. Die Decke des Raumes ruhte auf ſeinen Schultern, etwas unverſtändlich Leichtes und Veränderliches war in der Bewegung ſeiner Glieder, ein Lärm war um ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß raſch von ſeinen Lippen, zu atemloſem Hören zwang das Leuchten ſeiner Augen, und an ſeinen Kleidern hing das Draußen als ein betäubender Geruch. Von den vielen Worten, die aus dem Munde des Du kamen, verſtand Caſpar zunächſt keines, aber durch tieferregtes Aufmerken begriff er allmählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle, daß das Ding, das ſeine Einſamkeit geteilt, den Namen Roß trug, daß er andre Roſſe erhalten werde und daß er lernen ſolle. „Lernen,“ ſagte der Du immer wieder, „lernen, lernen.“ Und wie um klarzumachen, was das heiße, ſtellte er einen Schemel mit vier runden Füßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf, ſchrieb zweimal den Namen Caſpar Hauſer und führte beim Nachſchreiben Caſpars Hand. Dies gefiel Caſpar, weil es ſchwarz und weiß ausſah. Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel und ſprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die Worte vor. Caſpar konnte ſie alle wiederholen, ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch andre Worte und gewiſſe Redensarten plapperte er nach, die ihm der Mann vorſagte, zum Beiſpiel: „Ich möcht’ ein ſolcher Reiter werden wie mein Vater.“ Der Du ſchien zufrieden; jedenfalls um ihn zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd auf dem Boden hin und her rollen könne, und damit vergnügte ſich Caſpar, als er am andern Morgen erwachte. Er ſchob das Rößlein vor ſeinem Lager auf und ab, wobei ein Geräuſch entſtand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ er es wieder und begann dafür mit dem Pferd zu reden, indem er die unverſtändlichen Laute aus dem Munde des Du nachahmte. Es war eine wunderliche Luſt für ihn, ſich ſelbſt zu hören, er hob die Arme und füllte den Raum mit ſeinem freudigen Gelall. Seinen Kerkermeiſter mochte dies verdrießen und beunruhigen, er wollte ihn zum Schweigen bringen: auf einmal ſah Caſpar einen Stab über ſeine Schulter ſauſen und ſpürte zugleich einen ſo heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor Schrecken nach vorne fiel. Mitten in der Angſt machte er die erſtaunliche Wahrnehmung, daß er nicht mehr ans Lager angebunden war. Eine Zeitlang verhielt er ſich ganz ſtille, dann verſuchte er, vorwärts zu rutſchen, aber ihm graute, als er mit ſeinen bloßen Füßen die kalte Erde berührte. Mit Mühe erreichte er ſein Lager und verſank ſofort in Schlaf. Es wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der Du wiederkam und verſuchte, ob Caſpar noch ſeinen Namen ſchreiben und die Worte aus dem Buch leſen konnte. Er verbarg nicht ſeine Verwunderung, als der Knabe dies mühelos vermochte. Er wies auf Dinge rings im Raum und nannte ihre Namen; er redete langſam, Aug’ in Aug’ mit Caſpar, und hielt ihn dabei an der Schulter feſt; durch ſeine Blicke, ſeine Gebärden, das Verzerren ſeiner Züge hindurch ahnte Caſpar, was er ſagte, und ihm ſchauderte, während ſeine ſtotternde Zunge dem Mann gehorſam war. In der folgenden Nacht wurde er aus dem Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual ſpürte er es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als er endlich die Augen aufſchlug, war die Mauer geöffnet, und ein purpurroter Schein floß in den Raum. Der Du war über ihn gebeugt und ſprach leiſe, vielleicht um Caſpars Furcht zu ſtillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn mit Hoſen, mit einem Kittel und mit Stiefeln, dann ſtellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen die Wand und kehrte ſich mit dem Rücken gegen ihn. Er umfaßte ſeine Beine, hob ihn auf, Caſpar umſchlang mit den Armen ſeinen Hals, und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf, ſo ſchien es Caſpar; in Wirklichkeit war es wahrſcheinlich die Treppe des unterirdiſchen Verlieſes. Furchtbar dröhnte der Atem des Mannes, etwas Kühles und Feuchtes ſchlug Caſpar ins Geſicht, ſetzte ſich in ſeinen Haaren feſt, die ſich von ſelbſt zu bewegen anfingen, und klammerte ſich an ſeine Haut. Plötzlich wich die Schwärze, ſie rauſchte auf den Boden nieder; alles wurde weit, weich und blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne wuchteten fremde große Dinge; von oben brach ein blauer Strahl und verlor ſich wieder, das Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der Kleider, durchdringende Gerüche wogten umher, Caſpar begann zu weinen und ſchlief auf dem Rücken des Mannes ein. Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das Geſicht zur Erde gekehrt, und von unten ſtrömte Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf. Die Luft brannte ſonderbar, und ein unerträglich heller Schein flirrte vor den Augen. Der Du machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müſſe; er zeigte ihm, wie er gehen ſolle, er hielt ihn von hinten unter den Armen und ſtieß ſeinen Kopf gegen die Bruſt, ihm ſo befehlend, daß er auf den Boden ſehen ſolle. Caſpar gehorchte wankend und zitternd, die Luft und der Schein brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten ihn ſchwindeln, die Sinne vergingen. Er ſchlief wieder; wie lange, das wußte er nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen probiert hatte, als es wieder dunkel wurde. Vielleicht glaubte er, es ſei Nacht geworden, während ſie ſich nur in einem Wald befanden. Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht ſagen, ob es aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume oder Wieſen oder Häuſer da waren, wußte er nicht. Bisweilen ſchien ihm alles ringsum in rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle kam, dehnten ſich Luft und Erde bläulich und grün. Ob Menſchen vorübergingen, konnte er nicht ſagen, er gewahrte nicht den Himmel, er ſah nicht einmal das Geſicht des Mannes. Einmal fiel Waſſer von der Höhe; er dachte, der Du ſchütte ihn mit Waſſer an, und beklagte ſich, doch jener entgegnete, er ſchütte ihn nicht an, er deutete in die Luft und rief: „Regen! Regen!“ Wie lange er ſo unterwegs geweſen, wußte er nicht. Ihm dünkte, jedesmal wenn er ſich, erſchöpft vom Gehen, zur Ruhe niedergelegt, ſei ein Tag vergangen. Furcht zog ihn hin und bemeiſterte ſeine Müdigkeit, ſie ſpannte ſeine Gelenke und riß ſein Haupt nach oben, indes die Augen unaufhörlich zur Tiefe ſtarrten. Der Du gab ihm dasſelbe Brot zu eſſen, das er im Kerker genoſſen, und ließ ihn Waſſer aus einer Flaſche trinken. Caſpars Erſchöpfung und ſeine Angſt, wenn der Wind durch die Büſche ſauſte, oder wenn ein Tier ſchrie, oder wenn das Gras um ſeine Füße klirrte, ſuchte er durch das Verſprechen ſchöner Pferdchen zu beſiegen, und als Caſpar endlich längere Zeit allein gehen konnte, ſagte er, nun ſeien ſie bald da. Er wies mit dem Arm in die Ferne und ſagte: „Große Stadt.“ Caſpar ſah nichts, taumelnd tappte er vorwärts; nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen zum Zeichen, daß er ſtehenbleiben ſolle, gab ihm einen Brief und ſagte, den Mund nahe an Caſpars Ohr: „Laß dich weiſen, wo der Brief hingehört.“ Caſpar machte noch ein paar Schritte, und als er ſich dann umſah, war der Du verſchwunden. Er ſpürte plötzlich Steine unter den Füßen, er taſtete nach allen Seiten, um ſich zu halten, er ſah Steinmauern, die im Sonnenlicht feurig lohten, aber Entſetzen packte ihn erſt, als er Menſchen gewahrte, erſt einen, dann zwei, dann viele. Grauenhaft nah kamen ſie heran, umſtanden ihn, ſchrien ihm zu, einer ergriff ihn und ſchleppte ihn vorwärts, alles ringsumher war Lärm und Getöſe; er begehrte zu ſchlafen, ſie verſtanden ihn nicht; er ſprach von ſeinem Vater, von den Roſſen, ſie lachten und verſtanden ihn nicht; er jammerte über ſeine wunden Füße, ſie verſtanden es nicht; er ſchlief im Stall des Rittmeiſters, dann kamen wieder andre Geſtalten, um, kaum daß ſie ſich gezeigt, mit unbegreiflicher Haſt wieder zu fliehen, die Luft war ſchwer und kaum zu atmen, die gewaltigen Dinge, als welche ihm die Häuſer erſchienen, drängten ſich an ihn an, und auf der Wachtſtube erſchreckten ihn die wilden Mienen und Gebärden der Leute ſo, daß er zu Tränen ſeine Zuflucht nahm. Wiederum ſchlief er lange, und danach wurde er auf den Turm gebracht. Der Mann, der ihn die große Stiege hinaufführte, ſprach mit ſtarker Stimme und öffnete eine Tür, die einen beſonderen Hall von ſich gab. Kaum hatte er ſich auf dem Strohſack niedergelaſſen, ſo begann die Turmuhr zu ſchlagen, worüber Caſpar in unermeßliches Erſtaunen geriet. Er lauſchte angeſtrengt, aber nach und nach hörte er nichts mehr, ſeine Aufmerkſamkeit verlor ſich und er fühlte nur das Brennen ſeiner Füße. In den Augen hatte er keine Schmerzen, da es dunkel war. Er ſetzte ſich auf und wollte nach dem Krüglein langen, um ſeinen Durſt zu ſtillen. Er ſah kein Waſſer und kein Brot, anſtatt deſſen ſah er einen Boden, der ganz anders beſchaffen war als dort, wo er früher geweſen. Nun wollte er nach ſeinem Pferdchen greifen und mit ihm ſpielen, es war aber keines da, und er ſagte: „Ich möcht’ ein ſolcher Reiter werden wie mein Vater.“ Das ſollte heißen: Wo iſt das Waſſer hin und das Brot und das Pferdchen? Er bemerkte den Strohſack, auf dem er lag, betrachtete ihn mit Verwunderung und wußte nicht, was es ſei; mit dem Finger darauf klopfend, vernahm er dasſelbe Geräuſch wie von dem Stroh, das ſonſt ſein Lager geweſen. Dies erfüllte ihn mit Beruhigung, ſo daß er wieder einſchlief und erſt mitten in der Nacht vom oftmals wiederholten Ton der Glocke erwachte. Er lauſchte lang, und als der Schall verklungen war, ſah er den Ofen, der eine grüne Farbe hatte und einen Glanz von ſich gab (denn Caſpar vermochte ſelbſt in tiefer Dunkelheit die Farben zu unterſcheiden). Er blickte ſehr angeſpannt hinüber und murmelte wieder: „Ich möcht’ ein ſolcher Reiter werden wie mein Vater.“ Das ſollte heißen: Was iſt denn dieſes und wo bin ich denn? Auch drückte er damit ſein Verlangen nach dem glänzenden Ding aus. In der Frühe öffnete der Wärter die Fenſterläden, das helle Tageslicht tat Caſpars Augen wehe; er fing zu weinen an und ſagte: „Hinweiſen, wo der Brief hingehört,“ und damit wollte er ſagen: Warum tun mir die Augen weh? Tu es weg, was mich brennt, gib mir das Pferdchen zurück und plag mich nicht ſo. Denn er ſprach im Geiſte mit dem Du, von dem er glaubte, daß er Abhilfe ſchaffen könnte. Er hörte die Uhr wieder ſchlagen, das nahm ihm die Hälfte der Schmerzen, und indes er horchte, kam ein Mann und ſtellte allerhand Fragen, aber Caſpar gab keine Antwort, weil ſeine Aufmerkſamkeit auf den verhallenden Klang gerichtet war. Der Mann faßte ihn am Kinn, hob ſeinen Kopf in die Höhe und redete mit ſtarker Stimme. Jetzt hörte Caſpar zu und ſagte all ſeine gelernten Worte her, aber der Mann verſtand ihn nicht. Er ließ ſeinen Kopf los, ſetzte ſich neben Caſpar und fragte immerfort; als nun die Uhr wieder tönte, ſagte Caſpar: „Ich möcht’ ein ſolcher Reiter werden wie mein Vater.“ Das ſollte bedeuten: Gib mir das Ding, das ſo ſchön klingt. Der Mann verſtand ihn nicht und redete weiter, da fing Caſpar an zu weinen und ſagte: „Roß geben,“ womit er den Mann bat, er möge ihn nicht ſo quälen. Er ſaß dann lange Zeit allein. Aus weiter Ferne klang ein Trompetenſchall aus der Kaiſerſtallung, und als ein andrer Mann eintrat, ſagte Caſpar die Redensart mit dem Brief; das ſollte heißen: Weißt du nicht, was das iſt? Der Mann brachte den Waſſerkrug und ließ Caſpar trinken, danach ward es ihm leicht zumute und er ſagte: „Möcht’ ein ſolcher Reiter werden wie mein Vater.“ Das bedeutete: Jetzt darfſt du nicht mehr fortgehen, Waſſer. Bald erklang wieder die Trompete und Caſpar lauſchte freudig; er dachte, wenn ſein Pferdchen käme, würde er ihm erzählen, was er gehört. An dieſem Tag aber begann ſchon die Peinigung, die er von den vielen Menſchen auszuſtehen hatte. 3. Eine hohe amtliche Perſon wird Zeuge eines Schattenſpiels Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis Profeſſor Daumer einen ſo vollſtändigen Einblick in die Vergangenheit des Jünglings gewonnen hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, greifbar, hatte Ähnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräbers. Was anfangs ein Fiebertraum geſchienen, beſaß nun die Züge des Lebens. Daumer verfehlte nicht, der Behörde den Sachverhalt in einer gewiſſenhaften Niederſchrift vorzulegen. Die Folge davon war, daß ſich der Magiſtrat entſchloß, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlaſſen und in eine vertrautere Beziehung zu dem Unglücklichen zu treten. Die auffälligen Beſonderheiten ſeines Weſens ſollten noch einmal überprüft werden, hieß es in einer der gerichtlichen Noten, deshalb wurden Ärzte, Gelehrte, Polizeibeamte, ſcharfſinnige Juriſten, kurz unzählige Perſonen, die an ſeinem Schickſal freien Anteil nahmen, zu ihm auf den Turm geſchickt. Es war ein endloſes Schnüffeln und Debattieren, Zweifeln und Staunen, doch die verſchiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die bloße Kraft des Augenſcheins mußte den Daumerſchen Bericht beſtätigen. Wenige Tage ſpäter, gegen Anfang Juli, veröffentlichte der Bürgermeiſter einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Zunächſt wurde darin das Erſcheinen Caſpar Hauſers geſchildert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichſter Ausführlichkeit wiedergegeben war, beſchrieb der Verfaſſer dieſen ſelbſt. Er ſprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlöſung, mit Innigkeit ſeines Unterdrückers gedenke; von ſeiner rührenden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von ſeiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten, die mit der Ahnung deſſen verbunden ſei, was böſe iſt, ferner von ſeiner außerordentlichen Lernbegierde. „Alle dieſe Umſtände,“ fuhr der beredſame Erlaß fort, „geben in demſelben Maß, in dem ſie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen, die Überzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen des Geiſtes und des Herzens ausgeſtattet iſt, und berechtigen zu dem Verdacht, daß ſich an ſeine Kerkergefangenſchaft ein ſchweres Verbrechen knüpft, wodurch er ſeiner Eltern, ſeiner Freiheit, ſeines Vermögens, vielleicht ſogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der ſchönſten Freuden der Kindheit und höchſten Güter des Lebens verluſtig geworden iſt.“ Eine kühne und folgenſchwere Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantiſchen Geiſt als der behördlichen Vorſicht eines hohen Bürgermeiſteramtes zur Ehre gereichte! „Zudem beweiſen mancherlei Anzeichen,“ hieß es weiter, „daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo der Jüngling der Sprache ſchon einmal mächtig geweſen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finſterer Nacht aus ſeinem Weſen hervorleuchtet. Es ergeht daher an die Juſtiz-, Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menſchliches Herz im Buſen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbedeutendſten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben. Und nicht etwa deswegen, um Caſpar Hauſer zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorſehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das ſie ohne gültigen Beweis der Anſprüche andrer nicht abtreten wird, ſondern nur, um die Übeltat zu entdecken und den Böſewicht ſamt ſeinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.“ Wahrſcheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifeſt geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten. Zunächſt lief eine Menge unſinniger und verleumderiſcher Bezichtigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in ariſtokratiſchen Kreiſen dem Gerede ausgeſetzt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterſchiebung waren nach Anſicht des gemeinen Volks Verbrechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen. Schlimmer war es, daß die magiſtratiſche Bekanntmachung dem Appellhof des Rezatkreiſes auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgendein grimmiger Hofrat am ſelben Gerichtshof erließ allſogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreisregierung in Ansbach, worin erſtlich die Publikation des Nürnberger Bürgermeiſters als vorſchriftswidrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, worin drittens der lebhafte Tadel darüber ausgedrückt war, daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umſtände eine Kriminalunterſuchung wenn auch nicht vereitelt, ſo doch ſehr erſchwert worden ſei. Der ergrimmte Hofrat erſuchte daher die Regierung, den Magiſtrat zu ſtrenger Rechenſchaft zu ziehen und zu befehlen, daß die den Fall behandelnden Polizeiakten unverzüglich anher zu ſenden ſeien. Die Regierung ließ ſich das nicht zweimal ſagen. Sie ſendete ein Reskript an den Stadtkommiſſär von Nürnberg und äußerte ſich dahin, daß die erzählte Lebensbeſchreibung des Findlings ſo viele grobe Unwahrſcheinlichkeiten enthalte, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täuſchung nicht abzuweiſen ſei. Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Exemplare des „Intelligenzblattes“ und des „Friedens- und Kriegskuriers“, in welchen Zeitungen der Aufruf erſchienen war, beſchlagnahmt. Dies wurde dem Appellhof ordnungsgemäß mitgeteilt und die Erwägung daran geknüpft, ob die ſtrafrechtliche Verfolgung des Häftlings einzuleiten ſei oder nicht. Den Magiſtratsherren fuhr ein heilloſer Schrecken in die Glieder. Schleunigſt ließen ſie die Aktenfaſzikel zuſammenpacken und ſchickten ſie mit Eilpoſt nach Ansbach hinüber. Vielleicht wähnten ſie, daß nun alles gut ſei, aber der grimme Hofrat dortſelbſt erhob alsbald wieder ſeine Stimme. „Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugniſſe über ihn ſind aktenmäßig nicht einwandfrei,“ zeterte er; „es ſind keineswegs alle Perſonen, die zuerſt mit ihm in Berührung getreten ſind, polizeilich vernommen worden; ferner hätte der Profeſſor Daumer, um der öffentlichen Bekanntmachung des Magiſtrats eine rechtliche Baſis zu geben, ſeine Geſpräche mit dem Findling zu den Akten legen ſollen.“ Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte den Magiſtrat vor einſeitigem Verfahren. Darauf erwiderte der Magiſtrat in einem Anfall von Trotz und Entrüſtung: ja, aber in den Maßregeln, wie ihr ſie verlangt, liegt Gefahr, die Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vorgeſetzte Behörde mit zorniger Energie zurückwies. Holt eure Verſäumniſſe nach, diktierte ſie, protokolliert Verhöre, ſchickt Akten, Akten, nichts als Akten. Mit innerer Wut hatte der Profeſſor Daumer dieſe Vorgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben der Ansbacher Behörde als widerwärtige Federfuchſerei und hatte allen Ernſtes die Abſicht, ſeinem Unmut in einer geharniſchten Epiſtel an die Regierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten beſonnene Freunde ihn davon zurück. „Aber es muß doch etwas geſchehen!“ warf er ihnen voll Empörung entgegen, „man iſt ja auf dem beſten Weg, einen Juſtizmord zu begehen, und ſoll ich dazu die Hände in den Schoß legen?“ „Das ratſamſte wäre,“ antwortete der Freiherr von Tucher, der bei dieſem Auftritt anweſend war, „ſich perſönlich an den Staatsrat Feuerbach zu wenden.“ „Das hieße alſo, nach Ansbach reiſen?“ „Gewiß.“ „Aber nehmen Sie denn an, daß er, als Präſident des Appellgerichts, von den Maßnahmen ſeiner untergebenen Beamten nicht ſchon unterrichtet iſt und ſie etwa gar mißbillige?“ „Gleichviel, ich verſpreche mir etwas von einer mündlichen Auseinanderſetzung; ich kenne Herrn von Feuerbach, er iſt der letzte, der einer gerechten Sache ſein Ohr verſchließt.“ Die Reiſe wurde beſchloſſen. Daumer und Herr von Tucher befanden ſich am andern Tag ſchon in Ansbach. Unglücklicherweiſe war der Präſident Feuerbach gerade auf einer Inſpektionſreiſe durch den Bezirk, ſollte erſt am fünften Tag zurückkommen, und die beiden Herren, ſofern ſie das vorgeſetzte Ziel erreichen wollten, mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptſtadt über Gebühr verlängern. Mittlerweile hatte der Findling eine gar böſe Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Ziel aller Müßiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt. Man lief hin wie zu der Ausſtellung einer unterhaltſamen Rarität, denn der magiſtratiſche Erlaß hatte ihn zu einem öffentlichen Gegenſtand gemacht. Seine bisherigen Beſchützer waren ein wenig zurückhaltender geworden, denn man wußte ja nicht, wie die Geſchichte enden würde und ob nicht ein hochweiſes Appellgericht ihn zum gewöhnlichen Schwindler ſtempeln würde. Der Turmwärter durfte der allgemeinen Volksbeluſtigung nicht ſteuern, der Bürgermeiſter ſelbſt hatte die früheren Befehle aufgehoben, weil es zweckmäßig ſchien, daß möglichſt viele Leute den Fremdling ſahen. Oft erbarmte ihn der wehrloſe Knabe, doch ſchmeichelte es anderſeits ſeiner Eitelkeit, Herr über ein ſolches Wunderding zu ſein, auch ſpazierte nebenbei mancher Groſchen in den Beutel. Brach der Morgen an und Caſpar Hauſer erhob ſich vom Schlaf, ſeltſam müde, mit den Augen das Licht meidend; ſaß er traurig ſtumm in der Ecke, während Hill den Strohſack aufſchüttelte und Waſſer und Brot brachte, dann erſchienen ſchon die erſten Beſucher, die berufsmäßigen Frühaufſteher: Straßenkehrer, Dienſtmägde, Bäckergeſellen, Handwerker, die zur Arbeit gingen, auch Knaben, die auf dem Weg zur Schule einen ergötzlichen Abſtecher machten, ſogar einige höchſt unbürgerliche Erſcheinungen, zerlumpte Herren, die die Nacht im Stadtgraben oder in einer Scheune verbracht hatten. Mit dem Verlauf des Tages wurde die Geſellſchaft vornehmer; es kamen ganze Familien, der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr Major a._D., der Schneidermeiſter Bügelfleiß, Graf Rotſtrumpf mit ſeinen Damen, Herr von Übel und Herr von Strübel, die ihre Morgenpromenade zum Zweck einer Beſichtigung des kurioſen Untiers unterbrachen. Es war ein heiteres Treiben; man konverſierte, wiſperte, lachte, ſpottete und tauſchte Meinungen aus. Man war freigebig und brachte dem Jüngling allerlei Geſchenke, die er anſah wie ein Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, den fortgeworfenen Spazierſtock ſeines Herrn anſieht. Man legte Eßwaren vor ihn hin, um ſeinen Appetit zu reizen; ſo ſchleppte zum Beiſpiel die Kanzleirätin Zahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern Tag verſchwunden war — wohin, das wußte niemand; doch zog man bedeutſame Schlüſſe daraus. Vor allem hieß es: zeigt uns das Wunder, das angeprieſene Wunder! Aber da der ſchweigſame, ſanftherzige Knabe nichts von alledem tat, was ſie in ihrer lüſternen Erwartung ſich eingebildet, ſo begannen ſie entweder zu ſchimpfen — als ob ſie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären — oder ſtellten die erſtaunlichſten Torheiten an. Indem ſie ihn fortwährend mit Fragen quälten, woher er komme, wie er heiße, wie alt er ſei und ähnliches, kamen ſie ſich ſowohl witzig wie überlegen vor. Sein flehentliches Kopfſchütteln, ſein ungereimtes Nein oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereitwillig und furchtſam zugleich klang, ſein Geſtotter, ſein gläubiges Lauſchen, alles das erregte ihr Behagen. Einige brachten ihr Geſicht ganz nah an ſeines und waren höchſt vergnügt, wenn er vor ihren Starrblicken ſichtlich bis ins Innerſte erſchrak. Sie befühlten ſeine Haare, ſeine Hände, ſeine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu ſpazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären ſollte, und taten zärtlich mit ihm, während ſie einander liſtig zuzwinkerten. Aber die Harmloſigkeit ſolcher Verſuche ward den unternehmenderen Geiſtern bald überdrüſſig. Man wollte ſich doch überzeugen, ob es ſeine Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Waſſer verſchmähe. Man hielt ihm Fleiſch und Wurſt, Honig oder Butter, Milch oder Wein vor die Naſe und amüſierte ſich köſtlich, wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer ſich geriet. „Ei, der Komödiant,“ kreiſchten ſie dann, „tut, als ob er unſre Leckerbiſſen verachte! Hat ſich wahrſcheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfreſſen!“ Einen Hauptſpaß gab’s, als einmal zwei junge Meiſter der Goldſchlägerinnung Schnaps herbeibrachten und ſich verabredeten, dem Hauſer das Getränk mit Gewalt aufzunötigen. Der eine hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas zwiſchen die Lippen ſchütten. Doch konnten ſie ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß ſtrömte, das Bewußtſein verloren hatte. Sie waren einigermaßen verdutzt und wußten mit dem Ohnmächtigen nichts anzufangen; zum Glück ſahen ſie ihn atmen und hatten weiter keine Furcht. „Glaubt ihm doch ſeine Kniffe nicht,“ meinte ein ſtutzerhaft gekleidetes Bürſchlein, das bisher gelangweilt dabeigeſtanden, „ich will ihn ſchon wieder munter kriegen.“ Sprach’s, zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdoſe und ſteckte eine volle Priſe unter die Naſe des vermeintlichen Simulanten, deſſen Geſicht ſogleich von heftigen Zuckungen bewegt wurde, worüber alle drei in Gelächter ausbrachen. Als dann der Wärter kam und ſie derb zur Rede ſtellte, zogen ſie ſchimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätiſchen älteren Herrn, der den langſam zum Leben zurückkehrenden Caſpar von vorn und von hinten beſchnüffelte, den Finger an die Stirn legte, ſich räuſperte, den Kopf ſchüttelte, erſt franzöſiſch, dann ſpaniſch, dann engliſch auf den Jüngling einredete, mit dem Wärter tuſchelte, kurz von Wichtigkeit förmlich barſt. Caſpar jedoch ſah ihn immer nur an und ſagte in jämmerlichem Ton: „Heimweiſen.“ „Warum ſpielſt du nicht mit dem Rößlein?“ fragte, als die wichtige Perſon gegangen war, der Wärter. Man verſtändigte ſich mit Caſpar noch immer mehr durch Geſten als durch Worte, und er ſelbſt las, was Worte ihm nicht mitteilen konnten, von den Augen und den Händen der Menſchen ab. Er blickte auch Hill lange an und ſagte: „Heimweiſen.“ „Heimweiſen?“ antwortete der Wärter, halb verdrießlich, halb mitleidig. „Wohin denn heim? Wo biſt du denn daheim, du Unglückswurm? In dem unterirdiſchen Loch vielleicht? Nennſt du das daheim?“ „Der Du ſoll kommen,“ ſagte Caſpar klar, langſam und hell. „Der wird ſich hüten,“ verſetzte Hill, bärbeißig lachend. „Der Du kommt, bald kommt,“ beharrte Caſpar, und er ſchaute mit einem Ausdruck feierlicher Inbrunſt gegen den abendlichen Himmel, als ſei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte ſchreiten könne. Dann erhob er ſich in ſeiner mühevollen Weiſe, nahm ſein Spielpferdchen und verſuchte es zu tragen, denn dies allein wollte er von den Gegenſtänden, die er geſchenkt erhalten, mitnehmen, wenn der Du käme, ſonſt nichts. Hill begriff ſein Vorhaben. „Nein, Caſpar,“ ſagte er, „jetzt mußt du ſchon in dieſer Welt bleiben. Daß ſie dir nicht gefallen mag, verſteh’ ich wohl. Mir gefällt ſie auch nicht, aber dableiben mußt du.“ Caſpar, wenngleich er den Worten nicht ganz folgen konnte, erfaßte doch den unabänderlichen Beſchluß, den ſie enthielten. Er begann an allen Gliedern zu beben, laut weinend warf er ſich zu Boden, aber auch ſpäter, als es dem beſtürzten Hill gelungen war, ihn zu tröſten, ſchien es, wie wenn er vor Kummer ſein Herz verhauche. Die Traurigkeit ſeines Gemüts überflutete das kindhafte Geſicht wie ein dunkler Schleier, und am Morgen waren ſeine Lider durch die während des Schlummers vergoſſenen Tränen verklebt. Er wollte zum erſtenmal nicht mehr mit dem Pferdchen ſpielen, ſondern kauerte ſtundenlang ohne Regung auf einem Fleck. Bei jedem Krachen der Treppe ſchüttelte es ihn, und er ſchauderte, wenn ſich wieder und wieder ein neues Geſicht über der Schwelle zeigte. Zitternd ſah er die Menſchen an, der Geruch ihres Atems war ihm eine Pein und unerträglich, wenn ſie ihn berührten. Am meiſten Furcht hatte er vor ihren Händen. Zuerſt ſah er immer die Hände an, merkte ſich ihre verſchiedene Geſtalt und Farbe, und ehe er ſie an ſeiner Haut ſpürte, erſchrak er ſchon, denn ſie erſchienen ihm wie ſelbſtändige Geſchöpfe, kriechende, klebrige, gefährliche Tiere, deren Tun von einem Augenblick zum andern gar nicht abzuſchätzen war. Nur Daumers Hand, die einzige, deren Berührung angenehm war, war verſchwunden. Warum? dachte Caſpar, warum war dies alles? Warum das ſeltſame Getöſe von früh bis ſpät? Woher kamen die fremden Geſtalten, warum ſo viele, und warum war ihr Mund und ihr Auge böſe? Das friſche Waſſer ſchmeckte ihm nicht mehr, auch hungerte ihn nicht mehr nach dem gewürzten Brot. In ſeiner Erſchöpfung dünkte ihm mitten am Tage, es ſei Nacht geworden, und das Heißgleißende, -funkelnde, von dem man ihm geſagt, daß es der Schein der Sonne ſei, wurde vor ſeinen müden Augen zu purpurnem Dunſt. Es beängſtigte ihn das Geräuſch des Windes, denn er verwechſelte es mit den Stimmen der Menſchen. Er ſehnte ſich in die Einſamkeit ſeines Kerkers zurück; heimweiſen war ſein einziger Gedanke. Es war ein Sonntag. Spätnachmittags waren Daumer und Herr von Tucher aus Ansbach wieder angelangt, und in ihrer Begleitung befand ſich der Staatsrat von Feuerbach, der ſich entſchloſſen hatte, den Findling ſelbſt zu beſuchen und womöglich Klarheit in das unfruchtbare Hinundher von Akten und Erläſſen zu bringen. Nachdem er im Gaſthof zum Lamm Quartier gemietet hatte, ließ ſich der Präſident von den beiden Herren ſogleich zur Burg und auf den Turm führen. Es hatte ſchon neun Uhr geſchlagen, als ſie dort ankamen. Groß war ihre Überraſchung, als ſie das Zimmer Caſpars leer fanden; die Frau des Wärters erklärte verlegen, ihr Mann ſei mit Caſpar ins Wirtshaus zum Krokodil gegangen. Der Rittmeiſter von Weſſenig habe nämlich einigen ſeiner von auswärts zugereiſten Freunde den Findling zu zeigen gewünſcht, habe heraufgeſchickt und befohlen, daß man Caſpar bringe. Daumer war erbleicht und ſchaute, Schlimmes ahnend, finſter zu Boden; Herr von Tucher vermochte ſeinen Unwillen kaum zu bemeiſtern, und über die bartloſen Lippen des Präſidenten huſchte ein halb mokantes, halb verächtliches Lächeln; ſeine gebietende Haltung erinnerte an einen durch Pflichtverſäumniſſe vielfach beleidigten Fürſten, als er ſich mit der ſchroffen Aufforderung zu ſeinen Begleitern wandte: „Führen Sie mich zu dieſem Wirtshaus!“ Die Dunkelheit war eingebrochen, über dem Dach des Rathauſes ſtand fahlleuchtend der Mond. Schweigend ſchritten die drei Männer den Berg hinab, und kaum waren ſie, das winklige Gaſſengewirr verlaſſend, auf den Weinmarkt getreten, als Daumer ſtehenblieb und mit erregter Stimme flüſterte: „Da iſt er.“ In der Tat ſahen ſie Caſpar, der gleich einem zu Tod Erkrankten am Arme Hills aus dem Tor des Krokodilwirtshauſes wankte. Der Präſident und Herr von Tucher blieben ebenfalls ſtehen, und ſie bemerkten jetzt, daß der Jüngling plötzlich innehielt, zurückſchauderte und, ein maßloſes Staunen in den vor Angſt weit aufgeriſſenen Augen, zu Boden ſtarrte. Die drei Männer näherten ſich eilig, um zu erfahren, was es ſei. Sie ſahen nichts weiter als die Mondſchatten des Jünglings und ſeines Begleiters auf dem Pflaſter. Caſpar wagte nicht mehr ſich zu regen, weil er jede Bewegung ſeines Körpers nachgeahmt ſah von dem unbegreiflichen Ding. Seine Lippen waren wie zum Schrei geöffnet, ſeine Wangen ſchneeweiß und die Knie ſchlotterten ihm. War es doch, als ob alles Grauenhafte und Geheimnisvolle einer Welt, in die ein Ungefähr ihn geſchleudert, ſich zu dem ſeltſam zuckenden Gebild am Boden verdichtet habe. Daumer, Herr von Tucher und der Wärter bemühten ſich um ihn, der Präſident ſtand wortlos daneben. Als er emporblickte, bemerkte Daumer, der ihn heimlich und geſpannt beobachtete, in ſeinem ſtrengen Geſicht eine unverſtellte Erſchütterung. Es fehlte nicht viel, ſo wäre Hill, den der Zorn des Präſidenten am erſten traf, noch am ſelben Abend aus ſeinem Amt gejagt worden; nur die mutige Fürſprache des Herrn von Tucher rettete ihn und lenkte das Gewitter auf ſchuldigere Perſonen ab, denn die Vernachläſſigung, die der Gefangene erlitten, war allzu offenbar. Seiner ungeſtümen Art gemäß ſuchte der Präſident ſogleich den Bürgermeiſter Binder auf, dem er die heftigſten Vorwürfe machte. Herr Binder konnte nicht umhin, dem Präſidenten kleinmütig beizupflichten; die Entſchiedenheit, mit der er den Gegenſtand behandelt ſah, übte tiefen Eindruck auf ihn, und er mußte einen kaum wieder gutzumachenden Fehler vor ſich ſelber eingeſtehen. Von ſeiner Seite war nur Lauheit im Spiel geweſen, die Scherereien mit der Regierung hatten ihn verdroſſen, jetzt auf einmal, da der mächtige Mann ſeine Stimme für den Findling erhob, wurde er ſich ſeiner Bereitwilligkeit bewußt, alles Fördernswerte für Caſpar Hauſer zu tun, und er erklärte ſich ohne weiteres einverſtanden, als Herr von Feuerbach verlangte, der Knabe müſſe ſeiner bisherigen Lage entriſſen werden. „Er ſoll in eine geordnete Pflege kommen,“ ſagte der Präſident, „Profeſſor Daumer hat ſich freiwillig erboten, ihn zu ſich ins Haus zu nehmen, und ich wünſche nicht, daß dieſer Schritt im geringſten verzögert werde.“ Binder verbeugte ſich. „Ich werde morgen mit dem früheſten die nötigen Anſtalten treffen,“ antwortete er. „Nicht, bevor ich ſelbſt mit dem Knaben geſprochen,“ verſetzte der Präſident haſtig; „ich werde um zehn Uhr auf dem Turm ſein und bitte, daß man mich eine Stunde lang mit dem Gefangenen allein laſſe.“ Auch Daumer war ziemlich erregt heimgekommen. Kaum daß er, nach tagelanger Abweſenheit, Mutter und Schweſter ordentlich begrüßte. „Die Herrſchaften müſſen artig gewütet haben,“ grollte er, indem er unaufhörlich durch das Zimmer wanderte, „der Knabe iſt ja ganz verſtört. Das heiß’ ich menſchlich ſein, das heiß’ ich Einſicht haben! Barbaren ſind ſie, Schlächter ſind ſie! Und unter ſolchem Volk zu leben bin ich gezwungen!“ „Warum ſagſt du es ihnen nicht ſelbſt?“ bemerkte Anna Daumer trocken. „Hinter deinen vier Wänden zu ſchimpfen fruchtet wenig.“ „Sag mal, Friedrich,“ wandte ſich nun die alte Dame an ihren Sohn, „biſt du denn wirklich feſt davon überzeugt, daß du dein Herz nicht wieder einmal an einen Götzen wegwirfſt?“ „Aus deiner Frage erkennt man, daß du ihn noch immer nicht geſehen haſt,“ antwortete Daumer faſt mitleidig. „Das wohl; es war mir ein zu groß Gerenne.“ „Alſo. Wenn man von ihm ſpricht, kann man nicht übertreiben, weil die Sprache zu ärmlich iſt, um ſein Weſen auszudrücken. Es iſt wie eine uralte Legende, dies Emportauchen eines märchenhaften Geſchöpfs aus dem dunkeln Nirgendwo; die reine Stimme der Natur tönt uns plötzlich entgegen, ein Mythos wird zum Ereignis. Seine Seele gleicht einem koſtbaren Edelſtein, den noch keine habgierige Hand betaſtet hat; ich aber will danach greifen, mich rechtfertigt ein erhabener Zweck. Oder bin ich nicht würdig? Glaubt ihr, daß ich nicht würdig bin dazu?“ „Du ſchwärmſt,“ ſagte Anna nach einem langen Stillſchweigen faſt unwillig. Daumer zuckte lächelnd die Achſeln. Dann trat er an den Tiſch und ſagte in einem Ton, deſſen Sanftheit gleichwohl einen gefürchteten Widerſtand im voraus zu bekämpfen ſchien: „Caſpar wird morgen in unſer Haus ziehen; ich habe Exzellenz Feuerbach darum angegangen und er hat meiner Bitte willfahrt. Ich hoffe, daß du nichts dawider einzuwenden haſt, Mutter, und daß du mir glaubſt, wenn ich verſichere, es iſt eine Sache von großer Bedeutung für mich. Ich bin höchſt wichtigen Entdeckungen auf der Spur.“ Mutter und Tochter ſahen erſchrocken einander an und ſchwiegen. Am nächſten Morgen um zehn fanden ſich Daumer, der Bürgermeiſter, der Stadtkommiſſär, der Gerichtsarzt und einige andre Perſonen im Burghof vor dem Gefängnisturm ein und warteten dritthalb Stunden auf den Präſidenten, der bei dem Findling oben war. Daumer, der Geſpräche mit andern vermeiden wollte, ſtand faſt ununterbrochen an der Umfaſſungsmauer und blickte auf das maleriſche Gaſſen- und Dächergewirr der Stadt hinunter. Als der Präſident endlich unter den Wartenden erſchien, drängten ſich alle mit Eifer heran, um die Meinung des berühmten und gefürchteten Mannes zu hören. Doch das Geſicht Feuerbachs zeigte einen ſo düſteren Ernſt, daß niemand ihn mit einer Anrede zu beläſtigen wagte; ſein machtvolles Auge blickte brennend nach innen, die Lippen waren gleichſam aufeinander geballt, auf der Stirn lag eine von Nachdenken zitternde ſenkrechte Falte. Das Schweigen wurde vom Bürgermeiſter mit der Frage unterbrochen, ob Exzellenz nicht geruhen wolle, das Mittageſſen in ſeinem Haus zu nehmen. Feuerbach dankte; dringende Geſchäfte nötigten ihn zu ſofortiger Rückkehr nach Ansbach, entgegnete er. Darauf wandte er ſich an Daumer, reichte ihm die Hand und ſagte: „Sorgen Sie ſogleich für die Überſiedlung des Hauſer; der arme Menſch braucht dringend Ruhe und Pflege. Sie werden bald von mir hören. Gott befohlen, meine Herren!“ Damit entfernte er ſich in raſchen, kleinen, ſtampfenden Schritten, eilte den Hügel hinab und verſchwand alsbald gegen die Sebalderkirche. Die Zurückbleibenden machten etwas enttäuſchte Mienen. Da ſie alle überzeugt waren, daß der Scharfſinn dieſes Mannes ohne Grenzen ſei und daß kein andres als ſein Auge das Dunkel durchdringen könne, welches über Untat und Verbrechen brütete, waren ſie verſtimmt über eine Schweigſamkeit, die ihnen beabſichtigt und planvoll erſchien. Am Abend befand ſich Caſpar in der Wohnung Daumers. 4. Der Spiegel ſpricht Das Daumerſche Haus lag neben dem ſogenannten Annengärtlein auf der Inſel Schütt; es war ein altes Gebäude mit vielen Winkeln und halbfinſtern Kammern, doch erhielt Caſpar ein ziemlich geräumiges und wohleingerichtetes Zimmer gegen den Fluß hinaus. Er mußte ſogleich zu Bett gebracht werden. Es zeigten ſich jetzt mit einem Schlag die Folgen der jüngſtdurchlebten Zeit. Er war wieder ohne Sprache, ja bisweilen wie ohne Gefühl des Lebens. Auf den ungewohnten Kiſſen warf er ſich fiebernd herum. Wie jammervoll, ihn bei jedem Knacken der Dielen erſchaudern zu ſehen; auch das Geräuſch des Regens an den Fenſtern verſetzte ihn in aufgewühlte Bangnis. Er hörte die Schritte, die auf dem weiten Platz vor dem Haus verhallten, er vernahm mit Unruhe die metallenen Schläge aus einer fernen Schmiede, jeder Stimmenlärm brachte auf ſeiner eingeſchrumpften Haut ein Zeichen des Schmerzes hervor; und von Moment zu Moment vertauſchten ſeine Züge den Ausdruck der Erſchöpfung mit dem gepeinigter Wachſamkeit. Drei Tage lang wich Daumer kaum von ſeinem Bett. Dieſe Opferkraft und Hingebung erregte die Bewunderung der Seinen. „Er muß mir leben,“ ſagte er. Und Caſpar fing an zu leben. Vom dritten Tag ab beſſerte ſich ſein Zuſtand ſtetig und ſchnell. Als er am Morgen erwachte, lag ein beſinnendes Lächeln auf ſeinen Lippen. Daumer triumphierte. „Du tuſt ja, als ob du ſelbſt dem Kerker entronnen wärſt,“ meinte ſeine Schweſter, die nicht umhin konnte, an ſeiner Freude teilzunehmen. „Ja, und ich habe eine Welt zum Geſchenk erhalten,“ antwortete er lebhaft; „ſieh ihn nur an! Es iſt ein Menſchenfrühling.“ Am andern Tag durfte Caſpar das Bett verlaſſen. Daumer führte ihn in den Garten. Damit das grelle Tageslicht ſeinen Augen nicht ſchade, band er ihm einen grünen Papierſchirm um die Stirn. Späterhin wurden die Dämmerungszeit oder die Stunden bewölkten Himmels für dieſe Ausgänge vorgezogen. Es waren ja Reiſen, und nichts geſchah, was nicht zum Ereignis wurde. Welche Mühe, ihn ſehen, ihn das Geſehene nennen zu lehren. Er mußte erſt zu den Dingen Vertrauen gewinnen, und ehe nicht ihre Wirklichkeit ihm ſelbſtverſtändlich ward, machte ihn ihre unvermutete Nähe beſtürzt. Als er endlich die Höhe des Himmels und auf der Erde die Entfernung von Weg zu Weg begriff, wurde ſein Gang ein wenig leichter und ſein Schritt mutiger. Alles lag am Mut, alles lag daran, den Mut zu kräftigen. Das iſt die Luft, Caſpar; du kannſt ſie nicht greifen, aber ſie iſt da; wenn ſie ſich bewegt, wird ſie zum Wind, du brauchſt den Wind nicht zu fürchten. Was hinter der Nacht liegt, iſt geſtern; was über der nächſten Nacht liegt, iſt morgen. Von geſtern bis morgen vergeht Zeit, vergehen Stunden, Stunden ſind geteilte Zeit. Dies iſt ein Baum, dies iſt ein Strauch, hier Gras, hier Steine, dort Sand, da ſind Blätter, da Blüten, da Früchte_... Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs das Wort. Die Form wurde einleuchtend durch das unvergeßliche Wort. Caſpar ſchmeckt das Wort auf der Zunge, er ſpürt es bitter oder ſüß, es ſättigt ihn oder läßt ihn unzufrieden. Auch hatten viele Worte Geſichter; oder ſie tönten wie Glockenſchläge aus der Dunkelheit; oder ſie ſtanden wie Flammen in einem Nebel. Es war ein langer Weg vom Ding bis zum Wort. Das Wort lief davon, man mußte nachlaufen, und hatte man es endlich erwiſcht, ſo war es eigentlich gar nichts und machte einen traurig. Gleichwohl führte derſelbe Weg auch zu den Menſchen; ja, es war, als ob die Menſchen hinter einem Gitter von Worten ſtünden, das ihre Züge fremd und ſchrecklich machte; wenn man aber das Gitter zerriß oder dahinter kam, waren ſie ſchön. Hatte es am Morgen neu geklungen, zu ſagen: die Blume, am Mittag war es ſchon vertraut, am Abend war es ſchon alt. „Dies Herz, dies Hirn, zur Fruchtbarkeit aufbewahrt durch lange Zeiten, treibt wie vertrockneter und endlich befeuchteter Humus Sprößlinge, Blüten und Früchte in einer Nacht,“ notierte der fleißige Daumer; „was dem matten Blick der Gewohnheit unwahrnehmbar geworden, erſcheint dieſem Auge friſch wie aus Gottes Hand. Und wo die Welt verſchloſſen iſt und ihre Geheimniſſe beginnen, da ſteht er noch ſeltſam drängend und fragt ſein zuverſichtliches Warum. Nach jedem Schall und jedem Schein tappt dies zweifelnde, erſtaunte, hungrige, ehrfurchtsloſe Warum.“ Es iſt nicht zu leugnen, Daumer war oft erſchreckt durch das Gefühl eignen Ungenügens. Heißt das noch lehren? grübelte er, heißt das noch Gärtner ſein, wenn das wilde Wachstum ſich dem Pfleger entwindet, das maßlos wuchernde Getriebe keine Grenze achtet? Wie ſoll das enden? Zweifellos bin ich hier einem ungewöhnlichen Phänomen auf der Spur und meine teuern Zeitgenoſſen werden ſich herbeilaſſen müſſen, ein wenig an Wunder zu glauben. Noch immer war es die liebſte Vorſtellung Caſpars, einſt heimkehren zu dürfen; „erſt lernen, dann heim,“ ſagte er mit dem Ausdruck unbeſiegbarer Entſchiedenheit. „Aber du biſt ja zu Hauſe, hier bei uns biſt du zu Hauſe,“ wandte Daumer ein. Aber Caſpar ſchüttelte den Kopf. Bisweilen ſtand er am Zaun und ſah in den Nachbargarten hinüber, wo Kinder ſpielten, deren Weſen er mit komiſchem Befremden ſtudierte. „So kleine Menſchen,“ ſagte er zu Daumer, der ihn einmal dabei überraſchte, „ſo kleine Menſchen.“ Seine Stimme klang traurig und höchſt verwundert. Daumer unterdrückte ein Lächeln und während ſie zuſammen ins Haus gingen, ſuchte er ihm klarzumachen, daß jeder Menſch einmal ſo klein geweſen, auch Caſpar ſelbſt. Caſpar wollte das durchaus nicht zugeben. „O nein, o nein,“ rief er aus, „Caſpar nicht, Caſpar immer ſo geweſen wie jetzt, Caſpar nie ſo kurze Arme und Beine gehabt, o nein!“ Dennoch ſei dem ſo, verſicherte Daumer; nicht allein, daß er klein geweſen, ſondern er wachſe ja noch täglich, verändere ſich täglich, ſei heute ein ganz andrer als der Hauſer auf dem Turm, und nach vielen Jahren werde er alt werden, ſeine Haare würden weiß ſein, die Haut voller Runzeln. Da wurde Caſpar blaß vor Furcht; er fing an zu ſchluchzen und ſtotterte, das ſei nicht möglich, er wolle es nicht, Daumer möge machen, daß es nicht geſchehe. Daumer flüſterte ſeiner Schweſter etwas zu, dieſe ging in den Garten und brachte nach kurzer Weile eine Roſenknoſpe, eine aufgeblühte und eine verwelkte Roſe mit herauf. Caſpar ſtreckte die Hand nach der vollblühenden aus, wandte ſich aber gleich mit Ekel ab, denn ſo ſehr er die rote Farbe vor allen andern liebte, der heftige Geruch der Blume war ihm unangenehm. Als ihm Daumer den Unterſchied der Lebensalter an Knoſpe und Blüte erklären wollte, ſagte Caſpar: „Das haſt du doch ſelbſt gemacht, es iſt ja tot, es hat keine Augen und keine Beine.“ „Ich hab’ es nicht gemacht,“ entgegnete Daumer, „es iſt lebendig, es iſt gewachſen; alles Lebendige iſt gewachſen.“ „Alles Lebendige gewachſen,“ wiederholte Caſpar faſt atemlos, indem er nach jedem Wort pauſierte. Hier drohte Verwirrung. Auch die Bäume im Garten ſeien lebendig, ſagte man ihm, und er getraute ſich nicht, den Bäumen zu nahen, das Rauſchen ihrer Kronen machte ihn beſtürzt. Er fuhr fort zu zweifeln und fragte, wer die vielen Blätter ausgeſchnitten habe und warum? warum ſo viele? Auch ſie ſeien gewachſen, wurde geantwortet. Aber mitten auf dem Raſen ſtand eine alte Sandſteinſtatue, die ſollte tot ſein, trotzdem ſie ausſah wie ein Menſch. Caſpar konnte ſtundenlang die Blicke nicht davon wenden, Verwunderung machte ihn ſtumm. „Warum hat es denn ein Geſicht?“ fragte er endlich, „warum iſt es ſo weiß und ſo ſchmutzig? Warum ſteht es immer und wird nicht müde?“ Als ſeine Furcht beſiegt war, ging er heran und wagte die Figur zu betaſten, denn ohne zu taſten, glaubte er nicht dem, was er ſah. Er hatte den heftigen Wunſch, das Ding auseinander nehmen zu dürfen, um zu wiſſen, was innen war. Wie viel war überall innen, wie viel ſteckte überall dahinter! Es fiel ein Apfel vom Zweig und rollte ein Stück des abſchüſſigen Weges entlang. Daumer hob ihn auf, und Caſpar fragte, ob der Apfel müde ſei, weil er ſo ſchnell gelaufen. Mit Grauen wandte er ſich ab, als Daumer ein Meſſer nahm und die Frucht entzweiſchnitt. Da ward ein Wurm ſichtbar und krümmte ſeinen dünnen Leib gegen das Licht. „Er war bis jetzt im Finſtern gefangen wie du im Kerker,“ ſagte Daumer. Das Wort machte Caſpar nachdenklich; es machte ihn nachdenklich und mißtrauiſch. Wie vieles war da im Kerker, wovon er nicht wußte! Alles Innen war ein Kerker. Und in wunderlicher Verworrenheit knüpfte ſich an dieſen Gedanken die Erinnerung an den Schlag, den er damals erhalten, nachdem ihn der Du gelehrt, wie man das Pferdchen frei bewegen könne. In allen fremden Dingen lauerte der Schlag, in allen unbekannten wohnte Gefahr. Eine gewiſſe ſtrahlende Heiterkeit, die allmählich Caſpars Weſen entſtrömte und die das Entzücken ſeiner Umgebung bildete, war daher ſtets an jene erwartungsvolle, ahnungsvolle Bangigkeit gebunden. Nach regneriſchen Stunden mit Daumer aus dem Tor tretend, gewahrte Caſpar einen Regenbogen am Himmel. Er war ſtarr vor Freude. Wer das gemacht habe, ſtammelte er endlich. Die Sonne. Wie, die Sonne? Die Sonne ſei doch kein Menſch. Die natürlichen Erklärungen ließen Daumer im Stich, er mußte ſich auf Gott berufen. „Gott iſt der Schöpfer der belebten und unbelebten Natur,“ ſagte er. Caſpar ſchwieg. Der Name Gottes klang ihm ſeltſam düſter. Das Bild, das er dazu ſuchte, glich dem Du, ſah aus wie der Du, als die Decke des Gefängniſſes auf ſeinen Schultern ruhte, war unheimlich verborgen wie der Du, als er den Schlag geführt, weil Caſpar zu laut geſprochen. Wie geheimnisvoll war alles, was zwiſchen Morgen und Abend geſchah! Das Regen und Raunen der Welt, das Fließen des Waſſers im Fluß, das Ziehen luftig-dunkler Gegenſtände hoch in der Luft, die man Wolken nannte, das Vorübergehen und Nichtwiederkommen undeutbarer Ereigniſſe, und vor allem das Flüchten der Menſchen, ihre ſchmerzlichen Gebärden, ihr lautes Reden, ihr ſonderbares Gelächter. Wie viel war da zu erfahren und zu lernen! Es ſchnürte Daumer das Herz zuſammen, wenn er den Jüngling in tiefem Nachdenken ſah. Caſpar ſchien dann wie erfroren, er hockte zuſammengekauert da, ſeine Hände waren geballt und er hörte und ſpürte nicht mehr, was um ihn vorging. Ja, es war zu ſolchen Zeiten eine vollſtändige Dunkelheit um Caſpar, und nur, wenn er lange genug verſunken war, hüpfte aus der Tiefe etwas wie ein Feuerfunken, und in der Bruſt begann eine undeutlich murmelnde Stimme zu ſprechen. Wenn der Funken wieder verloſch, tat ſich die äußere Welt wieder kund, aber eine ſchwermütige Unzufriedenheit hatte ſich Caſpars bemächtigt. „Wir müſſen einmal mit ihm hinaus aufs Land,“ ſagte Anna Daumer eines Tages, als der Bruder mit ihr darüber geſprochen. „Er braucht Zerſtreuung.“ „Er braucht Zerſtreuung,“ gab Daumer lächelnd zu, „er iſt zu geſammelt, das ganze Weltall laſtet noch auf ſeinem Gemüt.“ „Da es ſein erſter Spaziergang ſein wird, wäre es gut, die Sache möglichſt ſtill zu unternehmen, ſonſt ſind wieder alle Neugierigen bei der Hand,“ meinte die alte Frau Daumer. „Sie ſchwatzen ohnehin genug über ihn und über uns.“ Daumer nickte. Er wünſchte nur, daß Herr von Tucher mit von der Partie ſei. Am erſten Feiertag im September fand der Ausflug ſtatt. Es war ſchon fünf Uhr nachmittags, als ſie vom Haus aufbrachen, und da ſie auf Caſpars langſame Gangart Rückſicht nehmen mußten, gelangten ſie erſt ſpät ins Freie. Die begegnenden Leute blieben ſtehen, um der Geſellſchaft nachzuſchauen, und oft hörte man die ſtaunenden oder ſpöttiſchen Worte: „Das iſt ja der Caſpar Hauſer! Ei, der Findling! Wie fein er’s treibt, wie nobel!“ Denn Caſpar trug ein neues blaues Fräcklein, ein modiſches Gilet, ſeine Beine ſtaken in weißſeidenen Strümpfen und die Schuhe hatten ſilberne Schnallen. Er ging zwiſchen den beiden Frauen und hatte ſorgſam acht auf den Weg, der nicht mehr wie ehedem vor ſeinen Blicken auf- und abwärts ſchwankte. Die Männer ſchritten in gemeſſener Entfernung hinterdrein. Plötzlich erhob Daumer den rechten Arm nach vorn, und gleich darauf blieb Caſpar ſtehen und ſah ſich fragend um. Erfreut und in liebevollem Ton rief ihm Daumer zu, weiterzugehen. Nach ein paar hundert Schritten hob er wieder den Arm, und abermals blieb Caſpar ſtehen und blickte ſich um. „Was iſt das? Was bedeutet das?“ fragte Herr von Tucher erſtaunt. „Darüber gibt es keine Erklärung,“ antwortete Daumer voll ſtillen Triumphes. „Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch viel Merkwürdigeres zeigen.“ „Hexerei wird doch wohl kaum im Spiele ſein,“ meinte Herr von Tucher ein bißchen ironiſch. „Hexerei? Nein. Aber wie ſagt Hamlet: Es gibt mehr Dinge zwiſchen Himmel und Erde_—“ „Alſo ſind Sie ſchon an den Grenzen der Schulweisheit angelangt?“ unterbrach Herr von Tucher noch immer mit Ironie. „Ich für meinen Teil ſchlage mich zu den Skeptikern. Wir werden ja ſehen.“ „Wir werden ſehen,“ wiederholte Daumer fröhlich. Nach oftmaligem kurzem Raſten ward am Rand einer Wieſe Halt gemacht, und alle ließen ſich im Gras nieder. Caſpar ſchlief ſogleich ein; Anna breitete ein Tuch über ſein Geſicht und packte ſodann einige mitgebrachte Eßwaren aus einem Körbchen. Schweigend begannen alle vier zu eſſen. Ein natürliches Schweigen war es nicht: der lieblich vergehende Tag, das ſommerliche Blühen forderten eher zu heiteren Geſprächen auf, aber um den Schläfer lag ein eigner Bann, jeder ſpürte die Gegenwart des Jünglings jetzt ſtärker als vorher, und es hatte bei einigen gleichgültigen Redensarten ſein Bewenden, die leiſer klangen als ſelbſt die Atemzüge des Schlummernden. Weit und breit war kein Menſch zu ſehen, da man abſichtlich einen ſelten begangenen Weg gewählt hatte. Die Sonne war am Sinken, als Caſpar erwachte und, ſich aufrichtend, die Freunde der Reihe nach dankbar und etwas beſchämt anblickte. „Sieh nur hinüber, Caſpar, ſieh den roten Feuerball,“ ſagte Daumer; „haſt du die Sonne ſchon einmal ſo groß geſehen?“ Caſpar ſchaute hin. Es war ein ſchöner Anblick: die purpurne Scheibe rollte herab, als zerſchnitte ſie die Erde am Rand des Himmels; ein Meer von Scharlachglut ſtrömte ihr nach, die Lüfte waren entzündet, blutiges Geäder bezeichnete einen Wald und roſige Schatten bauſchten langſam über die Ebene. Nur noch wenige Minuten, und ſchon zuckte die Dämmerung durch den ſanften Karmin des Nebels, in den die Ferne getaucht war, einen Augenblick lang bebte das Gelände, und grünkriſtallene Strahlenbündel ſchoſſen über den Weſten, der verſunkenen Sonne nach. Ein geiſterhaftes Lächeln glitt über die Züge der beiden Männer und der zwei Frauen, als ſie Caſpar mit einer Gebärde ſtummer Angſt hinübergreifen ſahen gegen den Horizont. Daumer näherte ſich ihm und ergriff ſeine Hand, die eiskalt geworden war. Caſpars Geſicht wandte ſich erzitternd ihm zu, voller Fragen, voller Furcht, und endlich bewegten ſich die Lippen und er murmelte ſchüchtern: „Wo geht ſie hin, die Sonne? Geht ſie ganz fort?“ Daumer vermochte nicht gleich zu antworten. So mag Adam vor ſeiner erſten Nacht im Paradies gezittert haben, dachte er, und es geſchah nicht ohne Schauder, nicht ohne ſeltſame Ungewißheit, daß er den Jüngling tröſtete, ihn der Wiederkunft der Sonne verſicherte. „Iſt dort Gott?“ fragte Caſpar hauchend, „iſt die Sonne Gott?“ Daumer deutete mit dem Arm weit ringsum und erwiderte: „Alles iſt Gott.“ Indeſſen mochte ein ſolches Diktum pantheiſtiſcher Philoſophie für die Auffaſſungsgabe des Jünglings ein wenig zu verwickelt ſein. Er ſchüttelte ungläubig den Kopf, dann ſagte er mit dem Ausdruck dumpf-abgöttiſcher Verehrung: „Caſpar liebt die Sonne.“ Auf dem Heimweg war er ganz ſtumm; auch die übrigen, ſelbſt die immer wohlgelaunte Anna, waren in einer wunderlich gedrückten Stimmung, als wären ſie nie zuvor durch einen ſpätſommerlichen Abend gewandert, oder als fühlten ſie den Auftritt voraus, der ihnen das Beiſammenſein dieſer Stunden unvergeßlich machen ſollte. Kurz vor dem Stadttor nämlich blieb Anna ſtehen und deutete mit einem Zuruf an alle in das herrlich geſtirnte Firmament. Auch Caſpar blickte hinauf, er erſtaunte maßlos. Kleine, jähe, wirre Laute eines leidenſchaftlichen Entzückens kamen aus ſeinem Mund. „Sterne, Sterne,“ ſtammelte er, das gehörte Wort von Annas Lippen raubend. Er preßte die Hände gegen die Bruſt, und ein unbeſchreiblich ſeliges Lächeln verſchönte ſeine Züge. Er konnte ſich nicht ſattſehen; immer wieder kehrte er zum Anſchauen des Glanzes zurück, und aus ſeinen ſeufzerartig abgebrochenen Worten war vernehmbar, daß er die Sterngruppen und die ausgezeichnet hellen Sterne bemerkte. Er fragte mit einem Ton des Außerſichſeins, wer die vielen ſchönen Lichter da hinaufbringe, anzünde und wieder verlöſche. Daumer antwortete ihm, daß ſie beſtändig leuchteten, jedoch nicht immer geſehen würden; da fragte er, wer ſie zuerſt hinaufgeſetzt, daß ſie immerfort brennten. Plötzlich fiel er in tiefe Grübelei. Er blieb eine Weile mit geſenktem Kopf ſtehen und ſah und hörte nichts. Als er wieder zu ſich kam, hatte ſich ſeine Freude in Schwermut verwandelt, er ließ ſich auf den Raſen nieder und brach in langes, nicht zu ſtillendes Weinen aus. Es war weit über neun Uhr, als ſie endlich nach Haus gelangten. Während Caſpar mit den Frauen hinaufging, nahm Herr von Tucher am Gartentor von Daumer Abſchied. „Was mag in ihm vorgegangen ſein?“ meinte er. Und da Daumer ſchwieg, fuhr er ſinnend fort: „Vielleicht ſpürt er ſchon die Unwiederbringlichkeit der Jahre; vielleicht zeigt ihm die Vergangenheit ſchon ihre wahre Geſtalt.“ „Ohne Zweifel war es ihm ein Schmerz, das beglänzte Gewölbe zu ſchauen,“ antwortete Daumer; „nie zuvor hat er den Blick zum nächtlichen Himmel erheben können. Ihm zeigt die Natur kein freundliches Antlitz, und von ihrer ſogenannten Güte hat er wenig erfahren.“ Eine Zeitlang ſchwiegen ſie, dann ſagte Daumer: „Ich habe für morgen nachmittag einige Freunde und Bekannte zu mir gebeten. Es handelt ſich um eine Reihe von höchſt intereſſanten Erfahrungen und Beobachtungen, die ich an Caſpar gemacht habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie dabei ſein wollten.“ Herr von Tucher verſprach zu kommen. Zu ſeiner Verwunderung ward er, als er am andern Tag etwas verſpätet erſchien, in eine vollſtändig verfinſterte Kammer geführt. Die Produktion hatte ſchon begonnen. Von irgendeinem Winkel her vernahm man Caſpars eintönige Stimme leſend. „Es iſt eine Seite aus der Bibel, die der Herr Stadtbibliothekar aufgeſchlagen hat,“ flüſterte Daumer Herrn von Tucher zu. Die Dunkelheit war ſo groß, daß die Zuhörer einander nicht gewahren konnten, trotzdem las Caſpar unbeirrt, als ob ſeine Augen ſelbſt eine Quelle des Lichtes ſeien. Man war erſtaunt. Man wurde es noch mehr, als Caſpar in der gleichen Dunkelheit die Farben verſchiedener Gegenſtände unterſcheiden konnte, die bald der eine, bald der andre von den Anweſenden — um jeden Verdacht einer Verabredung oder Vorbereitung auszuſchließen — ihm auf eine Entfernung von fünf oder ſechs Schritten vorhielt. „Ich will jetzt die Weinprobe machen,“ ſagte Daumer und öffnete die Läden. Caſpar preßte die Hände vor die Augen und brauchte lange Zeit, bis er das Licht ertragen konnte. Jemand brachte Wein im undurchſichtigen Glas, und Caſpar roch es nicht nur ſogleich, ſondern es zeigten ſich auch die Merkmale einer leichten Trunkenheit: ſeine Blicke flimmerten, ſein Mund verzog ſich ſchief. Konnte das mit rechten Dingen zugehen? War ſolche Empfindlichkeit denkbar oder möglich? Man wiederholte den Verſuch zweimal, dreimal, und ſiehe, die Wirkung verſtärkte ſich. Beim viertenmal wurde draußen Waſſer ins Glas gegoſſen, und nun ſagte Caſpar, er ſpüre nichts. Doch viel wunderbarer war zu beobachten, wie er ſich gegen Metalle verhielt. Ein Herr verſteckte, während Caſpar das Zimmer verlaſſen hatte, ein Stück Kupferblech. Caſpar ward hereingerufen, und alle verfolgten mit Spannung, wie er zu dem Verſteck förmlich hingezogen wurde; es ſah aus, wie wenn ein Hund ein Stück Fleiſch erſchnuppert. Er fand es, man klatſchte Beifall, man achtete nicht darauf, daß er blaß war und mit kühlem Schweiß bedeckt. Nur Herr von Tucher bemerkte es und mißbilligte das Treiben. Es hatte natürlich nicht bei dieſem einen Mal ſein Bewenden. Die Sache redete ſich ſchnell herum, und das Haus wurde zum Muſeum. Alles, was Namen und Anſehen in der Stadt hatte, lief herzu, und Caſpar mußte immer bereit ſein, immer tun, was man von ihm haben wollte. Wenn er müde war, durfte er ſchlafen, aber wenn er ſchlief, unterſuchten ſie die Feſtigkeit ſeines Schlafes, und Daumer ſchwamm in Glück, wenn der Herr Medizinalrat Rehbein behauptete, eine derartige Verſteinerung des Schlummers habe er nie für möglich gehalten. Selbſt gewiſſe krankhafte Zuſtände ſeines Körpers gaben Daumer Anlaß zur Vorführung oder wenigſtens zum Studium. Er ſuchte durch hypnotiſche Berührungen und mesmeriſtiſche Streichungen Einfluß zu nehmen, denn er war ein glühender Verfechter jener damals nagelneuen Theorien, die mit der Seele des Menſchen hantierten wie ein Alchimiſt mit dem wohlbekannten Inhalt einer Retorte. Oder wenn auch dies nichts half, wandte er Heilmittel von einer beſonderen Kategorie an, erprobte die Wirkungen von Arnika und Akonitum und Nux vomica; immer befliſſen, immer erfüllt von einer Miſſion, immer mit dem Notizenzettel in der Hand, immer in rührender Obſorge. Was für ſeriöſe Spiele! Welch ein Eifer, zu beweiſen, zu deuten, das Sonnenklare dunkel zu machen, das Einfache zu verwirren! Das Publikum gab ſich redliche Mühe im Glauben, nach allen Windrichtungen wurden die anſcheinenden Zaubereien auspoſaunt — nicht zum Vorteil unſers Caſpar, keineswegs zu ſeinem Heil, wie ſich bald herausſtellen ſollte_—, aber leider gibt es überall verwerfliche Kreaturen, die noch zweifeln würden und wenn man ihnen die Skepſis überm Eſſenfeuer ausräuchern würde. Vielleicht wollten ſie jedesmal etwas Neues vorgeſetzt bekommen, ſchraubten ihre Erwartungen zu hoch und fanden, daß der Wundermann nur in ſeinen eingelernten Paradeſtückchen exzellierte, in denen er allerdings, ſo drückten ſie ſich aus, etwas von der Fertigkeit eines dreſſierten Äffchens an den Tag legte. Mit einem Wort, das Programm wurde ein wenig einförmig, höchſtens Neulinge konnten ihm noch Geſchmack abgewinnen. Die andern erblickten in Daumer etwas wie einen Zirkusdirektor oder einen Literaten, der ſeine Freunde mit der beſtändig wiederholten Vorleſung eines mittelmäßigen Poems langweilt, während über Caſpar ſich zu amüſieren ſie immerhin noch genug Gelegenheit fanden. Oder war es nicht amüſant, wenn er zum Beiſpiel einen hohen Offizier tadelte, daß ſein Rockkragen beſtäubt war, wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdirektors berührte und mitleidig-verwundert ſagte: „Weiße Haare, weiße Haare?“ Wenn er während der Anweſenheit einer vornehmen Standeſperſon nur darauf achtete, wie dieſe den Stock zwiſchen den Fingern baumeln ließ und es auch ſo machen wollte, wenn er ſeinen Ekel gegen den ſchwarzen Bart des Magiſtratsrats Behold äußerte oder ſich weigerte, einer Dame die Hand zu küſſen, indem er ſagte, man müſſe ja nicht hineinbeißen? Durch ſolche kleine Zwiſchenfälle hielten ſie ſich für belohnt. Wenn man lachen konnte, war alles gut. Hingegen Daumer ärgerte ſich darüber und ſuchte ihm die Pflichten der Höflichkeit begreiflich zu machen. „Du vergißt ſtets, die Ankömmlinge zu begrüßen,“ ſagte Daumer. In der Tat blickte Caſpar, in ein Buch oder Spiel verſenkt, erſt empor, wenn man ihn anrief, bisweilen, wenn er ein bekanntes oder liebgewordenes Geſicht ſah, mit einem berückend ſchelmiſchen Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern. Mochten noch ſo wichtige Perſonen zugegen ſein, er verließ nie ſeinen Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beſchäftigt geweſen, ſorgfältig in Ordnung zu bringen und mit einem kleinen Beſen den Tiſch von Papierſchnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man mußte warten, bis er fertig war. Er war ohne Schüchternheit. Alle Menſchen ſchienen ihm gut, faſt alle hielt er für ſchön. Er fand es ſelbſtverſtändlich, wenn ſich irgendein Herr vor ihn hinſtellte und ihm aus einem bereitgehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihenfolge Namen für Namen, Zahl für Zahl, und waren es hundert, wiederholen. Am Erſtaunen der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes geleiſtet, aber kein Schimmer von Eitelkeit zog über ſein Geſicht, nur ein wenig traurig wurde es, wenn immer dasſelbe kam, wenn ſie nie zufrieden ſchienen. Er konnte es nicht verſtehen, daß ihnen wunderbar war, was ihm ſo natürlich war. Aber was ihm wunderbar war, darum kümmerte ſich keiner. Er vermochte es nicht zu ſagen, es wurzelte im verborgenſten Gefühl. Es war eine kaum geſpürte Frage, am Morgen, beim Erwachen etwa, ein haſtiges, ſtummes, verzweifeltes Suchen, wofür es keine Bezeichnung gab. Es lag weit zurück; es war mit ihm verknüpft und er beſaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er wußte es nicht. Er taſtete an ſich herum, er fand ſich ſelber kaum. Er ſagte ‚Caſpar‘ zu ſich ſelbſt, aber das dort in der Ferne hörte nicht auf dieſen Namen. So band ſich die Erwartung an ein Äußeres; wenn die Uhr im andern Zimmer tönte, welch ſonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer ſich auflöſen, zu Luft vergehen müßte. Die eben vergangene Nacht war voll ungreifbarer Vorgänge geweſen. Hatte es am Fenſter gepocht? Nein. War jemand dageweſen, hatte geſprochen, gerufen, gedroht? Nein. Es war etwas geſchehen, doch Caſpar hatte nichts damit zu tun. Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann klar. Lernen, wie alles beſtand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch ſpürte, das Unbekannte lernen, erhaſchen, was ſo fern, wiſſen, was ſo dunkel war, die Menſchen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend. Er begann Ungeduld zu zeigen, wenn er von den fremden Beſuchern ſich immer wieder empfindlich geſtört fand, denn jetzt kamen die Leute ſchon von auswärts, weil allenthalben im Land über Caſpar Hauſer geredet und geſchrieben wurde. Auch Daumer konnte ſich der Anſprüche, die an ihn geſtellt wurden, kaum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und es gab Stunden, wo er bereute, Caſpar der Welt preisgegeben zu haben. Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, ſich ſeiner beſſeren Würde erinnerte und dieſem ſeltſam Leibeigenen, Seeleneigenen ſich tiefer anſchloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradieſiſchen Bildes gewahr wurde: Caſpar im Garten, auf der Bank ſitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreiſe um ihn, Tauben picken vor ſeinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf ſeiner Schulter, die Hauskatze ſchnurrt an ſeinem Arm. In ihm iſt die Menſchheit frei von Sünde, ſagte ſich Daumer bei dieſem Anblick, und was wäre ſonſt zu leiſten, als einen ſolchen Zuſtand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtſeln, was zu verkünden? Eines andern Tages erhob ſich im Nachbargarten großer Lärm. Ein biſſiger Hund hatte ſeine Kette zerriſſen und raſte, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, ſchlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleiſch und ſtürzte gegen den Zaun des Daumerſchen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier ſchlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Geſellſchaft, die unter der Linde ſaß: Daumer ſelbſt, deſſen Mutter, der Bürgermeiſter Binder und Caſpar. Alle ſtanden ängſtlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal ſtehen, ſchnupperte, trabte auf Caſpar zu, der bleich und ſtille ſaß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewiſſen Blick ſah es ihn an, voll Ergebenheit faſt, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denſelben ungewiſſen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caſpar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum. Man erzählte ſich, daß Daumer nach dieſem Auftritt geweint habe. Zwei Tage ſpäter, an einem regneriſchen Oktoberabend, war es, daß ſich Daumer mit ſeiner Mutter und Caſpar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame ſaß ſtrickend im Lehnſtuhl am offenen Fenſter, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glaſermeiſter brachte einen großen Wandſpiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte ſich wieder. Kaum war er draußen, ſo fragte Daumer verwundert, warum ſie den Spiegel nicht gleich an ſeinen Platz habe hängen laſſen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erſpart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer beſaß nicht genug Humor für derlei halbernſte Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, ſie widerſprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er ſprach mit ſeiner ſanfteſten Stimme zwiſchen die geſchloſſenen Zähne hindurch. Caſpar, der es nicht ſehen konnte, wenn Daumers Geſicht unfreundlich wurde, legte den Arm um deſſen Schulter und ſuchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer ſchlug die Augen nieder, ſchwieg eine Weile und ſagte dann, völlig beſchämt: „Geh hin zur Mutter, Caſpar, und ſag ihr, daß ich im Unrecht bin.“ Caſpar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und ſagte: „Ich bin im Unrecht.“ Da lachte Daumer. „Nicht du, Caſpar! Ich!“ rief er und deutete auf ſeine Bruſt. „Wenn Caſpar im Unrecht iſt, darf er ſagen: ich. Ich ſage zu dir: du, aber du ſagſt doch zu dir: ich. Verſtanden?“ Caſpars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig ſchmeckender Trank. Es nahten ſich ihm viele Hunderte von Geſtalten, es nahte ſich eine ganze Stadt voll Menſchen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten ſich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne ſelbſt, und alle miteinander ſagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich. Er faßte ſich mit flachen Händen an die Bruſt und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: ſein Leib, eine Wand zwiſchen Innen und Außen, eine Mauer zwiſchen Ich und Du! In demſelben Augenblick tauchte aus dem Spiegel, dem gegenüber er ſtand, ſein eignes Bild empor. Ei, dachte er ein wenig beſtürzt, wer iſt das? Natürlich war er ſchon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber ſein von den vielen Dingen der vielgeſichtigen Welt geblendeter Blick war mitvorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte ſich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden. Jetzt war ſein Auge reif für dieſe Viſion. Er ſah hin. „Caſpar,“ liſpelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Caſpars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gekräuſelt waren. Nähertretend, ſchaute er in ſpieleriſch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts. Dann ſtellte er ſich wieder davor, und nun ſchien ihm, als ob hinter ſeinem Bild im Spiegel ſich das Licht zerteile und als ob ein langer, langer Pfad nach rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne ſtand noch ein Caſpar, noch ein Ich, das hatte zugeſchloſſene Augen und ſah aus, als wiſſe es etwas, was der Caſpar hier im Zimmer nicht wußte. Daumer, gewohnt, das Betragen des Jünglings zu beobachten, lauerte geſpannt herüber. Da — ein ſeltſames Geräuſch; es ſurrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tiſch zu Boden. Es war ein Stück Papier, das von draußen hereingeflogen war. Frau Daumer hob es auf; es war wie ein Brief zuſammengefaltet. Unſchlüſſig drehte ſie es zwiſchen den Fingern und reichte es dem Sohn. Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geſchriebene Worte: „Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde.“ Frau Daumer hatte ſich erhoben und las mit; ein Fröſteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er ſchweigend auf den Zettel ſtarrte, hatte das Gefühl, als ſei vor ſeinen Füßen ein Schwert, die Spitze nach oben, aus der Erde gewachſen. Caſpar hatte von dem Vorgang nicht das mindeſte wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geiſteſabweſend an den beiden vorüber zum Fenſter. Dort ſtand er beſinnend, beugte ſich beſinnend vor, immer weiter, völlig ſelbſtvergeſſen, ganz vom Willen des Suchens erfüllt, bis die Bruſt auf dem Sims lag und ſeine Stirn in die Nacht hinaus tauchte. 5. Caſpar träumt Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wurden Nachforſchungen angeſtellt, die aber natürlich fruchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amtlich an das Appellationsgericht gemeldet, und nach einiger Zeit ſchrieb der Regierungsrat Hermann, der mit dem Baron Tucher befreundet war, an dieſen einen Privatbrief, in welchem er unter anderm die Meinung vertrat, man ſolle nicht ablaſſen, den Hauſer ſcharf zu bewachen und auszuforſchen, denn es ſei wohl möglich, daß er durch eine tiefeingepflanzte Furcht gezwungen ſei, manches ihm bekannte Verhältnis zu verſchweigen. Herr von Tucher ſuchte Daumer auf und las ihm dieſe Stelle vor. Daumer konnte ein ſpöttiſches Lächeln nicht unterdrücken. „Ich bin mir wohl bewußt, daß ein Myſterium, von Menſchenhand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit Caſpar zuſammenhängt,“ ſagte er mit leiſem Widerwillen, „ganz abgeſehen davon, daß mir auch der Präſident Feuerbach unlängſt darüber geſchrieben hat, und zwar in höchſt eigentümlichen Wendungen, die auf etwas Beſonderes ſchließen laſſen. Aber was heißt das: ihn ausforſchen, ihn bewachen? Hat man darin nicht ſchon das Äußerſte verſucht? Ärztliche Vorſicht und menſchliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerſte Behutſamkeit gegen ihn. Ich wage es ja kaum, ihn von der einfachen Koſt zu entwöhnen und ihn ſo zu ernähren, wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt iſt.“ „Warum wagen Sie das nicht?“ fragte Herr von Tucher ziemlich erſtaunt. „Wir ſind doch übereingekommen, ihn endlich zum Genuß von Fleiſch oder wenigſtens von andern gekochten Speiſen zu bringen?“ Daumer zögerte mit der Antwort. „Milchreis und warme Suppe verträgt er ſchon ganz gut,“ ſagte er dann, „aber zur Fleiſchkoſt will ich ihn nicht ermuntern.“ „Warum nicht?“ „Ich fürchte Kräfte zu zerſtören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden ſind.“ „Kräfte zerſtören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Geſundheit des Leibes und die Friſche ſeines Gemüts zu entſchädigen? Wäre es nicht vielmehr ratſam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder ſpäter verhängnisvoll werden muß? Iſt es gut, einen andern Maßſtab an ihn zu legen als es einer natürlichen Erziehung entſpricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caſpar iſt ein Kind, das dürfen wir nicht vergeſſen.“ „Er iſt ein Mirakel,“ entgegnete Daumer haſtig und ergriffen; dann, in einem halb belehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte, fuhr er fort: „Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis auf Unerforſchliches den plumpen Alltagsverſtand beleidigt. Sonſt müßte jeder an dieſem Menſchen ſehen und ſpüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben ſind, in denen unſer ganzes Weſen ruht.“ Herr von Tucher ſchwieg eine Zeitlang; ſein Geſicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes, als er ſagte: „Es iſt beſſer, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr völlig genugzutun, als mit fruchtloſem Enthuſiasmus im Nebel des Überſinnlichen zu irren.“ „Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen kann?“ verſetzte Daumer, deſſen Stimme leiſer und ſchmeichelnder wurde, je mehr das Geſpräch ihn erhitzte. „Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Waſſer für dieſen Menſchen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in lebendiger Beziehung ſteht?“ Baron Tuchers Geſicht wurde düſter. „Ich ſehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit,“ ſagte er kurz und ſcharf. „Das ſind die Quellen nicht, aus denen Leben geboren wird, in ſolchen Formen kann ſich keine Brauchbarkeit bewähren!“ Daumer duckte den Kopf, und in ſeinen Augen lag Ungeduld und Verachtung, doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: „Wer weiß, Baron. Die Quellen des Lebens ſind unergründlich. Meine Hoffnungen wagen ſich weit hinauf und ich erwarte Dinge von unſerm Caſpar, die Ihr Urteil ſicherlich verändern werden. Aus dieſem Stoff werden Genien gemacht.“ „Man tut einem Menſchen ſtets unrecht, wenn man Erwartungen an ſeine Zukunft knüpft,“ ſagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln. „Mag ſein, mag ſein, ich aber halte mich an die Zukunft. Mich kümmert nicht, was hinter ihm liegt, und was ich von ſeiner Vergangenheit weiß, ſoll mir nur dienen, ihn davon zu löſen. Das iſt ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Weſen ohne Vergangenheit hat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom erſten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Inſtinkt, ausgerüſtet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforſchung die Aufgabe kommender Jahrhunderte iſt. Mag ſein, daß ich mich täuſche, dann aber würde ich mich in der Menſchheit getäuſcht haben und meine Ideale für Lügen erklären müſſen.“ „Der Himmel bewahre Sie davor,“ antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abſchied. Noch am ſelben Tag wurde Daumer durch ſeine Mutter aufmerkſam gemacht, daß Caſpars Schlaf nicht mehr ſo ruhig ſei wie ſonſt. Als Caſpar am andern Morgen ziemlich unerfriſcht zum Frühſtück kam, fragte ihn Daumer, ob er ſchlecht geſchlafen habe. „Schlecht geſchlafen nicht,“ erwiderte Caſpar, „aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angſt.“ „Wovor hatteſt du denn Angſt?“ forſchte Daumer. „Vor dem Finſtern,“ entgegnete Caſpar, und bedächtig fügte er hinzu: „In der Nacht ſitzt das Finſtere auf der Lampe und brüllt.“ Den nächſten Morgen kam er halbangekleidet aus ſeinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und erzählte beſtürzt, es ſei ein Mann bei ihm geweſen. Zuerſt erſchrak Daumer, dann wurde ihm klar, daß Caſpar geträumt habe. Er fragte, was für ein Mann es denn geweſen ſei, und Caſpar antwortete, es ſei ein großer ſchöner Mann geweſen mit einem weißen Mantel. Ob der Mann mit ihm geſprochen? Caſpar verneinte; geſprochen habe er nicht, er habe einen Kranz getragen, den habe er auf den Tiſch gelegt, und als Caſpar danach gegriffen, habe der Kranz zu leuchten angefangen. „Du haſt geträumt,“ ſagte Daumer. Caſpar wollte wiſſen, was das heiße. „Wenn auch dein Körper ruht,“ erklärte Daumer, „ſo wacht doch deine Seele, und was du am Tag erlebt oder empfunden, daraus macht ſie im Schlummer ein Bild. Dieſes Bild nennt man Traum.“ Nun verlangte Caſpar zu wiſſen, was das ſei, die Seele. Daumer ſagte: „Die Seele gibt deinem Körper das Leben. Leib und Seele ſind einander vermiſcht. Jedes von beiden iſt, was es iſt, aber ſie ſind ſo untrennbar gemiſcht wie Waſſer und Wein, wenn man ſie zuſammengießt.“ „Wie Waſſer und Wein?“ fragte Caſpar mißbilligend. „Damit verderbt man aber das Waſſer.“ Daumer lachte und meinte, das ſei nur ein Gleichnis geweſen. In der Folge nahm er wahr, daß es mit Caſpars Träumen eigen beſchaffen war. Sonſt ſind Träume an ein Zufälliges geknüpft, ſagte er ſich, ſpielen geſetzlos mit Ahnung, Wunſch und Furcht, bei ihm ähneln ſie dem Herumtaſten eines Menſchen, der ſich im finſteren Wald verirrt hat und den Weg ſucht; da iſt etwas nicht in Ordnung, ich muß der Sache auf den Grund gehen. Das Auffallende war, daß gewiſſe Bilder ſich allmählich zu einem einzigen Traum ſammelten, der von Nacht zu Nacht vollſtändiger und geſtalthafter wurde und mit immer größerer Deutlichkeit regelmäßig wiederkehrte. Im Anfang konnte Caſpar nur abgebrochen davon erzählen, ſo ſtückhaft wie die Bilder ſich ihm zeigten, dann eines Tages, wie der Maler den Vorhang von einem vollendeten Gemälde zieht, vermochte er ſeinem Pflegeherrn eine ausführliche Beſchreibung zu geben. Er hatte über ſeine Gewohnheit lange geſchlafen, deshalb ging Daumer in ſein Zimmer, und kaum war er ans Bett getreten, ſo ſchlug Caſpar die Augen auf. Sein Geſicht glühte, der Blick ruhte noch im Innern, war aber voll und kräftig und der Mund war zu ſprechen ungeduldig. Mit langſamer, ergriffener Stimme erzählte er. Er iſt in einem großen Haus geweſen und hat geſchlafen. Eine Frau iſt gekommen und hat ihn aufgeweckt. Er bemerkt, daß das Bett ſo klein iſt, daß er nicht begreift, wie er darin Platz gehabt. Die Frau kleidet ihn an und führt ihn in einen Saal, wo ringsum Spiegel mit goldenem Rande hängen. Hinter gläſernen Wänden blitzen Silberſchüſſeln und auf einem weißen Tiſch ſtehen feine kleine, zierlich bemalte Porzellantäßchen. Er will bleiben und ſchauen, die Frau zieht ihn weiter. Da iſt ein Saal, wo viele Bücher ſind, und von der Mitte der gebogenen Decke hängt ein ungeheurer Kronleuchter herab. Caſpar will die Bücher betrachten, da verlöſchen langſam die Flammen des Leuchters eine nach der andern und die Frau zieht ihn weiter. Sie führt ihn durch einen langen Flur und eine gewaltige Treppe hinab, ſie ſchreiten im Innern des Hauſes den Wandelgang entlang. Er ſieht Bilder an den Wänden, Männer im Helm und Frauen mit goldenem Schmuck. Er ſchaut durch die Mauerbogen der Halle in den Hof, dort plätſchert ein Springbrunnen; die Säule des Waſſers iſt unten ſilberweiß und oben von der Sonne rot. Sie kommen zu einer zweiten Treppe, deren Stufen wie goldene Wolken aufwärts ſteigen. Es ſteht ein eiſerner Mann daneben, er hat ein Schwert in der Rechten, doch ſein Geſicht iſt ſchwarz, nein, er hat überhaupt kein Geſicht. Caſpar fürchtet ſich vor ihm, will nicht vorbeigehen, da beugt ſich die Frau und flüſtert ihm etwas ins Ohr. Er geht vorbei, er geht zu einer ungeheuern Tür und die Frau pocht an. Es wird nicht aufgemacht. Sie ruft und niemand hört. Sie will öffnen, die Tür iſt zugeſchloſſen. Es ſcheint Caſpar, daß ſich etwas Wichtiges hinter der Tür ereignet, er ſelbſt beginnt zu rufen, doch in dieſem Augenblick erwacht er. Seltſam, dachte Daumer, da ſind Dinge, die er nie zuvor geſehen haben kann, wie den gerüſteten Mann ohne Geſicht. Seltſam! Und ſein Worteſuchen, ſeine hilfloſen Umſchreibungen bei ſolcher Klarheit des Geſchauten. Seltſam. „Wer war die Frau?“ fragte Caſpar. „Es war eine Traumfrau,“ entgegnete Daumer beſchwichtigend. „Und die Bücher und der Springbrunnen und die Tür?“ drängte Caſpar. „Waren’s Traumbücher, war’s eine Traumtür? Warum iſt ſie nicht aufgemacht worden, die Traumtür?“ Daumer ſeufzte und vergaß zu antworten. Was bekam da Gewalt über ſeinen Caſpar, ſein Seelenpräparat? Sehr an Welt und Stoff gebunden war dieſer Traum. Caſpar kleidete ſich langſam an. Plötzlich erhob er den Kopf und fragte, ob alle Menſchen eine Mutter hätten? Und als Daumer bejahte, ob alle Menſchen einen Vater hätten. Auch dies mußte bejaht werden. „Wo iſt {dein} Vater?“ fragte Caſpar. „Geſtorben,“ antwortete Daumer. „Geſtorben?“ flüſterte Caſpar nach. Ein Hauch des Schreckens lief über ſeine Züge. Er grübelte. Dann begann er wieder: „Aber wo iſt {mein} Vater?“ Daumer ſchwieg. „Iſt es der, bei dem ich geweſen? Der Du?“ drängte Caſpar. „Ich weiß es nicht,“ antwortete Daumer und fühlte ſich ungeſchickt und ohne Überlegenheit. „Warum nicht? Du weißt doch alles? Und hab’ ich auch eine Mutter?“ „Sicherlich.“ „Wo iſt ſie denn? Warum kommt ſie nicht?“ „Vielleicht iſt ſie gleichfalls geſtorben.“ „So? Können denn die Mütter auch ſterben?“ „Ach, Caſpar!“ rief Daumer ſchmerzlich. „Geſtorben iſt meine Mutter nicht,“ ſagte Caſpar mit wunderlicher Entſchiedenheit. Plötzlich flammte es über ſein Geſicht und er ſagte bewegt: „Vielleicht war meine Mutter hinter der Tür?“ „Hinter welcher Tür, Caſpar?“ „Dort! im Traum_...“ „Im Traum? Das iſt doch nichts Wirkliches,“ belehrte Daumer zaghaft. „Aber du haſt doch geſagt, die Seele iſt wirklich und macht den Traum_—? Ja, ſie war hinter der Tür, ich weiß es; das nächſte Mal will ich ſie aufmachen.“ Daumer hoffte, das Traumweſen würde ſich verlieren, doch dem war nicht ſo. Dieſer eine Traum, Caſpar nannte ihn den Traum vom großen Haus, wuchs immer weiter, umſchlang und krönte ſich mit allerlei Blüten- und Rankenwerk gleich einer zauberhaften Pflanze. Immer wieder ſchritt Caſpar einen Weg entlang und immer wieder endete der Weg vor der hohen Türe, die nicht geöffnet wurde. Einmal zitterte die Erde von Tritten, die innen waren, die Türe ſchien ſich zu bauſchen wie ein Gewand, durch einen Spalt über der Schwelle brach Flammengeloder, da erwachte er, und die nicht zu vergeſſende Traumnot ſchlich durch die Stunden des Tages mit. Die Geſtalten wechſelten. Manchmal kam ſtatt der Frau ein Mann und führte ihn durch die Bogenhalle. Und wie ſie die Treppe hinaufgehen wollten, kam ein andrer Mann und reichte ihm mit ſtrengem Blick etwas Gleißendes, das lang und ſchmal war und das, als Caſpar es faſſen wollte, in ſeiner Hand zerfloß wie Sonnenſtrahlen. Er trat nahe an die Geſtalt heran, auch ſie ward zu Luft, doch ſprach ſie lautſchallend ein Wort, welches Caſpar nicht zu deuten verſtand. Daran hingen ſich wieder beſondere kleine Träume, Träume von unbekannten Worten, die er im Wachen nie gehört und deren er, wenn der Traum vorüber war, vergebens habhaft zu werden ſuchte. Sie hatten meiſt einen ſanften Klang, bezogen ſich aber, ſo fühlte er, nie auf ihn ſelbſt, ſondern auf das, was hinter der verſchloſſenen Türe vor ſich ging. Traumboten waren es, Vögeln des Meeres gleich, die in beſtändiger Wiederkehr Gegenſtände eines halbverſunkenen Schiffes an die ferne Küſte tragen. In einer Nacht lag Daumer ſchlaflos und hörte in Caſpars Zimmer ein dauerndes Geräuſch. Er erhob ſich, ſchlüpfte in den Schlafrock und ging hinüber. Caſpar ſaß im Hemde am Tiſch, hatte ein Blatt Papier vor ſich, einen Bleiſtift in der Hand und ſchien geſchrieben zu haben. Ein matter Mondſchein ſchwamm im Zimmer. Verwundert fragte Daumer, was er treibe. Caſpar richtete den bis zur Trunkenheit vertieften Blick auf ihn und antwortete leiſe: „Ich war im großen Haus; die Frau hat mich bis zum Springbrunnen im Hof geführt. Sie hat mich zu einem Fenſter hinaufſchauen laſſen; droben iſt der Mann im Mantel geſtanden, ſehr ſchön anzuſchauen, und hat etwas geſagt. Danach bin ich aufgewacht und hab’s geſchrieben.“ Daumer machte Licht, nahm das Blatt, las, warf es wieder hin, ergriff beide Hände Caſpars und rief halb beſtürzt, halb erzürnt: „Aber Caſpar, das iſt ja ganz unverſtändliches Zeug!“ Caſpar ſtarrte auf das Papier, buchſtabierte murmelnd und ſagte: „Im Traum hab’ ich’s verſtanden.“ Unter den ſinnloſen Zeichen, die wie aus einer ſelbſterdachten Sprache waren, ſtand am Ende das Wort: Dukatus. Caſpar deutete auf das Wort und flüſterte: „Davon bin ich aufgewacht, weil es ſo ſchön geklungen hat.“ Daumer fand ſich verpflichtet, den Bürgermeiſter von den Beunruhigungen Caſpars, wie er es nannte, in Kenntnis zu ſetzen. Was er befürchtet hatte, geſchah. Herr Binder legte der Sache eine große Wichtigkeit bei. „Zunächſt iſt es geboten, dem Präſidenten Feuerbach einen möglichſt ausführlichen Bericht zu geben, denn aus dieſen Träumen können ſicherlich ganz beſtimmte Schlüſſe gezogen werden,“ ſagte er. „Dann mache ich Ihnen den Vorſchlag, mit Caſpar einmal in die Burg hinaufzugehen.“ „In die Burg? Warum das?“ „Es iſt ſo eine Idee von mir. Da er immer von einem Schloſſe träumt, wird ihn der Anblick eines wirklichen Schloſſes vielleicht aufrütteln und uns beſtimmtere Anhaltspunkte geben.“ „Ja, glauben Sie denn an eine reale Bedeutung dieſer Träume?“ „Ganz unbedingt. Ich bin davon überzeugt, daß er bis zu ſeinem dritten oder vierten Lebensjahr in einer derartigen Umgebung gelebt hat und daß mit dem neuen Erwachen zum Leben und zum Selbſtbewußtſein die Erinnerungen an die frühere Exiſtenz auf dem Weg der Träume Form und Inhalt gewinnen.“ „Eine ſehr naheliegende, ſehr nüchterne Erklärung,“ bemerkte Daumer gallig. „Alſo der Hintergrund dieſes Schickſals wäre nichts weiter als eine gewöhnliche Räubergeſchichte.“ „Eine Räubergeſchichte? Mir recht, wenn Sie es ſo nennen. Ich verſtehe nicht, weshalb Sie ſich dagegen wehren. Soll der Jüngling aus dem Mond heruntergefallen ſein? Wollen Sie irdiſche Verhältniſſe für ihn nicht gelten laſſen?“ „O gewiß, gewiß!“ Daumer ſeufzte. Dann fuhr er fort: „Ich ſchmeichelte mir mit andern Hoffnungen. Das Grübeln und Verlangen nach rückwärts iſt eben das, was ich Caſpar erſparen wollte. Gerade das Freie, Freiſchwebende, Schickſalloſe war es ja, was mich ſo ſtark an ihm ergriffen hat. Außerordentliche Umſtände haben dieſen Menſchen mit Gaben bedacht, wie kein andrer Sterblicher ſich ihrer rühmen kann; und das ſoll nun alles verkümmern, abgelenkt werden in das Gleis von Erlebniſſen, die ja an ſich tragiſch genug ſein mögen, aber doch nichts Ungemeines an ſich haben.“ „Ich verſtehe, Sie wollen den myſtiſchen Nimbus nicht zerſtören,“ verſetzte der Bürgermeiſter mit etwas pedantiſcher Geringſchätzung. „Aber wir haben größere Pflichten gegen den Mitmenſchen als gegen das Unikum Caſpar Hauſer. Laſſen Sie ſich das ernſtlich geſagt ſein, lieber Profeſſor. Es erſcheinen heutzutage keine Engel mehr und wo Unrecht geſchehen iſt, muß Sühne ſein.“ Daumer zuckte die Achſeln. „Glauben Sie denn, daß Sie damit etwas zum Heile Caſpars tun?“ fragte er mit einem Ton von Fanatismus, der dem Bürgermeiſter lächerlich erſchien. „Nur Erdenſchwere und Erdenſchmutz heften Sie ihm an. Schon jetzt erhebt ſich ja ein Gezänke um ihn, daß mir mein Anteil an ſeiner Sache verbittert wird. Es werden böſe Geſchichten zutage kommen.“ „Das ſollen ſie; wenn ſie nur zutage kommen,“ erwiderte Binder lebhaft. „Im übrigen tue jeder, was ſeines Amtes.“ Am nächſten Vormittag ſtellte ſich der Bürgermeiſter in Daumers Wohnung ein und ſie gingen mit Caſpar zur Burg hinauf. Herr Binder läutete an der Pförtnerwohnung; der Pförtner kam mit einem großen Schlüſſelbund und geleitete ſie hinüber. Als ſie vor dem mächtigen zweiflügeligen Tor ſtanden, war es, als ob ſich Caſpars Geſicht plötzlich entſchleiere. Er reckte ſich auf, ſein Oberleib bog ſich nach vorn und er ſtammelte: „So eine Tür, genau ſo eine Tür.“ „Was meinſt du, Caſpar, was ſchwebt dir vor?“ fragte der Bürgermeiſter liebevoll. Caſpar antwortete nicht. Mit geſenktem Auge und nachtwandleriſcher Langſamkeit ſchritt er durch die Halle. Die beiden Männer ließen ihn vorangehen. Immer nach ein paar Schritten blieb er ſtehen und ſann. Seine Erſchütterung wuchs zuſehends, als er die breite Steintreppe hinaufſtieg. Oben blickte er ſich ſeufzend um; ſein Geſicht war bleich, die Schultern zuckten. Daumer hatte Mitleid mit ihm und wollte ihn ſeiner Hingenommenheit entreißen, doch wie er zu ſprechen begann, ſah ihn Caſpar mit einem fernweilenden Blick an, liſpelte: „Dukatus, Dukatus“ und lauſchte dabei, als wolle er dem Wort einen heimlichen Sinn abhorchen. Er gewahrte die lange Reihe der Burggrafenbildniſſe an den Wänden, er ſchaute durch die Flucht der offenen Säle, er ſtand in der Galerie und ſchloß die Augen, und endlich, auf eine leiſe Frage des Bürgermeiſters, wandte er ſich um und ſagte mit erſtickter Stimme, es ſei ihm ſo, als habe er einmal ein ſolches Haus gehabt, und er wiſſe nicht, was er davon denken ſolle. Der Bürgermeiſter ſah Daumer ſchweigend an. Nachmittags ſuchten ſie Herrn von Tucher auf und entwarfen in Gemeinſchaft mit ihm den Bericht an den Präſidenten Feuerbach. Das ausführliche Schreiben wurde noch ſelbigen Tags zur Poſt gegeben. Sonderbarerweiſe erfolgte darauf weder ein Beſcheid noch überhaupt ein Zeichen, daß der Präſident das Schriftſtück erhalten habe. Der Brief mußte verloren gegangen oder geſtohlen worden ſein. Baron Tucher ließ unter der Hand und auf privatem Weg bei Herrn von Feuerbach anfragen, und man erfuhr wirklich, daß dieſer von nichts wiſſe. Unruhe und Beſtürzung bemächtigte ſich der drei Herren. „Sollte da ein unſichtbarer Arm im Spiel ſein wie bei jenem Zettel, den man mir ins Fenſter geworfen hat?“ meinte Daumer ängſtlich. Nachforſchungen bei der Poſt hatten kein Ergebnis, und ſo ward der Bericht zum zweitenmal abgefaßt und durch einen ſicheren Boten dem Präſidenten perſönlich eingehändigt. Feuerbach erwiderte in ſeiner kategoriſchen Art, daß er die Sache im Auge behalten wolle und ſich aus naheliegenden Gründen einer ſchriftlichen Meinungsäußerung enthalte. „Ich entnehme aus dem Geſundheitsatteſt des Amtsarztes, worin bei einem ſonſt befriedigenden Befund von Caſpars bleicher Geſichtsfarbe die Rede iſt, daß es dem jungen Menſchen an regelmäßiger Bewegung in freier Luft fehlt,“ ſchrieb er; „hier iſt Abhilfe dringend nötig. Man laſſe ihn reiten. Es iſt mir der Stallmeiſter von Rumpler dortſelbſt empfohlen worden. Hauſer ſoll dreimal wöchentlich eine Reitſtunde bei ihm nehmen, die Koſten ſoll der Stadtkommiſſär auf Rechnung ſetzen.“ Vielleicht waren es die Träume, die Caſpar blaß machten. Faſt jede Nacht befand er ſich in dem großen Haus. Die gewölbten Hallen waren von ſilbernem Licht durchflutet. Er ſtand vor der geſchloſſenen Tür und wartete, wartete_... Endlich eines Nachts, die dämmernden Räume des großen Hauſes dehnten ſich ſchweigend und leer, tauchte vom unterſten Gang her eine ſchwebende Geſtalt auf. Caſpar dachte zuerſt, es ſei der Mann im weißen Mantel; aber als die Geſtalt näherkam, gewahrte er, daß es eine Frau war. Weiße Schleier umhüllten ſie und flogen bei den Schultern durch den Hauch eines unhörbaren Windes empor. Caſpar blieb wie feſtgewurzelt ſtehen; ſein Herz tat ihm wehe, als hätte eine Fauſt danach gegriffen und es gepackt, denn das Antlitz der Frau zeigte einen ſolchen Ausdruck des Kummers, wie er ihn noch an keinem Menſchen bemerkt. Je näher ſie kam, je furchtbarer ſchnürte ſein Herz ſich zuſammen; ernſt ſchritt ſie vorbei; ihre Lippen nannten ſeinen Namen, es war nicht der Name Caſpar, und doch wußte er, daß es ſein Name war oder daß ihm allein der Name galt. Sie hörte nicht auf, denſelben Namen zu nennen, und als ſie ſchon wieder in weiter Ferne war und die Schleier wie weiße Flügel um ihre Schultern flatterten, hörte er immer noch den Namen; da wußte er, daß die Frau ſeine Mutter war. Er wachte auf, in Tränen gebadet; und als Daumer kam, ſtürzte er ihm entgegen und rief: „Ich hab’ ſie geſehen, ich habe meine Mutter geſehen, ſie war es, ſie hat mit mir geſprochen!“ Daumer ſetzte ſich an den Tiſch und ſtützte den Kopf in die Hand. „Sieh mal, Caſpar,“ ſagte er nach einer Weile, „du darfſt dich ſolchen Wahngebilden nicht gläubig hingeben. Es bedrückt mich aufrichtig und ſchon lange. Es iſt, wie wenn jemand in einem Blumengarten luſtwandeln darf und, ſtatt freudigem Genuß ſich zu überlaſſen, die Wurzeln ausgräbt und die Erde durchhöhlt. Verſteh mich wohl, Caſpar; ich will nicht, daß du auf das Recht verzichteſt, alles zu erfahren, was auf deine Vergangenheit Bezug hat und auf das Verbrechen, das an dir verübt wurde. Aber bedenke doch, daß Männer von reicher Erfahrung, wie der Herr Präſident und Herr Binder, dafür am Werke ſind. Du, Caſpar, ſollteſt vorwärts ſchauen, dem Lichte leben und nicht der Dunkelheit; im Lichte ruht dein Daſein, dort iſt das Glück. Jeder Menſch von Vernunft kann, was er will; tu mir die Liebe und wende dich ab von den Träumen. Nicht umſonſt heißt es ja: Träume ſind Schäume.“ Caſpar war beſtürzt. Der Gedanke, daß in ſeinen Träumen keine Wahrheit ſein ſolle, wurde ihm zum erſtenmal entgegengehalten, aber zum erſtenmal war die eigne Gewißheit von einer Sache feſter als die Meinung ſeines Lehrers. Das zu empfinden, bereitete ihm keine Genugtuung, ſondern Bedauern. 6. Religion, Homöopathie, Beſuch von allen Seiten So war es Dezember geworden und eines Morgens fiel der erſte Schnee des verſpäteten Winters. Caſpar wurde nicht müde, dem lautloſen Herabgleiten der Flocken zuzuſchauen; er hielt ſie für kleine beflügelte Tierchen, bis er die Hand zum Fenſter hinausſtreckte und ſie auf der warmen Haut zerrannen. Garten und Straße, Dächer und Simſe glitzerten, und durch das Flockengewühl kroch lichter Nebeldampf wie Hauch aus einem atmenden Mund. „Was ſagſt du dazu, Caſpar?“ rief Frau Daumer. „Erinnerſt du dich, daß du mir nicht glauben wollteſt, als ich dir einmal vom Winter erzählte? Siehſt du, wie alles weiß iſt?“ Caſpar nickte, ohne einen Blick von draußen zu wenden. „Weiß iſt alt,“ murmelte er, „weiß iſt alt und kalt.“ „Um elf Uhr haſt du Reitſtunde, Caſpar, vergiß es nicht,“ mahnte Daumer, der in ſeine Schule ging. Eine überflüſſige Sorge; das vergaß Caſpar nicht, allzulieb war ihm ſchon das Reiten geworden ſeit der kurzen Zeit, wo er damit begonnen. Er liebte Pferde, war ihm doch ihre Geſtalt gar ſehr vertraut. Es kam vor, daß abendliche Schatten als ſchwarze Roſſe vorüberſtürmten, erſt am feurigen Rand des Himmels Halt machten und ihn mit zurückſchauendem Blick aufforderten, ſie in die unbekannte Ferne zu geleiten. Auch im Wind ſauſten Roſſe, auch die Wolken waren Roſſe, in den Rhythmen der Muſik hörte er das taktbemeſſene Traben ihrer Hufe, und wenn er in glücklicher Stimmung an etwas Edles und Vollkommenes dachte, ſah er zuerſt das Bild eines ſtolzen Roſſes. Beim Reitunterricht hatte er von Anfang an eine Gewandtheit gezeigt, die das größte Erſtaunen des Stallmeiſters erregt hatte. „Wie der Burſche ſitzt, wie er den Zügel hält, wie er das Tier verſteht, das muß man ſich anſchauen,“ ſagte Herr von Rumpler; „ich will hundert Jahre in der Hölle braten, wenn das mit rechten Dingen zugeht.“ Und alle, die etwas von der Sache verſtanden, redeten ähnlich. Ei, wie ſelig war Caſpar beim Trab und Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte Getragenſein, hinaus und vorwärts, dies ſanfte Auf und Ab, das Lebendigsein auf Lebendigem! Wenn nur nicht die Leute ſo läſtig geweſen wären. Beim erſten Ausritt mit dem Stallmeiſter wurden ſie von einem ganzen Pöbelhaufen verfolgt und ſelbſt geſetzte Bürger blieben ſtehen und lachten erbittert vor ſich hin. „Der verſteht’s,“ höhnten ſie, „der hat ſich ein Bett gemacht, ſo muß man’s anfangen, damit einem warm wird.“ Auch heute war ſolch ein unbequemes Aufſehen. Der Himmel hatte ſich geklärt und die Sonne ſchien, als ſie durch die Engelhardtsgaſſe ritten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen drein und rechts und links wurden die Fenſter aufgeriſſen. Der Stallmeiſter gab ſeinem Tier die Sporen und trieb Caſpars Pferd mit der Peitſche an. „Man kommt ſich ja, parbleu, wie ein Zirkusreiter vor,“ rief er zornig. Sie ſprengten bis zum Jakobstor. „He! Holla!“ rief da eine Stimme, und aus einer Seitengaſſe kam, ebenfalls zu Pferde, Herr von Weſſenig auf ſie zu. Rumpler begrüßte den Offizier und der Rittmeiſter geſellte ſich an Caſpars Seite. „Prächtig, lieber Hauſer, prächtig!“ rief er mit übertriebener Verwunderung, „wir reiten ja wie ein Indianerhäuptling. Und das alles hat man erſt bei den braven Nürnbergern gelernt? Nicht zu glauben.“ Caſpar hörte nicht den verfänglichen Unterton der Rede; er blickte den Rittmeiſter dankbar und geſchmeichelt an. „Aber denk dir, Hauſer, was ich heute bekommen habe,“ fuhr der Rittmeiſter fort, den es juckte, mit Caſpar einen Spaß zu haben. „Ich hab’ etwas bekommen, was dich höchlichſt angeht.“ Caſpar machte ein fragendes Geſicht. Vielleicht war es der edel-ruhige Ausdruck ſeiner Züge, der den Rittmeiſter zögern ließ. „Ja, ich hab’ etwas bekommen,“ wiederholte er dann eigenſinnig, „ein Brieflein hab’ ich bekommen.“ Er hatte den einfältigen Ton, den die Erwachſenen annehmen, wenn ſie mit Kindern ſcherzen, und der lauernde Blick in ſeinen Augen beſagte etwa: wollen mal ſehen, ob er Angſt kriegt. „Ein Brieflein?“ entgegnete Caſpar, „was ſteht denn drinnen?“ „Ja,“ rief der Rittmeiſter und lachte knallend, „das möchteſt du wohl wiſſen? Wichtige Sachen ſtehen drin, wichtige Sachen!“ „Von wem iſt es denn?“ fragte Caſpar, dem das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing. Herr von Weſſenig zeigte ſeine Zähne und ſtellte ſich vor Vergnügen in die Steigbügel. „Nun rate mal,“ ſagte er, „wir wollen mal ſehen, ob du raten kannſt. Von wem kann das Brieflein ſein?“ Er zwinkerte Herrn von Rumpler verſtändnisinnig zu, indes Caſpar den Kopf ſenkte. Es quoll auf einmal Traumluft um Caſpars Sinne und eine Hoffnung liebkoſte ihn, die den kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern erhob ſich die kummervolle Traumfrau und ſchwebte ſtill vor den drei Roſſen dahin. Jäh blickte er empor und ſagte mit zögernden Lippen: „Iſt vielleicht von meiner Mutter der Brief?“ Der Rittmeiſter runzelte ein wenig die Stirn, als ob es ihm bedenklich ſchiene, den Schabernack zu weit zu treiben, doch entäußerte er ſich ſchnell der ernſten Regung, klopfte Caſpar auf die Schulter und rief: „Erraten, Teufelskerl! Erraten! Mehr ſag’ ich aber nicht, Freundchen, ſonſt könnt’ es mir übel bekommen.“ Und mit dem letzten Wort ſetzte er ſich feſter in den Sattel und ſprengte davon. Eine Viertelſtunde ſpäter kam Caſpar atemlos nach Hauſe. Daumers ſaßen ſchon bei Tiſch, ſie ſchauten dem Ankömmling geſpannt entgegen und Anna erhob ſich unwillkürlich, als Caſpar mit ſchweißbedeckter Stirne neben den Seſſel ihres Bruders trat und mit gebrochener Stimme hervorjubelte: „Der Herr Rittmeiſter hat einen Brief bekommen von meiner Mutter!“ Daumer ſchüttelte erſtaunt den Kopf. Er verſuchte Caſpar begreiflich zu machen, daß ein Mißverſtändnis oder eine Täuſchung obwalten müſſe; Mutter und Schweſter unterſtützten ihn darin nach Kräften. Es war umſonſt. Caſpar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Weſſenig gehen. Deſſen weigerte ſich Daumer entſchieden, doch als Caſpars Aufregung wuchs, erklärte er ſich bereit, allein zu Herrn von Weſſenig zu gehen. Er aß ſchnell ſeinen Teller leer, nahm Hut und Mantel und ging. Caſpar lief zum Fenſter und ſah ihm nach. Er wollte ſich nicht zu Tiſch begeben, ehe Daumer wieder da war. Er zerknüllte das Taſchentuch in der Hand, raſch atmend ſtarrte er gegen den Himmel und dachte: Wenn ich dich liebhaben ſoll, Sonne, mach, daß es wahr iſt. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurück. Er hatte den Rittmeiſter zur Rede geſtellt und eine heftige Auseinanderſetzung mit ihm gehabt. Herr von Weſſenig hatte die Sache zuerſt humoriſtiſch genommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämiſche Gerede, das ihm täglich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erſt geſtern hatte man ihm erzählt, auf einer Aſſemblee bei der Magiſtratsrätin Behold habe ſich ein angeſehener Ariſtokrat über ihn luſtig gemacht als über den Meiſter ſomnambuler und magnetiſcher Geheimkunſt, der Caſpar Hauſer feierlich den Zaubermantel unter die Füße breite, aber ſtatt in den Äther zu entſchweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Caſpar gemächlich ſitzen und laſſe ſich ausfüttern. Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Rittmeiſter ins Geſicht geſagt, daß ihn das ſcheele Geſchwätz der nichtstuenden eleganten Welt gleichgültig laſſe. „Bin ich auch eher auf Hilfe und Zuſtimmung als auf Verteidigung und Abwehr gefaßt geweſen, ſo weiß ich doch genau, daß das erſtarrte Herz von Ihnen und Ihresgleichen nicht um einen Pulsſchlag gefühlvoller ſchlagen wird,“ rief er aus. „Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schutz und dem des Herrn Staatsrats ſteht, wenigſtens mit böswilligen Scherzen verſchont.“ Sprach’s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurück. Zu Hauſe ankommend und Caſpars ſtummes Drängen wahrnehmend, ſagte er mit mühſamer Milde: „Er hat dich zum Narren gehabt, Caſpar. Es iſt natürlich kein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.“ „O!“ machte Caſpar voll Schmerz. Dann war er ſtill. Erſt als Daumer ſich nach der Mittagsraſt zum Aufbruch anſchickte, entriß ſich Caſpar ſeinem Schweigen und ſagte in mattem und verändertem Ton: „Der Herr Rittmeiſter hat alſo nicht die Wahrheit geſagt?“ „Nein, er hat gelogen,“ verſetzte Daumer kurz. „Das iſt ſchlecht von ihm, ſehr ſchlecht,“ ſagte Caſpar. Erſtaunlich ſchien ihm zunächſt die Tatſache des Lügens, erſtaunlicher noch, daß ſich ein ſo großer Herr ihm gegenüber der Lüge ſchuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief geſagt, grübelte er, und ſtundenlang war er damit beſchäftigt, ſich des Rittmeiſters Worte immer wieder von neuem vorzuſagen und ſich das Geſicht zurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte. Es war da etwas nicht in Ordnung. Er ſann und ſann und kam zu keinem Ende. Um ſich auf andre Gedanken zu bringen, ſchlug er die Rechenfibel auf und ging an ſein Tagespenſum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geſchenkt, und übte ſich eine halbe Stunde lang in den ſimpeln Melodien, die er darauf zu ſpielen erlernt hatte. Plötzlich erhob er ſich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er ſein eignes Geſicht an: er wollte ſehen, ob Lüge darin ſei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal ſelber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher ſein Geſicht ausſehen würde. Ängſtlich ſchaute er ſich um, blickte dann wieder in den Spiegel und ſagte leis: „Es ſchneit.“ Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne ſchien. Nichts hatte ſich in ſeinem Geſicht verändert: man konnte alſo lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde ſich verfinſtern oder verſtecken, aber ſie ſchien ruhig weiter. Am Abend kam Daumer mit einem neuen Ärger nach Hauſe. Von der Mutter gefragt, was es denn ſchon wieder gebe, zog er ein kleines Zeitungsblättchen aus der Taſche und warf es auf den Tiſch. Es war der „Katholiſche Wochenſchatz“; auf der erſten Seite ſtand eine Epiſtel über Caſpar Hauſer, die mit den fettgedruckten Lettern begann: Warum läßt man den Nürnberger Findling nicht der Segnungen der Religion teilhaftig werden? „Ja, warum läßt man denn nicht?“ ſpottete Anna. „Und das wagt man in einer proteſtantiſchen Stadt,“ ſagte Daumer mit finſterem Geſicht. „Wenn dieſe Herren nur wüßten, was für eine unmäßige Furcht der Jüngling vor ihren Geiſtlichen hat. Während er noch auf dem Turm war, ſind eines Tages vier zu gleicher Zeit bei ihm erſchienen. Glaubt ihr vielleicht, ſie hätten zu ſeinem Herzen geredet oder ſeine Andacht zu wecken geſucht? Weit gefehlt. Sie ſchwatzten vom Zorn Gottes und von der Vergeltung der Sünden, und als er immer furchtſamer dreinſah, fingen ſie an zu wettern und zu drohen, als ob der arme Menſch am nächſten Tag zum Galgen geführt werden ſollte. Zufällig kam ich dazu und forderte ſie höflich auf, ihre Bemühungen einzuſtellen.“ Da Caſpar ins Zimmer trat, wurde das Geſpräch abgebrochen. Aber der Appell des „Katholiſchen Wochenſchatzes“ verhallte nicht ungehört. „Mit der Religion iſt nicht zu ſpaßen,“ ſagten die Herren auf dem Magiſtrat, und einer drückte ſogar den Zweifel aus, ob der Jüngling überhaupt getauft ſei. Darüber ward eine Weile hin und her debattiert, doch ließ man die Frage ſchließlich fallen und die Taufe ward als ſelbſtverſtändlich angenommen, da man ja unter Chriſten in einem chriſtlichen Lande lebe und der Jüngling auf keinen Fall aus der Tatarei kommen könne. Nicht ſo leicht war die Entſcheidung über die katholiſche oder evangeliſche Konfeſſion. Obgleich die Pfaffen in der Stadt wenig Macht beſaßen, mußte man doch die obdachloſe Seele dem hungrigen Rachen Roms entreißen, anderſeits war man zu zaghaft für ein rauhes Zugreifen, weil es möglich war, daß eine einflußreiche Perſon über kurz oder lang ein Anrecht andrer Art geltend machen konnte. Der Bürgermeiſter wandte ſich an Daumer und verlangte, Caſpar ſolle einen Religionslehrer erhalten, man überlaſſe es Daumer, einen vertrauenswürdigen Mann zu beſtimmen. „Wie wäre es mit dem Kandidaten Regulein?“ meinte Binder. „Ich habe nichts dagegen,“ erwiderte Daumer gleichgültig. Der Kandidat wohnte im Daumerſchen Haus zu ebener Erde und genoß den Ruf eines ſoliden und fleißigen Mannes. „Wenn ich ſelbſt auch nicht kirchlich-fromm geſinnt bin,“ ſagte der Bürgermeiſter, „ſo iſt mir doch die modiſche Freigeiſterei von Herzen zuwider, und ich wünſchte nicht, daß unſer Caſpar in ein ehrfurchtsloſes Weltweſen gerät. Auch in Ihrer Abſicht kann das nicht liegen.“ Aha, ein Stich, dachte Daumer ſtillergrimmt, man beleidigt, verdächtigt mich ſchon wieder, ich bin niemand bequem, ſehr ehrenwert, ihr Herren, ſehr ehrenwert. Laut antwortete er: „Gewiß nicht. Ich habe es auch nicht fehlen laſſen, in meiner Art auf ihn zu wirken. Und meine Art mag ſein, wie ſie will, ſie iſt nicht ſchlechter als jede andre. Leider haben mir allerhand Unberufene beſtändig hineingepfuſcht. So war es mir in der erſten Zeit mit großer Mühe gelungen, den ſtarren Eigenſinn ſeines Schauens zu brechen und ihm einen Begriff von dem allmächtigen Trieb des Wachstums in der Natur zu geben. Kommt da ein Frauenzimmer an, während Caſpar vor einem Blumentopf ſitzt und mit ſeinem unſchuldigen Staunen die über Nacht aufgeſproßten Schößlinge betrachtet. Nun, Caſpar, fragt ſie einfältig, wer hat denn das wachſen laſſen? Es iſt von ſelbſt gewachſen, erwidert er ſtolz. Aber, Caſpar, ruft jene, es muß doch jemand ſein, der es hat wachſen laſſen? Er würdigte ſie keiner Antwort mehr, aber die wohlwollende Dame ging hin und erzählte überall, Caſpar werde zum Atheiſten gemacht. Da hat man eben einen ſchweren Stand.“ „Es handelt ſich doch am Ende nur darum, ihm das Gefühl einer höheren Verpflichtung einzuimpfen,“ ſagte Binder. „Die hat er, die hat er, aber ſein Verſtand anerkennt eben in ſeinen Forderungen keine Grenzen und will durchaus befriedigt ſein,“ fuhr Daumer leidenſchaftlich fort. „Geſtern abend beſuchten ihn zwei proteſtantiſche Geiſtliche, der eine aus Fürth, der andre aus Farnbach, der eine dick, der andre mager, alle beide eifrig wie kleine Pauluſſe. Sie machten mir erſt allerlei Elogen, ich laſſe ſie zu Caſpar hinein, und ehe man drei zählen kann, fangen ſie eine Diſputation mit ihm an. Ach, es war komiſch, es war höchſt komiſch. Es kam die Rede auf die Erſchaffung der Welt, und der Dicke aus Fürth ſagte, Gott habe die Welt aus dem Nichts geſchaffen. Und als nun Caſpar wiſſen wollte, wie das zugegangen, ſtibitzten ſie ihm die Erklärung vor der Naſe weg, indem ſie alle zwei händefuchtelnd auf ihn einredeten wie auf einen Heiden, der bei ſeinem Götzen ſchwört. Endlich beruhigten ſie ſich, und da ſagte mein guter Caſpar zutulich, wenn er etwas machen wolle, müſſe er doch etwas haben, woraus er es mache, ſie möchten ihm doch ſagen, wie das bei Gott möglich ſei. Da ſchwiegen ſie eine Weile, flüſterten untereinander, und endlich antwortete der Magere, bei Gott ſei alles möglich, weil er nicht ein Menſch ſei, ſondern ein Geiſt. Da lächelte mich Caſpar an, denn er dachte, ſie wollten ſich über ihn luſtig machen, und er ſtellte ſich, als glaube er ihnen, was die beſte Manier war, um ſie loszuwerden.“ Der Bürgermeiſter ſchüttelte mißbilligend den Kopf. Daumers Sarkasmus gefiel ihm ganz und gar nicht. „Es gibt auch eine gedachtere Anſicht von Gott als die, die ſich ſo mühelos verſpotten läßt,“ wandte er ruhig ein. „Eine gedachtere Anſicht? Ohne Zweifel. Vergeſſen Sie nur nicht, daß die der gemeinen durch und durch widerſpricht. Und wenn ich ſie ihm beizubringen ſuche, ſetze ich mich Vorwürfen und Mißkennungen aus. Nächſtes Jahr ſoll er in die öffentliche Schule gehen, für einen Menſchen von wenigſtens achtzehn Jahren ohnedies eine Schwierigkeit, da würden nun {meine} Lehren wieder zunichte gemacht und die Folge iſt Konfuſion. Schon jetzt fange ich an feig zu werden und ſpeiſe ihn mit bequemen Antworten ab. Neulich konnte er eingetretener Augenſchwäche halber nicht arbeiten, und er fragte mich, ob er von Gott etwas erbitten dürfe und ob er es dann erhalten werde. Ich ſagte, zu bitten ſei ihm geſtattet, doch müſſe er es der Weisheit Gottes anheimſtellen, ob er die Bitte gewähren wolle oder nicht. Er entgegnete, er wolle die Geneſung ſeiner Augen erbitten und dawider könne ja Gott nichts einzuwenden haben, denn er gebrauche die Augen, um ſeine Zeit nicht in unnützen Geſprächen und Spielereien vergeuden zu müſſen. Ich ſagte darauf, Gott habe bisweilen unerforſchliche Gründe, etwas zu verſagen, wovon wir glaubten, daß es heilſam wäre, er wolle uns oft durch Leiden prüfen, in Geduld und Ergebung üben. Da ließ er traurig den Kopf hängen. Gewiß dachte er, ich ſei auch nicht beſſer als die Frommen, deren Gründe er nur für Ausreden nimmt.“ „Was iſt jedoch zu tun?“ fragte der Bürgermeiſter mit ſorgenvoller Stirn. „Auf dem Weg des Zweifelns und Leugnens muß die Fähigkeit zum Guten verkümmern.“ „Zweifeln und Leugnen iſt es wohl kaum,“ verſetzte Daumer unwillig. „Gott iſt kein Bewohner des Himmels, er hauſt nur in unſrer Bruſt. Der reiche Geiſt birgt ihn im umfaſſenden Gefühl, der arme wird durch die Not des Lebens ſeiner gewahr und nennt es Glauben; er könnte es auch Angſt nennen. In Schönheit und Freude geſtaltet ſich der wahre Gott, im Schaffen. Was Sie Zweifel und Leugnen heißen, iſt das aufrichtige Zagen der ihrer ſelbſt noch ungewiſſen Seele. Man gebe der Pflanze ſo viel Sonne, wie ſie braucht, und ſie beſitzt einen Gott.“ „Das iſt Philoſophie,“ erwiderte Binder, „und zudem Philoſophie, die einem Alltagsmenſchen wie mir frivol klingen muß. Jeder Bauer hat für ſeine Ernte mit Sturm und Unwetter zu rechnen, und nur ein überheblicher Menſch kann ſich einfallen laſſen, von ſelber etwas zu gelten. Doch genug davon. Waren Sie eigentlich mit Caſpar ſchon einmal in der Kirche?“ „Nein, ich habe das bis jetzt vermieden.“ „Morgen iſt Sonntag. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich ihn zum Gottesdienſt in die Frauenkirche mitnehme?“ „Nicht im geringſten.“ „Gut, ich werde ihn um neun Uhr abholen.“ Wenn ſich Herr Binder eine ſonderliche Wirkung von dieſem Verſuch verſprochen hatte, ſo wurde er darin ſehr enttäuſcht. Als Caſpar die Kirche betreten hatte und die erhobene Stimme des Predigers vernahm, fragte er, warum der Mann ſchimpfe. Die Kruzifixe erregten ſeinen tiefſten Schauder, weil er die angenagelten Chriſtusbilder für gemarterte lebendige Menſchen hielt. Beſtändig ſchaute er, beſtändig verwunderte er ſich, das Spiel der Orgel und der Geſang des Chors betäubten ſein empfindliches Ohr dermaßen, daß er die Harmonie der Klänge gar nicht ſpürte, und zum Schluß brachte ihn die Ausdünſtung der Menſchenmenge einer Ohnmacht nahe. Der Bürgermeiſter ſah wohl ſeinen Fehlgriff ein, doch ließ er nicht ab, auf einen regelmäßigen Beſuch der Kirche zu dringen, obwohl ſich Caſpar jedesmal hartnäckig dagegen ſträubte. Wenn der Kandidat Regulein Herrn Binder ſeine Not klagte, erwiderte dieſer: „Nur Geduld, die Gewohnheit wird ihn ſchon zur Andacht nötigen.“ — „Ich glaube nicht,“ verſetzte der Kandidat darauf mutlos, „gebärdet er ſich doch, als ob er ſein Leben laſſen ſollte, wenn ich ihn zum Kirchgang auffordere.“ — „Macht nichts, es iſt Ihr Beruf, ſeinen Widerſtand zu brechen,“ lautete der Beſcheid. Der gute, hilfloſe Kandidat Regulein! Ein junges Männlein, das nie jung geweſen war und deſſen Gottesgelehrtentum von ſo dünner Beſchaffenheit war wie ſeine Beine. Er zitterte insgeheim vor den Unterrichtsſtunden, die er Caſpar erteilen mußte, und ſooft ihn eine Frage in Verlegenheit ſetzte, was gar nicht ſelten geſchah, verſchob er die Auskunft auf das nächſte Mal, wobei er ſich vornahm, in gewiſſen Büchern nachzuſchlagen, um nicht gegen die Theologie zu verfehlen. Caſpar wartete treuherzig, aber in der folgenden Stunde kam nichts oder wenig. Der Kandidat, der im ſtillen hoffte, ſein Schüler habe vergeſſen, erſchrak und wich aus. Das half nicht; der unbarmherzige Frager trieb ihn aus einer Verſchanzung in die andre, bis das verzweifelte Argument aufgeſtellt werden mußte, es ſei unrecht, über dunkle Gegenſtände des Glaubens zu forſchen. Caſpar lief zu Daumer und beklagte ſich bitter, daß er keine Aufſchlüſſe erhalte. Daumer fragte, was er zu wiſſen begehrt habe. Er hatte zu wiſſen verlangt, warum Gott nicht mehr wie in früheren Zeiten zu den Menſchen herabkomme, um ſie über ſo vieles, was verborgen ſei, zu belehren. „Ja ſieh mal, Caſpar,“ ſagte Daumer, „es gibt Geheimniſſe in der Welt, die ſich eben beim beſten Willen nicht verſtehen laſſen. Da muß man Vertrauen haben, daß Gott eines Tages unſer Herz darüber erleuchtet. Wir alle wiſſen ja auch nicht, woher du kommſt und wer du biſt, und trotzdem hoffen wir von der Gerechtigkeit und Allwiſſenheit Gottes, daß er uns eines Tages darüber Aufſchluß gewährt.“ „Aber Gott hat doch nichts damit zu tun, daß ich im Kerker war,“ erwiderte Caſpar ſanft, „das haben doch die Menſchen getan.“ Und ratlos ſetzte er hinzu: „So iſt’s eben. Das eine Mal ſagt der Kandidat, Gott laſſe den Menſchen ihren freien Willen, das andre Mal ſagt er, Gott ſtrafe ſie für ihre böſen Handlungen. Da werd’ ich ganz zum Narren.“ Dieſe Unterhaltung fand an einem ſtürmiſchen Nachmittag Ende März ſtatt und Daumer geriet durch ſie in eine ſo trübe Stimmung, daß er eine angefangene ſchriftliche Arbeit nicht zu beendigen vermochte. Man raubt ihn mir, man bricht ihn mir zu Stücken, dachte er. Voll Traurigkeit nahm er ein dickes Heft zur Hand, das ſeine Aufzeichnungen über Caſpar enthielt, und blätterte drin herum. Er ſchrak zuſammen, als ſeine Schweſter ziemlich haſtig eintrat, noch mit Pelzkappe und Umhang, wie ſie von der Straße kam. Ihr Geſicht verriet Aufregung, und ſie wandte ſich mit der ſchnell hervorgeſtoßenen Frage an Daumer: „Weißt du ſchon, was man in der Stadt ſpricht?“ „Nun?“ „Man erzählt ſich, Caſpar Hauſer ſei von fürſtlicher Abkunft, ein beiſeitegeſchaffter Prinz.“ Daumer lachte gezwungen. „Das fehlte noch,“ entgegnete er abſchätzig. „Was denn noch alles!“ „Du glaubſt nicht daran? Das hab’ ich mir gleich gedacht. Aber woher mögen ſolche Gerüchte ſtammen? Irgend etwas muß doch dahinter ſein.“ „Gar nichts muß dahinter ſein. Sie ſchwatzen eben. Laß ſie ſchwatzen.“ Eine halbe Stunde ſpäter erhielt Daumer den Beſuch des Archivdirektors Wurm aus Ansbach. Es war dies ein kleiner, etwas verwachſener Mann, der nie lächelte; es hieß von ihm, daß er ſehr befreundet mit Herrn von Feuerbach und die rechte Hand des Regierungspräſidenten Mieg ſei. Von erſterem beſtellte er Grüße an Daumer und ſagte, der Staatsrat werde in allernächſter Zeit nach Nürnberg kommen, er beſchäftige ſich angelegentlich mit der Sache Caſpar Hauſers. Nach einem kurzen, wenig belangvollen Hin- und Herreden griff der Archivdirektor plötzlich in die Rocktaſche, brachte ein kleines broſchiertes Buch zum Vorſchein und reichte es wortlos Daumer. Dieſer nahm es und las den Titel: „Caſpar Hauſer, nicht unwahrſcheinlich ein Betrüger. Vom Polizeirat Merker in Berlin.“ Daumer beſah das Büchlein mit feindſeligen Augen und ſagte matt: „Das iſt deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?“ „Es iſt ein gehäſſiges Pamphlet, tritt aber höchſt plauſibel auf,“ erwiderte der Archivdirektor. „Es ſind da mit Fleiß und Geſchick alle Verdachtsgründe, die ſchon längſt in mißtrauiſchen Gemütern ſpuken, gegen den Findling zuſammengetragen. Der Verfaſſer prüft alle Angaben Caſpars auf ihre Verdächtigkeit hin, auch gibt er Beiſpiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche Lügenkünſte, wie er ſich ausdrückt, zu verſpäteter Enthüllung gelangt ſind. Sie, lieber Profeſſor, und Ihre hieſigen Freunde kommen dabei nicht zum beſten weg.“ „Natürlich; kann ich mir denken,“ murmelte Daumer, und mit der flachen Hand auf das Buch ſchlagend, rief er aus: „Nicht unwahrſcheinlich ein Betrüger! Da ſitzt ſo ein mit allen Hunden gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt es_—! Himmelſchreiend! Man ſollte ihm dieſen nicht unwahrſcheinlichen Betrüger vorführen, man ſollte ihn zwingen, dem Engelsblick ſtandzuhalten, ach, ſchändlich! Der einzige Troſt dabei iſt, daß doch niemand das Zeug leſen wird.“ „Sie irren ſich,“ verſetzte der Archivdirektor ruhig, „das Heft findet reißenden Abſatz.“ „Nun gut, ich werde es leſen,“ ſagte Daumer, „ich werde damit zum Redaktor Pfiſterle von der ‚Morgenpoſt‘ gehen, der iſt der richtige Mann, um dem famoſen Polizeirat Widerpart zu halten.“ Der Archivdirektor maß den aufgeregten Daumer mit einem gleichgültig-ſchnellen Blick. „Ich möchte eine ſolche Maßregel nicht ohne weiters gutheißen,“ bemerkte er diplomatiſch; „ich glaube auch im Sinn des Herrn von Feuerbach zu ſprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu das Zeitungsgeſchreibe? Was ſoll es nützen? Man muß handeln, in aller Vorſicht und Stille handeln, das iſt es.“ „In aller Vorſicht und Stille? Was wollen Sie damit ſagen?“ fragte Daumer ängſtlich und argwöhniſch. Der Archivdirektor zuckte die Achſeln und ſchaute zu Boden. Dann erhob er ſich, ſagte, er wolle am folgenden Nachmittag wiederkommen, um Caſpar zu ſehen, und reichte Daumer die Hand. Als er ſchon auf der Treppe war, eilte ihm Daumer nach und fragte, ob es ihn nicht ſtöre, wenn er morgen fremde Leute hier im Hauſe treffe, es hätten ſich einige Herrſchaften zu Beſuch angeſagt. Der Archivdirektor verneinte. Es gehörte zu den Charaktereigentümlichkeiten Daumers, daß er ſich in einmal gefaßte Ideen bis zur offenſichtlichen Schädlichkeit verrannte. Trotz der Abmahnung des beſonnenen Herrn Wurm begab er ſich, kaum daß er das Buch des Berliner Polizeirats geleſen hatte, was weniger denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung in die Redaktion der ‚Morgenpoſt‘. Der Redaktor Pfiſterle war ein hitziges Blut; wie der Geier aufs Aas ſtürzte er ſich auf dieſe Gelegenheit, ſeine immer in Vorrat vorhandene Wut und Galle loszulaſſen. Er wollte Material haben, und Daumer beſtellte ihn für den Mittag des folgenden Tages zu ſich in die Wohnung. Am Abend herrſchte eine ſonderbar ſchwüle Luft im Daumerſchen Haus. Während des Nachteſſens wurde wenig geredet, und Caſpar, der von all dem, was rings um ihn vorging, nicht im mindeſten etwas ahnte, war verwundert über manchen prüfenden Blick oder über das düſtere Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein Buch zur Hand zu nehmen und zu leſen; das tat er auch heute, und es geſchah nun, daß ſein Blick, als er das Buch aufgemacht, auf eine beſtimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzückt in die Hände zu ſchlagen und in ſeiner herzlichen Art zu lachen. Daumer fragte, was es gebe; Caſpar deutete mit dem Finger auf das Blatt und rief: „Sehen Sie nur, Herr Profeſſor!“ Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu duzen, und zwar ganz von ſelbſt und eigentümlicherweiſe faſt an demſelben Tag, an welchem er zum erſten Male Fleiſch genoſſen und danach krank geworden war. Daumer blickte ins Buch. Die von Caſpar aufgegriffenen Worte lauteten: „Die Sonne bringt es an den Tag.“ „Was gibt’s dabei zu ſtaunen?“ fragte Anna, die über die Schulter des Bruders gleichfalls in das Buch ſchaute. „Wie ſchön, wie ſchön!“ rief Caſpar aus. „Die Sonne bringt es an den Tag. Das iſt wunderſchön.“ Die drei andern ſchauten einander voll ſeltſamer Gefühle in die Augen. „Überhaupt iſt es ſchön, wenn man ſo lieſt: die Sonne!“ fuhr Caſpar fort. „Die Sonne! Das hallt ſo.“ Als er gute Nacht gewünſcht hatte, ſagte Frau Daumer: „Man {muß} ihn doch lieb haben. Es wird einem ordentlich wohl, wenn man ihn in ſeiner artigen Geſchäftigkeit beobachtet. Wie ein Tierchen webt er für ſich hin, niemals langweilt er ſich, nie fällt er durch Launen zur Laſt.“ Wie verabredet, kam Pfiſterle am nächſten Tag kurz nach Tiſch, blieb jedoch über Gebühr lange ſitzen und verſtand nicht die ungeduldigen Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem Eintreffen der erwarteten Gäſte losgeworden wäre. Als dieſe um drei Uhr erſchienen, ſaß er noch immer auf ſeinem Fleck und blieb auch da. Wahrſcheinlich hatte es ſeine Neugierde gereizt, daß ihm Daumer den Namen einer der drei Perſonen mitgeteilt hatte; es war dies ein damals vielgeleſener Schriftſteller aus dem Norden des Reichs. Die andern beiden waren eine holſteiniſche Baronin und ein Leipziger Profeſſor, der auf einer Romreiſe begriffen war; ein Unternehmen, welches zu jener Zeit, wenigſtens in Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines kühnen Forſchers verlieh. Daumer empfing die Herrſchaften ſehr liebenswürdig, und nachdem er Caſpar herbeigeholt hatte, zündete er trotz der frühen Stunde die Lampe an, denn der Nebel lag dicht wie graue Wolle vor den Fenſtern. Der Leipziger Profeſſor zog Caſpar in eine Unterhaltung, aber er ſprach mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch ließ er keinen Blick von ihm, und die gelblichen Augen hinter den kreisrunden Brillengläſern ſchimmerten bisweilen boshaft. Währenddem kamen noch Herr von Tucher und der Archivdirektor, ließen ſich den Fremden vorſtellen und nahmen auf dem Sofa Platz. „In deinem Kerker war es alſo immer dunkel?“ fragte der Romfahrer und ſtrich langſam ſeinen Bart. Caſpar antwortete geduldig: „Dunkel, ſehr dunkel.“ Der Schriftſteller lachte, worauf ihm der Profeſſor vielſagend mit dem Kopf zunickte. „Haben Sie den Unſinn gehört, der hier in der Stadt über ſeine fürſtliche Abkunft geredet wird?“ ließ ſich jetzt die holſteiniſche Baronin hören, deren Stimme wie aus einem Kellerloch kam. Der Profeſſor nickte wieder und ſagte: „In der Tat, es werden hier ſtarke Zumutungen an die Leichtgläubigkeit des Publikums geſtellt.“ Eine Zeitlang ſchwiegen alle, wie von einem Schuß erſchreckt. Endlich entgegnete Daumer mit heiſerer Stimme und mit der Höflichkeit eines ſchlechten Komödianten: „Was veranlaßt Sie, meine Ehre zu beſchimpfen?“ „Was mich veranlaßt?“ praſſelte der choleriſche Herr auf. „Dieſe Gaukelfuhr veranlaßt mich dazu. Der Umſtand, daß man ein ganzes Land ſkrupellos mit einem albernen Märchen füttert. Muß denn der gute Deutſche immer wieder das Opfer von Abenteurern [à la] Caglioſtro werden? Es iſt eine Schmach.“ Herr von Tucher hatte ſich erhoben und blickte dem Aufgeregten mit ſo unverhohlener Geringſchätzung ins Geſicht, daß dieſer plötzlich ſchwieg. „Wir ſind natürlich überzeugt,“ miſchte ſich der Schriftſteller, ein klapperdürrer Herr mit kahlem Schädel, vermittelnd ein, „daß Sie, Herr Daumer, im beſten Glauben handeln. Sie ſind Opfer, wie wir alle.“ Jetzt konnte ſich Pfiſterle, den die Wut förmlich aufgeſchwellt hatte, nicht länger halten. Mit geballten Fäuſten ſprang er vom Stuhl empor und ſchrie: „Ja, zum Teufel, warum ſollen wir uns denn das gefallen laſſen? Da kommen ſie her, niemand hat ſie gerufen, kommen her, um dageweſen zu ſein und mitreden zu können, haben von Anfang an alles beſſer gewußt, und wenn ſie blind wie die Maulwürfe ſind, werfen ſie ſich noch ſtolz in die Bruſt und rufen: Wir ſehen nichts, alſo iſt nichts da. Warum ſoll denn das ein Unſinn ſein, geehrte Dame, was man von ſeiner Abſtammung erzählt? Warum denn, bitte? Leugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo unſre Großen wohnen, ſich Dinge ereignen, die das Tageslicht zu ſcheuen haben? Daß dort die Verträge des Bluts für nichts geachtet und Menſchenrechte mit Füßen getreten werden, wenn der Vorteil eines Einzelnen es erheiſcht? Soll ich mit Tatſachen dienen? Sie können es nicht leugnen. Bei uns wenigſtens ſind die paar Dutzend Männer noch nicht vergeſſen, die ihre mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen und mit brennenden Fackeln in die Lügendämmerung der Paläſte geleuchtet haben.“ „Genug, genug!“ unterbrach der Profeſſor den rabiaten Zeitungsmann. „Mäßigen Sie ſich, Herr!“ „Ein Demagoge!“ ſagte die Baronin und ſtand mit erſchrockenen Augen auf. Der Archivdirektor heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf Daumer, der den Kopf geſenkt und die Lippen eigenſinnig geſchloſſen hatte. Als er emporſchaute, blieb ſein Auge mit gerührtem Ausdruck auf Caſpar ruhen, der frei und arglos daſtand, den lächelnden klaren Blick von einem zum andern gleiten ließ, nicht als ob von ihm geſprochen würde und er daran teilhätte, ſondern als ob das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden lediglich ſeine Schauluſt erwecke. In der Tat verſtand er kaum, wovon die Rede war. Der Leipziger Profeſſor hatte ſeinen Hut ergriffen und wandte ſich noch einmal, an Pfiſterle vorüberſprechend, gegen Daumer. „Was iſt denn bewieſen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?“ fragte er gellend. „Nichts iſt bewieſen. Feſt ſteht nur, daß aus irgendeinem gottverlaſſenen Dorf in den fränkiſchen Wäldern ſich ein Bauerntölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordentlich ſprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur unbekannt ſind, das Neue neu, das Fremde fremd erſcheint. Und darüber geraten einige kurzſichtige, ſonſt ganz wackere Männer außer ſich und nehmen die plumpen Aufſchneidereien des geriebenen Landſtreichers für bare Münze. Wunderliche Verſchrobenheit!“ „Ganz wie der Polizeirat Merker,“ konnte ſich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken. Auch Pfiſterle wollte dawiderreden, wurde aber durch eine energiſche Kopfbewegung des Herrn von Tucher zum Schweigen gebracht. Plötzlich wurde von der Straße draußen das Rollen einer Kutſche hörbar. Direktor Wurm ging zum Fenſter, und nachdem der Wagen vor dem Haus gehalten hatte, ſagte er: „Der Staatsrat kommt.“ „Wie?“ entgegnete Daumer raſch. „Herr von Feuerbach?“ „Ja, Herr von Feuerbach.“ In ſeiner Benommenheit verſäumte Daumer die Pflicht des Hausherrn, und als er ſich aufraffte, um den Präſidenten zu empfangen, ſtand dieſer ſchon auf der Schwelle. Mit ſeinem Imperatorenblick überflog er die Geſichter aller Anweſenden, und als er den Archivdirektor gewahrte, ſagte er lebhaft: „Gut, daß ich Sie treffe, lieber Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu ſprechen.“ Er trug die einfache Kleidung eines Privatmannes, und außer einem kleinen Ordenskreuz neben dem Halsausſchlag des Rockes war keinerlei Schmuck an ihm zu ſehen. Die außerordentlich ſtolze Haltung des gedrungenen, maſſigen Körpers und das ſteif Aufrechte, ſoldatiſch Gebietende ſeines ſtets etwas zurückgeworfenen Hauptes erweckten ehrfurchtsvolle Scheu; ſein Geſicht, auf den erſten Anblick dem eines verdrießlichen alten Fuhrmanns ähnlich, wurde durch die dunkelglühenden Augen, in denen die Unraſt geiſtiger Leidenſchaften lag, und durch die feſtgeſchloſſenen, kühngebogenen Lippen geadelt. Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der viel Zeit hat. Trotz der Würde, die ihm ſein Amt verlieh und die er nicht verringerte, hatte ſein Auftreten etwas Heftiges, und in der Art, wie er die im Zimmer Verſammelten begrüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten. Es wirkte darum erſchreckend auf alle, als ihm Caſpar ungezwungen entgegentrat und ihm von ſelbſt die Hand hinſtreckte, die Feuerbach auch ergriff, ja ſogar eine Zeitlang in der ſeinen behielt. Caſpar war es wunderlich wohl geworden, ſeit der Präſident eingetreten war. Er hatte oft an ihn gedacht, ſeit er mit ihm auf dem Gefängnisturm geſprochen hatte, und ſeit dem erſten Händedruck liebte er beſonders die Hand des Präſidenten, eine warme, harte, trockene Hand, die ſich wohlverſchloß beim Gruß, als ob ſie glaubwürdige Verſprechungen gäbe, und die eigne Hand ruhte dabei ſo ſicher in ihr wie der müde Körper abends im Bett. Daumer geleitete den Präſidenten und den Direktor Wurm in ſein Studierzimmer und kehrte dann zurück. Die fremden Gäſte ſchickten ſich an zu gehen, ſie hatten durch die Dazwiſchenkunft Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung verloren. Caſpar wollte der Dame in den Mantel helfen, doch ſie machte eine abwehrende Geſte und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von Tucher und Pfiſterle entfernten ſich ebenfalls. Caſpar nahm ein Schreibheft aus der Lade und ſetzte ſich zur Lampe, um ſeine lateiniſche Arbeit anzufertigen, da kamen der Präſident und Direktor Wurm wieder ins Zimmer. Feuerbach ging auf Caſpar zu, legte die Hand auf ſein Haar, bog den Kopf des Jünglings leicht zurück, ſo daß der Lampenſchein voll in Caſpars Geſicht fiel, betrachtete ſeltſam lange und mit bohrender Aufmerkſamkeit das ſeinem Blick ſtillhaltende Antlitz und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet, tief atmend: „Keine Täuſchung. Es ſind dieſelben Züge.“ Der Archivdirektor nickte ſtumm. „Das und die Träume_... zwei wichtige Indizien,“ ſagte der Präſident mit dem gleichen Ton von Vertieftheit. Er ſchritt zum Fenſter, die Hände auf dem Rücken, und ſah eine Weile hinaus. Darauf wandte er ſich zu Daumer und fragte unvermittelt, wie es mit Caſpars Ernährung ſtehe. Daumer erwiderte, er habe in letzter Zeit verſucht, ihn an Fleiſchkoſt zu gewöhnen. „Zuerſt hat er ſich ſehr gewehrt, auch hat es den Anſchein nicht, als ob die veränderte Diät ihm ſehr zuträglich ſei. Es iſt ſogar zu befürchten, daß ſie ſeine inneren Kräfte weſentlich vermindert. Er wird zuſehends ſtumpfer.“ Feuerbach zog die Stirn empor und deutete gegen Caſpar. Daumer verſtand den Wink und forderte Caſpar auf, zu den Frauen hinüberzugehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling das Zimmer verlaſſen hatte, ſondern fuhr mit beklommenem Eifer fort: „An demſelben Tag, wo Caſpar zum erſtenmal Fleiſch genoß, ſchnappte der Hund unſers Nachbars, der ihm bis dahin höchſt zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend an. Das war mir eine wunderbare Lehre.“ Der Präſident entgegnete finſter: „Dem mag ſein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahlloſen Experimente, die Sie mit dem jungen Menſchen vornehmen. Wozu das alles? Wozu magnetiſche und andre Kuren? Man berichtet mir, daß Sie gegen gewiſſe krankhafte Zuſtände homöopathiſche Heilmittel anwenden. Wozu? Das muß einen ſo zarten Organismus aufreiben. Die Jugend iſt es, die die Krankheiten heilt.“ „Ich bin erſtaunt, daß Eure Exzellenz dagegen etwas einzuwenden haben,“ verſetzte Daumer kalt und demütig. „Der menſchliche Körper wird oft von vorübergehenden Leiden befallen, denen auf homöopathiſchem Weg am beſten beizukommen iſt. Erſt vorigen Montag hat, wie ich beſtimmt verſichern kann, eine kleine Doſis Silizea Wunder gewirkt. Kennen Eure Exzellenz nicht den ſchönen, alten Spruch: Ein kluger Arzt, der nimmt da ſeine Hilfe her, von wo der Schaden kömmt, Löſt Salzſucht auf durch Salz, löſcht Feuer aus durch Flammen. Ihr Kinder der Natur, ihr zieht die Kunſt zuſammen, Macht weniges aus viel und wirket viel durch wenig.“ Feuerbach mußte unwillkürlich lächeln. „Mag ſein, mag ſein,“ polterte er, „aber damit iſt nichts bewieſen, und wenn auch, ſo trifft es die Sache nicht.“ „Meine Sache ſteht auch nicht darauf.“ „Um ſo beſſer. Vergeſſen Sie nicht, daß hier ein Recht durchzuſetzen iſt, das Recht eines Lebens. Iſt es nötig, deutlicher zu ſein? Ich glaube kaum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel ſich lüften, das über den rätſelhaften Menſchen gebreitet iſt, und der Dank, den ich und andre Ihnen ſchon jetzt ſchulden, lieber Daumer, wird nicht durch ein Mißvergnügen geſchmälert ſein, das ſich an Ihre vielleicht ſchädlichen Irrtümer heften muß.“ Das klang feierlich. Man kanzelt mich ab wie einen Schulbuben, dachte Daumer erbittert, als der Präſident und Direktor Wurm ſich verabſchiedet hatten; was iſt mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache des heimatloſen Findlings zu meiner eignen machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leiſten geblieben, in meiner Einſamkeit. Es geht mich wenig an, was ſie da über ſein Schickſal fabeln, fuhr er in ſeinen verdroſſenen Überlegungen fort; allerdings, der Ton des Präſidenten läßt auf etwas Ungewöhnliches ſchließen; das ſeltſame Gerede über Caſpars Herkunft, ſollte es wirklich einen Bezug haben? Gleichviel, was wäre das mir? Ob eines Bauern, ob eines Fürſten Sohn, was würde es beſagen? Freilich, wenn ſo ein hoher Herr einem in den Weg läuft, gibt man ſich als befliſſenen Diener; verbriefter Adel und erlauchte Abſtammung fordern nun einmal den Reſpekt des Bürgers. Doch ein andres iſt das Leben und ein andres die Idee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren, weil es zwecklos iſt, ihnen zu trotzen, und ein andres, ihrer zu vergeſſen, eingeſchloſſen und gefeit in der goldenen Wohnung der Philoſophie. Zwiſcheninne führt die Grenze, die den Menſchen aus Staub von dem Menſchen aus Geiſt trennt. Sollte ich in meinem Optimismus zu weit gegangen ſein, wenn ich in Caſpar den Menſchen aus Geiſt ſah? Noch ſteht es zu bezweifeln. Ein Gedankengang, der nicht frei von ahnungsvoller Betrübnis war. 7. Daumer ſtellt die Metaphyſik auf die Probe Der Präſident blieb länger als eine Woche in der Stadt. Während dieſer Zeit kam er entweder ins Daumerſche Haus, um Caſpar zu ſprechen, oder er ließ den Jüngling zu ſich in den Gaſthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen ſeines Zuſammenſeins mit Caſpar. Seit er an einem der erſten Tage mit ihm durch die Straßen gegangen war (wo der früh gealterte, doch mächtig anzuſchauende Mann neben dem zarten, ein wenig gebückt gehenden jungen Menſchen allenthalben Aufſehen erregt hatte) und an einer Ecke, an der die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der Erde gewachſen plötzlich neben ihnen hergeſchlichen war, verzichtete der Präſident darauf, ſich mit ſeinem Schützling öffentlich zu zeigen. Seine Geſpräche mit Caſpar, ſo geſchickt ſie auch eine Beziehungsloſigkeit bisweilen vortäuſchen mochten, verfolgten natürlich einen ganz beſtimmten Zweck. Caſpar, der davon wenig merkte, teilte ſich ſeinem hohen Gönner ohne Befangenheit mit, und durch ſein unſchuldiges Geplauder wurde Feuerbachs Herz oft ſonderbar bewegt, ſo daß er, dem Wort und Sprache in Fülle gegeben waren, ſich nicht ſelten zum Schweigen verurteilt fand. Ja, er verlor an Sicherheit; „Caſpars Blick gleicht dem Glanz eines morgendlich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,“ ſchrieb er an eine altvertraute Freundin, „und manchmal iſt mir unter dieſem Blick zumute, als hielte der raſend dahinſtürmende Schickſalswagen zum erſten Male ſtill; die ganze Vergangenheit ſteht auf, erlittene Willkür und der Trug des Rechts, die Kränkungen des Neides und manche Tat, deren Früchte faul und ekel am Wege liegen. Dazu kommt, daß ich in betreff ſeiner unbekannten Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte ſehr, an den Rand eines verderblichen Abgrunds führt, wo es gilt, ſich den Göttern zu vertrauen, denn Menſchen werden dort keinem Geſetz mehr untertan ſein.“ Am letzten Tag der Anweſenheit Feuerbachs ſchickte ſich Caſpar eine Stunde vor Abend zum Ausgehen an, da der Präſident ihn zu ſich beſtellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu ſagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. Sie ſaß am Fenſter und las gerade das Büchlein des Polizeirats Merker. Kaum daß Caſpar die Tür geöffnet, verſteckte ſie das Heft raſch und erſchreckt unter der Schürze. „Was leſen Sie denn da und warum verbergen Sie es denn?“ fragte Caſpar lächelnd. Anna errötete und ſtotterte etwas. Darauf ſchaute ſie mit feuchten Augen empor und ſagte: „Ach, Caſpar, die Menſchen ſind doch gar zu ſchlecht.“ Er entgegnete nichts, ſondern lächelte noch immer. Das erſchien Anna auffallend, aber Caſpar dachte ſich weiter gar nichts dabei. Es war eine ſeiner Seltſamkeiten, daß er ſich nie entſchließen konnte, eine Frauensperſon ganz ernſt zu nehmen; Frauenzimmer können nichts als daſitzen und ein wenig nähen oder ſtricken, pflegte er zu ſagen; ſie eſſen und trinken unaufhörlich und alles durcheinander und deswegen ſind ſie immer krank; auf andre Weiber ſchmähen ſie und wenn ſie dann mit ihnen beiſammen ſind, tun ſie ſchön und lieb. Als er einmal in ſolcher Weiſe redete, beklagte ſich Frau Daumer, doch er antwortete ihr: „Sie ſind kein Frauenzimmer, Sie ſind eine Mutter.“ Auch ereignete es ſich einſt, daß er bei einem Paradezug von Seiltänzern einem zu Pferd ſitzenden Mädchen, deſſen bunter Putz und Reitkunſt ſeine Aufmerkſamkeit erweckt hatte, ein paar Straßen weit folgte; darüber ärgerte er ſich nachher gewaltig, und er meinte, nun ſei ihm doch auch einmal geſchehen, was bei andern, wie er höre, zuweilen der Fall ſei, er ſei einem Weibe nachgelaufen. Er ſagte, daß er zum Nachteſſen wieder zu Hauſe ſein werde, aber Anna erwiderte, das ſei wohl zu ſpät, ihr Bruder habe davon geſprochen, daß er den Abend mit Caſpar bei der Magiſtratsrätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe ſchon einige Male darum gebeten, ſie ſei eine einflußreiche Perſon, und wenn Daumer ſich nicht eine Feindin an ihr machen wolle, müſſe er der Einladung folgen. „Der Herr Präſident geht vor,“ ſagte Caſpar verdroſſen und ging. Es war mildes Wetter, der Schnee war längſt verſchwunden, weiße Wolken zogen über die ſpitzgiebligen Dächer hin. Als Caſpar in das Zimmer trat, das der Präſident bewohnte, ſaß dieſer am Schreibtiſch und blickte mit zurückgelehntem Körper düſter ſinnend ins Leere. Erſt nach einer Weile wandte er ſich zu Caſpar und redete ihn, aus ſeinem dunkeln Nachdenken heraus, ohne Begrüßung an. „Ich kehre morgen nach Ansbach zurück, Caſpar, wie Sie ja wiſſen,“ begann er und verdeckte die Augen mit der Hand; „Sie werden mich einige Wochen, ja vielleicht monatelang nicht ſehen. Ich möchte hie und da von Ihnen Nachricht haben, von Ihnen ſelbſt, will Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßig zu ſchreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte Pflicht daraus erwachſe. Nun dachte ich mir, Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, bei der Sie mehr auf ſich ſelbſt als an andre gewieſen ſind. Sie ſollen nicht zur Rechenſchaft befohlen ſein, aber was Sie einem Freund oder ſagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, das ſollen Sie hier bewahren.“ Damit reichte er Caſpar ein in blauen Pappendeckel gebundenes Schreibheft. Caſpar ergriff es mechaniſch und las auf einem weißen herzförmigen Schildchen: Tagebuch — Stundenbuch für Caſpar Hauſer. Er ſchlug es auf und gewahrte, auf der erſten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der Hand des Präſidenten geſchrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Laſterhafte entflieht ſich ſelbſt. Caſpar ſchaute den Präſidenten mit großen Augen ängſtlich an. Er wiederholte für ſich im ſtillen, mit ſichtbarer Bewegung der Lippen, die geſchriebenen Worte und dann, was der Präſident zu ihm geſagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von Gefahr. Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präſidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Kaum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglocke läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es ſolle ſogleich angeſpannt werden. „Ich muß noch dieſen Abend reiſen,“ ſagte er zu Caſpar. In unbeſtimmtem Lauſchen und Warten blieb Caſpar ſtehen. Der Poſtillon im Hof knallte mit der Peitſche. Ein Hauch der Ferne umwehte Caſpar, er ſpürte plötzlich etwas von der Größe der Welt, und die Wolken am Himmel ſchienen Arme herunterzuſtrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präſident die Hand zum Abſchied reichte, bat er ſchmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: „Möcht’ auch mitfahren.“ „Wie, Caſpar!“ rief der Präſident in geſpielter Überraſchung, und plötzlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, „willſt du denn fort von den Nürnbergern? Haſt du denn vergeſſen, was du deinem gütigen Pflegevater ſchuldig biſt? Was würde Herr Daumer ſagen, wenn du ihn ſo undankbar verließeſt? und viele andre wackere Männer, die ſich deiner angenommen haben? Es erſtaunt mich, Caſpar. Biſt du denn nicht gern hier?“ Caſpar ſchwieg und ſenkte die Augen. Hier iſt immer dasſelbe, dachte er. Er ſehnte ſich fort; er dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wiſſen. Vielleicht käme dann einer, um zu fragen: wohin, Caſpar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks verſammelt iſt; drinnen ruft eine Stimme Caſpars Namen, die Leute machen Platz und viele Arme deuten auf das Tor, dem er zuſchreitet. „Sprich!“ mahnte der Präſident barſch. „Sie ſind alle gut mit mir,“ flüſterte Caſpar mit zuckenden Lippen. „Nun alſo!“ „Es iſt nur_—“ „Was? Was iſt_—? Heraus mit der Sprache!“ Caſpar ſchlug langſam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Geſte, als wolle er den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und ſagte: „Die Mutter.“ Feuerbach wandte ſich weg, ging zum Fenſter und blieb ſchweigend ſtehen. Eine Viertelſtunde ſpäter ſchritt Caſpar durch die engen Gaſſen beim Rathaus und kam alsbald auf den menſchenverlaſſenen Egydienplatz. Es war ſchon dunkel geworden, vor der Kirche brannte eine Öllaterne, und während er nach links abbog, wo das niedere Buſchwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die Laufergaſſe ſchloß, gewahrte er einen ruhig ſtehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach ihm herſah. Caſpar ging ein wenig langſamer, plötzlich ſah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte. Caſpars Herz klopfte laut. Irgend etwas zwang ihn, der ſtummen Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caſpar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caſpar konnte ſein Geſicht nicht ſehen, das unter dem weit in die Stirn gedrückten Hut verſteckt war. Er folgte dem Menſchen, obwohl alle Fibern ſeines Leibes widerſtrebten, mit Grauen fühlte er ſich Schritt um Schritt gezogen, ſeine Augen waren aufgeriſſen, Staunen und Schrecken lagen in ſeinem Geſicht, und die Hände hielt er mit geſpreizten Fingern von ſich geſtreckt. Schon war er dem Unbekannten ſo nahe, daß er deſſen gelbe Zähne zwiſchen den Lippen ſchimmern ſah, und wer weiß, was geſchehen wäre, wenn ſich nicht in dieſem Augenblick auf der andern Seite des Gebüſches ein Trupp betrunkener junger Leute hätte hören laſſen; der fremde Mann ſtieß einen gurrenden Laut aus, bückte ſich raſch und war unter dem Schutz des Laubwerks im Nu verſchwunden. Auch Caſpar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er lief geradeswegs mitten in die Schar der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten ſuchten, und ſo vermiſchte ſich ein Schrecken mit dem andern. Nur mit Mühe riß er ſich los, einige folgten ihm ſchreiend, er verdoppelte ſeine Eile, der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, rannte, ſo ſchnell er konnte, durch die Judengaſſe und weiter und ging erſt wieder langſamer, als er ſich auf der Brücke zur Inſel Schütt befand. Daumer war ſchon unruhig geworden und wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er Caſpars haſtigen und unklaren Bericht an, und nach einiger Überlegung meinte er, er glaube nicht recht an das Abenteuer; „da hat dir wohl deine allweil erregte Phantaſie einen törichten Streich geſpielt,“ ſagte er ungewöhnlich ſtreng. „Nein, es iſt wirklich wahr,“ beteuerte Caſpar. Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, und ſchließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter geworden, das Heft, das ihm der Präſident geſchenkt und das er während der ganzen Zeit krampfhaft in der Hand feſtgehalten hatte. Zerſtreut beſah es Daumer. „Hat dir Anna nicht geſagt, daß wir zur Magiſtratsrätin gehen?“ fragte er mißgelaunt. „Es iſt höchſte Zeit; mach flink und zieh dir den Sonntagsrock an.“ Caſpar ſchaute ihn mit ſchrägem Blick von unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, der ſchon im Geſellſchaftskleid war, wandelte zweimal bis zum Pegnitzufer und wieder zurück; eine halbe Stunde verfloß und Caſpars langes Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er eilte die Stiege hinan und betrat Caſpars Zimmer, wo eine Kerze brannte. Zu ſeinem Ärger nahm er wahr, daß Caſpar angekleidet auf dem Bette lag und ſchlief. Er rüttelte ihn an der Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paarmal das Zimmer, ohne ſeines Mißmuts Herr zu werden, dann ſtieß er zornig hervor: „Ach was, ſoll die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus betrogen werden!“ Durch den finſtern Flur ſchritt er ins Gemach der Schweſter, die vor dem Klavier ſaß und ſpielte. Er legte ihr den Fall vor und Anna gab ihm ohne weiteres recht, daß er Caſpar zu Hauſe laſſe. „Dann muß jemand zur Rätin und unſer Ausbleiben entſchuldigen,“ ſagte Daumer in einem Ton, als ob das Verſäumnis ſonſt ſchlecht ausgelegt werden könne und er Unannehmlichkeiten zu befürchten habe. Anna erwiderte, die Magd ſei nicht da, und nach einigem Beſinnen erklärte ſie ſich bereit, den Gang ſelbſt zu tun. Als ſie fort war, ſetzte ſich Daumer zu den Büchern, rückte die Lampe zurecht und las. Doch er hatte ein ſchlechtes Gewiſſen und fuhr bei jedem Laut zuſammen. Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter ſeinen Stuhl und ſagte haſtig, die Magiſtratsrätin ſei mitgekommen, um Caſpar zu holen. Daumer ſprang auf; „das heiße ich den Spaß zu weit getrieben,“ murmelte er entrüſtet. Anna legte ihm die Hand auf den Mund, denn ſchon ſtand die Rätin in der Türe; reich geſchmückt, im Seidenmantel, ein koſtbares Spitzentuch um den Kopf. Sie war eine nicht mehr ganz junge, aber ſehr ſtattliche Frau, ungewöhnlich groß gewachſen, mit ungewöhnlich kleinem Kopf. In ihrem Betragen vermiſchte ſich das Modiſch-Franzöſiſche und das Nürnbergeriſch-Provinzliche auf eine nicht immer ganz einwandfreie Weiſe, und wo jenes zur Geltung kommen ſollte, guckte dieſes wie der Zipfel eines ſchlechtverborgenen Armeleutgewands unter einer brokatenen Tunika hervor. Sie rauſchte auf Daumer zu, majeſtätiſch wie eine ſchaumige Woge, und der gute Mann, niedergeſchmettert von ſo viel Glanz, vergaß ſeinen Groll und führte die dargereichte Hand der Dame an ſeine Lippen. „Muß ich ſelbſt Sie an Ihr Verſprechen erinnern?“ rief ſie mit einer ſonoren, kräftigen Stimme. „Was ſoll’s bedeuten, Profeſſor? Was iſt vorgefallen? Weshalb die Abſage? Sie ſehen, ich verlaſſe meine Gäſte, um ein Wort einzulöſen, das Ihnen zu brechen ſo leicht wird. Keine Ausflucht, lieber Daumer, Caſpar muß mit, wo iſt er?“ „Er ſchläft,“ erwiderte Daumer zaghaft. „[Nom de Dieu!] Er ſchläft! Daß dich das Mäusle beißt! So wird man ihn halt wecken. Marſch, marſch, voran!“ Daumer hatte nicht den Mut, zu widerſprechen, dies zupackende Gebaren beraubte ihn der gegenſtändlichen Gründe. Er nahm die Lampe und ſchritt voraus. Anna, die zurückblieb, räuſperte ſich empört, dies beirrte aber Frau Behold keineswegs, als Antwort zuckte ſie nur verächtlich die Achſeln. Daumer ſtand ſo verſonnen an Caſpars Lager, daß er die Lampe wegzuſtellen vergaß. In der Tat mochte es ſchwerlich etwas Schöneres zu ſehen geben als den Engelsfrieden und die roſenhafte Heiterkeit, die auf dem Geſicht des Schläfers leuchteten. Frau Behold ſchlug unwillkürlich die Hände zuſammen, und darin lag Wahrheit und Gefühl. „Beſtehen Sie noch darauf, ihn zu wecken?“ fragte Daumer richterlich. „Der Schlaf iſt heilig. Die ſeligen Geiſter werden fliehen, ſobald unſre Hand ihn berührt.“ Frau Behold klappte die Lider auf und zu, als wolle ſie das bißchen Rührung davonjagen, wie man Fliegen mit einem Wedel vertreibt. „Schön geſagt,“ ſpottete ſie, und ihre Stimme ſurrte wie das Rädchen einer Spindel. „Aber ich beſtehe auf meinem Schein. Ich will dem Buben was dafür ſchenken, und was die ſeligen Geiſter betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen gibt’s Nächte genug.“ Während Daumer den Schlafenden bei den Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden mehr ſich ſelbſt als Caſpar zu beſchwichtigen ſchien, zeigte ſich in dem kleinen Geſicht der Frau Behold eine wunderliche Erregung. Sie blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde ſchlaff und entblößte eine ſchmale, feſte Zahnreihe wie bei einem Nagetier. „[Pauvre diable],“ murmelte ſie, „armes Herzle,“ und erfaßte Caſpars Hand. Davon erwachte Caſpar völlig, befreite die Hand mit einem Ruck und ſchüttelte ſich. Sein trunken-müder Blick fragte, was man mit ihm vorhabe, Daumer erklärte es, ſchenkte Waſſer in ein Glas und gab es ihm zu trinken, nahm den Sonntagsrock, der ſchon bereitlag, und hielt ihn zum Anziehen hin. Caſpar heftete den verdunkelten Blick auf Frau Behold und ſagte trotzig: „Ich will nicht zu der Frau.“ „Wie, Caſpar?“ rief Daumer erſtaunt und verletzt. Zum erſtenmal vernahm er dies „ich will nicht“, zum erſtenmal ſtand Caſpars Wille gegen ihn auf. Caſpar war ſelber erſchrocken, ſein Blick war ſchon wieder gefügig, als Daumer mit ernſthaftem Ton fortfuhr: „Ich aber will es. Ich will auch, daß du die Dame um Verzeihung bitteſt. Es geht nicht an, daß du eine Laune über dich Herr werden läßt. Wenn wir uns der Rückſichten gegen die Menſchen entbinden würden, ſtünden wir alle ſo hilflos da wie du am erſten Tag.“ Mit niedergeſchlagenen Augen tat Caſpar, was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm den ganzen Auftritt nicht ſchwer. Sie tätſchelte Caſpars Wange und fand den Profeſſor Daumer ziemlich komiſch. Eine halbe Stunde ſpäter waren ſie in den feſtlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caſpar, von Menſchen umdrängt, mußte die gewöhnliche Flut der Fragen über ſich ergehen laſſen. Frau Behold wich nicht von ſeiner Seite, ſie lachte beinahe zu allem, was er ſagte, und er wurde allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angſt vor den Worten; es ſchien ihm gefährlich, zu ſprechen, es war, als ob alle Worte zweifach vorhanden wären, einmal offenbar, das andre Mal verhüllt, und ſo wie die Worte hatten auch die Menſchen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich ſuchten ſeine Blicke in ein und derſelben Perſon die zweite, die lauernd hinterherging und verführeriſch mit dem Finger winkte. Es war ihm unverſtändlich, was ſie von ihm wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Nicken, ihr Lächeln, ihr Beiſammenſein, alles war ihm unverſtändlich, und auch er ſelbſt, er ſelbſt fing an, ſich unverſtändlich zu werden. Indeſſen verlebte Daumer eine böſe Stunde. Frau Behold, die ſtolz darauf war, ihr Haus zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen, hatte heute einen Herrn zu Gaſt, der, wie man ſich erzählte, unter falſchem Namen reiſte, da er in wichtiger diplomatiſcher Miſſion nach einer Reſidenz im Oſten des Landes unterwegs ſei. Man raunte ſich auch zu, daß der hohe Fremde großes Intereſſe an dem Findling Hauſer nehme und daß er vielen einflußreichen Perſonen gegenüber ſich abfällig und tadelnd über die unſinnigen Gerüchte geäußert habe, die Caſpars Herkunft zum Gegenſtand hatten. Und man muß geſtehen, daß die einflußreichen Perſonen ſich dem Gewicht einer ſolchen Meinung nicht verſchloſſen, aber das Treiben des vornehmen Herrn gab auch Anlaß zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfiſterle, Querulant wie immer, behauptete ſogar, der diplomatiſche Herr ſei nach ſeiner Anſicht nichts andres als ein verkappter Spion. Wie dem auch war, von all dieſen Neuigkeiten hatte Daumer in ſeiner Weltverlorenheit nichts erfahren. Der Fremde geſellte ſich nach kurzer Weile zu ihm, und ſie kamen ins Geſpräch, wobei es jener leicht anzuſtellen wußte, daß ſie ſich von den übrigen Gäſten abſonderten. Daumer, eingeſchüchtert durch die Manieren, die delikate Zwangloſigkeit des hohen Herrn, deſſen Rockbruſt voller Orden hing, wußte zuerſt kaum etwas zu ſagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit nein und ja. Allmählich gab er ſich freier und erzählte ſeinem Zuhörer vieles von Caſpar, kam auf deſſen furchtſames Weſen zu ſprechen und ſchilderte wie zur Erläuterung das Benehmen des Jünglings, als er heute abend, vor einem eingebildeten, ohne Zweifel eingebildeten, Verfolger flüchtend nach Hauſe gekommen war. Der Fremde hörte aufmerkſam zu. „Vielleicht hat er ſich aber gar nicht getäuſcht,“ entgegnete er vorſichtigen Tons, „es mag ſich da mancherlei in der Verborgenheit abſpielen. Meines Wiſſens haben ja auch Sie, lieber Profeſſor, vor längerer Zeit eine Art von Warnung erhalten. Sie dürfen ſich daher nicht wundern, wenn aus gewiſſen Drohungen Ernſt wird.“ Daumer ſtutzte, doch der Fremde fuhr mit liebenswürdiger Offenheit, ſcheinbar harmlos plaudernd, fort: „Sie ſollten ſich an den Gedanken gewöhnen, daß da Mächte im Spiel ſind, die vor nichts zurückſchrecken, um ihre Maßregeln mit Nachdruck durchzuführen. Das unruhige Gemunkel wird vielleicht als ſtörend empfunden, vielleicht hat man etwas auf dem Kerbholz und möchte die Öffentlichkeit vermeiden. Vorläufig mag es der Gewalt, die da im Hintergrund iſt, darum zu tun ſein, die Dinge möglichſt in Verborgenheit abzumachen, aber ſie könnte wohl auch offenes Spiel treiben, ſie könnte der Polizei und den Gerichten mit Gemütsruhe die Hände binden. Einſtweilen begnügt man ſich aber, die Fäden hinter den Kuliſſen zu ziehen.“ Von neuem ſtutzte Daumer; die Worte ſeines Gegenüber ſchienen einen genauen Bezug zu haben; doch der Fremde ließ ihm keine Zeit zu überlegen, er fuhr mit heller Stimme, faſt vertraulichen Tones fort: „Ich glaube vor allem, daß man die Verbreitung all des hirnloſen Geſchwätzes durch das bequeme und naheliegende Mittel der Druckſchrift fürchtet und ahnden wird. Man demaskiert ſich dort oben ungern, noch weniger will man von andern demaskiert werden, man liebt es nicht auf den Markt zu treten, noch ſeine privaten Angelegenheiten da ausgeboten zu ſehen; das iſt begreiflich. Der Staatsbürger hat Freiheiten genug; in ſeinem Bereich mag er ſich tummeln, nach oben ſoll er ſich gebunden finden.“ Was war das? Daumer meinte zu verſtehen, worauf es hinauswollte; er beſchloß, dem dunkeln Befehl zu gehorchen; war doch dem Zwang ſchon ſeine eigne Freiwilligkeit zuvorgekommen. „Ich möchte mir eine Frage erlauben, verehrter Profeſſor,“ begann der Fremde wieder; „ſind Sie wirklich überzeugt, daß der hergelaufene Knabe, an dem ich auf meine Art, ich will es nicht leugnen, ein gewiſſes äußeres Intereſſe nehme, die ununterbrochene Aufmerkſamkeit ernſthafter Männer verdient und rechtfertigt? Lohnt es ſich denn, die ganze Welt mit ſeiner zweifelhaften Sache zu beſchäftigen? Was bleibt für die großen Angelegenheiten der Nation, der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der Religion, des Lebens überhaupt, wenn ein Mann wie Sie die beſten Geiſteskräfte an ein empfindſames Naturſpiel verſchwendet? Man rühmt die außergewöhnlichen Gaben des Findlings. Ich bemühe mich umſonſt, ſolche Gaben zu entdecken; ich bin kühn genug, zu behaupten, daß ich damit nur an Ihre eigne Ungewißheit rühre. Laſſen wir noch ein wenig Zeit vergehen und wir werden über dieſen Punkt eine betrübende Sicherheit gewinnen. Innerhalb der menſchlichen Geſellſchaft gibt es Hunderttauſende von Weſen, die, mit ebenſogroßen oder noch größeren Eigenſchaften geboren, gleichwohl einem ungleich elenderen Los verfallen ſind. Die wahrhafte Tugend müßte ſich auch für ſie entflammen, denn in der Idee darf dem Erbarmen mit der menſchlichen Not keine Grenze geſetzt ſein. Aber wo endete der Mann, der ſein Herz nach allen Seiten hin zerriſſe und in Fetzen austeilte? Er ſtünde leer da an dem Tage, wo ein würdiger Gegenſtand ein würdiges Opfer von ihm forderte. Denken Sie ſich von Caſpars Lebensalter ein Dutzend Jahre hinweg und das vermeintliche Wunder iſt enthüllt bis auf den Grund und hat Ihnen nichts mehr zu geben als die beſchämende Selbſtverſtändlichkeit einer natürlichen Tatſache. Beſtenfalls bleibt ein Kurioſum, mit welchem man ein Tiſchgeſpräch würzen kann. Ein Kurioſum und das bißchen Geheimnis, das allen unreifen Köpfen ſo aufregend dünkt.“ Widerſpruch und Abwehr malten ſich in Daumers Zügen; ſein umherſchweifender Blick ſuchte nach Caſpar, aber alles, was er zu ſagen wußte, war: „Nicht durch Worte kann die Seele für ſich zeugen.“ Der Fremde lächelte bitter. „Die Seele! die Seele!“ erwiderte er ſpöttiſch. „Sie kann nicht durch Worte zeugen, denn ſie iſt nur ein Wort wie jedes andre. Das Auge ſchaut, der Finger ſpürt, jedes Härchen lebt auf eigne Weiſe, das Blut durchſpritzt die Adern, jeder Sinn macht den Raum lebendig, den Tod fühlbar, was ziert ihr euch da und wollt ein Beſonderes haben und ſprecht von Seele, als ſei die Seele wie ein Schmuckſtück, das eine eitle Frau im Käſtchen verſchließt und gelegentlich an ihren Buſen ſteckt, um beim Ball damit zu glänzen! Jeder iſt im allgemeinen ausgeteilt und ſein Zuſchuß von Kräften iſt kein Privileg, ſondern nur eine Hoffnung. Oder dürfte der Adler die Seele für ſich in Beſchlag nehmen, weil er beſſer zu fliegen vermag als die Gans? Die Seele! Ihr Herren beleidigt den Schöpfer damit, ob ihr ſie leugnet oder ob ihr Bücher ſchreibt, um ſie zu beweiſen.“ Es entſtand ein Schweigen. Er ſpricht wie ein Satan, dachte Daumer, und als er ſich anſchickte zu antworten, kam ihm der Fremde mit höflicher Eindringlichkeit zuvor. „Ich weiß, Sie lieben Caſpar,“ ſagte er mit veränderter Stimme, ernſt und herzlich, „Sie lieben ihn brüderlich, und nicht Mitleid nährt dieſen Trieb, ſondern die ſchöne Begierde, die ſtets den Gott in der Bruſt des andern ſucht und nur im Ebenbild ſich ſelbſt erkennen will. Aber Sie möchten eine Ausrede haben für Ihre Liebe, das iſt es. Muß ich Ihnen ſagen, daß es keine tieferen Wunden gibt als die Enttäuſchungen aus ſolchem Zwieſpalt? Ich rate Ihnen, fliehen Sie den Anblick und die Geſellſchaft deſſen, der Ihnen nichts mehr zu bieten hat als Enttäuſchung.“ „Alſo ſind wir denn zu ſchwach, dem Erlebnis gegenüber ſo zu bleiben wie wir zu ſein glaubten, indem wir es erſehnten!“ rief Daumer verzweifelt. Der Fremde verzog ſein faltig-altes Geſicht zu einer Grimaſſe des Bedauerns. Eine leichte Gebärde verriet, daß das Geſpräch für ihn erſchöpft ſei, und ſie miſchten ſich wieder unter die übrigen Gäſte. Daumer, völlig aus der Faſſung gebracht, wünſchte nichts weiter, als den lärmenden Kreis zu verlaſſen. Er ſuchte Caſpar und bemerkte ihn, blaß und ſchweigſam, mitten unter ſchillernden Roben und grauen und braunen Fräcken; Frau Behold ſaß auf einem niedrigen Schemel faſt zu ſeinen Füßen, und ihr Geſicht ſah hart und düſter aus. Der Abſchied war umſtändlich. Als ſie auf den vereinſamten Gaſſen ſchweigend ein Stück Wegs zurückgelegt hatten, ſchlang Daumer den Arm um Caſpars Schulter und ſagte: „Ach, Caſpar, Caſpar!“ Es klang wie eine Beſchwörung. Caſpar, den es nach Belehrung dürſtete und deſſen Herz zum Überfließen voll von Fragen war, ſeufzte auf und lächelte ſeinem Lehrer in wiedererwachtem Vertrauen zu. Sei es nun, daß Blick und Lächeln Daumer an einer Stelle ſeines Innern trafen, wo er ſich unſicher und ſchuldig fühlte, ſei es, daß die Nacht, die Einſamkeit, die quälenden Zweifel, das wunderliche Geſpräch, das er eben geführt, ſeinen Geiſt zu übertriebener Inbrunſt entzündeten, er blieb ſtehen, umarmte Caſpar noch feſter und rief mit emporgewandten Augen: „Menſch, o Menſch!“ Das Wort ging Caſpar durch Mark und Bein. Ihm war, als eröffne ſich ihm auf einmal, was dies zu bedeuten habe: Menſch! Er ſah ein Geſchöpf, tief unten verſtrickt und angekettet, von tief unten hinaufſchauend, fremd ſich ſelbſt, fremd dem andern, dem es das Wort Menſch zuſchrie und der ihm nichts antworten konnte als eben dieſen inhaltsvollen Ruf: Menſch. Sein Ohr hielt den Klang feſt, der durch die Ergriffenheit Daumers etwas Weihevolles für ihn bekommen hatte. Am andern Morgen nahm er ſein Tagebuch zur Hand, und die erſte Eintragung, die er darin machte, waren die drei Worte: Menſch, o Menſch — für jeden andern natürlich eine ſinnloſe Hieroglyphe, für ihn aber ein deutungsvoller Hinweis, ein entſchleiertes Geheimnis beinahe, ein Wahl- und Zauberſpruch zur Abwendung von Gefahren. Es entſprach ſeinem kindiſchen Weſen, daß er von derſelben Stunde ab das Tagebuch als eine Art von Heiligtum betrachtete, welches nur in Zeiten der Andacht und Sammlung zugänglich war, und in einer jener ſehnſüchtigen und angſtvoll traurigen Stimmungen, die ihn häufig befielen, faßte er den ſonderbaren und folgenſchweren Entſchluß, daß kein andrer Menſch außer ſeiner Mutter jemals Einblick in dieſes Heft erlangen, jemals leſen ſollte, was er darin aufſchreiben würde. Solche Vorſätze ſtarrſinnig zu halten, dazu war er durchaus imſtande. Als wenige Tage nachher die Prinzeſſinnen von Kurland in Daumers Haus kamen, die mit Feuerbach befreundet waren und große Teilnahme für Caſpar hegten, kam zufälligerweiſe die Rede auf das Geſchenk, das der Präſident ſeinem Schützling gemacht, und da Daumer erzählte, es befände ſich in dem Büchlein ein ſehr gutes Stahlſtichporträt des Präſidenten, wünſchten die Damen das Heft gern zu ſehen. Zu aller Erſtaunen weigerte ſich Caſpar, es zu zeigen. Daumer warf ihm erſchrocken ſeine Unhöflichkeit vor, aber er blieb hartnäckig. Die Damen beſtanden nicht weiter darauf, ja ſie lenkten ſogar die Unterhaltung taktvoll in eine andre Richtung, aber als ſie fortgegangen waren, nahm Daumer den Jüngling ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund ſeiner Weigerung. Caſpar ſchwieg. „Und würdeſt du auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen vorenthalten?“ fragte Daumer. Caſpar ſah ihn groß an und antwortete treuherzig: „Sie werden es gewiß nicht verlangen, bitte ſchön!“ Daumer war ſehr betroffen und entfernte ſich ſtill. Gegen Abend kam Herr von Tucher, bat Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, und als ſie allein waren, ſagte er ohne weitere Einleitung: „Ich muß Sie leider davon in Kenntnis ſetzen, daß ich unſern Caſpar zweimal beim Lügen ertappt habe.“ Daumer ſchlug ſtumm die Hände zuſammen. Das fehlte nur noch, dachte er. Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! Ei du gütiger Himmel, wie war das zugegangen! Die Sache verhielt ſich ſo: Am Sonntag ſei er mit dem Bürgermeiſter in Caſpars Zimmer getreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den Jüngling erſucht, ihn in ſeine Wohnung zu begleiten. Da habe Caſpar, der bei den Büchern geſeſſen, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe ihm verboten, das Haus zu verlaſſen. Dem Bürgermeiſter ſei das gleich bedenklich erſchienen, beſonders da ihn Caſpar kaum anzuſehen gewagt, er habe ſich unauffällig bei Daumer erkundigt, wie dieſer ſich wohl erinnern werde, und ſeinen Verdacht beſtätigt gefunden. Am andern Tag ſeien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, während Daumer vom Hauſe fortgeweſen, zu Caſpar gekommen und hätten ihm ſeine Unwahrheit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblaſſen habe er ſein Vergehen zugeſtanden, habe aber, wie ein geſcheuchter Haſe in die Enge getrieben und den erſten beſten Ausweg ergreifend, albernerweiſe eine Geſchichte erfunden von einer Dame, die bei ihm geweſen und die ihm ein Geſchenk verſprochen, weshalb er auf ſie gewartet habe. „Auf unſer mehr beſtürztes als ſtrenges Zureden bekannte er ſich auch dieſer Unwahrheit ſchuldig,“ fuhr Herr von Tucher mit unerſchütterlichem Ernſt fort. „Er gab zu, daß er nur in Ruhe habe ſtudieren wollen und daß ihm kein andres Mittel eingefallen ſei, um die läſtigen Störungen abzuwenden. Inſtändig flehte er uns an, Ihnen nichts von ſeinem Fehltritt zu erzählen, er wolle es nie wieder tun. Ich hab’ mir’s aber überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es beſſer iſt, wenn Sie alles wiſſen. Es iſt vielleicht noch Zeit, um das böſe Laſter mit Erfolg zu bekämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz ſchauen, doch ich glaube noch immer an die Unverdorbenheit ſeines Gemüts, wenngleich ich überzeugt bin, daß uns nur die äußerſte Wachſamkeit und unerbittliche Maßnahmen vor gröberen Enttäuſchungen bewahren können.“ Daumer ſah vollkommen vernichtet aus. „Und das von einem Menſchen, auf deſſen heiliges Wahrheitsgefühl ich Eide geſchworen hätte,“ murmelte er. „Wenn Sie es nicht wären, der mir das erzählt, ich würde lachen. Noch vor einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken erachtet, der mir geſagt hätte, Caſpar ſei einer Lüge fähig.“ „Auch mir iſt es nahgegangen,“ verſetzte Herr von Tucher. „Aber wir müſſen Geduld haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen offen, warten Sie auf den nächſten gegründeten Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit wuchtiger Hand.“ Eine Lüge; nein, zwei Lügen auf einmal! Der arme Daumer, er wußte ſich keinen Rat. Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher nimmt den ganzen Vorgang zu ſchwer, ſagte er ſich; Herr von Tucher iſt eine ſehr gerechte Natur, aber ohne Zweifel ein Mann mit vielen Vorurteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit allen verfehmenden Zeichen der Übeltat auszuſtatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Leben nicht, das unſereinen unterſcheiden lehrt zwiſchen dem, was ſchlecht iſt und was der Andrang gebieteriſcher Umſtände auch dem Redlichſten entpreßt. Aber was geht mich Herr von Tucher an, hier handelt es ſich um Caſpar. Ich glaubte einſt, von ihm fordern zu dürfen, was keiner ſonſt von keinem fordern darf. War es eine Verblendung, eine Anmaßung von mir? Wir wollen ſehen; ich muß jetzt herausbekommen, ob er ſchon zu den Gewöhnlichen gehört oder ob ſein Wille noch einer unhörbar rufenden Stimme zu gehorchen fähig iſt. Hat ſich ſein Ohr jedem Geiſterhauch und -ſchall ſchon verſchloſſen, dann iſt ſeine Lüge eine Lüge wie jede andre, kann ich aber noch überſinnliche Kräfte des Verſtehens in ihm wecken, dann will ich die Philiſter verachten, die immer gleich mit dem Bakel erſcheinen. Es bedurfte einer ſchlafloſen Nacht, um dem ſonderbaren Plan Daumers, der eine Art Gottesurteil in ſich ſchließen ſollte, auf die Beine zu helfen. Die Weigerung Caſpars, ſein Tagebuch zu zeigen, gab den Anſtoß. Ich will ihn bewegen, mir aus eignem Trieb das Heft zu bringen, kalkulierte Daumer; ich will etwas wie eine metaphyſiſche Kommunikation zwiſchen mir und ihm herſtellen; ich werde ihn, ohne ein Wort zu ſprechen, mit meinem geiſtigen Verlangen zu erfüllen trachten und werde eine Stunde feſtſetzen, innerhalb deren das nur Gewünſchte zu geſchehen hat. Kann er folgen, ſo iſt alles gut; wenn nicht, dann ade, Wunderglaube, dann hat dieſer beredſame Materialiſt recht gehabt, mir die Seele wegzudiſputieren. Am Morgen, ſo gegen neun Uhr, kam Anna zu ihrem Bruder und ſagte, Caſpar gefalle ihr heute ganz und gar nicht; er ſei ſchon um fünf aufgeſtanden und es ſei eine Unruhe in ihm, die ſie noch nie wahrgenommen; beim Frühſtück habe er fortwährend ängſtlich um ſich herumgeſchaut und keinen Biſſen gegeſſen. Daumer lächelte. Sollte er jetzt ſchon ſpüren, was ich mit ihm vorhabe? dachte er, und ſeine Stimmung wurde mild und zuverſichtlich. Ein ſchicklicher Vorwand, die Frauen aus dem Haus zu ſchaffen, fand ſich ungezwungen; Frau Daumer mußte ohnehin auf den Markt, Anna wurde überredet, einige Beſuche zu machen. Um elf Uhr machte ſich Caſpar an ſeine Schularbeiten, Daumer ging ins Nebenzimmer, ließ aber die Tür offen. Er ſetzte ſich, das Geſicht gegen Caſpars Platz gerichtet, ein wenig hinter der Schwelle auf ein Stühlchen, und es gelang ihm alsbald, mit erſtaunlicher Energie all ſeine Gedanken auf das eine Ziel zu richten, auf dem einen Punkt zu ſammeln. Im Haus war es ſehr ſtill, kein Laut ſtörte das wunderliche Beginnen. Bleich und geſpannt ſaß er alſo und beobachtete, daß Caſpar häufig aufſtand und zum Fenſter trat. Einmal öffnete er das Fenſter, das andre Mal ſchloß er es wieder. Dann begab er ſich zur Tür und ſchien zu überlegen, ob er hinausgehen ſolle. Sein Auge war ohne Stetigkeit und ſein Mund eigentümlich gramvoll verzogen. Aha, es rumort in ihm, frohlockte Daumer, und immer, wenn Caſpar ſich dem Schränkchen näherte, in dem das blaue Heft wahrſcheinlich lag, bekam der unglückliche Magier vor Erwartung Herzklopfen. Wie weit war Caſpar davon entfernt, auch nur zu ahnen, was in Daumer vorging! zu ahnen, daß in dieſer Stunde ſein Geſchick und Weſen vor ein Tribunal geſtellt wurde! Es war ihm ungeheuer bang heute. Es war ihm ſo bang, daß er ein paarmal die ganz beſtimmte Vorſtellung hatte, es würde ihm etwas Schlimmes zuſtoßen. Ja, er hatte das unabweisbare Gefühl, daß einer unterwegs ſei, der ihm etwas zuleide tun werde. Erſtickend lag die Luft im Raum, die Wolken am Himmel blieben lauernd ſtehen; wenn durch die Baumkronen vor dem Fenſter eine Schwalbe ſtrich, ſah es aus, als ob eine ſchwarze Hand pfeilſchnell auf- und niedertauche; das Deckengebälk bog ſich niedriger, hinter dem Getäfel der Wand knackte es unheimlich. Caſpar ertrug es nicht mehr. Sein Blick ſtach, eine kühlſchaurige Angſt floß ihm durch die Haare, die Bruſt wurde eng, es trieb ihn hinaus, hinaus_... Plötzlich verließ er mit fliehenden Gebärden das Zimmer. Ruhig blieb Daumer ſitzen und ſtierte vor ſich hin wie einer, der aus dem Rauſch erwacht. Vorüber, die Friſt war verſtrichen. Er ſchämte ſich ſowohl ſeiner Niederlage als auch ſeines vermeſſenen Unterfangens, denn er war ja ein geſcheiter Kopf und hatte Selbſtbeſinnung genug, um die ſpieleriſche Willkür deſſen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. Trotzdem ergriff ihn eine finſtere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die ſich noch vor kurzem an den Namen Caſpar geknüpft, verurſachte ihm einen ſchalen Geſchmack auf der Zunge. Er faßte den unerſchütterlichen Vorſatz, ſein Leben wie ehedem dem Beruf, der Einſamkeit und den Studien zu widmen und die Kräfte des Geiſtes nur dort zu opfern, wo im Frieden der Erkenntnis und des Forſchens jede Gabe ſichtbar bezahlt wird. 8. Eine vermummte Perſon tritt auf Caſpar war in den Garten gegangen. Er lief über den feuchten Boden bis zum Zaun und ſchaute gegen den Fluß hinüber. Ein bleifarbener Dunſt umkleidete die Türmchen und ineinander geſchobenen Dächer der Stadt, nur das bunte Dach der Lorenzerkirche glänzte hell, doch glich alles zuſammen mehr einem Spiegelbild im Waſſer als einer greifbaren Wirklichkeit. Caſpar fröſtelte, und es war doch warm. Er wandte ſich wieder gegen das Haus. Als er das Pförtchen geöffnet hatte, machte ihn der leer daliegende Flur betroffen. Ein breiter Streifen Sonne, der über die Steinflieſen kam und zitternd die weißen Stufen der Wendeltreppe hinauflief, verſtärkte den Eindruck der Verlaſſenheit. Hinter einer Tür des Flurs, aus der Wohnung des Kandidaten Regulein, tönten Geigenklänge; der Kandidat übte. Den einen Fuß ſchon auf der Treppe, blieb Caſpar ſtehen und lauſchte. Da! Da war es! Da kam er! Ein Schatten erſt, dann eine Geſtalt, dann eine Stimme. Was ſagte die Stimme, die tiefe Stimme? Eine tiefe Stimme ſprach hinter ihm die Worte: „Caſpar, du mußt ſterben.“ Sterben? dachte Caſpar erſtaunt, und ſeine Arme wurden ſteif wie Hölzer. Er ſah einen Mann vor ſich ſtehen, der ein ſeidig-ſchwarzes, langhängendes, vom Zugwind ein wenig geblähtes Tuch vor dem Geſicht hatte. Er hatte braune Schuhe, braune Strümpfe und einen braunen Anzug. Über ſeinen Händen trug er Handſchuhe, und in ſeiner Rechten funkelte etwas Metallenes, funkelte ſchnell und erloſch. Er ſchlug Caſpar damit. Während Caſpar den gelähmten Blick nach oben zwang, ſpürte er einen donnernden Schmerz im Hirn. Auf einmal hörte der Kandidat Regulein auf, die Geige zu ſpielen. Es erſchallten Schritte, die wieder verklangen, doch mochte der Vermummte ſtutzig geworden ſein und die Furcht ihn verhindern, zum zweitenmal auszuholen. Als Caſpar die Augen auftat, über die von der Mitte der Stirn herunter eine brennende Näſſe floß, war der Mann verſchwunden. Ei, hätte er nur nicht Handſchuhe gehabt, unter tauſend Händen wollte ich ſeine Hand erkennen, dachte Caſpar, indem er zur Seite torkelte. An der Schmalſeite des Flurs fand er keinen Halt; er probierte die Stiege hinaufzuklimmen, aber der Sonnenſtreifen erſchien wie ein hindernder Strom Feuers. Er glitt nieder, umklammerte die Steinſäule und blieb eine halbe Minute lautlos ſitzen, bis ihn die Angſt packte, der Vermummte könne wieder zurückkommen. Mit aller Kraft hielt er das fliehende Bewußtſein noch feſt, richtete ſich auf, taumelte vorwärts und taſtete ſich an der Wand entlang, als ſuche er ein Loch, um ſich zu verkriechen. Als er bei der Kellertreppe war, gab die nur angelehnte Tür dem Druck ſeiner Hand nach, ſo daß er faſt hinuntergeſtürzt wäre. Kaum ſehend und ohne zu überlegen tappte er ſo ſchnell wie möglich die finſteren Stufen hinunter, denn ſchon glaubte er den Vermummten hinter ſich. Als er im Keller war, ſpritzte Waſſer von ſeinen Schritten auf; es war Regenwaſſer, das bei ſchlechtem Wetter hier unten Pfützen bildete. Endlich fand er einen trockenen Winkel; während er ſich niederließ und ſich, voller Furcht und Grauen, förmlich zuſammenrollte, hörte er noch von den Turmuhren zwölf ſchlagen, danach ſah und fühlte er nichts mehr. Um viertel eins kamen die Daumerſchen Frauen zurück. Anna, die im Flur voranging, gewahrte die große Blutlache vor der Stiege und ſchrie auf. Gleichzeitig kam der Kandidat Regulein aus ſeiner Wohnung und meinte: „Na, was iſt denn das für eine Beſcherung!“ Die alte Frau, die an nichts Schlimmes dachte, äußerte ſich, wahrſcheinlich habe jemand Naſenbluten gehabt. Anna jedoch, mehr und mehr voll Ahnung, wies auf die blutigen Fingerabdrücke hin, die an der Mauer bis zur Kellertür ſichtbar waren. Sie ſprang hinauf, ihr erſter Gedanke war Caſpar, ſie ſuchte ihn in allen Zimmern und ſagte zum Bruder: „Du, da unten iſt alles voll Blut.“ Daumer erhob ſich mit einem beklommenen Ausruf vom Schreibtiſch und eilte hinaus. Inzwiſchen war der Kandidat der Blutſpur bis in den Keller gefolgt. Mit heiſerer Stimme ſchrie er von unten nach Licht und fügte gellend hinzu: „Da unten iſt er, da liegt der Hauſer! Hilfe, Hilfe, ſchnell!“ Alle drei Daumers ſtürzten in den Keller, Anna kam keuchend wieder zurück, um die Kerze zu holen, die andern verſuchten, den verkauerten Körper Caſpars aufzurichten, und dann trugen ſie ihn ſelbdritt hinauf. „Zum Arzt, zum Arzt!“ kreiſchte Frau Daumer der entgegenrennenden Anna zu, die das Licht ausblies, zu Boden warf und davonſprang. Als Caſpar endlich oben auf dem Bett lag, wuſchen ſie das geſtockte Blut von ſeinem Geſicht, und es kam eine nicht unbedeutende Wunde inmitten der Stirn zum Vorſchein. Daumer lief mit gerungenen Händen im Zimmer auf und ab und ſtöhnte fortwährend: „Das muß mir paſſieren! Das muß in meinem Haus paſſieren! Ich hab’s ja gleich geſagt, ich hab’s immer gewußt!“ Der Platz vor dem Haus war ſchon voller Menſchen, als Anna mit dem Arzt zurückkam. Im Flur ſtanden einige Magiſtrats- und Polizeileute. Ein wenig ſpäter erſchien auch der Gerichtsarzt; beide Doktoren verſicherten, daß die Wunde ungefährlich ſei, ob aber das Gemüt des Jünglings nicht eine bedenkliche Erſchütterung erlitten habe, ließen ſie dahingeſtellt. Ein amtliches Protokoll konnte nicht aufgenommen werden, Caſpar war immer nur kurze Zeit bei Beſinnung; er ſtammelte dann ein paar Worte, die allerdings das, was mit ihm geſchehen war, wie unter Blitzesleuchten erkennbar machten, ſprach von dem Vermummten, von ſeinen glänzenden Stiefeln und gelben Handſchuhen, fiel aber danach in heftige Wahn- und Fieberdelirien. Bei der Beſichtigung der Lokalität wurde der Weg entdeckt, auf dem der Unbekannte ins Haus gedrungen war: unter der Stiege befand ſich nämlich gegen den Baumannſchen Garten ein kleines Türchen, deſſen Vorlegeſchloß zerſprengt war. Die Vernehmung Daumers war fruchtlos, er ſtand kaum Rede. Gegen Abend kam Herr von Tucher und teilte mit, daß man einen Eilboten an den Präſidenten Feuerbach abgefertigt habe. Das Bürgermeiſteramt hatte ſogleich umfaſſende Nachforſchungen veranſtaltet. An allen Haupt- und Nebentoren der Stadt wurde die Wache zu erhöhter Aufmerkſamkeit verpflichtet; die Wirtshäuſer und Herbergen, wo Leute gemeinen Schlags ſich aufzuhalten pflegten, wurden ſorgfältig durchſucht, auch wurden die Gendarmerie und die benachbarten Landgemeinden zu tätiger Vigilanz aufgefordert. An die Amtstafel des Rathauſes wurde eine öffentliche Bekanntmachung angeſchlagen, und zwei Aktuare und die halbe Polizeimannſchaft wurden mit der Verfolgung des Frevlers betraut. Die Untat geſchah an einem Montag; eine zu leitende Gerichtsverhandlung hinderte unglücklicherweiſe den Präſidenten, ſofort nach Nürnberg zu kommen, erſt am Donnerstag traf er mit Extrapoſt in der Stadt ein und begab ſich unverzüglich aufs Rathaus. Er ließ ſich vom Magiſtratsvorſtand über die polizeilichen Maßregeln und deren Ergebniſſe Bericht erſtatten, zeigte ſich aber mit allem ſo unzufrieden und geriet über eine Reihe von Mißgriffen in ſolchen Zorn, daß die ganze Beamtenſchaft den Kopf verlor. Über die vom Aktuar ihm vorgelegten Protokolle und Zeugenausſagen machte er ſarkaſtiſche Bemerkungen; da war eine Hallwächtersfrau, welche am Schießgraben beim Hauptſpital einen wohlgekleideten Herrn geſehen hatte, der ſich in einer Feuerkufe die Hände wuſch; da war ein Öbſtnerweib, die in Sankt Johannis einem Fremden begegnet war, welcher ſich bei ihr erkundigt hatte, wer am Tiergärtner Tor Examinator ſei und ob man, ohne angehalten zu werden, in die Stadt gelangen könne; da waren verdächtige Handwerksburſchen und unterſtandsloſe Strolche verhaftet worden; da hatte man zwei Kerle beobachtet, den einen im hellen Schalk, den andern im dunkeln Frack, die auf der Fleiſchbrücke zuſammengekommen waren und einander Zeichen gegeben hatten. „Zu ſpät, zu ſpät,“ knirſchte der Präſident. „Warum hat man nicht die Namensliſte der zu- und abgereiſten Fremden in den Gaſthöfen kontrolliert?“ fuhr er den zitternden Aktuar an. „Die Spuren laufen nach vielen Richtungen,“ bemerkte ſchüchtern der Unglückliche. „Gewiß, die Unfähigkeit hat viele Wege,“ antwortete der Präſident beißend, und mit Bedeutung fügte er hinzu: „Hören Sie, Mann Gottes! Der Übeltäter, auf den wir da fahnden, wäſcht ſeine Hände nicht auf offener Straße, er läßt ſich mit keinem Öbſtnerweib in Geſpräche ein und braucht keinen Examinator zu fürchten. Zu niedrig habt ihr gegriffen, viel zu niedrig.“ Er nahm einen Schreiber mit, um den Lokalaugenſchein im Daumerſchen Haus nochmals ſelbſt vorzunehmen. Der Magiſtratsrat Behold begleitete ihn und ward ihm durch mannigfaches Reden läſtig; unter anderm äußerte Behold, er habe gehört, Profeſſor Daumer wolle Caſpar nicht länger behalten, und machte ſich erbötig, dem Jüngling in ſeinem Haus Obdach zu gewähren. Feuerbach hielt dies für leeres Geſchwätz und entledigte ſich des Mannes, indem er ihn mit einem Auftrag zu Herrn von Tucher ſchickte. Aber als er dann mit Daumer ſprach, erregte deſſen Zerfahrenheit ſein Befremden. Um ihn nicht noch mehr zu verwirren, legte Feuerbach das Verhör mit ihm ſo an, daß es mehr einer freundſchaftlichen Unterhaltung glich. Daumer erinnerte ſich der geheimnisvollen Begegnung, die Caſpar vor der Egydienkirche gehabt hatte, und rückte damit heraus. „Und davon erfährt man jetzt erſt?“ brauſte der Präſident auf. „Und hatte die Sache keine unmittelbaren Folgen? Haben Sie nachher nichts Verdächtiges beobachtet?“ „Nein,“ ſtotterte Daumer, in Furcht geſetzt durch den ſtählern durchdringenden Blick des Präſidenten. „Das heißt, eines fällt mir noch ein: ich traf am ſelben Abend bei Frau Behold einen Herrn, der ſich mir gegenüber in ganz ſeltſamen Andeutungen oder Warnungen gefiel, wie man es auffaſſen ſoll, weiß ich nicht.“ „Was war der Mann? Wie hieß er?“ „Man ſagte, es ſei ein zugereiſter Diplomat, des Namens entſinne ich mich nicht. Oder doch, jawohl: Herr von Schlotheim-Lavancourt; er ſoll ſich aber unter falſchem Namen hier aufgehalten haben.“ „Wie ſah er aus?“ „Dick, groß, ein wenig pockennarbig, ein hoher Fünfziger.“ „Schildern Sie mir das Geſpräch mit ihm.“ Daumer gab, ſo gut er es vermochte, den Inhalt der Unterredung. Feuerbach verſank in langes Nachdenken, dann ſchrieb er einige Notizen in ſein Taſchenbuch. „Laſſen Sie uns zu Caſpar gehen,“ ſagte er, ſich erhebend. Caſpars Stirn war noch verbunden; das Geſicht war beinahe ſo weiß wie das Tuch; auch das Lächeln, womit er den Präſidenten empfing, war gleichſam weiß. Er hatte bereits drei oder vier Verhöre überſtanden; ſchon beim erſten hatte er alles Erzählenswerte erzählt; das hielt den guten Amtsſchimmel nicht ab, immer wieder von neuem anzutraben, man fragte die Kreuz und Quer, um das Opfer auf einem Widerſpruch zu erwiſchen; mit Widerſprüchen kann man arbeiten, wenn einer jedesmal dasſelbe ſagt, wird die Geſchichte ausſichtslos. Der Präſident unterließ das Fragen; er fand einen veränderten Menſchen in Caſpar; es war etwas Beklommenes an ihm, ſein Blick war weniger frei, nicht mehr ſo tiefſtrahlend und ſeltſam ahnungslos, näher an die Dinge gekettet. Während die Frauen ſich über Caſpars Befinden befriedigt äußerten, kam auch der Arzt und beſtätigte gern, daß von irgendwelcher Gefahr keine Rede mehr ſein könne. In einem Ton, der mehr Befehl als Wunſch enthielt, ſagte der Präſident, er hoffe, daß in dieſen Tagen fremde Beſucher ohne Ausnahme abgewieſen würden. Daumer erwiderte, das verſtehe ſich von ſelbſt, erſt dieſen Morgen habe er einem betreßten Lakaien abſchlägigen Beſcheid geben laſſen. „Es war der Diener eines vornehmen Engländers, der im Gaſthof zum Adler wohnt,“ fügte Frau Daumer hinzu; „er war übrigens nach einer Stunde noch einmal da, um ſich ausführlich zu erkundigen, wie es Caſpar ginge.“ Es klopfte an die Tür, Herr von Tucher trat ein, begrüßte den Präſidenten und machte nach kurzer Weile eine überraſchende Mitteilung: derſelbe Engländer, ein anſcheinend ſehr reicher Graf oder Lord, habe dem Bürgermeiſter einen Beſuch abgeſtattet und ihm hundert Dukaten überreicht als Belohnung für denjenigen, dem es gelingen würde, den Urheber des an Caſpar verübten Überfalls zu entdecken. Ein erſtauntes Schweigen entſtand, welches der Präſident mit der Frage unterbrach, ob man wiſſe, weshalb ſich der Fremde in der Stadt aufhalte. Herr von Tucher verneinte. „Man weiß nur, daß er vorgeſtern abends angekommen iſt,“ antwortete er; „ein Rad ſeines Wagens ſoll in der Nähe von Burgfarrnbach gebrochen ſein, und er wartet hier, bis der Schaden ausgebeſſert iſt.“ Der Präſident zog die Brauen zuſammen, Argwohn umdüſterte ſeinen Blick; ſo wird der Jagdhund ſtutzig, wenn ſich abſeits von verwirrenden Fährten eine neue Spur zeigt. „Wie nennt ſich der Mann?“ fragte er ſcheinbar gleichgültig. „Der Name iſt mir entfallen,“ entgegnete Baron Tucher, „doch ſoll es in der Tat ein hoher Herr ſein, Bürgermeiſter Binder preiſt ſeine Leutſeligkeit in allen Tönen.“ „Hohe Herren gelten ſchon für leutſelig, wenn ſie einem auf den Fuß treten und ſich nachher freundlich entſchuldigen,“ ließ ſich Anna, die an Caſpars Bett ſaß, naſeweis vernehmen. Daumer warf ihr einen ſtrafenden Blick zu, doch der Präſident brach in eine ſchmetternde Lache aus, die auf alle anſteckend wirkte; noch minutenlang kicherte er vor ſich hin und zwinkerte vergnügt mit den Augen. Bloß Caſpar nahm an dem heiteren Zwiſchenſpiel keinen Teil, ſein Blick war nachdenklich ins Freie gerichtet, er wünſchte jenen Mann zu ſehen, der aus weiter Ferne kam und ſo viel Geld hergab, damit der gefunden werde, der ihn geſchlagen. Aus weiter Ferne! Das war es; nur aus weiter Ferne konnte kommen, wonach Caſpar Verlangen trug, vom Meere her, von unbekannten Ländern her. Auch der Präſident kam aus der Ferne, aber doch nicht von ſo weit, daß ſeine Stirn gefärbt war von fremdem Schein, daß ein ſüßer Wind an ſeinen Kleidern hing oder daß ſeine Augen wie die Sterne waren, ohne Vorwurf, ohne das ewige Fragen. Der aus der Ferne kam, im ſilbernen Kleid vielleicht und mit vielen Roſſen, der brauchte nicht zu fragen, er wußte alles von ſelbſt, die andern aber, alle die Nahen, die immer da waren, immer hereingingen und immer wieder fort, ſie ſahen niemals aus, als ob ſie von ſchäumenden Roſſen geſtiegen wären, ihr Atem war dumpf wie Kellerluft, ihre Hand müde wie keines Reiters Hand; ihr Antlitz war vermummt, nicht ſchwarz vermummt wie das Geſicht deſſen, der ihn geſchlagen und der ihm ſo nah geweſen wie keiner ſonſt, ſondern undeutlich vermummt; darum redeten ſie mit unreiner Stimme und in verſtellten Tönen, und darum war es auch, daß Caſpar ſich jetzt verſtellen mußte und nicht mehr imſtande war, ihnen feſt ins Auge zu ſehen und alles zu ſagen, was er hätte ſagen können. Er fand es heimlicher und trauriger zu ſchweigen als zu reden, beſonders wenn ſie darauf warteten, daß er reden ſolle; ja, er liebte es, ein wenig traurig zu ſein, viele Träume und Gedanken zu verbergen und ſie zu dem Glauben zu bringen, daß ſie ihm doch nicht nahkommen könnten. Daumer war zu ſehr mit ſich ſelbſt beſchäftigt und zu bedrückt von der bevorſtehenden Ausführung eines unabänderlichen Entſchluſſes, um darauf zu achten, ob Caſpar ihm noch in derſelben kindlich offenen Weiſe entgegenkomme wie ſonſt. Erſt Herr von Tucher war es, der auf gewiſſe Sonderbarkeiten in Caſpars Betragen hinwies, und er ließ auch gegen den Präſidenten einige Andeutungen darüber fallen, als ſie zuſammen aus dem Daumerſchen Haus gingen. Der Präſident zuckte die Achſeln und ſchwieg. Er bat den Baron, ihn nach dem Gaſthof zum Adler zu begleiten; dort erkundigten ſie ſich, ob der engliſche Herr zu Hauſe ſei, erfuhren jedoch, daß Seine Herrlichkeit Lord Stanhope, ſo drückte ſich der Kellner aus, vor einer knappen Stunde abgereiſt war. Der Präſident war unangenehm überraſcht und fragte, ob man wiſſe, welche Richtung der Wagen genommen habe; das wiſſe man nicht genau, ward geantwortet, doch da er das Jakobstor paſſiert, ſei zu vermuten, daß er die Richtung nach Süden, etwa nach München, eingeſchlagen habe. „Zu ſpät, überall zu ſpät,“ murmelte der Präſident. „Ich hätte gern gewußt,“ wandte er ſich an Herrn von Tucher, „was Seine Herrlichkeit bewogen hat, ſo viel Dukaten aufs Rathaus zu tragen.“ Das Geſicht Feuerbachs war dermaßen zerarbeitet von Gedanken und Sorgen, von der Anſtrengung einer beſtändigen Wachſamkeit wie von der Glut eines zehrenden Temperaments, daß es dem eines Kranken oder eines Beſeſſenen glich. Und ſo war es ſeit Monaten. Die ihm unterſtellten Beamten fürchteten ſeine Gegenwart; die geringſte Pflichtverletzung, ja, der geringſte Widerſpruch brachte ihn zur Raſerei, und waren die Ausbrüche ſeines Zornes ſchon von jeher furchtbar geweſen, ſo zitterten ſie jetzt um ſo mehr davor, als der unbedeutendſte Anlaß einen ſolchen Sturm heraufbeſchwören konnte. Dann gellte ſeine Stimme durch die Hallen und Korridore des Appellgerichts, die Bauern auf dem Markt unten blieben ſtehen und ſagten bedauernd: „Die Exzellenz hat das Grimmen,“ und vom Regierungsrat bis zum letzten Schreibersmann ſaß alles blaß und artig auf den Stühlen. Vielleicht hätten ſie williger dies Joch getragen, wenn ſie gewußt hätten, welche Pein dadurch dem Urheber ſelbſt bereitet ward, wie ſehr er, beſiegt durch ſein eignes Wüten, Scham und Reue litt, ſo daß er bisweilen, wie um durch irgendeine Handlung ſich loszukaufen, dem erſtbeſten Bettler auf der Gaſſe eine Silbermünze hinwarf. Sie ahnten freilich nicht, daß die trüben Nebel dieſer Laune ein bewegtes Widerſpiel von Pflicht und Ehre bargen und daß hier ein Genius am Werk war, um inmitten ſcheinbarer Unraſt und Friedloſigkeit ein Wunderwerk der Kombination zu ſchaffen und mit wahrem Seherblick eine Hölle von Verworfenheit und Miſſetat zu durchdringen. Mit Zaubrerhand war es ihm gelungen, aus den dunkeln Fäden, die das Schickſal Caſpar Hauſers an eine unbekannte Vergangenheit banden, ein Gewebe zu knüpfen, auf welchem jählings wie in Brandlettern flammte, was durch die Fügung der Umſtände und die Zeit ſelbſt mit Finſternis bedeckt war. Voll Schrecken ſtand er vor ſeiner Schöpfung, denn der Boden ſeiner Exiſtenz wankte unter ihm. Es gab für ihn keinen Zweifel mehr. Aber durfte er es wagen, mit der fürchterlichen Wahrheit auf den Plan zu treten und die Rückſicht hintanzuſetzen, die ihm durch ſein Amt und das Vertrauen ſeines Königs auferlegt war? Schien es nicht beſſer, das Geſchäft des Spions in Heimlichkeit weiter zu betreiben, um den ränkevollen Gewalten, tückiſch wie ſie ſelbſt, erſt bei gelegener Stunde in den Rücken zu fallen? Es war nichts zu gewinnen, nicht einmal Dank, aber alles war zu verlieren. O Qual, dachte er oft in ſchlafloſen Nächten, ſonderbare Qual, dem rechtloſen Treiben als beſtellter Wächter und mit untätiger Hand zuſehen zu müſſen, groß und kleine Sünde am ungenügenden Geſetz zu meſſen, die Feder auf den Buchſtaben zu ſpießen, indes das Leben ſeine Bahn läuft und Form auf Form gebiert, zerſtört, niemals Herr der Taten zu ſein, immer Spürhund der Täter und nie zu wiſſen, was zu verhüten ſei, was zu befördern! Er wäre nicht der geweſen, der er war, wenn er nicht einen Weg zwiſchen Öffentlichkeit und feigem Verſchweigen gefunden hätte, der ſeiner Selbſtachtung Genüge tat. Er richtete ein ausführliches Memorial an den König, worin er mit bedächtiger Gliederung aller Merkmale den Fall darlegte, frei und kühn vom Anfang bis zum Ende; ein Hammerſchlag jeder Satz. Das Schriftſtück begann mit der Auseinanderſetzung, daß Caſpar Hauſer kein uneheliches, ſondern ein eheliches Kind ſein müſſe. Wäre er ein uneheliches Kind, hieß es, ſo wären leichtere, weniger grauſame und weniger gefährliche Mittel angewendet worden, um ſeine Abſtammung zu verheimlichen, als die ungeheure Tat der viele Jahre lang fortgeſetzten Gefangenhaltung und endlichen Ausſetzung. Je vornehmer eines der Eltern war, deſto müheloſer konnte das Kind entfernt werden, und noch weniger Urſache zu ſo bedeutenden und verräteriſchen Anſtalten hätten Leute geringen Standes und geringen Vermögens gehabt; das Brot und Waſſer, welches Caſpar im verborgenen verzehren mußte, hätte man ihm auch vor aller Welt reichen dürfen. Denkt man ſich Caſpar als uneheliches Kind hoher oder niedriger, reicher oder armer Eltern, in keinem Fall ſteht das Mittel im Verhältnis zum Zweck. Und wer übernimmt grundlos die Laſt eines ſo ſchweren Verbrechens, zumal wenn er dabei die angſtvolle Plage hat, es für unabſehbare Zeit Tag für Tag wieder und wieder verüben zu müſſen? Aus alledem geht hervor, ſo fuhr der unerbittliche Ankläger fort, daß ſehr mächtige und ſehr reiche Perſonen an dem Verbrechen beteiligt ſind, welche über gemeine Hinderniſſe unſchwer hinwegſchreiten, welche durch Furcht, außerordentliche Vorteile und glänzende Hoffnungen willige Werkzeuge in Bewegung ſetzen, Zungen feſſeln und goldene Schlöſſer vor mehr als einen Mund legen können. Ließe es ſich ſonſt erklären, daß die Ausſetzung Caſpars in einer Stadt wie Nürnberg am hellen Tage erfolgen und der Täter ſpurlos verſchwinden konnte; daß durch alle ſeit vielen Monaten mit unermüdlichem Eifer betriebenen Nachforſchungen kein rechtlich geltend zu machender Umſtand entdeckt werden konnte, der auf einen beſtimmten Ort oder einen beſtimmten Menſchen führte, daß ſelbſt hohe Belohnungen keine einzige befriedigende Anzeige veranlaßten? Deshalb muß Caſpar eine Perſon ſein, mit deren Leben oder Tod weittragende Intereſſen verkettet ſind, folgerte Feuerbach. Nicht Rache und nicht Haß konnten Motive zur Einkerkerung geweſen ſein, ſondern er wurde beſeitigt, um andern Vorteile zuzuwenden und zu ſichern, die ihm allein gebührten. Er mußte verſchwinden, damit andre ihn beerben, damit andre ſich in der Erbſchaft behaupten konnten. Er muß von hoher Geburt ſein, dafür ſprechen merkwürdige Träume, die er gehabt und die ſonſt nichts ſind als wiedererwachte Erinnerungen aus früher Jugend, dafür ſprechen der ganze Verlauf ſeiner Gefangenſchaft und die daraus ſich ergebenden Schlüſſe; er wurde freilich im Kerker gehalten und ſpärlich ernährt, aber man hat Beiſpiele von Menſchen, die nicht in böswilliger, ſondern in wohltätiger Abſicht eingekerkert wurden, nicht um ſie zu verderben, ſondern um ſie gegen diejenigen zu ſchützen, die ihnen nach dem Leben getrachtet. Vielleicht auch, daß durch ſein bloßes Daſein ein Druck ausgeübt werden ſollte auf jemand, der mit zauderndem Gewiſſen an der Unternehmung teilgehabt und doch nicht wagen durfte, Einſpruch zu erheben. Es wurde Sorgfalt und Milde an Caſpar geübt; warum? Warum hat ihn der Geheimnisvolle nicht getötet? Warum nicht einen Tropfen Opium mehr in das Waſſer getan, das ihn bisweilen betäuben ſollte? Das Verließ für den Lebendigen wurde ein doppelt ſicheres für den Toten. Wenn nun in irgendeiner hohen, oder nur vornehmen, oder nur angeſehenen Familie in Caſpars Perſon ein Kind verſchwunden wäre, ohne daß man über deſſen Tod oder Leben und wie es hinweggekommen, etwas in Erfahrung brachte, ſo müßte doch längſt öffentlich bekannt ſein, in welcher Familie dies Unglück vorgefallen. Da aber ſeit Jahren und unerachtet Caſpars Schickſal ein weitbeſprochenes Ereignis geworden, nicht das mindeſte davon verlautet hat, ſo iſt Caſpar unter den Geſtorbenen zu ſuchen. Das will heißen: ein Kind wurde für tot ausgegeben und wird noch jetzt dafür gehalten, welches in Wirklichkeit am Leben iſt, und zwar in der Perſon Caſpars; das will heißen, ein Kind, in deſſen Perſon der nächſte Erbe oder der ganze Mannesſtamm ſeiner Familie erlöſchen ſollte, wurde beiſeitegeſchafft, um nie wieder zu erſcheinen; es wurde dieſem Kind, das vielleicht gerade krank gelegen, ein andres, totes oder ſterbendes Kind unterſchoben, dieſes als tot ausgeſtellt und begraben und ſo Caſpar in die Totenliſte gebracht. War der Arzt im Spiel, hatte er Befehl, das Kind zu morden, fand er jedoch in ſeinem Herzen oder in ſeiner Klugheit Gründe, den Auftrag ſcheinbar zu vollziehen und das Kind zu retten, ſo konnte der fromme Betrug leichterdings vollzogen werden. Hier handelte jeder auf höhere Weiſung, aber wo war der gebietende Mund? Wo der mächtige Geiſt, der ein ſolches Gewicht von Verantwortung für ewige Zeiten zu tragen unternahm? Wo das Haus, in welchem das Unerhörte geſchah? An dieſer Stelle des Berichts ſtockte die Hand des Präſidenten, — tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, ſondern mit dem ſchmerzlichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Verderbens ſicher iſt, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürſtenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht, die Majeſtät auch des eignen Königs beleidigen, geheiligte Überlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart ſtacheln? Doch wie nie zuvor empfand er die zeugende Gewalt des Wortes und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. Er nannte das Haus mit Namen. Er wies nach, daß das alte Geſchlecht jählings, in auffallender Weiſe und gegen jede menſchliche Vermutung im Mannesſtamm erloſchen ſei, um einem aus morganatiſcher Ehe entſproſſenen Nebenzweig Platz zu machen. Nicht etwa in einer kinderloſen, ſondern in einer mit Kindern wohlgeſegneten Ehe hatte ſich dies Ausſterben ereignet, und nur die Söhne ſtarben, die Töchter aber lebten weiter. So wurde die Mutter zur wahrhaften Niobe, doch traf Apollos tötendes Geſchoß ohne Unterſchied Söhne und Töchter, hier aber ging der Würgengel an den Töchtern vorüber und erſchlug die Söhne. Und nicht bloß auffallend, ſondern einem Wunder ähnlich, daß der Würgengel ſchon an der Wiege der Knaben ſtand und ſie herausgriff mitten aus der Reihe blühender Schweſtern. Wie wäre es erklärbar, fragte Feuerbach, daß eine Mutter demſelben Vater drei geſunde Töchter gebiert und als Söhne lauter Sterblinge? Darin iſt kein Zufall, behauptete er furchtlos, ſondern Syſtem, oder man muß glauben, die Vorſehung ſelbſt habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der Natur eingegriffen und Außerordentliches getan, um einen politiſchen Streich auszuführen. Nicht lange nach dem Erſcheinen Caſpars hat ſich in Nürnberg das Gerücht verbreitet, Caſpar ſei ein für tot ausgegebener Prinz jenes Geſchlechts, und immer wieder redeten die dunkeln Stimmen, ſogar von einer angeblichen Geiſtererſcheinung wurde, wie öffentliche Blätter erzählten, die Behauptung gewagt, daß die gegenwärtigen Regenten den Thron durch Uſurpation beſäßen und daß noch ein echter Prinz am Leben ſei. Gerüchte ſind freilich nur Gerüchte; aber ſie fließen oft aus guten Quellen; ſie haben, wo es geheime Verbrechen gibt, häufig ihre Entſtehung darin, daß ein Mitſchuldiger geplaudert, oder mit ſeinem Vertrauen zu freigebig geweſen, oder eine Unvorſichtigkeit begangen, oder ſein Gewiſſen erleichtern wollte, oder ſeine getäuſchten Hoffnungen zu rächen ſich vorgeſetzt, oder im ſtillen die Entdeckung der Wahrheit herbeizuführen geſucht, ohne die Rolle des Verräters ſpielen zu müſſen. Der Präſident nannte nicht bloß die Dynaſtie mit Namen und das Land, das ihr erbeigen war, er nannte auch den Fürſten, deſſen plötzlicher Tod vor mehr als einem Jahrzehnt Argwohn erregt hatte, er nannte die Fürſtin, die, von hocherlauchter Abkunft, in ſelbſterwählter Einſamkeit ein unfaßbares Geſchick betrauerte; er nannte diejenigen, die ſo über Leichen hinweg zum Thron geſchritten, und neben dem Bild eines ſchwachen, doch ehrgeizigen Mannes tauchte die Geſtalt eines Weibes auf, voll von dämoniſchem Weſen, der regierende Wille über dem grauſen Geſchehen. Es war etwas von der Bitterkeit eignen Erlebens in den unumwundenen Hinweiſen des Präſidenten. Denn er kannte die höfiſche Welt, in der Tücke und Hinterliſt in eine Wolke von Wohlgerüchen gebettet ſind und wo die Niedertracht ihre Opfer mit heuchleriſchen Gnaden betäubt; er hatte ihre Luft geatmet, er hatte von ihren Tiſchen geſpeiſt, von ihrem Gift genoſſen, den beſten Teil ſeines Lebens und ſeiner Kräfte in ihrem Dienſt vergeudet und war für die reinſte Hingebung mit Schmach und Verfolgung belohnt worden; er kannte ihre Kreaturen und Helfershelfer, er kannte ſie, denen die Geſchichte nichts bedeutet als eine Stammbaumchronik, Religion eine Prieſterlitanei, Philoſophie einen fluchwürdigen Jakobinismus, Politik einen Blindekuhreigen mit Noten und Protokollen, der Staatshaushalt ein Rechenexempel ohne Probe, Menſchenrechte ein Pfänderſpiel, der Monarch ein Schild ihrer eignen Größe, das Vaterland ein Pachtgut und Freiheit das ſträfliche Vermeſſen aberwitziger Toren. Die unerſetzlichen Jahre ſchrien hinter ſeinen Worten hervor, erlittene Zurückſetzung und ein verfinſterter Geiſt. Er wollte ſeiner ſelbſt nicht gedenken, doch die Worte entſchleierten ſeinen Gram, wenn auch nicht für das Auge des Königs, der nur zu leſen brauchte, was geſchrieben ſtand. Die Schrift ward unter Anwendung peinlicher Vorſicht abgeſandt, damit ſie in keine andern Hände als in die des Regenten gerate, und der Präſident wartete von Woche zu Woche vergeblich auf Erwiderung, auf einen Beſcheid, auf irgendein Zeichen. Da kam die Kunde von dem Mordanfall auf Caſpar. Feuerbach reiſte nach Nürnberg; ſeine eignen Maßnahmen hatten ſo wenig Erfolg wie die der Polizei. Am zehnten Tag ſeines Aufenthalts erhielt er ein Schreiben aus der königlichen Privatkanzlei, worin mit gebührendem Dank von ſeinen Mitteilungen Notiz genommen und mit Anerkennung des nicht genug zu beſtaunenden Scharfſinns in der Entwirrung verwickelter Verhältniſſe gedacht war, das aber in allen weſentlichen Punkten eine ſpröde Zurückhaltung zeigte; man werde prüfen; man werde überlegen; man müſſe abwarten; gewichtige Rückſichten ſeien zu beachten; leicht erklärliche Beziehungen legten unbequeme Pflichten auf; die Natur des Unglaublichen ſelbſt veranlaſſe eher zur Verwunderung, zur Beſtürzung als zu unbeſonnenem Eingreifen; doch verſpreche man, ja man verſpreche; vor allem werde Schweigen empfohlen, unbedingtes Schweigen; bei Verluſt aller Gnade dürfe keine derartige Kunde als authentiſch durch den Mund eines hohen Staatsbeamten nach außen dringen: man erwarte über den Punkt Verſtändigung und Unterwerfung. Die Wirkung dieſes geheimen Erlaſſes, mit welchem man ihm zugleich ſchmeichelte und drohte, der einer freundlich dargereichten Hand glich, worin der geſchliffene Dolch blitzte, war um ſo heftiger, als der Inhalt längſt geahnt und gefürchtet war. Feuerbach ſchäumte. Er zertrat das Sendſchreiben mit den Füßen; er rannte mit keuchender Bruſt, die Fäuſte gegen die Schläfen gedrückt, eine ganze Weile im Zimmer auf und ab, dann ſtürzte er aufs Bett, das Sauſen ſeiner Pulſe beängſtigte ihn und er erlöſte ſich ſchließlich in einem lauten, langen Gelächter voll Wut und Zorn. Dann blieb er ſtundenlang liegen und konnte nichts andres denken als das einzige Wort: Schweigen, Schweigen, Schweigen. An demſelben Nachmittag war der Bürgermeiſter Binder mehrmals im Gaſthof geweſen und hatte den Präſidenten zu ſprechen gewünſcht. Der Kellner war ſtets mit dem Beſcheid zurückgekommen, ſein Pochen ſei vergeblich, der Herr Staatsrat ſcheine zu ſchlafen oder wünſche nicht geſtört zu werden. Gegen Abend kam Binder wieder und wurde endlich vorgelaſſen. Er fand den Präſidenten in ein Aktenheft vertieft, und ſeine Entſchuldigung wurde mit der verletzend kurzen Bitte erwidert, er möge zur Sache kommen. Der Bürgermeiſter trat betroffen einen Schritt zurück und ſagte ſtolz, er wiſſe nicht, wodurch er ſich das Mißfallen Seiner Exzellenz zugezogen haben könne, doch wie dem auch ſei, er müſſe eine derartige Behandlung zurückweiſen. Da erhob ſich Feuerbach und entgegnete: „Ums Himmels willen, Mann, laſſen Sie das! Wer auf einem Scheiterhaufen ſchmort, hat einigen Grund, wenn er die Regeln der Höflichkeit vergißt!“ Binder ſenkte den Kopf und ſchwieg verwundert. Dann erklärte er den Zweck ſeines Beſuchs. Daß Daumer die Abſicht habe, Caſpar aus ſeinem Haus zu entfernen, ſei dem Präſidenten wahrſcheinlich bekannt. Da nun der Jüngling ſoweit hergeſtellt ſei, habe ſich Daumer entſchloſſen, damit nicht hinzuwarten, ſondern ihn baldmöglichſt zu den Beholdiſchen zu bringen, die Caſpar mit Freuden aufnehmen wollten. Alles dies ſei genügend beſprochen und man wünſche nur, den Präſidenten zu unterrichten, und bitte um ſeine Gutheißung. „Ja, ich weiß, daß Daumer die Geſchichte ſatt hat,“ antwortete Feuerbach verdrießlich. „Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Niemand hat Luſt, ſein Haus zu einer umlauerten Mordſtätte werden zu laſſen, obwohl dagegen Maßregeln ergriffen werden können, werden müſſen. Von heute ab ſoll Caſpar unter genauer polizeilicher Überwachung ſtehen; die Stadt haftet mir für ihn. Doch warum hat Daumer ſolche Eile? Und warum gibt man Caſpar in die Familie Behold, warum nicht zu Herrn von Tucher oder zu Ihnen?“ „Herr von Tucher iſt während der nächſten Monate berufshalber gezwungen, ſeinen Aufenthalt in Augsburg zu nehmen, und ich_—“ der Bürgermeiſter zögerte, und ſein Geſicht wurde vorübergehend bleich, — „was mich betrifft, mein Haus iſt kein Ort des Friedens.“ Raſch ſchaute der Präſident empor; ſodann ging er hin und reichte Binder ſtumm die Rechte. „Und was iſt es mit dieſen Beholds? Was ſind es für Leute?“ fragte er ablenkend. „O, es ſind gute Leute,“ verſetzte der Bürgermeiſter etwas unſicher. „Der Mann jedenfalls; iſt ein geachteter Kaufherr. Die Frau_... darüber ſind die Meinungen geteilt. Sie gibt viel auf Putz und dergleichen, verſchwendet viel Geld. Böſes kann man ihr nicht nachſagen. Da es für Caſpar, wie wir ja verabredet, von Vorteil iſt, wenn er jetzt die öffentliche Schule beſucht, genügt ſchließlich die bloße Beaufſichtigung in einem Kreis anſtändiger Menſchen.“ „Haben die Leute Kinder?“ „Ein dreizehnjähriges Mädchen.“ Der Bürgermeiſter, dem es wie aller Welt wohlbekannt war, daß Frau Behold dieſe Tochter ſchlecht behandelte, wollte noch etwas hinzufügen, um ſein Gewiſſen zu beruhigen, doch da wurden Daumer und der Magiſtratsrat Behold gemeldet. Der Präſident ließ bitten. Alsbald zeigte ſich das freundlich-grinſende Geſicht des Rats; der feierliche ſchwarze Kinnbart ſtand in einem komiſchen Gegenſatz zu dem ſchon ergrauten Kopfhaar, das in feuchten Strähnen pomadeduftend über die Stirn hing. Unter beſtändigen Verbeugungen trat er auf Feuerbach zu, der ihn nur eines flüchtigen Grußes würdigte und ſich ſogleich an Daumer wandte. Dieſer wagte kaum dem forſchenden Auge des Präſidenten zu begegnen, und die Frage, ob man Caſpar die innere und äußere Anſtrengung eines ſo durchgreifenden Wechſels ſchon zumuten dürfe, beantwortete er durch verlegenes Schweigen. Als ſich Herr Behold ins Geſpräch miſchte und verſicherte, Caſpar ſolle in ſeinem Haus wie ein leiblicher Sohn betrachtet werden, unterbrach ihn der Bürgermeiſter mit den faſt widerwillig hervorgepreßten Worten, darauf halte er nichts, wie man an Caſpar ſelbſt ſehe, gebe es ja Eltern, die ihre leiblichen Kinder verkümmern ließen. Der Rat machte ein verlegenes Geſicht, rieb ſeine ausgemergelten Finger an der Stuhlkante und ſtotterte, er könne nichts weiter ſagen, was an ihm läge, wolle er tun. Der Präſident, ſtutzig geworden durch die beziehungsvollen Reden, ſah die beiden Männer abwechſelnd an. Darauf trat er dicht vor Daumer hin, legte die Hand auf deſſen Schulter und fragte ernſt: „Muß es denn ſein?“ Daumer ſeufzte und entgegnete bewegt: „Exzellenz, wie hart mein Entſchluß mich ankommt, das weiß nur Gott.“ „Gott mag es wiſſen,“ verſetzte der Präſident grollend, und ſeine unterſetzte feiſte Geſtalt ſchien plötzlich drohend zu wachſen, „aber wird er es darum ſchon billigen? Wenn man Stein und Stahl zuſammenſchlägt, gibt es Funken; wehe aber, wenn bloß Schmutz und Krümel vom Stein fliegen. Da iſt keine Dauer und keine Tüchtigkeit der Natur.“ Er kanzelt mich ſchon wieder ab, dachte Daumer, und die Röte des Unwillens ſtieg ihm ins Geſicht. „Ich habe getan, was in meinen Kräften ſtand,“ ſagte er haſtig und mit Trotz. „Ich verſchließe Caſpar nicht mein Haus. Und mein Herz ſchon ganz und gar nicht. Aber erſtens kann ich keine Gewähr für ſeine Sicherheit mehr leiſten, und ich glaube, niemand kann es. Wie iſt es möglich, Säemann zu ſein auf einem Acker, unter dem ein verderbliches Feuer gloſet und jeden Samen verbrennt? Und dann, was mehr iſt, ich bin enttäuſcht, ich geſtehe es, ich bin enttäuſcht. Nie will ich vergeſſen, was mir Caſpar geweſen iſt, wer könnte ihn auch vergeſſen! Aber das Wunder iſt vorüber, die Zeit hat es aufgefreſſen.“ „Vorüber, ja vorüber,“ murmelte Feuerbach düſter, „das Wort mußte fallen. Die Augen werden ſtumpf vom Schauen ins Licht. Die Söhne werden verſtoßen, wenn ſie unſrer Liebe ein Übermaß abnötigen. Aber der Bettler kriegt ſeine Bettelſuppe. Meine geſchätzten Herren,“ fuhr er laut und förmlich fort, „tun Sie, wie Ihnen beliebt; in jedem Fall, deſſen ſeien Sie eingedenk, bleiben Sie mir für das Wohl Caſpars verantwortlich.“ Als Daumer auf der Straße war, ärgerte er ſich noch immer über den Ton und die Worte des Präſidenten. Doch zugleich konnte er ſich ſeine Selbſtunzufriedenheit nicht verhehlen. In einer der verödeten Straßen nahe der Burg begegnete er dem Rittmeiſter Weſſenig. Daumer war froh, eine Anſprache zu haben, und begleitete den Mann bis zur Reiterkaſerne. Von Anfang an lenkte der Rittmeiſter die Unterhaltung auf Caſpar, und Daumer bemerkte nicht oder wollte nicht bemerken, daß die Geſprächigkeit des Rittmeiſters einen hohnvollen Beigeſchmack hatte. „Eine geheimnisvolle Sache, das mit dem Vermummten,“ meinte Herr von Weſſenig, plötzlich deutlicher werdend. „Sollte es Leute geben, die daran ernſtlich glauben? Am hellichten Tag dringt ein Kerl, ein Kerl mit Handſchuhen, bitte, dringt in ein bewohntes Haus, hängt ſich einen Schleier übers Geſicht und zieht ein Beil aus der Taſche? Oder ſollte er das Beil vorher offen über die Straße getragen haben? Mit Handſchuhen, wie? Beim heiligen Tommaſius, das iſt eine gewaltige Räuberhiſtorie!“ Da Daumer nichts antwortete, fuhr der Rittmeiſter eifrig fort: „Nehmen wir einmal an, der famoſe Vermummte hat die Abſicht gehabt, den Burſchen zu töten. Warum dann die unbedeutende Wunde? Er brauchte ja nur ein bißchen kräftiger zuzuſchlagen und alles war aus, der Mund, der ihn verraten mußte, war ſtumm. Man muß rein glauben, der behandſchuhte Mörder hat ſein Opfer einſtweilen nur ein bißchen kitzeln wollen. Wahrhaftig, eine kitzlige Geſchichte. Alle meine Bekannten, [parole d’honneur], lieber Profeſſor, ſind empört über die Leichtgläubigkeit, die ſich von ſo albernem Spuk zum beſten halten läßt.“ Daumer hielt es für unter ſeiner Würde, Zorn oder Entrüſtung zu zeigen. Er ſtellte ſich, als hätte er nicht übel Luſt, dem Rittmeiſter beizuſtimmen, und fragte gelehrig, wie man ſich aber den ganzen Vorgang zu denken habe. Herr von Weſſenig zuckte vielſagend die Achſeln; er mochte heftiges Aufbrauſen und ſcharfe Zurechtweiſung erwartet haben, und weil dies nicht eintraf, legte er ſein verhalten-feindſeliges Weſen ab, war jedoch vorſichtig genug, ſich nur in allgemeinen Vermutungen zu äußern. „Vielleicht iſt der gute Hauſer betrunken geweſen und auf der Treppe gefallen und hat dann die Mordsgeſchichte ausgeheckt, um ſich intereſſant zu machen. Das wäre ja noch harmlos. Andre ſehen bei weitem ſchwärzer; man traut dem Halunken ſchon zu, daß er ſeine Wohltäter durch einen feingefädelten Streich hinters Licht geführt hat.“ Jetzt vermochte Daumer nicht mehr an ſich zu halten. Er blieb ſtehen, wehrte mit beiden Händen ab, als drängen die Reden ſeines Begleiters wie giftige Fliegen auf ihn ein, und ſtürzte ohne Wort noch Gruß davon. Das iſt alſo die Welt, das ſind ihre Stimmen, dachte er beſtürzt; das zu denken, iſt möglich, es auszuſprechen, ſteht jedem Mund frei! Und dieſer Abgrund von Unſinn und Bosheit ſoll dich verſchlingen, armer Caſpar! Wenn du auch nicht der Himmelszeuge biſt, den ich wähnte, über ihnen ſchwebſt du doch wie der Adler über Koboldsgezücht. Freilich, ſie werden dir die Flügel brechen; vergebens wird die Schuldloſigkeit aus deinem Innern ſtrahlen, ſie werden es nicht ſehen; vergebens wirſt du vor ihnen weinen und vergebens lächeln, du wirſt ihre Hand faſſen und vor Kälte ſchaudern, du wirſt ſie anblicken, und ſie werden ſtumm ſein, angſtvoll ſucht dein Geiſt die Wege zu ihnen und Verrat führt dich auf den verderblichſten von allen_... Man iſt Prophet und hat ein mitleidiges Gemüt; man kennt die Menſchen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel ſticht, und daß der Haſe, wenn er angeſchoſſen wird, ins Gras fällt und ſtirbt; man kennt die Folgen deſſen, was man tut, nicht wahr, Herr Daumer? Aber iſt dies etwa ein Grund, den Geſchehniſſen, wie einem Feind, der das Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden? Nein, es iſt kein Grund. Oder iſt es nur Grund, ein kleines Entſchlüßchen rückgängig zu machen? Nein, es iſt kein Grund. Darin haben die Idealiſten und Seelenforſcher nichts voraus vor Dieben und Wucherern. Man geht nach Hauſe, philoſophierend geht man nach Hauſe, legt ſich ſchlafen, und am nächſten Morgen ſieht die Welt weit annehmbarer aus als am geſtrigen, reichlich verſtimmten Abend. 9. Das Amſelherz Vierundzwanzig Stunden ſpäter hält eine Kutſche vor dem Daumerſchen Haus, und Frau Behold ſelber kommt, um Caſpar zu holen. Wirklich, Frau Behold hat ſich’s etwas koſten laſſen, eine ſchwarzlackierte Kutſche mit zwei Pferden und einen Mann mit goldenen Knöpfen auf dem Bock. Caſpar wird von Daumer und den beiden Frauen zum Tor geleitet, auch der Kandidat Regulein verläßt ſeine Junggeſellenklauſe. Anna kann ſich der Tränen nicht erwehren, Daumer blickt finſter vor ſich hin, Frau Behold gibt dem Kutſcher ein Zeichen, die Roſſe ſchnauben, die Räder rollen und die Zurückbleibenden ſchauen ſtumm in die Dunkelheit, die das Gefährt verſchlingt. Das war der Abſchied, und Caſpar war’s, als gehe es weit fort. Aber es ging nur von einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am Markt. Es war dies ein ſchmales, hohes Haus, welches ſo eingepreßt ſtand zwiſchen zwei andern, daß es ausſah, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, ſteilabhängend wie die Schultern eines verhungerten Kanzliſten, die Fenſter hatten nichts Freiſchauendes, ſondern etwas Blinzelndes, das Tor war ſeltſam verſteckt und innen wand ſich eine dunkle Treppe in vielen Biegungen, gleichſam in vielen Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen knarrten und ſtöhnten bei jedem Schritt, und wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein dämmeriges Licht aus den Stuben. Caſpar wohnte in einem Gemach gegen den viereckigen Hof; vor den Fenſtern lief eine Holzgalerie mit verſchnörkeltem Geländer, auf jeder Seite waren grünverhangene Glaſtüren, und unten ſtand ein eiſerner Brunnen, aus dem kein Waſſer floß. Das Wunderliche lag darin, daß draußen der Markt war, wo viele Menſchen laut redeten, wo die Händler ihre kleinen Läden und Verkaufszelte hatten, wo von morgens bis abends Frauen feilſchten, Kinder kreiſchten, Roſſe wieherten, das Geflügel gackerte, und daß man bloß das Tor hinter ſich zu ſchließen brauchte und es wurde ſo ſtill, als ob man in die Erde hineingeſtiegen ſei. Dies machte Caſpar im Anfang Spaß. Es glich einem Verſteckenſpiel, er fand es luſtig, ſich zu verſtecken, und gelegentlich ſah er es darauf ab, ein andres Geſicht zu zeigen, als ihm zu Sinn war, oder andre Dinge zu ſagen, als man von ihm erwartete. An einem der erſten Tage verlor Frau Behold ein ſilbernes Kettchen; Caſpar behauptete, es im Vorplatz geſehen zu haben, obwohl er es keineswegs geſehen hatte. Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das Haus zu verlaſſen. Er fragte, wer es verboten habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold habe es verboten, und als er ſich an Frau Behold wandte, ſagte ſie, der Magiſtratsrat habe es verboten, und als er ſich an den Magiſtratsrat wandte, ſagte der, der Präſident habe es verboten. Dermaßen war alles verzwickt und verſteckt in dieſem Haus. Einmal wollte Frau Behold in ſein Zimmer gehen; ſie fand es verſperrt, er hatte von innen zugeriegelt. „Was ſperrſt du dich denn ein am hellichten Tag?“ fragte ſie und ſchnüffelte auf dem Tiſch herum, wo ſeine Bücher und Schularbeiten lagen. „Fürchteſt du dich vielleicht?“ fuhr ſie zungengeläufig fort. „Bei mir brauchſt du dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es keine vermummten Spitzbuben.“ Er gab zu, daß er ſich fürchte, und das ſchmeichelte Frau Behold, ſie nahm eine grimmige Beſchützermiene an und lächelte herausfordernd. Jeden Vormittag, wenn er von der Schule kam — er beſuchte jetzt zwei Stunden täglich die dritte Klaſſe des Gymnaſiums_—, erkundigte ſich Frau Behold, wie es ihm gegangen ſei. „Schlecht iſt’s gegangen,“ entgegnete er dann trübſelig, und in der Tat, er hatte wenig Freude davon. Die Lehrer klagten, daß ſeine Gegenwart die andern Schüler der Aufmerkſamkeit beraube; der Umſtand, daß auf der Gaſſe ſtets ein Polizeidiener hinter ihm herging und daß die Polizei Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er wohnte, dünkte die Knaben aufregend ſonderbar, und ſie beläſtigten ihn mit den albernſten Fragen. Seine Schweigſamkeit wurde natürlich ganz falſch gedeutet, und wenn er von ſelbſt unbefangen das Wort an ſie richtete, wichen ſie entweder ſcheu zurück oder höhnten ihn, denn er war in ihren Augen nichts weiter als ein großer dummer Teufel, der, faſt doppelt ſo alt als ſie, noch in den Anfangsgründen der Wiſſenſchaft ſteckte. Es kam häufig vor, daß er während des Unterrichts aufſtand und eine ſeiner kindiſchen Fragen ſtellte; da brach dann die ganze Klaſſe in Gelächter aus, und der Lehrer lachte mit. Einmal, während eines gewaltigen Sturmwinds, der draußen heulte, verließ er ſeinen Platz und flüchtete in die Ofenecke; da kannte das Vergnügen der andern keine Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog und zu den Bänken ſchob, begleiteten ſie den Vorgang mit einer wahren Katzenmuſik. Am eigentümlichſten war es aber anzuſehen, wenn er auf dem Nachhauſeweg mitten unter der Knabenſchar ging, ſtill, verſchloſſen und ſorgenvoll unter den Lärmenden und Unbekümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen — und ihm zur Seite beſtändig der Wächter des Geſetzes. Sehr häufig ſprach Daumer vor, um bei den Kollegen Auskunft über Caſpar einzuholen. „Ach,“ hieß es da, „er hat freilich den beſten Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen Kopf. Er erweiſt ſich anſtellig, aber es bleibt nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln, aber zu loben iſt auch nichts.“ Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte er; Tadel iſt leicht, beſonders wenn er den Tadler lobt, wie es ſein Merkmal iſt. Er wandte ſich an den Magiſtratsrat und ſuchte ihm eine Lobpreiſung auf Caſpar förmlich abzuliſten, aber Herr Behold war kein Freund von offenen Meinungen. Er war ein einſchichtig lebender Menſch, der ſeine Tage in einem düſtern Kontor am Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort: „Da müſſen Sie ſich an meine Frau wenden.“ Daumer glich faſt einem unglücklichen Liebhaber darin, wie er jetzt achtſam und bekümmert den Wegen ſeines früheren Pfleglings folgte, wobei er aber gern vermied, Caſpar zu ſehen und zu ſprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte er insgeheim das Tun und Treiben der Frau Behold, und er zerbrach ſich den Kopf darüber, weshalb dieſe ſo gierig getrachtet hatte, den Jüngling in ihre Nähe zu bekommen. „Was willſt du,“ meinte Anna, die ebenſoviel geſunden Menſchenverſtand beſaß wie ihr Bruder phantaſtiſchen Peſſimismus, „es iſt ja ganz klar, ſie braucht eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren Salon.“ „Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und ſie vernachläſſigt ſogar dieſes Kind, wie man hört.“ „Freilich; aber daran iſt nichts Merkwürdiges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute; es muß etwas ſein, wovon man redet, was Intereſſantes muß es ſein; man kann dabei die große Dame ſpielen und lieſt hie und da den eignen Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen hohen Orden bekommen, und was die Hauptſache iſt, man vertreibt ſich die Langeweile. Die Perſon kenn’ ich, als ob ich’s ſelber wäre. Der Caſpar tut mir leid.“ Frau Behold war immer unterwegs und eigentlich nur zu Hauſe, wenn ſie Gäſte hatte. Sie mußte immer Menſchen ſehen, ſie liebte wohlgekleidete, gutgelaunte Menſchen, Männer mit Titeln und Frauen von Rang, liebte Feſte, Schmuck und prächtige Gewänder. Man hätte ſie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der Ehrgeiz ſie nicht ſo unruhig gemacht hätte; ſie wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erſchienen ohne eine gewiſſe zielloſe Neugierde, von der ſie bis ins Innerſte, bis in den Schlaf der Nächte behaftet war. Sie hatte eine Unmaſſe franzöſiſcher Romane verſchlungen und war dadurch empfindſam und abenteuerluſtig geworden, und das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament beigemiſcht war, machte dieſe Eigenſchaften nur um ſo hintergründiger. Wer ſie ſo nahm, wie ſie ſich gab, war im voraus betrogen. Was Caſpar betrifft, ſo ſah ſie ihn zunächſt bloß humoriſtiſch und am meiſten dann, wenn er ernſt und nachdenklich war. „Nein, was er heute wieder Komiſches geſagt hat,“ war ihre beſtändige Phraſe. Es hatte oft den Anſchein, als habe ſie einen kleinen Hofnarren in Dienſt genommen. „Alſo, mein liebes Mondkälbchen, ſprich,“ forderte ſie ihn vor den Gäſten auf. Wenn ſie ihn gar eifrig befliſſen ſah, lateiniſche Vokabeln auswendig zu lernen, lachte ſie aus vollem Hals. „Wie gelehrt, wie gelehrt!“ rief ſie und fuhr ihm mit der Hand wüſt durch das Lockenhaar. „Laß es ſein, laß es ſein,“ tröſtete ſie ihn, wenn er über die Schwierigkeit einer Rechnung klagte, „bringſt’s ja doch zu nichts, iſt genau ſo, wie wenn ich ſeiltanzen wollte.“ Indes erregte er auf andre Weiſe bald eine wunderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens kam ſie dazu, als er in der Küche ſtand und Zeuge war, wie der Metzgerburſche das rohe und noch blutige Fleiſch aus dem Korb nahm und auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut malte ſich in Caſpars Zügen, er wich zurück, zitterte und war keines Lautes fähig, dann floh er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war betroffen und wollte ihrer Rührung nicht nachgeben. Was iſt das? dachte ſie; er verſtellt ſich wohl; was iſt ihm das Blut der Tiere? Um ihm gefällig zu ſein, tat ſie mehr, als ihre Bequemlichkeit ihr ſonſt verſtattet hätte. Trotzdem ſchien er ſich nicht wohl im Haus zu fühlen. „Sapperment, was iſt dir übers Leberlein gekrochen?“ fuhr ſie ihn an, wenn ſie ein trauriges Geſicht an ihm bemerkte. „Wenn du nicht luſtig biſt, führ’ ich dich in die Schlachtbank und du mußt zuſchauen, wie man den Kälbern den Hals abſchneidet,“ drohte ſie ihm einmal und wollte ſich ausſchütten vor Lachen über die Miene des Entſetzens, die er darüber zeigte. Nein, Caſpar fühlte ſich keineswegs wohl. Frau Behold war ihm ganz und gar unverſtändlich, ihr Blick, ihre Rede, ihr Gehaben, alles das ſtieß ihn aufs äußerſte ab. Es koſtete ihn nicht wenig Kunſt und Nachdenken, um ſeinen Widerwillen nicht merken zu laſſen, gleichwohl war er krank und elend, wenn er nur eine Stunde mit Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm dann jegliche Arbeitsluſt, und die Schule zu beſuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ er ganz. Die Lehrer beſchwerten ſich beim Magiſtrat; Herr von Tucher, der jetzt wieder in der Stadt weilte und der vom Gericht zu Caſpars Vormund ernannt worden war, ſtellte ihn zur Rede. Caſpar wollte nicht mit der Sprache heraus, ein Betragen, das Herr von Tucher als Verſtocktheit auffaßte und das ihm zu ſchlimmen Befürchtungen Anlaß bot. Und da war noch eines, was Caſpar zu denken gab. Manchmal begegnete ihm auf der Stiege oder im Flur oder in einem entlegenen Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen, halb erwachſen und bleich von Geſicht. Ihre Augen waren feindſelig auf ihn gerichtet. Wenn er ſie anreden wollte, lief ſie davon. Einmal ſchaute er von der Galerie in den Hof und ſah ſie am Brunnen ſtehen, hinter deſſen eiſernem Rohr ein Brett weggeſchoben war, ſo daß der Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen ſtand unbeweglich und ſtarrte mindeſtens eine Viertelſtunde lang in das ſchwarze Loch. Caſpar verließ leiſe die Galerie und ſchlich hinunter; er betrat jedoch kaum den Hof, ſo flüchtete das Mädchen mit böſem Geſicht an ihm vorüber. Als Caſpar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm der Herr Rat, und Caſpar erzählte voll Eifer, was er mitangeſchaut. Herr Behold zog die Stirn kraus und ſagte beſchwichtigend: „Ja, ja, gewiß; das Kind iſt nicht geſund. Kümmer’ Er ſich nicht darum, Caſpar, kümmer’ Er ſich nicht darum.“ Caſpar kümmerte ſich aber doch darum. Er fragte die Mägde, was mit dem Kind ſei, und eine von ihnen erwiderte biſſig: „Sie kriegt nichts zu eſſen, der Findling frißt ihr alles weg!“ Darauf eilte er ſpornſtreichs zu Frau Behold, wiederholte ihr die Worte der Magd und fragte, ob das wahr ſei. Frau Behold bekam einen Wutanfall und jagte die Magd auf der Stelle davon. Als jedoch Caſpar ſie auch dann noch in ſeiner ungeſchickten und altklugen Weiſe ermahnte, daß ſie mehr auf ihre Tochter achten möge als auf ihn und daß er ſonſt fortgehen werde, ſchnitt ſie ihm das Wort ab und verwies ihm den Vorwitz. „Wie willſt du denn fortgehen?“ fuhr ſie auf. „Wohin denn? Wo biſt du denn daheim, wenn man fragen darf?“ Es entſtand jetzt in Frau Behold die Meinung, daß Caſpar in ihre Tochter verliebt ſei. Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt auszuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch ſo blöde, daß ſie ſich beinahe ihres Verdachts geſchämt hätte. „[Grand Dieu],“ ſagte ſie laut vor ſich hin, „mir ſcheint, der Einfaltspinſel weiß nicht einmal, was Liebe iſt!“ Ja, noch mehr, ſie ſpürte, daß er ſich nicht einmal im entfernteſten einen Gedanken darüber machte. Das war der guten Dame doch überaus ſeltſam, ihr, deren Begierden und Gelüſte immer im trüben Gewäſſer halb romanhafter, halb ſchlüpfriger Leidenſchaften plätſcherten, ſo tugendhaft ſie auch vor ihren Mitbürgern ſich halten mußte. Er iſt doch aus Fleiſch und Blut, kalkulierte ſie, und wenn ſchon der närriſche Daumer in allen Tönen von ſeiner Engelſunſchuld ſchwärmt, als erwachſener Menſch weiß man, was der Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er hält mich zum beſten; warte, Kerl, ich will dir den Gaumen trocken machen. Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Beholdſchen Haus, ſtand der ſogenannte ſchöne Brunnen, ein Meiſterwerk mittelalterlich-nürnberger Kunſt. Seit grauen Zeiten erzählte man den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold fragte Caſpar, ob er davon vernommen habe, und als er verneinte, ſah ſie ihn mit ſchlauem Augenzwinkern an und wollte wiſſen, ob er daran glaube. „Ich ſeh’ nur nicht, wo der Storch da hinunterfliegen kann,“ antwortete er harmlos, „es iſt ja alles mit Gittern vermacht.“ Frau Behold ſtaunte. „Ei du Tropf!“ rief ſie aus, „ſchau mich einmal aufrichtig an!“ Er ſchaute ſie an. Da mußte ſie die Augen ſenken. Und plötzlich erhob ſie ſich, eilte zur Kredenz, riß eine Lade auf, ſchenkte ſich ein Glas Wein voll und trank es auf einen Zug leer. Sodann ging ſie ans Fenſter, faltete die Hände und murmelte mit einem Ausdruck von Stumpfſinn: „Jeſus Chriſtus, bewahre mich vor Sünde und führe mich nicht in Verſuchung.“ Es bedarf kaum der Erwähnung, daß ſie ſonſt eine höchſt aufgeklärte Dame war, die ſich das ganze Jahr nicht in der Kirche ſehen ließ. Es war ſchon Mitte Auguſt und große Hitze herrſchte. An einem Sonntag veranſtaltete der Bürgermeiſter ein Waldfeſt im Schmauſenbuk; Caſpar war am Morgen mit dem Stallmeiſter Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch geritten und war ſo müde, daß er nach Tiſch in ſeinem Zimmer einſchlief. Frau Behold weckte ihn ſelbſt und hieß ihn ſich ankleiden, da der Wagen warte, der ſie zum Feſtplatz bringen ſollte. Auf Caſpars Frage, ob noch wer mitgehe, erwiderte ſie, zwei Knaben führen mit hinaus, die Söhne des Generals Hartung. Da ſagte Caſpar enttäuſcht, er wünſchte, daß Frau Behold ihre Tochter mitgehen laſſe, denn die werde ſich grämen, wenn ſie zu Hauſe bleiben müſſe. Frau Behold ſtutzte und wollte zornig werden, nahm ſich aber zuſammen. Sie beugte ſich vor, ergriff mit der Hand einen Bündel Locken auf Caſpars Kopf und ſagte boshaft: „Ich ſchneide dir die Haare ab, wenn du wieder davon anfängſt.“ Caſpar entwand ſich ihr. „Nicht ſo nahe,“ flehte er mit aufgeriſſenen Augen, „und nicht ſchneiden, bitte!“ „Hab’ ich dich!“ drohte Frau Behold, gezwungen ſcherzend. „Hab’ ich dich, furchtſames Menſchlein? Noch ein Widerpart, und ich komme mit der Schere!“ Während der Fahrt blieb Caſpar ſchweigſam. Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn Jahre alt waren, neckten ihn und ſuchten etwas aus ihm herauszulocken, da ſie ſtets wie über eine Art Wundertier über ihn ſprechen gehört hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen ſie an, prahleriſche Reden zu führen, als ob es keine gelehrteren und ſcharfſinnigeren Menſchen gäbe. Weit auf der Landſtraße draußen rief der eine, er höre ſchon die Muſik aus dem Wald, da entgegnete Caſpar, ärgerlich über das Weſen, das die beiden von ſich machten, das wundre ihn, er höre nichts, dagegen ſehe er auf einer hohen Stange fern über den Bäumen eine kleine Fahne. „O die Fahne,“ meinten jene geringſchätzig, „die ſehen wir ſchon lang!“ Auch hierüber wunderte ſich Caſpar, denn er hatte ſie erſt im Augenblick wahrgenommen, ein ſchmales Streifchen, das nur im Wehen des Windes ſichtbar war. „Gut,“ ſagte er, „wenn ſie wieder weht, will ich euch fragen, ob ihr es bemerkt.“ Er wartete eine Weile und ſtellte dann, während die Fahne ruhig war, die irreführende Frage: „Alſo, weht ſie jetzt oder nicht?“ „Sie weht!“ antworteten die Knaben wie aus einem Mund, doch Caſpar verſetzte ruhig: „Ich ſehe daraus, daß ihr nichts ſeht.“ „Oho!“ riefen jene, „dann lügſt du!“ „So ſagt mir doch,“ fuhr Caſpar unbekümmert fort, „was für eine Farbe ſie hat.“ Die Knaben ſchwiegen und guckten, dann riet der eine ziemlich kleinlaut: „rot,“ der andre, etwas kühner: „blau.“ Caſpar ſchüttelte den Kopf und wiederholte: „Ich ſehe, daß ihr nichts ſeht; weiß und grün iſt ſie.“ Daran war ſchwer zu mäkeln, eine Viertelſtunde ſpäter konnten ſich alle von der Wahrheit überzeugen. Aber die Knaben blickten Caſpar voll Haß ins Geſicht; ſie hätten gern vor Frau Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung wortlos mitangehört hatte. Caſpars Gegenwart beim Feſt zog, wie immer, eine Anzahl Gaffer herbei, darunter waren einige Bekannte, junge Leute, die ſich ſeiner annehmen zu ſollen glaubten und ihn Frau Behold unerachtet ihres Widerſpruchs entriſſen. Es war anfangs nur eine kleine Geſellſchaft, die ſich aber allgemach vergrößerte und, indem einer den andern anfeuerte, lauter Tollheiten beging. Sie warfen Tiſche und Bänke um, ſchreckten die Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten ein wüſtes Geſchrei und ſtellten ſich dabei an, als ob Caſpar ihr Gebieter ſei und ſie kommandiere. Das Treiben wurde immer ausgelaſſener; als es Abend geworden war, riſſen ſie die Lampions von den Bäumen und zwangen ein paar Muſikanten, ihnen vorauszuziehen, um den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten. Zwei junge Kaufleute hoben Caſpar auf ihre Schultern, und er, dem ſchon Hören und Sehen verging, wünſchte ſich weit weg und kauerte mit dem unglücklichſten Geſicht von der Welt auf ſeinem lebendigen Sitz. Unter Geſang und Gelächter kam die entfeſſelte Schar vor die Eſtrade, wo der Tanz begonnen hatte; hier konnte ſie nicht weiter, die angeſammelte Menge verſperrte den Weg nach rückwärts und ſeitwärts. Plötzlich ſah Caſpar ganz nahe die beiden Knaben, die in Frau Beholds Kutſche mitgefahren waren; ſie ſtanden auf der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen langen Baumzweig mit einem weißen Pappendeckel an der Spitze, worauf in großen Lettern die Worte gemalt waren: „Hier iſt zu ſehen Seine Majeſtät Caſperle, König von Schwindelheim.“ Sie hielten die Tafel ſo, daß die Aufſchrift Caſpar zugekehrt war, auch alle Umſtehenden gewahrten ſie alsbald, und es erhob ſich ein ſchallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen Tuſch, und der Zug ſetzte ſich wieder, am Wirtshaus vorbei, gegen den illuminierten Wald in Bewegung. Caſpar rief, man ſolle ihn herunterlaſſen, aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit der einen Hand am Ohr des einen, mit der andern an den Haaren des zweiten ſeiner Träger. „Au, was zwickſt du mich!“ ſchrie dieſer und der andre: „Au, mich zebelt er!“ Wütend traten ſie beiſeite, wodurch Caſpar herunterglitt. Die beiden Schildträger ſtanden vor ihm und grinſten höhniſch. „Wir haben auch ein Fähnlein für dich,“ ſagte der ältere, „ſieh mal zu, ob es weht.“ Im ſelben Augenblick ſchraken ſie zuſammen, denn eine gebieteriſche Stimme ſchrie dröhnend ihren Namen. Es war der Vater der beiden, der General, der mit einigen andern Herren und mit Frau Behold in geringer Entfernung an einem abſeits ſtehenden Tiſch ſaß. Dieſe alle erhoben ſich, denn am Himmel waren ſchwere Wolken aufgezogen, und man hörte ſchon den Donner grollen. Frau Behold empfing Caſpar mit den Worten: „Du machſt ja ſchöne Streiche, ſchämſt dich nicht? Allons! Wir fahren heim.“ Mit überlautem Weſen verabſchiedete ſie ſich von den Herren und eilte zum Ausgang des Feſtplatzes, wo ſie mit kreiſchender Stimme ihren Kutſcher rief. „Setz dich!“ herrſchte ſie Caſpar an, als ſie den Wagen erreicht hatten. Sie ſelbſt ſtieg zum Kutſcher auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun begann ein tolles Fahren, erſt durch den Wald, dann die ſtaubſchäumende Chausſee entlang. Sie trieb die Tiere an, daß ſie nur ſo hüpften und von jedem Kieſelſtein, den ihr Huf traf, Funken ſpritzten. Kein Stern war zu ſehen, die Landſchaft breitete ſich düſter hin, häufig zuckten Blitze auf und der Donner rollte näher. In wenig mehr denn einer halben Stunde waren ſie in der Stadt, und als die Pferde am Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von ihren Flanken. Frau Behold ſperrte das Haustor auf und ließ Caſpar vorangehen. Er taſtete ſich in der Dunkelheit bis zu ſeiner Zimmertür, doch die Frau ergriff ihn am Arm, zog ihn weiter und trat mit ihm in den ſogenannten grünen Salon, einen großen Raum, wo die Fenſter geſchloſſen waren und eine muffige Luft herrſchte. Frau Behold zündete eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das Sofa und ſetzte ſich in einen Lederſeſſel. Sie ſummte leiſe vor ſich hin, plötzlich unterbrach ſie ſich und ſagte in derſelben ſingenden Weiſe: „Komm einmal her zu mir, du unſchuldiger Sünder.“ Caſpar gehorchte. „Knie nieder!“ gebot die Frau. Zögernd kniete er auf den Boden und ſah Frau Behold ängſtlich an. Wie am Nachmittag näherte ſie wieder ihr Geſicht dem ſeinen. Ihr ſchmales, langes Kinn zitterte ein wenig, und ihre Augen lachten ſonderbar. „Was ſträubſt du dich denn ſo?“ gurrte ſie, da er den Kopf zurückbäumte. „[Ma foi], er ſträubt ſich, der Jüngling! Haſt wohl noch kein lebendiges Fleiſch gerochen? He, du Strick, wer’s glaubt! Was Teufel, fürchteſt dich am Ende? Hab’ ich dir nicht die beſten Biſſen auftragen laſſen? Hab’ ich dir nicht geſtern erſt eine ſchöne Amſel geſchenkt? Ich hab’ ein gutes Herz, Caſpar, da horch, wie’s ſchlägt, wie’s tickt_...“ Mit großer Kraft zog ſie ſeinen Kopf gegen ihre Bruſt. Er dachte, ſie wolle ihm ein Leids tun, und ſchrie, da drückte ſie die Lippen auf ſeinen Mund. Ihm wurde eiskalt vor Grauen, ſein Körper ſank zuſammen, wie wenn die Knochen aus den Gelenken gelöſt wären, und als Frau Behold dieſer jähen Erſchlaffung inne ward, erſchrak ſie und ſprang auf. Ihr Haar hatte ſich gelockert, und ein dicker Zopf lag wie eine Schlange auf der Schulter. Caſpar hockte auf dem Boden, krampfhaft umklammerte ſeine Linke die Rücklehne. Frau Behold beugte ſich noch einmal zu ihm und ſchnupperte ſeltſam, denn ſie liebte den Geruch ſeines Leibes, der ſie an Honig erinnerte. Aber kaum ſpürte Caſpar ihre abermalige Nähe, als er emportaumelte und ans andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen die Tür geſchmiegt, den Kopf vorgeduckt, die Arme halb ausgeſtreckt, ſo blieb er ſtehen. Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes Wort gab einen Hinweis, doch er ahnte es, wie man auf eine Feuersbrunſt, die hinter den Bergen wütet, aus der Röte des Himmels ſchließt. Schändlich war ihm zumut, insgeheim fühlte er ſich an, ob er denn auch ſeine Kleider am Körper trüge, und dann ſchaute er auf ſeine Hände nieder, ob ſie nicht voll Schmutz ſeien. Er ſchämte ſich, er ſchämte ſich, vor den Wänden, vor dem Seſſel, vor der brennenden Kerze ſchämte er ſich; er wünſchte, die Tür möchte von ſelber ſich öffnen, damit er unhörbar verſchwinden könne. Es war wie das entſetzliche Aufleuchten von Augen, als ein roſiger Blitzſtrahl ins Zimmer fuhr; der Donner folgte wie ein enormer Schrei. Caſpar drückte die Schultern zuſammen und fing an zu zittern. Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren Mannesſchritten auf und ab, lachte ein paarmal kurz vor ſich hin, plötzlich ergriff ſie die Kerze und trat auf Caſpar zu. „Du Aas, du verdorbenes, was haſt du denn geglaubt,“ ſagte ſie erbittert, „glaubſt du vielleicht, mir liegt etwas an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mach, daß du weiterkommſt, und unterſteh dich nicht, darüber zu ſprechen, ſonſt maſſakrier’ ich dich!“ Sie lachte dabei, als ſolle es im Grunde doch nur Scherz ſein, aber Caſpar erſchien ſie übergroß, ihr ſchwarzer Schatten erfüllte den ganzen Raum, außer ſich vor Furcht, rannte er hinaus, die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zugeſperrt. Er hörte draußen den Regen aufs Pflaſter praſſeln, zugleich vernahm er haſtig trippelnde Schritte, ein Schlüſſel drehte ſich im Schloß und der Magiſtratsrat erſchien auf der Schwelle. Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caſpars ſchlotternde Geſtalt und das Donnergeſchmetter verſchlang die Fragen des beſtürzten Mannes. Oben an der Stiege ſtand Frau Behold, der nahe Kerzenſchein durchfurchte ihr Geſicht mit verwildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den Donner, als ſie ihrem Manne zuſchrie: „Er hat ſich betrunken, der Kerl! Auf dem Schmauſenbuk haben ſie ihn betrunken gemacht! Laß Er ſich heute nur nicht mehr blicken! Marſch, ins Bett mit ihm!“ Der Magiſtratsrat ſchloß das Tor und klappte den triefenden Parapluie zu. „Nun, nun_... aber, aber,“ machte er, „ſo ſchlimm wird’s doch nicht gleich ſein.“ Frau Behold antwortete nicht. Sie ſchlug eine Tür zu, dann war es ſtill und finſter. „Komm Er nur mit, Caſpar,“ ſagte der Rat, „wir wollen mal Licht anzünden und nachſehen, was es denn da gibt. Reich Er mir den Arm, ſo.“ Er geleitete Caſpar in deſſen Zimmer, machte Licht und murmelte fortwährend kleine, beſchwichtigende Sätzchen vor ſich hin. Dann beroch er Caſpars Atem, um zu ſehen, ob er wirklich getrunken habe, ſchüttelte den Kopf und meinte verwundert: „Nichts dergleichen. Die Rätin iſt da ſicherlich im Irrtum. Aber mach Er ſich nichts draus, Caſpar, empfehl Er Seine Sache dem Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!“ Als Caſpar allein war, irrte ſein ſcheues Auge von Blitz zu Blitz. Bei jedem Aufflammen hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von Nadelſtichen, bei jedem Donnerſchlag war ihm, als ob alles in ſeinem Leibe locker ſei. Hände und Füße waren ihm eiskalt. Er wagte ſich nicht ins Bett zu begeben, ſondern blieb wie angewurzelt ſtehen, wo er ſtand. Er erinnerte ſich mit Grauen des erſten Gewitters, das er im Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des Wärters war gekommen, ihn zu tröſten. Sie ſagte: „Man darf nicht hinausgehen, es iſt ein großer Mann draußen, der zankt.“ Immer wenn es donnerte, bückte er ſich ganz zur Erde, und die Frau ſagte: „Hab keine Angſt, Caſpar, ich bleib’ bei dir.“ Auch jetzt war es ihm, als ſei ein großer Mann draußen, der zankte. Aber es war niemand da, um ihn zu tröſten. Die Amſel, die in einem Käfig beim Fenſter geduckt auf dem Holzſtäbchen hockte, ließ bisweilen piepſende kleine Laute hören. Er hätte ſie ſchon längſt freigelaſſen, weil ihn das Tier erbarmte, doch fürchtete er Frau Beholds Zorn. Als das Gewitter im Wegziehen war, entledigte er ſich ſchnell der Kleider, kroch ins Bett und deckte ſich bis zur Stirn hinauf zu, um das Blitzen nicht ſehen zu müſſen. In der Eile vergaß er ſogar, die Türe abzuriegeln, und dieſer Umſtand hatte ein gar ſonderbares Geſchehnis zur Folge. Am Morgen beim Aufwachen ſpürte er einen durchdringenden Geruch. Ja, es roch nach Blut im Zimmer. Schaudernd blickte er ſich um, und das erſte, was er ſah, war, daß der Vogelbauer am Fenſter leer war. Caſpar ſuchte nach dem Tierchen und gewahrte, daß die Amſel auf dem Tiſch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in einem Blutgerinnſel. Und daneben, auf einem weißen Teller, lag das blutige kleine Herz. Was mochte dies bedeuten? Caſpar verzog das Geſicht, und ſein Mund zuckte wie bei einem Kind, bevor es weint. Er kleidete ſich an, um in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen, doch als er das Zimmer verließ, erſchrak er, denn Frau Behold ſtand im Flur neben der Tür. Sie hatte einen Kehrbeſen in der Hand und ſah unordentlich aus. Caſpar ſchaute in ihr fahles Geſicht, er ſah ſie lange an, faſt ſo matt und bewegt, wie er den toten Vogel angeſehen. 10. Botſchaft aus der Ferne Es war aber von da an nicht mehr auszuhalten mit Frau Behold. Wahrſcheinlich bereitete ſich in dieſer Zeit ſchon der furchtbare Gemütszuſtand vor, der ſpäterhin ihr Schickſal verhängnisvoll beſchloß. Jedermann ſcheute ſich, mit ihr zu tun zu haben. Kaum hatte ſie ſich irgendwo hingeſetzt, ſo ſprang ſie auch ſchon wieder auf, um fünf Uhr früh war ſie ſchon munter, lärmte in den Zimmern und auf den Stiegen und klopfte Caſpar aus dem Schlaf, wobei ſie ein ſolches Gepolter an ſeiner Tür machte, daß er mit wehem Kopfe erwachte und den ganzen Tag zu keiner Arbeit fähig war. Bei Tiſch ſollte er nicht reden, und wenn er einmal Widerſpruch hielt, drohte ſie, ihn beim Geſinde in der Küche eſſen zu laſſen. Kam ein Fremder und Caſpar wurde gerufen, ſo erging ſie ſich in biſſigen Wendungen. „Ich bin neugierig, ob Sie aus dem Stockfiſch etwas herausbringen,“ ſagte ſie etwa; „man hat Ihnen ſicherlich weisgemacht, daß Sie ein Unikum von Klugheit an ihm finden werden. Überzeugen Sie ſich doch; ſehen Sie zu, ob die arme Seele ein vernünftiges Wort hergibt.“ Solches machte den Gaſt, wer er auch war, verlegen, und Caſpar ſtand da und wußte nicht, wohin er ſchauen ſollte. Wie früher mußten Menſchen her, um die Räume des Hauſes zu füllen, Gelächter ſollte über die morſchen Stiegen hallen und kniſternde Schleppen den Staub der Jahrzehnte abfegen. Aber die Tage waren von den Nächten ſo verſchieden wie der Ballſaal, wenn die Lichter brennen und dann, wenn die Leute gegangen ſind, der Pförtner die Kerzen auslöſcht und Mäuſe über die befleckten Teppiche huſchen. In einem ſolchen Daſein wächſt Schuld wie das Unkraut auf nichtgepflügtem Acker. Große Schuld kann reinigen in Buße oder Leiden; die kleinen Verſäumniſſe und unnennbaren Miſſetaten, die an vielen Stunden vieler Tage hängen, zermürben die Seele und freſſen das Mark des Lebens auf. Jedenfalls war Frau Behold eine ſehr moraliſche Natur, weil ſie dem Menſchen nicht verzeihen konnte, der ihre Tugend ins Wanken gebracht hatte, wenngleich nur für eine ſchwüle Gewitterſtunde. Aber lag es bloß daran? War ihr nicht vielmehr die ganze Welt auf den Kopf geſtellt durch das unerwartete Bild der Unſchuld, das ihr der Jüngling dargeboten hatte? Eine ſolche umgedrehte Welt war ihr nicht erträglich, um darin zu leben. Es war ein Raub an ihr geſchehen und ſie verlangte nach Rache. Den Freunden Caſpars blieb der veränderte Zuſtand im Hauſe Behold nicht verborgen. Bürgermeiſter Binder war der erſte, der mit Nachdruck erklärte, Caſpar dürfe nicht länger dort verbleiben. Daumer unterſtützte dieſe Meinung lebhaft, und der Redakteur Pfiſterle, hitzig und unbequem wie immer, beſchimpfte in ſeiner Zeitung den Magiſtratsrat und äußerte den Verdacht, man wünſche den Findling unſchädlich zu machen und die Stimmen mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, welche die Anrechte ſeiner geheimnisvollen Geburt durchſetzen wollten. „Da lebt er, der rätſelhafte Knabe, dem ein unſichtbares Diadem auf der Stirn glänzt, wie ein einſames Tier, das ſich nur mit ein paar ſchüchternen Sprüngen ans Licht getraut und, während es über den Acker hüpft, poſſierlich mit Schwanz und Ohren wackelt, um ſeine Feinde zu ergötzen, dabei aber ängſtlich nach allen Seiten ſpitzt, um bald wieder ins erſte beſte Loch zu kriechen.“ So der aufgeregte Schreibersmann. Danach entſchloſſen ſich die Stadtväter nach mancherlei Beratungen, wie vordem einen Erziehungs- und Koſtbeitrag aus der Gemeindekaſſe auszuſetzen, und weil niemand ſo wie Herr von Tucher geeignet ſchien, dem Elternloſen ein Obdach zu bieten, legte man ihm die Sache beweglicherweiſe ans Herz, appellierte an ſeine Großmut und an die ausgezeichnete Stellung ſeiner Familie, deren Name allein genügen würde, den Jüngling vor gemeinen Verfolgungen zu ſchützen. Herr von Tucher hatte jedoch Bedenken. Das plötzliche Gezeter gegen die Beholdſchen verdroß ihn. „Erſt ſeid ihr froh geweſen, für den jungen Menſchen einen Unterſchlupf zu finden, und auf einmal wird hohes Kammergericht geſpielt,“ ſagte er; „ſoll ich annehmen, daß es mir beſſer ergeht? Ich will nicht Gefahr laufen, daß mein Privatleben von oben bis unten beſchnüffelt wird, ich will nicht jedem müßigen Hahn erlauben, ſein Kikeriki in meinen Frieden zu krähen.“ Auch die Familie, beſonders ſeine Mutter, erhob Einſpruch und warnte ihn, ſich in Abenteuer zu begeben. Es hieß ſogar, die alte Freifrau habe dem Sohn einen unangenehmen Auftritt bereitet und ihm geſagt, wenn er den Hauſer zu ſich nehmen wolle, möge er nur deſſen Unterhalt aus Gemeindekoſten beſtreiten, ſie gebe keinen Groſchen dafür her. Aber Herr von Tucher war ein Pflichtmenſch. Er fand, daß es ſeine Pflicht ſei, Caſpar aufzunehmen. Da er in ihm ſchon einen halb Verlorenen ſah, ſtellte er ſich vor, daß er damit einen unglücklich Irrenden wieder auf die gebahnten Wege des Lebens führen könne. Der gute Caſpar ermangelt vielleicht nur einer männlich-kräftigen Hand, ſagte er ſich; die Faſeleien von Übernatur und Ausnahmsweſen, das beſtändige Beſtarrt- und Bewundertwerden, alles das war ihm verderblich; Einfachheit, Ordnung, überlegte Strenge, kurz, die Prinzipien einer geſunden Zucht werden ihm heilſam ſein. Probieren wir’s! Herr von Tucher hatte ſich alſo hier eine Aufgabe geſtellt, und das war das wichtigſte. Er erklärte: „Ich bin bereit, den Findling zu betreuen, knüpfe jedoch die Bedingung daran, daß man mich in allen Dingen gewähren und daß niemand, wer es auch ſei, ſich einfallen läßt, mich in meinen Plänen zu beeinträchtigen oder in irgendwelcher Abſicht zwiſchen mich und Caſpar zu treten.“ Natürlich wurde das zugeſagt und verſprochen. Kaum hatte Frau Behold gehört, was ſich hinter ihrem Rücken abſpielte, ſo beſchloß ſie, den Ereigniſſen zuvorzukommen. Sie wartete eine Nachmittagsſtunde ab, während welcher Caſpar nicht zu Hauſe war, ließ alles, was ſein Eigentum war, Kleider, Wäſche, Bücher und ſonſtige Gegenſtände, in eine Kiſte werfen und dieſe ohne Deckel auf die Straße ſtellen. Dann ſperrte ſie ſelber das Tor zu und lehnte ſich befriedigt lächelnd zum Erkerfenſter des erſten Stockwerks heraus, um auf Caſpars Rückkehr zu harren und die Verblüffung des angeſammelten Volkes zu genießen. Caſpar kam bald; er wurde von ſeinem Leibpoliziſten über das Vorgefallene belehrt, und indes der Mann von Amts wegen aufs Rathaus trollte, um Meldung zu erſtatten, lehnte ſich Caſpar gegen ſeine Kiſte und ſchaute hin und wieder verwundert zu Frau Behold hinauf. Es dauerte gute zwei Stunden, bis man ſich auf dem Rathaus entſchieden hatte, was zu tun ſei, und Herr von Tucher benachrichtigt worden war. Währenddem fing es an zu regnen, und hätte nicht ein gutmütiges Marktweib einen Hopfenſack herbeigebracht, mit dem ſie die Kiſte bedeckte, ſo wäre Caſpars ganzes Hab und Gut durchnäßt worden. Endlich zeigte ſich der Poliziſt wieder in Begleitung eines Tucherſchen Bedienten; ſie brachten ein Handwägelchen mit und ſchleppten die Kiſte hinauf. Nun ging’s fort, und ein einfältig ſchwatzender Haufen Menſchen folgte bis in die Hirſchelgaſſe ans Tucherhaus. Es begann nun wieder ein ganz neues Leben für Caſpar. Vor allem hörte der Beſuch der Schule auf und anſtatt deſſen kam zweimal täglich ein junger Lehrer ins Haus, ein Studioſus namens Schmidt. Sodann wurde jedem unberufenen Fremden die Tür verriegelt. Ferner wurde das Reiten nicht mehr geſtattet. „Derlei Übungen ſind für Ariſtokraten und reiche Leute, nicht aber für einen Menſchen, der zu bürgerlichem Brotverdienſt erzogen werden muß und ſicherlich einſt darauf angewieſen ſein wird, ſich mit ſeiner Hände Arbeit durchzuſchlagen,“ ſagte Herr von Tucher. Daraus war erſichtlich, daß er den Redereien von vornehmer Abſtammung, die im Lauf der Zeit keineswegs verſtummt waren, nicht die mindeſte Bedeutung zumaß. „Die gegebenen Verhältniſſe ſind ſchwierig genug,“ erwiderte Herr von Tucher, wenn man ihn nur auf eine Möglichkeit dieſer Art hinwies; „ich bin durchaus nicht geſonnen, einem ſolchen Phantom, und mehr iſt es nicht, meine Grundſätze zu opfern.“ Herr von Tucher war ein Mann, der unerſchütterlich an ſeine Grundſätze glaubte. Grundſätze zu haben, war für ihn das erſte Element des Lebens, nach ihnen zu handeln, ein ſelbſtverſtändliches Gebot. Es gehörte zu dieſen Grundſätzen, daß er von Anfang an eine Entfernung zwiſchen ſich und Caſpar ſchuf, die den Reſpekt ſicherte. Vertrauliche Beziehungen waren ohnehin ſeine Sache nicht; Gefühle zu zeigen, war ihm verhaßt; die aufrechte Haltung, der gemeſſene Gang, der kühle Blick, die Tadelloſigkeit in Kleidung und Manieren kennzeichneten auch ganz und gar ſein Inneres. Strenge erſchien ihm wichtig; er zeigte Caſpar ein ſtrenges Geſicht. Die oberſte Maxime war: ſich nicht rühren laſſen. Daneben war es billig, für erfüllte Pflicht Anerkennung zu gewähren. Die Stunden vom Morgen bis zum Abend waren aufs genaueſte eingeteilt. Am Vormittag der Unterricht, dann ein Spaziergang unter Aufſicht des Dieners oder Poliziſten, am Nachmittag beſchäftigte ſich Caſpar allein. Neben ſeiner Stube war eine kleine Kammer als Werkſtätte eingerichtet, und wenn er die Aufgaben beendigt hatte, verfertigte er allerlei Tiſchler- und Papparbeiten, wozu er viel Geſchick bewies. Auch an Uhren und deren Zerlegung und Zuſammenſetzung fand er Freude. Sein Betragen befriedigte Herrn von Tucher vollkommen. Er konnte nicht umhin, den eiſernen Fleiß des Jünglings und ſeinen hartnäckigen Lern- und Bildungseifer zu bewundern. Es gab nicht Widerſpruch noch Auflehnung, niemals tat Caſpar weniger, als von ihm gefordert wurde. Ganz klar, man hat mich falſch berichtet, dachte Herr von Tucher, die Leute, die bisher um ihn waren, haben ihn nicht zu behandeln gewußt, zum erſtenmal erfährt er den Segen einer folgerechten Leitung. Die Grundſätze triumphierten. Das häufige und lange Alleinſein war Caſpar zuerſt angenehm, aber im Verlauf der Zeit wurde ihm doch fühlbar, daß dem ein Zwang obwaltete, und er hörte auf, die Gelegenheiten zu fliehen, die ihm Zerſtreuung und Unterhaltung verſprachen. Wenn auf der ſonſt ſo öden Hirſchelgaſſe Lärm entſtand, riß er das Fenſter auf und lehnte erwartungsvoll über den Sims, bis es wieder ſtille war. Es brauchten nur zwei alte Weiber ſchwatzend ſtehenzubleiben, gleich war unſer Caſpar auf dem Poſten und lauſchte. Er wußte genau, um welche Zeit die Bäckerjungen am Morgen vom Webersplatz herkamen, und ergötzte ſich an ihrem Pfeifen. Sobald der Poſtillon am Laufertor ſein Horn blies, unterbrach er die Arbeit und ſeine Augen glänzten. So machte ihn auch jedes Geräuſch aus dem Innern des weitläufigen Hauſes ſtutzig, und nicht ſelten lief er zur Tür, öffnete den Spalt und horchte aufgeregt, wenn er eine Stimme vernommen hatte, die unbekannt klang. Die Dienſtleute wurden darauf aufmerkſam; ſie ſagten, er ſei ein Türenhorcher und lege es darauf an, ſie dem Baron zu verklatſchen. Vor dem Hauſe ſelber empfand Caſpar eine unbeſtimmte Hochachtung; er ſchritt faſt auf Zehen über die Korridore, etwa wie man in der Gegenwart eines vornehmen Herrn leiſe ſpricht. In ſtolzer Zugeſchloſſenheit thronte der Bau abſeits vom Getriebe, und wer Einlaß heiſchte, mußte ſich von einem langbärtigen Pförtner beſichtigen und befragen laſſen. Die Mauern waren ſo gewaltig in die Erde gebohrt, Faſſade, Dach und Giebel ſo majeſtätiſch gefügt und verwachſen, als hätten altverbriefte Rechte mehr als die Kunſt des Baumeiſters ihnen zu ſolchem Anſehen verholfen. Der Turm im Hof mit der Wendeltreppe feſſelte Caſpars Auge gern am Abend, wenn die feinverſchnörkelten Formen, durchglüht von bläulichem Dunſt, ſich ineinanderwirkend zu beleben ſchienen. Bisweilen gewahrte er hinter einem verſperrten Fenſter einen eisgrauen Scheitel über einem pergamentenen Geſicht. Es war die alte Freifrau, die ſich ſonſt ihm niemals zeigte. Man ſagte ihm, daß ſie von ſchwacher Geſundheit ſei und ängſtlich das Zimmer hüte. Dies Fremdſein Wand an Wand erregte ſein Nachdenken. Allmählich wurde es ihm klar, daß er unter lauter fremden Menſchen herumging und von der Mitleidsſchüſſel ſpeiſte. Einer nahm ihn und nährte ihn; da kam ein Wagen, und er wurde geholt. Ein andres Haus; eines Tages wirft man ſein Zeug auf die Gaſſe: wieder woandershin. Wie ging das zu? Andre lebten ſtändig an ihrer Stelle, kannten ihr Bett von Kindheit an, keiner durfte ſie losreißen, ſie hatten Rechte. Das war es, ſie hatten angeſtammte und gewaltige Rechte. Es gab Arme, die um Geld dienten, die zu den Füßen derer lagen, welche man als reich bezeichnete, ſelbſt die ſtanden irgendwo feſt auf der Erde, hielten irgend etwas feſt in den Händen, ſie verrichteten eine Arbeit, man bezahlte ſie für die Arbeit und ſie konnten hingehen und ſich ihr Brot kaufen. Der eine machte Röcke, der zweite Schuhe, der dritte baute Häuſer, der vierte war Soldat, und ſo war einer dem andern Schutz und Hilfe und bekam einer vom andern Speiſe und Trank. Warum konnte man ſie nicht wegreißen von der Stelle, wo ſie hauſten? Darum war es, ja, darum war’s: weil ſie eines Vaters und einer Mutter Sohn waren. Das hielt einen jeden. Vater und Mutter trugen jeden zur Gemeinſchaft der Menſchen und zeigten ſomit allen andern an, woher er gekommen ſei und was er ſein wollte. Das war es, Caſpar wußte nicht, woher er gekommen ſei; aus irgendeinem unentdeckbaren Grund war er, er ganz allein vaterlos, mutterlos. Und er mußte es herausbringen, warum. Er mußte zu erfahren ſuchen, wer und wo ſein Vater und ſeine Mutter waren, und vor allem mußte er hingehen und ſich ſeinen Platz erobern, von dem man ihn nicht vertreiben konnte. An einem Winterabend betrat Herr von Tucher Caſpars Zimmer und fand ihn tief in ſich gekehrt. Zwei- oder dreimal wöchentlich pflegte Herr von Tucher nach beendetem Tagewerk ſeinen Zögling zu beſuchen, um ſich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Es lag dies im Schema des Erziehungsplanes. Das Prinzip verlangte aber von Herrn von Tucher, daß er eine würdevolle Unnahbarkeit bewahre; das Prinzip zwang ihn, auf die Freuden eines natürlichen Verkehrs zu verzichten. Und wenn es ihm auch manchmal ſchwer wurde, ſolche Überwindung zu üben, ſei es durch ein eignes Bedürfnis, ſich mitzuteilen, oder weil ein ſtumm forſchender Blick Caſpars an ſein Herz faßte, es gab kein Schwanken, das Prinzip, grimmig wie ein Vitzliputzli, verſtattete nicht, daß man die Grenze der Zurückhaltung mehr als nützlich überſchreite. Wie er aber Caſpar ſo gewahrte, verborgenem Sinnen hingegeben, ergriff ihn der Anblick doch und ſeine Stimme nahm wider Willen einen milderen Klang an, als er den Jüngling um die Urſache ſeines Nachdenkens befragte. Caſpar überlegte, ob er ſich aufſchließen dürfe. Wie bei jeder Gemütsbewegung war die linke Seite ſeines Geſichtes konvulſiviſch durchzuckt. Dann ſtrich er mit einer ihm eignen unnachahmlich lieblichen Geſte die Haare von der einen Wange gegen das Ohr zurück und fragte mit einem Ton aus innerſter Bruſt: „Was ſoll ich denn eigentlich werden?“ Herrn von Tucher beruhigten dieſe Worte ſogleich. Er machte eine Miene, als wolle er ſagen: die Rechnung ſtimmt. Darüber habe er auch ſchon nachgedacht, erwiderte er; Caſpar möge ihm doch ſagen, wozu er am meiſten Luſt habe. Caſpar ſchwieg und ſchaute unentſchloſſen vor ſich hin. „Wie wäre es mit der Gärtnerei?“ fuhr Herr von Tucher wohlwollend fort. „Oder wie wäre es, wenn du Tiſchler würdeſt oder Buchbinder? Deine Papparbeiten ſind ganz vortrefflich, und du könnteſt das Buchbindergewerbe in kurzer Zeit erlernen.“ „Dürft’ ich dann alle Bücher leſen, die ich einbinden ſoll?“ fragte Caſpar verſonnen, der ſo geduckt ſaß, daß ſein Kinn die Tiſchplatte berührte. Herr von Tucher runzelte die Stirn. „Das hieße eben den Beruf vernachläſſigen,“ antwortete er. „Ich könnte ja auch Uhrmacher werden,“ ſagte Caſpar; er hatte in dieſem Augenblick eine ziemlich überſpannte Vorſtellung von einem Uhrmacher; er ſah einen Mann, der im Innern hoher Türme ſteht und den Glocken zu läuten befiehlt, der goldene Rädchen ineinander fügt und durch einen Zauberſpruch die Zeit unſichtbar macht und in ein winziges Gehäuſe bannt. Überhaupt mit ſolchen Namen war es ſchwer; nicht ſein Wollen lag dahinter, ſondern ein unbegreiflich verwickeltes Bild des ganzen Lebens. Herr von Tucher, voll Argwohn, als wurzle in dem Gehaben Caſpars doch kein wahrer Ernſt, erhob ſich und ſagte kalt, er werde ſich die Sache überlegen. Am nächſten Abend wurde Caſpar in Herrn von Tuchers Zimmer gerufen. „Ich bin nun mit Bezug auf unſer geſtriges Geſpräch zu folgendem Entſchluß gelangt,“ ſagte der Baron; „du bleibſt das Frühjahr und den Sommer über noch in meinem Haus. Wenn du fleißig biſt, kann deine Ausbildung in den Elementarfächern bis zum September beendet ſein, deſſen verſichert mich auch Herr Schmidt. Damit nun der Tag ein ununterbrochenes Ganzes für dich wird, ſollſt du des Mittags nicht mehr mit mir eſſen, ſondern alle Mahlzeiten auf deinem Zimmer einnehmen. Ich werde bald mit einem anſtändigen Buchbindermeiſter ſprechen; wir wiſſen dann, woran wir ſind. Biſt du’s zufrieden, Caſpar? Oder haſt du andre Wünſche? Nur friſch heraus mit der Sprache, du kannſt noch immer wählen.“ Ein flüchtiger Schauer lief Caſpar über den Rücken. Er ſchüttelte ſich ein wenig, ſetzte ſich nieder und ſchwieg. Herr von Tucher wollte ihn nicht weiter bedrängen, er wollte ihm Zeit laſſen. Eine Weile ging er hin und her, dann nahm er vor dem Flügel Platz und ſpielte einen langſamen Sonatenſatz. Es geſchah dies nicht aus zufälliger Laune; am Dienſtag und Freitag von ſechs bis ſieben Uhr abends ſpielte Herr von Tucher Klavier, und da der Kuckuck der Schwarzwälderuhr ſoeben ſechs gekrächzt hatte, wäre eine Verſäumnis ſehr gegen die Regel geweſen. Es war eine ziemlich ſchwermütige Melodie. Für Caſpar war dergleichen eine Qual; ſo gern er Märſche, Walzer und luſtige Lieder hörte — die Anna Daumer, die kann ſpielen, ſagte er immer_—, ſo unbehaglich war ihm bei ſolchen Tönen. Als Herr von Tucher den Schlußakkord des Stückes angeſchlagen hatte, ſich auf dem Drehſeſſel umkehrte und Caſpar fragend anſchaute, dachte er, er ſolle ſich äußern, wie es ihm gefalle, und er ſagte: „Das iſt nichts. Traurig kann ich von alleine ſein, dazu brauch’ ich keine Muſik.“ Herr von Tucher zog erſtaunt die Brauen in die Höhe. „Was maßeſt du dir an?“ entgegnete er ruhig. „Ich habe kein muſikaliſches Urteil von dir verlangt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, deinen Geſchmack in dieſer Hinſicht zu veredeln. Im übrigen geh auf dein Zimmer.“ Caſpar war es ganz lieb, daß er nicht mehr mit dem Baron zu eſſen brauchte. Das ſteife Beieinanderſitzen erſchien ihm jedesmal unſinnig und läſtig. Vieles entzückte ihn an dieſem Manne, beſonders ſeine Ruhe und ſein ſachtes Sprechen, das überaus Reinliche ſeines Körpers, die porzellanweißen Zähne und vor allem die roſigen gewölbten Nägel der langen Hände. Er kannte viele Leute mit blaſſen Nägeln und mißtraute ihnen; blaſſe Nägel erweckten ihm die Vorſtellung des Neides und der Grauſamkeit. Doch immer hatte Caſpar das Gefühl, als ob Herr von Tucher auf irgendwelche Art ſchlechte Nachrichten über ihn erhielte und ſich davon betören laſſe; es war ihm manchmal, als müſſe er ihm zurufen: es iſt ja alles nicht wahr! Aber was? Was ſollte nicht wahr ſein? Das wußte Caſpar nicht zu ſagen. In ſeiner Einſamkeit war ihm zumute, als ſeien die Menſchen ſeiner überdrüſſig und gingen damit um, ſich ſeiner zu entledigen. Er war voller Ahnungen, voller Unruhe. In Nächten, wo der Mond am Himmel ſtand, verlöſchte er die Lampe früher als ſonſt, ſetzte ſich ans Fenſter und verfolgte unverwandt die Bahn des Geſtirns. An Vollmondtagen ward er häufig unwohl, es fror ihn am ganzen Leibe, erſt der Anblick des Mondes ſelbſt nahm den Druck von ſeiner Bruſt. Er wußte, von welchem Dach oder zwiſchen welchen Giebeln die helle Scheibe emporſteigen müſſe, hob ſie wie mit Händen aus der Tiefe des Himmels heraus, und wenn Wolken da waren, zitterte er davor, daß ſie den Mond berühren könnten, weil er glaubte, das ſtrahlende Licht müſſe befleckt werden. Sein Ohr ſchien in dieſer Zeit manchmal den Lauten einer Geiſterwelt zu lauſchen. Eines Morgens erhob er ſich während des Unterrichts plötzlich, ging zum Fenſter und beugte ſich weit hinaus. Herr Schmidt, der Studioſus, ließ ihn gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief er ihn zurück. Caſpar richtete ſich auf und ſchloß das Fenſter, ſein Geſicht war ſo bleich, daß der Studioſus beſorgt fragte, was ihm ſei. „Mir war, wie wenn jemand käme,“ verſetzte Caſpar. „Wie wenn jemand käme? Wer denn?“ „Ja, wie wenn mich jemand unten gerufen hätte.“ Der Studioſus fand dies wunderlich. Er dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage geſtellt. Es war da neuerdings in der Stadt viel von einer ſeltſamen Geſchichte die Rede, die Caſpar betraf oder auf ihn gedeutet wurde und die in allen Journalen, auch draußen im Reich, des langen und breiten durchgehechelt wurde. Aber weil Herr von Tucher dem Studioſus aufs ſtrengſte verboten hatte, mit Caſpar jemals über ſolche Dinge zu ſprechen, nahm er ſich zuſammen und ſchwieg. Nun hatte Caſpar ſeit Monaten die Gewohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die Hand kamen und die er ſich zum Teil heimlich zu verſchaffen wußte — denn Herr von Tucher fürchtete von dieſer Seite her Beeinfluſſungen mit gutem Grund_—, aufs genaueſte durchzuleſen. Hin und wieder geſchah es, daß er irgendeine Nachricht, eine Mitteilung über ſich ſelbſt entdeckte, und obgleich er noch nie etwas Weſentliches gefunden hatte, bekam er jedesmal Herzklopfen, ſobald er nur ſeinen Namen gedruckt ſah. Kurze Zeit nach jenem kleinen Zwiegeſpräch mit dem Lehrer ſpielte ihm der Zufall eine ſchon mehrere Tage alte Nummer der „Morgenpoſt“ in die Hände, und beim Leſen fand er folgende eigentümliche Erzählung: Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fiſcher bei Breiſach eine ſchwimmende Flaſche aus dem Rheinſtrom gezogen, und dieſe Flaſche enthielt einen Zettel, auf welchem geſchrieben ſtand: „In einem unterirdiſchen Kerker bin ich begraben. Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf meinem Thron ſitzt. Grauſam bin ich bewacht. Keiner kennt mich, keiner vermißt mich, keiner rettet mich, keiner nennt mich.“ Dann kam ein halb unleſerlicher und verſtellter Name, von dem alle deutlichen Buchſtaben auch im Namen Caſpar Hauſer enthalten waren. Alles das war damals ſchon von einigen Zeitungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel jeglichen Anhaltspunktes natürlich wieder in Vergeſſenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vorfall aus einem alten Jahrgang der ‚Magdeburger Zeitung‘ neuerdings ans Licht gebracht. Andre Journale bemächtigten ſich der Angelegenheit, die nach und nach viel Staub aufwirbelte. Auf einmal wurde nachgewieſen, daß ſeinerzeit ein Piariſtenmönch von einer gewiſſen Regierung bezichtigt wurde, die Flaſche in den Rhein geworfen zu haben. Es ſtellte ſich ferner heraus, daß derſelbe Mönch plötzlich verſchwunden und eines ſchönen Tages im Elſaß, in einem Wald der Vogeſen, ermordet aufgefunden worden war. Den Täter hatte man nie entdeckt. „Wenn auf dieſe Spur hin das Myſterium, das über dem Findling ſchwebt, nicht endlich gelüftet wird,“ rief der Querulant in der ‚Morgenpoſt‘, nachdem er die Geſchichte alſo ausführlich berichtet hatte, „dann gebe ich keinen Pfifferling für unſre ganze Juſtizpflege!“ Caſpar las und las. Zwei Stunden verbrachte er damit, die wunderliche Hiſtoria immer wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes einzelne Wort zu überlegen. Dabei überraſchte ihn der Studioſus; er vergewiſſerte ſich, daß es eben dieſelbe Affäre ſei, von der er neulich nicht ſprechen gewollt, und ſagte haſtig: „Ei, was treiben Sie da, Caſpar? Was ſagen Sie übrigens dazu? Die meiſten Leute halten es für Quark, trotzdem es ein unwiderlegliches Faktum iſt, daß die Sache damals in der ‚Magdeburger Zeitung‘ geſtanden hat. Was ſagen Sie dazu, Hauſer?“ Caſpar hörte kaum; als der Mann ſeine Frage wiederholte, erhob er das Geſicht, ſchlug den feuchten Blick zum Himmel empor und ſagte leiſe: „Ich hab’ es nicht geſchrieben, was da vom Kerker ſteht.“ „Vom Kerker und vom Throne,“ fügte der Studioſus mit ſonderbarem und begierigem Lächeln hinzu. „Daß Sie es nicht geſchrieben haben, glaub’ ich ſchon, Sie haben ja das Schreiben erſt bei uns gelernt.“ „Aber wer kann es geſchrieben haben?“ „Wer? Das iſt eben die Frage. Vielleicht einer, der helfen wollte; ein verborgener Freund vielleicht.“ „Vom Kerker und vom Throne,“ lallte Caſpar mit willenloſem Mund. Er begab ſich in die Ofenecke, kauerte ſich auf einem Schemel zuſammen und verſank in tiefe Grübelei. Weder Ruf noch Mahnung noch Befehl vermochten ihn zu wecken, und der Studioſus, der ſich ſchuldig fühlte, blieb, um kein Aufſehen zu machen, die Stunde über ſitzen und entfernte ſich dann ſtill. Am ſelben Abend war eine Aſſemblee im Tucherſchen Haus, alle Freunde der Familie waren geladen, und eine halbe Stunde lang dauerte das Wagengeraſſel vor dem Haus. Als die erſten Tanzweiſen vom Saal heraufſchallten, begab ſich Caſpar in den Korridor und horchte. Er hatte nicht mehr Zutritt zu ſolchen Feſten. Während er noch ſtand, ans Geländer gepreßt, den Kopf vorgebeugt, und er ſich ſo recht verſtoßen vorkam, berührte eine Hand ſeine Schulter. Es war der Lakai, der ihm auf ſilberner Platte einige Süßigkeiten brachte. Caſpar ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Süßes mag ich nicht,“ worauf der Diener ihn mürriſch mit den Blicken maß und ſich zu gehen anſchickte. Da kamen Schritte von der zweiten Treppe her, die unbeleuchtet war, und unverſehens ſtand die alte Freifrau in grauſeidenem Kleid und ſeidener Haarſchärpe vor den beiden; indem ſie ihre blauen Augen ſtreng in die des Jünglings bohrte, ſagte ſie ſtolz und befremdet: „Süßes mag er nicht? Warum mag er denn Süßes nicht?“ Sie kam von unten; Caſpar roch deutlich den Menſchendunſt an ihren Gewändern. Es war ihre Art, ſich früh zurückzuziehen. Bevor ſie zur Ruhe ging, pflegte ſie täglich durch das ganze Haus zu wandern, um nachzuſehen, ob kein Feuer ſei und kein Dieb ſich eingeſchlichen habe. Vor ihren rauh klingenden Worten duckte Caſpar den Kopf. Es iſt anzunehmen, daß ſeine Phantaſie ungewöhnlich erregt war. Plötzlich ſpürte er eine lähmende Furcht. Schwärze ſtieg um ſeine Augen, es war ihm, als habe er die Stimme des Vermummten gehört, und den Arm ausſtreckend, ſchrie er bittend: „Nicht ſchlagen, nicht ſchlagen!“ Die alte Dame, die es ſo ſchlimm eben nicht gemeint hatte, blickte verwundert und erſchrocken auf. Indes hatte Caſpars lauter Schrei die Aufmerkſamkeit einiger Gäſte erregt, die im unteren Flur auf und ab ſpazierten. Sie wandten ſich an Herrn von Tucher, und dieſer ging die Treppe empor, gefolgt von einigen Herren. Unter der Geſellſchaft im Saal verbreitete ſich das Gerücht, es ſei etwas paſſiert, und da Caſpars Aufenthalt im Hauſe natürlich bekannt war, dachten alle an ein Ereignis wie das bei Daumer vorgefallene. Es entſtand ein Schweigen, die Tanzmuſik verſtummte, viele drängten hinaus, beſonders die jungen Damen waren erregt, und eine Anzahl von ihnen ſtieg die Treppe empor und blieb ſchauend ſtehen. Herr von Tucher, der dies alles aufs peinlichſte empfand, wie ihm denn jedes unnütze Aufſehen ein Greuel war, ſchickte ſich an, Caſpar zur Rede zu ſtellen, wurde aber durch das verſteinerte Bild des Jünglings abgeſchreckt, auch machte ihn die beſtürzte Haltung ſeiner Mutter ſtutzig. Es ging etwas Ungeheures in Caſpar vor. Ihm war, als habe er, was jetzt geſchah, ſchon einmal erlebt. Wie mit einer Sturzwelle riß es ihn zurück, und die Zeit ſchien ihren Atem anzuhalten. Da war die alte Frau, fürſtlich geſchmückt und majeſtätiſch anzuſehen; wie, glich ſie nicht einem Weib, das einſt in ein Gemach gekommen, wo auch er geweſen war, und hatte ihre Gegenwart nicht alle andern erſtarren laſſen? Lag nicht jemand auf dem Bett und vergrub den Kopf in die Kiſſen? Da war der Diener, der eine ſilberne Platte in Händen hielt; war das nicht alt? Stand nicht auch damals einer da, der Geſchenke brachte oder Süßes oder Koſtbares? Da waren feierlich gekleidete Männer, die auf einen Befehl zu harren ſchienen, darauf warteten, daß einer käme, noch feſtlicher angetan als ſie ſelbſt, vor dem ſie ſich verneigen mußten? Und dieſe ſchlanken weißen Mädchen in weißen Schleiern, deren Blicke tief und bang waren? Und hier oben die Dämmerung, die ſich über zahlloſe Marmorſtufen hinab ins Licht verlor? Caſpar hätte jauchzen mögen, denn er erſchien ſich fremd und zugleich von allen angebetet; ſie ſenkten das Haupt, ſie erkannten den Herrn in ihm; ja, er ahnte, was er war und von wo er kam, er ſpürte, was jenes Wort vom Kerker und vom Throne zu bedeuten hatte; ein geiſterhaftes Lächeln umſpielte ſeine Lippen. Herr von Tucher bereitete dem unangenehmen Auftritt ein möglichſt ſtilles Ende. Er führte Caſpar in ſein Zimmer, gebot ihm, ſich zu Bett zu begeben, wartete, bis er lag, verlöſchte dann ſelbſt das Licht und ſagte beim Hinausgehen in ſcharfem Ton, er werde ihn am andern Morgen wegen ſeiner ungehörigen Aufführung zur Rechenſchaft ziehen. Darum ſcherte ſich Caſpar wenig. Es wurde auch nicht viel aus der gedrohten Abrechnung. Herr von Tucher ſah ein, daß den Grundſätzen eigentlich nichts zuleide geſchehen war. Sein Koch verriet ihm im hohlen Ton der Prophezeiung, Caſpar ſei mondſüchtig und werde ſicherlich einmal aufs Dach ſteigen und herunterſtürzen. Herr von Tucher konnte den Mond nicht abſchaffen; da der Jüngling krankhaften Zuſtänden unterworfen ſchien, durfte man ihn für gewiſſe Fehltritte nicht verantwortlich machen. Ob Caſpar Tiſchler oder Buchbinder werden ſolle, war noch immer unentſchieden. Es mußte hierzu die Meinung des Präſidenten Feuerbach eingeholt werden. Herr von Tucher nahm ſich vor, im April nach Ansbach zu fahren und mit dem Präſidenten zu ſprechen. Caſpar aber war voller Erwartung. Er wartete auf einen, der kommen mußte, auf einen, der irgendwo unter den Menſchen ging und den Weg zu ihm ſuchte, und ſo feſt war der Glaube an dieſen Kommenden, daß er jeden Morgen dachte: heute, und jeden Abend: morgen. Er lebte in einem beſtändigen innerlichen Spähen, und ſeine ahnungsvolle Freude glich einem Traum. Aber wie der Pfau ſeinen Schweif niederſchlägt, wenn er ſeine häßlichen Füße gewahrt, ſo machte ſeine eigne Stimme, ſein eigner Schritt ihn ſchon wieder zaghaft, um wie viel mehr erſt der Anblick von Menſchen, die täglich ſeine Erwartung enttäuſchen mußten. Sein ganzes Treiben in dieſer Zeit war außergewöhnlich, und die aufmerkſam horchende Spannung gegen ein Leeres hin hatte etwas von Wahnwitz. Freilich, zuſammengehalten mit dem Verlauf der Ereigniſſe bot ſie ein andres Geſicht und hätte einem Mann wie Daumer abſonderlichen Stoff für ſeine Ideen geliefert. Es lauerte viel Heimliches und Feindſeliges auf Caſpars Wegen, und es überlief ihn kalt, wenn im Nebel ein Tropfen von einer Dachrinne fiel. Angſtvorſtellungen begleiteten ihn bis in den Schlaf, und weil er oftmals erwachte und die Finſternis ihn quälte, bat er, daß man neben ſeinem Bett ein Öllämpchen brennen laſſe. Dies geſchah. Einſtmals in einer Nacht ſpürte er, noch ſchlummernd, ein eigentümliches Ziehen im Geſicht, als ob ihn von oben her ein kühler Atem ſtreife. Jählings richtete er ſich auf, blickte über Bett und Wand und gewahrte eine große Spinne, die an einem Faden in der Nähe ſeines Kopfes hing. Entſetzt ſprang er aus dem Bett, und unfähig, ſich zu regen, beobachtete er, wie das Tier ſich aufs Kiſſen niederließ und über das weiße Linnen kroch, einen glitzernden Faden hinter ſich herſchleppend. Caſpars ganzer Leib war wie mit einer neuen, ſchaudernden kalten Haut bedeckt. Er preßte die Hände zuſammen und flüſterte angſtvoll und ſeltſam ſchmeichelnd: „Spinne! Was ſpinnſt du, Spinne?“ Die Spinne duckte den gelblichen Leib. „Was ſpinnſt du, Spinne?“ wiederholte er flehend. Das Tier überklomm den Bettpfoſten und gewann die Mauer. „Was ſchickſt du dich denn ſo, Spinne?“ hauchte Caſpar. „Warum ſo eilig? Suchſt du was? Ich tu’ dir nichts_...“ Die Spinne war ſchon oben an der Decke. Caſpar ſetzte ſich auf den Stuhl, wo die Kleider hingen. „Spinne, Spinne!“ ſagte er tonlos vor ſich hin. Es ſchlug vier Uhr draußen und er hatte ſich noch immer nicht ins Bett zurückgetraut. Dann, ehe er ſich hinlegte, wiſchte er Kiſſen und Wand eifrig mit dem Taſchentuch ab. Er trug von der unbekleidet verwachten Stunde eine Erkältung davon, die ihn mehrere Tage ans Lager feſſelte. Er wurde traurig, des Wartens war er ſchon müde. Obwohl ihm ſchließlich nichts mehr fehlte, hatte er keine Luſt, das Zimmer zu verlaſſen. Herr von Tucher nahm ſeinen Zuſtand für ein hypochondriſches Zwiſchenſpiel; als er ſich jedoch überzeugte, daß ſowohl ſeine vorſätzliche Gleichgültigkeit wie ſein gütiger Zuſpruch fruchtlos blieben und daß da eine unverſtellte ſeelenvolle Betrübnis waltete, ward er beſorgt. Nun geſchah es an einem dieſer Tage, daß ein auswärtiger Bote im Haus vorſtellig wurde, der zu Caſpar geführt zu werden verlangte, um ihm einen Brief auszuhändigen. Herr von Tucher verweigerte die Erlaubnis dazu. Nach einigem Bedenken überließ ihm der Mann das Schreiben und entfernte ſich wieder. Herr von Tucher hielt ſich für berechtigt, den Brief zu öffnen. Er war von rätſelhafter Faſſung; noch rätſelhafter dadurch, daß ihm ein koſtbarer Diamantring beilag, den Caſpar damit als Geſchenk bekam. Herr von Tucher war unſchlüſſig, was er tun ſolle. Brief und Ring dem Gericht oder dem Präſidenten Feuerbach auszuliefern, erſchien ihm das ratſamſte. Doch widerſprach es immerhin ſeinem Rechtsgefühl. Eine flüchtige Stimmung von Weichheit gegenüber Caſpar ließ ihn den Vorſatz völlig vergeſſen; er hoffte, den Jüngling aus ſeiner Niedergeſchlagenheit aufzurütteln, und dieſen Zweck erreichte er vollkommen. Er brachte Brief und Ring herbei. Caſpar las: „Du, der du das Anrecht haſt, zu ſein, was viele leugnen, vertrau dem Freund, der in der Ferne für dich wirkt. Bald wird er vor dir ſtehen, bald dich umarmen. Nimm einſtweilen den Ring als Zeichen ſeiner Treue und bete für ſein Wohlergehen, wie er für das deine zu Gott fleht.“ Als Caſpar dies geleſen hatte, drückte er das Geſicht gegen den Arm und weinte ſtill für ſich hin. Herr von Tucher ſaß am Tiſch und ließ den ſchönen Stein des Rings nachdenklich im Sonnenlicht ſpielen. 11. Der engliſche Graf In den Nachmittagsſtunden eines der letzten Apriltage rollte ein vornehmer Reiſewagen vor die Einfahrt des Hotels zum wilden Mann, und alsbald verließ ein hochgewachſener Herr den Schlag und begrüßte leutſelig den herbeiſtürzenden Wirt, der eines ſolchen Gaſtes nicht gewärtig war, da in ſeinem Hauſe faſt nur Kaufleute und Handlungsreiſende verkehrten. Der Fremde forderte die beſten Zimmer, und ohne ſich nach dem Preis zu erkundigen, ſchritt er durch das Spalier von Gaffern in das weitbogige Tor. Diener und Kutſcher trugen die Koffer, den Nachtſack und ſonſtige Reiſegegenſtände in die Halle. Der Ankömmling verlangte von ſelbſt das Fremdenbuch, und bald konnte jeder ehrfürchtig-ſchaudernd die mit Rieſenſchrift geſchriebenen Worte leſen: „Henry Lord Stanhope, Earl of Cheſterfield, Pair von England.“ Das Ereignis machte ſolches Aufſehen in der Gegend, daß noch ſpät abends Leute auf der Gaſſe ſtanden und zu den hellen Fenſtern emporſtarrten, hinter denen der erlauchte Herr logierte. Am nächſten Morgen gab der Lord in der Wohnung des Bürgermeiſters ſowie bei einigen Notabilitäten der Stadt ſeine Karte ab, und ſchon wenige Stunden darauf erhielt er in ſeinem Quartier die Gegenbeſuche, vor allem denjenigen Binders, der ſich der früheren Anweſenheit des Lords natürlich wohl erinnerte. In der ziemlich langen Unterredung mit dem Bürgermeiſter geſtand Graf Stanhope ohne Umſchweife, daß wie jenes erſte Mal ſo auch heute die Perſon des Caſpar Hauſer den Grund ſeines Aufenthaltes in der Stadt bilde. Er hege für den Findling die größte Teilnahme, ſagte er und ließ durchblicken, daß er etwas Entſcheidendes für ihn zu unternehmen geſonnen ſei. Der Bürgermeiſter erwiderte, er verſtatte Seiner Herrlichkeit, ſoweit es die Vorſchriften erlaubten, freien Spielraum. „Was für Vorſchriften?“ fragte der Lord raſch. Binder verſetzte, Herr von Tucher ſei Kurator des Findlings, habe weitgehende Rechte und werde der Einmiſchung eines Fremden nicht freundlich gegenüberſtehen; außerdem könne man ohne Wiſſen des Staatsrats Feuerbach keine Veränderung befürworten, die das Leben Caſpar Hauſers betreffe. Der Lord machte ein bekümmertes Geſicht. „Da werde ich einen ſchweren Stand haben,“ bemerkte er. Hierauf erkundigte er ſich, ob man wegen des Überfalls im Daumerſchen Hauſe irgend Anhaltspunkte gewonnen habe und ob die ſeinerzeit von ihm ausgeſetzte Prämie keinen Empfänger habe finden können. Dies mußte Binder verneinen; er entgegnete, die ſo großmütig zur Verfügung geſtellte Summe liege unangetaſtet auf dem Rathaus und Seine Lordſchaft könne ſie zu beliebiger Stunde zurückerhalten, da doch jede Entdeckungsausſicht nunmehr geſchwunden ſei. Die nächſten Tage verbrachte der Lord ausſchließlich mit der Erfüllung geſellſchaftlicher Pflichten. Zu Mittag, zum Tee und zu Abend war er eingeladen oder gab kleine, aber exzellente Mahlzeiten in ſeinem Hotel, wozu er eigens einen franzöſiſchen Koch in Dienſt nahm. Wenn es ſeine geheime Abſicht war, ſich auf dieſe Weiſe Freunde und Bewunderer zu verſchaffen, ſo blieb ihm darin nichts zu wünſchen übrig. Wenn er den Zweck verfolgte, all die guten Leute und ihre Geſinnungen kennen zu lernen, ſo fiel ihm das nicht ſonderlich ſchwer; man gab ſich rückhaltlos, man fühlte ſich geehrt durch ſeine Gegenwart, man beſtaunte ſeine geringſten Handlungen. Jeder Anlaß war ihm recht, um das Geſpräch auf Caſpar Hauſer zu lenken; er wollte wiſſen, immer Neues wiſſen, ſchwelgte in den rührenden Einzelheiten, die man zu berichten wußte, fand es aber dabei doch nicht notwendig — eine Unterlaſſung, die allerdings auffallend gefunden wurde_—, den Profeſſor Daumer zu beſuchen, ſondern begnügte ſich damit, den Gefängniswärter Hill zu ſich kommen zu laſſen und ihn auszufragen. Hill, von dieſer Auszeichnung etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, ſchilderte ſo beweglich, daß es von einem unter Verbrechern ergrauten Mann wunderbar zu hören war, jenes hold verlorene Weben und ergreifende Darniederſinken Caſpars während ſeines Aufenthalts im Turm; zum Schluß rief er, glühend vor Eifer, er, was an ihm liege, er werde die Unſchuld des Jünglings bezeugen, und wenn Gott ſelber das Gegenteil behaupte. Graf Stanhope war ſichtbar erſchüttert; er lächelte, ſagte, hier ſei ja nicht von Schuld die Rede, und entließ den Mann fürſtlich belohnt. Nun endlich entſchloß er ſich, Herrn von Tucher und damit auch Caſpar ſelbſt gegenüberzutreten. Wenn man ihn verwundert gefragt hatte, weshalb er dies ſo lang verzögere, hatte er erwidert, er bedürfe dazu ſeiner ganzen Sammlung und Seelenkraft, denn vor dem Augenblick, wo er Caſpar zum erſtenmal ſehen werde, ſei ihm bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtsabend. Herr von Tucher befand ſich in ſeinem Arbeitszimmer, als man ihm die Karte des Engländers brachte. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß er von der Anweſenheit Stanhopes in der Stadt Kenntnis hatte und von deſſen Umtrieben unterrichtet war. Da er in jedem Fall einen Friedensſtörer in ihm ſah, war er nicht zugunſten des Mannes voreingenommen. Nach allen Beſchreibungen hatte er in dem Fremden eine liebenswürdige und gewinnende Erſcheinung zu finden erwartet; gleichwohl war er überraſcht, als er den vornehmen Gaſt auf ſich zuſchreiten ſah, und im Nu ſchwand ſeine durch das Hörenſagen und trübe Vorgefühle entſtandene Abneigung. Es war allerdings etwas Gefährliches um den Mann, das ſpürte Herr von Tucher auf den erſten Blick, doch ebenſoſehr lag ein beſtrickender Reiz von Weltlichkeit und geiſtreicher Anmut über ſeiner Perſon. Da ſeine Haltung ſtolz war, erſchien die Zartheit der ſchlanken Geſtalt nicht weibiſch; die Züge, durchaus engliſch markant, waren edel geſchnitten und ließen die fahle Färbung der Haut vergeſſen; das wechſelnde Feuer der durchſichtigen Augen erinnerte bald an die ſanfte Gazelle, bald an die Ruhe des Tigers, kurz, Herr von Tucher wurde in einen Zuſtand angenehmer Spannung und Erregung verſetzt, der durch das ſchnell in Fluß gebrachte Geſpräch nicht im mindeſten betrogen wurde. Die bloßen Fragen des Lords nach Caſpars leiblicher und geiſtiger Verfaſſung bekundeten ſchon einen Menſchen von hoher Einſicht und Kenntnis des Lebens, und was er ſagte, eroberte die Zuſtimmung des Hörers mühelos. Auf die Beweggründe des Hierſeins kam er von ſelbſt zu ſprechen. Was er vorbrachte, klang unbeſtimmt genug; er war augenſcheinlich ein Meiſter in der Kunſt, ſeine wahren Abſichten zu verſchleiern, aber kein Argwohn konnte Herrn von Tucher beifallen. Der Name Stanhope gab ausreichende Bürgſchaft. Was konnte einen Lord Stanhope verhindern, deutlich zu ſein? War es nicht Feingefühl und angeſtammter Takt, ſo war es eine Verſchwiegenheit, die zugleich das Gelöbnis enthielt, zur gebotenen Stunde alles ſchicklich offenbar zu machen. Herr von Tucher fand ſich dadurch eher verpflichtet als enttäuſcht; ohne die ausgeſprochene Bitte des Lords abzuwarten, fragte er höflich, ob es ihm genehm ſei, Caſpar zu ſehen. Indem er die Verſicherung der Dankbarkeit ſeines Gaſtes lächelnd abwehrte, läutete er und gab Auftrag, daß man den Jüngling hole. Es entſtand nun eine Stille; Herr von Tucher verblieb in unwillkürlichem Lauſchen an der Tür, und der Lord ſaß mit übergeſchlagenen Beinen, den Kopf in die behandſchuhte Linke geſtützt, das Geſicht dem offenen Fenſter zugekehrt. Es war ein ſonniger Sonntagnachmittag; der Himmel lag blauſtrahlend über dem fächrigen Geſchiebe der roten Dächer, zwitſchernde Schwalben ſchoſſen längs der grauen Häuſerfronten hin. Als Caſpar in das Zimmer trat, veränderte Stanhope langſam die Richtung ſeines Blickes, und ohne jenen eigentlich anzuſehen, ſchien er doch das ganze Bild des Menſchen in ſich feſtzuketten. Noch während Caſpar, durch ein paar raſche Worte des Herrn von Tucher über die Perſon des illuſtern Mannes belehrt, auf den Grafen zuging, erhob ſich dieſer und ſagte mit überraſchender Erregung und ſichtlich tiefberührt: „Caſpar! Alſo endlich! Geſegnete Stunde!“ Dann ſtreckte er die Arme nach ihm aus, und wie zu einem Tor, das ihm nach ſehnſuchtsvollem Harren aufgetan worden, begab ſich Caſpar in dieſe geöffneten Arme, ein heller, ſcharfer, kühler Strahl der Freude durchfuhr ihn von oben bis unten, und er vermochte weder zu ſprechen noch ſich zu regen. Das war er, der aus weiter Ferne kam. Von ihm der Ring, von ihm die Botſchaft. Schon oben, als er die Kaleſche vor dem Haus ſtillhalten gehört, war eine Erſtarrung von Caſpars Gliedern gefallen, und als der Diener ihn rief, war es, als ob ein Morgenſchein das Haus durchglühe. Als er die Schwelle des Zimmers erreicht hatte, ſah Caſpar nur ihn, den Fremden, Fremdvertrauten, und wie wenn ihm bisher die Hälfte ſeines Herzens gefehlt hätte, fühlte er ſich auf einmal ganz geworden, rund und neu: mit gebadetem Auge ſah er ſich ſelbſt, zweckvoll erſchaffen. Mild an ihre Glocke ſchlug die Uhr und das Licht des Nachmittags war wie Honig und ſüß zu ſchmecken. Auf den Lord übte die wunderbare Ergriffenheit Caſpars anſcheinend große Wirkung. Für die Dauer mehrerer Sekunden war ſein Geſicht heftig bewegt und die Augen trübten ſich wie in peinvollem Erſtaunen. Er war ohne Zweifel verwirrt, die allzeit dienſtbare Phraſe verſagte ſich ihm, und bei der erſten zärtlichen Anrede klang die ſonſt ſeidenweiche Stimme rauh. Mit der Hand ſtreichelte er Caſpars Haare, preßte die Wange des Jünglings gegen ſeinen Buſen, und ein verlorener Blick traf den ſtumm abſeits ſtehenden Herrn von Tucher, der mit Verwunderung die ungewöhnliche Szene beobachtete. Stanhope bat ihn dann, weil das Verhüllte des Vorgangs zu irgendeiner Klärung drängte, ob er Caſpar für einige Stunden mit ſich nehmen dürfe, ein Anſuchen, dem Herr von Tucher nicht widerſtehen konnte. Bald darauf ſaß Caſpar an der Seite des Lords im Wagen; der Poliziſt mußte natürlich mit und ſaß hintenauf. Während das Gefährt zum Tor hinaus gegen die Maxfeldgärten rollte, entſpann ſich langſam ein Geſpräch. Caſpar klagte, zum erſtenmal durfte er klagen. Doch war er ſchon verſöhnt mit dem Augenblick, wo geſchehenes Unrecht als ſolches erkannt und verſtanden wurde. Die Welt ſchien ſchlecht bis auf dieſen Tag, jetzt tat ſich ihr Himmel auf und es zeigte ſich ein waltender Arm. Doch nicht ſo ſehr um das Nahgeſchehene handelte ſich’s: hier war einer, der {wiſſen} mußte! Caſpar fragte. Kühn und leidenſchaftlich fragte er: wer bin ich? wer war ich? was ſoll ich? wo iſt mein Vater? wo meine Mutter? Und die Antwort des Grafen? Verlegenheit. Eine Umarmung. „Geduld, Caſpar; bis morgen nur Geduld: das läßt ſich nicht in einem Atemzug abtun, allzuviel iſt zu ſagen. Erzähl mir lieber: wie haſt du gelebt? Erzähl von deinen Träumen. Man ſagt mir, du habeſt wunderbare Träume. Erzähl!“ Caſpar ließ nicht lange bitten. Die weſensvollen Gebilde machten den Lauſcher ſtutzig, er umſchloß Caſpar feſter und verbarg ſo ſein Geſicht vor ihm; bei der geſchilderten Erſcheinung der Mutter fuhr er wie vor Schreck zuſammen, und abermals ſuchte er abzulenken, wollte Einzelheiten über das Leben Caſpars im Daumerſchen, im Beholdſchen Hauſe wiſſen; der Gegenſtand war gefahrlos. Stanhope fand ſich ergötzt durch Caſpars urſprüngliche und bezeichnende Ausdrucksweiſe, die komiſche Anwendung von Sprichwörtern und Nürnberger Redensarten. Auf dem Rückweg fragte er, wo Caſpar den Ring habe, den er ihm geſchickt. „Hab’ mich nicht getraut, ihn an den Finger zu tun,“ antwortete Caſpar. „Warum denn nicht?“ „Weiß nicht warum.“ „War er dir nicht ſchön genug?“ „O nein; umgekehrt wird ein Schuh draus. Viel zu ſchön war er mir. Hab’ immer Herzklopfen gehabt, wenn ich ihn angeſehen.“ „Aber jetzt wirſt du ihn tragen?“ „Ja, jetzt will ich ihn tragen. Jetzt weiß ich, er gehört wirklich mir.“ Der Wagen hielt vor dem Tor, Stanhope nahm zärtlichen Abſchied von Caſpar und beſtellte ihn für den nächſten Vormittag in den Gaſthof. „Auf Wiederſehen, Liebling!“ rief er ihm noch zu. Caſpar ſtand beklommen. Jetzt kroch die Zeit wieder träge. Jeder Schritt ins Haus war ein ſchmerzliches Sichentfernen aus dem Kreis des herrlichen Mannes; was jetzt die Hand, der Blick berührte, war alt, war tot. Schon um zehn Uhr morgens war er im „Wilden Mann“. Der Unterrichtsſtunde war er einfach entlaufen; hätte ihn jemand abzuhalten verſucht, er wäre an einem Strick vom Fenſter heruntergeklettert. Der Lord kam ihm in der oberen Halle entgegen, küßte ihn vor vielen Zuſchauern auf die Stirn und führte ihn ins Empfangszimmer, wo auf einem Tiſchlein Geſchenke für Caſpar lagen: eine goldene Uhr, goldene Hemdknöpfe, ſilberne Schuhſchnallen und feine weiße Wäſche. Caſpar traute ſeinen Augen nicht, der Überſchwang des Dankes verſperrte ihm die Kehle, er wußte nichts andres, als immer nur die freigebige Hand des Spenders in der ſeinen feſtzuhalten. Der Lord nahm den ſtillen Anſturm mit gerührtem Schweigen auf. Aber nachdem ſie ein paarmal Arm in Arm durch die Mitte des Raumes gewandelt waren und Caſpar noch immer mit ſichtbarer Anſtrengung nach Zeichen ſeiner Erkenntlichkeit rang, ermahnte ihn Stanhope ſanft, er möge doch jeden Dank unterlaſſen. „Dieſe Dinge ſind ja nur geringfügige Merkmale meiner Liebe zu dir,“ ſagte er; „das Wirkliche, das Große, was ich für dich tun will, bleibt der Zukunft vorbehalten. Inzwiſchen bleibe du ſo, wie du biſt, mein Caſpar, denn ſo biſt du mir eben recht; nicht geräuſchvoll in Worten, aber zuverläſſig in deinem Herzen. Zuverläſſig und treu ſollſt du mir bleiben, ein Sohn, ein Kamerad, ein Freund.“ Caſpar ſeufzte. Das war zu viel des Glücks. Nie hätte er geglaubt, daß ein Menſchenmund ſo ſprechen könne. Zur Beteuerung war er ohnmächtig, nur ſein Auge gab Kunde in einem ſchwärmeriſchen Blick. Stanhope öffnete eine Tür und geleitete den Jüngling zu einer kleinen Frühſtückstafel, die im Nebenzimmer bloß für ſie beide gedeckt war. Sie nahmen Platz, der Lord füllte Wein in die Gläſer und lächelte ſonderbar, als Caſpar erklärte, er trinke niemals Wein. „Wie wird es dann werden, Caſpar, wenn wir zuſammen in die Länder des Südens reiſen? Auf allen Hügeln glüht dort der Wein und die Luft iſt voll davon. Was ſchauſt du mich ſo an? Glaubſt du mir nicht?“ „Wirklich? Werden wir wirklich zuſammen reiſen?“ fragte Caſpar jubelnd. „Gewiß werden wir das. Denkſt du denn, daß ich mich von dir trennen will? Oder denkſt du, daß ich dich in dieſer Stadt laſſe, wo dir ſo viel Übles widerfahren iſt?“ „Alſo fort? Wirklich fort? Fort in die weite Ferne!“ rief Caſpar, preßte wie außer ſich beide Hände vor den Mund und zog in freudigem Krampf die Schultern bis an die Ohren. „Was wird aber Herr von Tucher dazu ſagen? Und der Herr Bürgermeiſter? Und der Herr Präſident?“ fügte er hinzu, vor lauter Haſt plappernd, während ſich in ſeinem Geſicht die ganze Betrübnis malte, die er bei der Vorſtellung empfand, jene Männer könnten die Pläne des Grafen mißbilligen oder zunichte machen. „Sie werden es geſchehen laſſen, ſie werden keine Gewalt mehr über dich haben, dein Weg führt dich über ſie empor,“ antwortete Stanhope ernſt und ſah Caſpar zugleich mit einem ſcharfen, ja durchbohrenden Blick an. Caſpar erbleichte, von einem grenzenloſen Gefühl überwältigt. Während in ſeiner Bruſt Wunſch und Zweifel, dunkel umſchlungen, alle Kräfte der Seele an ſich zogen, erhob ſich vor ſeinem Geiſte leuchtender als je das Bild der Frau aus dem Traumſchloß. Mit einer ergreifenden Gebärde des Flehens wandte er ſich zu Stanhope und fragte: „Herr Graf, werden Sie mich zu meiner Mutter bringen?“ Stanhope legte Meſſer und Gabel beiſeite und ſtützte den Kopf in die Hand. „Hier liegen furchtbare Geheimniſſe, Caſpar,“ flüſterte er dumpf. „Ich werde reden und ich muß reden, aber du mußt ſchweigen, keinem andern Menſchen darfſt du vertrauen als mir. Deine Hand, Caſpar, dein Gelöbnis! Herzensmenſch! Unglücklich-Glücklicher, ja, ich will dich zu deiner Mutter bringen, die Vorſehung hat mich erwählt, dir zu helfen!“ Caſpar ſank hin, die Beine trugen ihn nicht mehr, ſein Kopf fiel auf die Knie des Grafen. Die Luftadern pochten um ihn, ein Schluchzen löſte die ungeheure Spannung ſeiner Bruſt. „Wie ſoll ich denn zu dir reden?“ fragte er mit der Kühnheit eines Trunkenen, denn die Formeln, in denen man ſonſt zu Menſchen ſpricht, erſchienen ihm fremd, ſie taten ſeiner dankbaren Liebe nicht genug. Der Lord hob ihn ſachte empor und ſagte zärtlich: „Recht ſo, das traute Du ſoll zwiſchen uns herrſchen; du ſollſt mich Heinrich nennen, als ob ich dein Bruder wäre.“ In ſo inniger Nähe erblickte ſie der eintretende Bediente, der den Bürgermeiſter und den Regierungskommiſſär anmeldete. Durch die geöffnete Tür forderte der Lord die Wartenden ins Zimmer. Es ſah aus, als wünſche er, daß die beiden Zeugen ſeiner Liebkoſungen gegen Caſpar würden. Er tat, als könne er ſich nicht von ihm trennen; da die Beſucher nach ehrfürchtigem Gruß Platz genommen, ſchritt er, noch leiſe plaudernd und ihn bei der Schulter umſchlungen haltend, mit Caſpar auf und ab, ſodann begleitete er ihn zur Stiege, eilte zurück, ging ans Fenſter, beugte ſich hinaus, ſah Caſpar nach und winkte ihm mit dem Taſchentuch. Die Verwunderung ſeiner Gäſte wohl bemerkend, mäßigte er ſich trotzdem nicht, im Gegenteil, er gebärdete ſich wie ein Verliebter, der ſeine Empfindungen ohne Scheu preisgibt. Die Geſchenke des Lords wurden einige Stunden nachher ins Tucherſche Haus gebracht. Herrn von Tuchers Erſtaunen beim Anblick der wertvollen Gaben war groß. „Ich werde dieſe Gegenſtände an mich nehmen und aufbewahren,“ äußerte er zu Caſpar nach einigem Nachdenken; „es ſteht einem zukünftigen Buchbinderlehrling nicht an, derlei auffallenden Luxus zu treiben.“ Da hätte man Caſpar ſehen ſollen! „O nein,“ rief er aus, „das gehört mir! Das iſt mein, und ich will’s haben, das darf mir keiner nehmen!“ Seine Haltung war geradezu drohend, und ſein Blick funkelte. Aus Herrn von Tuchers Zügen wich alle Farbe. Ohne eine Silbe zu erwidern, verließ er das Zimmer. Alſo ein Undankbarer, dachte er bitter, ein Undankbarer! Einer, der eigenſüchtig die Gelegenheit nutzt und den einen Wohltäter verleugnet, wenn der andre beſſer zahlt! Die Grundſätze hörten auf zu triumphieren. Sie machten ein zerknirſchtes Geſicht und hüllten ſich in Sack und Aſche. Nachgiebigkeit wäre in dieſem Fall eine unwürdige Schwäche, deren ich mich ſchämen müßte, ſagte ſich Herr von Tucher. Aber was tun? Soll ich Gewalt anwenden? Gewalt iſt unmoraliſch. Er wandte ſich an Lord Stanhope und trug ihm die Sache vor. Der Graf hörte ihn freundlich an, er gab ſich Mühe, die Vergehung Caſpars als eine kindiſche Maßloſigkeit zu verteidigen, und verſprach, ihn dahin zu bringen, daß er dem Vormund die Geſchenke freiwillig überreiche. Herr von Tucher war von der Liebenswürdigkeit des Lords bezaubert und verließ ihn in beſter Zuverſicht. Auf den verheißenen Gehorſam Caſpars wartete er aber vergeblich. Kein Zweifel, die Mühe des Lords war ohne Erfolg geblieben; kein Zweifel, Caſpar verſtand es, den gütigen Mann zu beſchwatzen. Kein Zweifel, dieſer Burſche war mit allen Salben geſchmiert, ein Charakter voll Heimlichkeit und Liſt. Viel zu ſtolz, um einen Dritten zum Mitwiſſer ſeiner niederſchmetternden Erfahrungen zu machen, begnügte ſich Herr von Tucher vorläufig, den Ereigniſſen ruhig zuzuſehen, wenn auch mit dem Verdruß eines Mannes, der ſich hintergangen fühlt. Daß Caſpar ſich nicht ein einziges Mal bewogen fand, über die Art ſeiner Beziehung zu dem Lord, über den Gegenſtand ihrer Geſpräche ſich zu äußern, verletzte ihn tief; einen ſolchen Mangel an zutraulicher Mitteilſamkeit hätte er zum allerwenigſten erwartet. In der erſten Zeit hatte ſich der Lord darauf beſchränkt, Caſpar im Tucherſchen Haus zu beſuchen oder ihn höchſtens nach förmlich erbetener Erlaubnis des Barons zu einer Spazierfahrt abzuholen. Allmählich änderte ſich das, und er beſtellte den Jüngling an fremde Orte, wo Caſpars unvermeidliche Leibwache ſich fünfzig Schritte entfernt halten mußte. Herr von Tucher führte beim Bürgermeiſter Beſchwerde; er behauptete, der Lord handle damit ſeiner ausdrücklich gegebenen Zuſage entgegen. Aber was konnte Herr Binder tun? Durfte er den vornehmen Herrn zur Rede ſtellen? Er wagte einmal eine ſchüchterne Andeutung. Der Lord beruhigte ihn mit einem Scherz; um nicht für wortbrüchig zu gelten, war es leicht, den Verſtoß auf Caſpars Unbeſonnenheit zu ſchieben. So ſah man die beiden auffallenden Geſtalten häufig am Abend durch die Gaſſen wandeln. Arm in Arm; im eifrigen Geſpräch achteten ſie der Blicke nicht, die ſie verfolgten. Meiſt gingen ſie über den Stadtgraben und dann auf die Burg; hier durfte ſich Caſpar wehmütiger Erinnerung überlaſſen; der düſtere Turm barg die größten Schreckniſſe ſeines Lebens, und wenn er auf die Stadt niederſchaute, wo zwinkernde Lichter aus vielen Fenſtern das dunkelverſchlungene Gaſſengewirr belebten, vernahm er mit ganz andern Gefühlen die Stundentöne der Glocke; jetzt band und einte die Zeit ihre Schläge und zerriß ſie nicht mehr zu Pauſen des Grauens. Der Lord wurde nicht müde zu erzählen. Er erzählte von ſeinen Reiſen. Er verſtand es, Dinge und Begebenheiten mit einfachen Worten zu malen. Caſpar erfuhr von den Alpen und daß dort Berge mit ewigem Schnee ſeien und glückliche Täler, wo freie Menſchen lebten. Er ſah Italien — das Wort war ſchon ein Rauſch_—, geſchmückte Kirchen, enorme Paläſte, Gärten mit wunderbaren Statuen, voller Roſen, Lorbeer und Orangen, einen märchenhaft blauen Himmel und die ſchönſten Frauen. Er ſah das Meer und Schiffe mit blanken Segeln auf der Flut. Seine Sehnſucht wurde ſo groß, daß er manchmal plötzlich lachen mußte. Einmal wirklich dort ſein dürfen in den Ländern der Sonne und der unbekannten Früchte, dort ſein dürfen, und das bald, ſolche Hoffnung machte das Herz ſtillſtehen. Es war eine Freude, die weh tat. An einem regneriſchen Abend befanden ſie ſich im Hotel. Der Lord öffnete eine Truhe und zeigte einiges von den Schätzen, die er auf ſeinen Reiſen geſammelt. Da waren ſeltene Münzen und Steine; Kupferſtiche, Statuetten, Gemmen, Kameen, Perlen und altertümliches Geſchmeide; ein geweihter Roſenkranz aus dem Heiligen Land; ein ſilberner Becher mit kunſtvoll gravierten Figuren; eine Bibel mit den herrlichſten Initialen und Malereien, ein Damaszenerdolch mit goldenem Griff, der Siegelring eines Papſtes, ein indiſcher Mantel aus Seide, beſtickt mit Sternen; ein pompejaniſches Lämpchen und altfranzöſiſche Porzellanväschen und vieles andre, alles ſeltſam, alles fremdartig, alles mit einem Duft von weiter Welt und großem Schickſal. „Das habe ich vom Kurfürſten von Mainz bekommen,“ ſagte der Lord etwa, „und dies iſt ein Geſchenk des Herzogs von Savoyen; dieſe ſchöne Miniature habe ich bei einem Händler in Barcelona gekauft, und dies Tonfigürchen ſtammt aus Syrakus. Da iſt ein Talisman, den hat mir Scheik Abderrahman verehrt, und dieſe orientaliſchen Stoffe hat mir meine Baſe aus Syrien geſchickt; ſie iſt eine wunderliche Perſon, zieht mit Arabern und Beduinen durch die Wüſte, ſchläft in Zelten und treibt Alchimie und Aſtrologie.“ Welche Laute, welche Fernen! Mit offenbarer Luſt ſchürte der Graf das Feuer des Verlangens in Caſpar. Vielleicht nahm er es mit ſeinen Verheißungen ernſt. Vielleicht bereitete es ihm bloß eine Wonne, Wunſch und Lüſte aufzupeitſchen. Vielleicht war es nur ein Spiel der Rede. Vielleicht aber das furchtbare Vergnügen, dem Vogel im Bauer, im nie zu öffnenden, ſo lange vom Flug durch den goldnen Äther zu erzählen, bis endlich der jubelnde Freiheitsgeſang durch ſeine Kehle bricht. Wie er ſprach, wie er die Worte beſaß! Zwiſchen den Lippen und den weißen Zähnen ſpielte das Lächeln wie ein liſtiges Tierchen. Er war nicht gleichmäßig heiter. Was war das? Oft zog Finſternis über ſein Geſicht. Bisweilen pflegte er aufzuſtehen und wie ein Lauſcher an die Tür zu treten. Seine Liebkoſungen waren nicht ſelten voll Schwermut, dann ſaß er wieder ſchweigend da, und ſein ſuchender Blick glitt düſter an dem Jüngling vorüber. Da faßte Caſpar einmal Mut und fragte: „Biſt du denn eigentlich glücklich, Heinrich?“ „Glücklich, Caſpar? O nein. Glücklich, was ſprichſt du da? Haſt du ſchon von Ahasver gehört, dem ewigen Juden, dem ewigen Wanderer? Er gilt als der unglücklichſte aller Menſchen. Ach, ich möchte mein Leben vor dir aufblättern, denn auf ſeinen dunkeln Seiten liegt der Gram. Aber ich darf nicht, ich kann nicht. Später vielleicht, wenn dein eignes Geſchick ſich entſchieden hat, wenn du mit mir in meine Heimat gehſt_...“ „Iſt denn das möglich, wird denn das ſein?“ Es ſchüttelte den Lord plötzlich; es war, als werfe er einen Mantel ab oder wolle ſich einem unſichtbaren Druck entziehen. Eine krampfhafte Lebendigkeit ergriff ihn, er begann von Caſpars künftiger Größe zu ſprechen, doch wie ſtets nur in geheimnisvollen Wendungen und mit der feierlichen Ermahnung zur Verſchwiegenheit. Ja, er ſprach von Caſpars Reich, von ſeinen Untertanen, und das zum erſtenmal, wie einem Zwang gehorchend, ſelber ſchaudernd, ſelbſt zitternd, immer von neuem das Gelöbnis des Schweigens betonend, hingeriſſen von einem Phantom gleichſam und alle Gefahr vergeſſend. „Ich will dich führen; ich will deine Feinde zermalmen, du biſt tauſendmal mehr wert als jeder einzelne von ihnen. Wir gehen zuerſt nach dem Süden, um ſie irrezuführen, dann fliehen wir zu mir nach Hauſe, ſchaffen uns einen Hinterhalt, von wo die Verfolger zu treffen ſind, wo man Kräfte ſammeln kann für den entſcheidenden Schlag.“ Wieder zur Tür; wieder lauſchen; nachſehen, ob kein Horcher verſteckt ſei. Dann, ängſtlich ablenkend, ſchilderte der Graf ſeine Heimat, den Frieden eines engliſchen Landſitzes, die herrenhafte Unabhängigkeit auf erbgeſeſſenem Gebiet; die tiefen Wälder und klaren Flüſſe, die balſamiſche Luft, das behagliche Weilen überall, Frühling, Herbſt und Winter, eingeſchloſſen in einem Ring unſchuldiger Genüſſe. In ſolchen Bildern lag etwas von der Wehmut reuigen Gewiſſens und dem Schmerz eines auf immer Verſtoßenen. Zum andern Teil aber enthielten ſie viel von der modiſchen Empfindſamkeit, die auch das verhärtetſte Gemüt unter Umſtänden davon ſchwärmen ließ, ſeine ſelbſtgeſchaffene Unraſt am Buſen der Natur zu beſänftigen. Und dann ſprach er doch von ſeinem Leben. Er wußte ſich als einen Mann darzuſtellen, der, vielbeneidet, mit Ehren und Ämtern und greifbaren Glücksgütern beladen, gleichwohl das Opfer feindlicher Mächte iſt. Das Schickſal trat in romantiſcher Verkleidung auf und jagte den Sohn eines verfluchten Geſchlechts unſtet von Land zu Land. Vater und Mutter tot, ehemalige Freunde gegen den edeln Sproß des Hauſes verſchworen und er, ein Mann von fünfzig Jahren, ohne Heim und Weib und Kind, Ahasver! Derlei Enthüllungen öffneten wie nichts ſonſt Caſpars Herz der Freundſchaft. Denn da war endlich einer, der ſich gab, ſich öffnete, die Vermummung abwarf. Es war bitterſüße Luſt, die angebetete Geſtalt den Sockel verlaſſen zu ſehen, auf dem ſie für alle übrigen thronte. Was ihn betrifft, er bot in dieſer Zeit das Schauſpiel eines ruhenden Menſchen; außen und innen ruhend, gelöſt von hemmender Feſſel, Blick und Gebärde gelöſt, die Geſtalt aufgerichtet, die Stirn wie entſchleiert, die Lippen geſchwellt von einem beſtändigen Lächeln. Er wurde ſeiner Jugend inne. Er dehnte ſich aus, es war ihm, als ſei er ein Baum und ſeine Hände wie Zweige voller Blüten. Ihm ſchien, als ſtröme ſein Blut einen Wohlgeruch aus; die Luft ſchrie nach ihm, das Land ſchrie nach ihm, alles war voll von ihm, alles nannte ſeinen Namen. Er pflegte manchmal laut mit ſich ſelbſt zu reden, und wenn er dabei überraſcht wurde, lachte er. Die Leute, die mit ihm in Berührung kamen, waren bezaubert; ſie fanden kein Ende, die über alles liebliche Erſcheinung zu preiſen, in der Kind und Jüngling zu rührendem Verein gediehen waren. Es gab junge Frauen, die ihm zärtliche Briefchen ſchrieben, und Herr von Tucher wurde vielfach mit Bitten beläſtigt, ihn von einem Maler konterfeien zu laſſen. Das üble Gerede gegen ihn war auf einmal wie verblaſen. Keiner wollte je etwas Schlechtes geſagt haben, die eingefleiſchten Widerſacher duckten ſich, die ganze Stadt warf ſich plötzlich zu ſeinem Beſchützer auf. Es hieß mit immer kühnerer Deutlichkeit, man müſſe ihn gegen die Machenſchaften des engliſchen Grafen in Schutz nehmen. Eines Tages mußte Stanhope zu ſeiner größten Beſtürzung wahrnehmen, daß er von allen Seiten peinlich überwacht und behorcht war. Er mußte ſich entſchließen zu handeln. 12. Die geheimnisvolle Miſſion und was ihrer Ausführung im Wege ſteht Schon lange hieß es an allen Wirtshaustiſchen, der Lord wolle Caſpar Hauſer an Sohnes Statt annehmen. In der Tat ſtellte Stanhope Mitte Juni den förmlichen Antrag an den Magiſtrat, ihm den Jüngling zu überlaſſen, er wünſche für ſeine Zukunft zu ſorgen. Der Magiſtrat ließ durch den Bürgermeiſter erwidern: zum erſten, daß ein ſolches Erſuchen [in pleno] vorgetragen werden müſſe; zum zweiten, daß der Lord vor allem den Nachweis eines hinlänglichen Vermögens erbringen müſſe, damit die Stadt eine ſichere Gewähr für das Wohlergehen ihres Pfleglings habe. Stanhope nahm den Beſcheid ſehr ungnädig auf. Er ging zum Bürgermeiſter, zeigte ihm ſeine Orden, die Beglaubigungen fremder Höfe, ſogar vertrauliche Briefe hoher Fürſtlichkeiten; Herr Binder, bei aller Ehrfurcht vor Seiner Lordſchaft, bedauerte, den einſtimmigen Beſchluß des Kollegiums nicht rückgängig machen zu können. Der Graf war unvorſichtig genug, in einer Geſellſchaft, wo er zu Gaſt geladen war, ſeine Geringſchätzung gegen das pedantiſch-überhebliche Bürgerpack zu äußern. Dies wurde ruchbar, und obgleich er ſich beeilte, in einem Brief an den Magiſtratsvorſtand ſein Benehmen zu entſchuldigen und es als einen durch Weinlaune verurſachten Ausbruch verzeihlichen Ärgers hinzuſtellen, machte die Sache doch böſes Blut. Der Argwohn war einmal geweckt. Man wollte wiſſen, daß er in ſeinem Hotel häufig Perſönlichkeiten von zweifelhaftem Ausſehen empfange, mit denen er hinter verſchloſſenen Türen lange Verhandlungen führte. Wie kommt es überhaupt, fragte man ſich, daß der angeblich ſo reiche und vornehme Mann ſein Quartier in einem Gaſthaus zweiten Ranges nimmt? Fürchtet er am Ende, von ſeinen eignen Landsleuten geſehen zu werden, wenn er wie ſie im „Adler“ oder im „Bayriſchen Hof“ wohnt? Dies ſchien plauſibel, wenn man einer unverfolgbaren Nachricht trauen durfte, die irgendwer eines Tages verbreitete und nach welcher der Lord ehedem als Traktätchenverkäufer im Dienſt der Jeſuiten in Sachſen herumgezogen ſei. Stanhope beeilte ſich zu reiſen. Er ſtattete dem Bürgermeiſter in ſeiner Kanzlei einen Abſchiedsbeſuch ab und ſprach von dringlichen Geſchäften, die ihn wegberiefen; bei ſeiner Rückkunft werde er den geforderten Vermögensnachweis vorlegen. Zugleich deponierte er fünfhundert Gulden in guten Scheinen, welche Summe ausſchließlich für die kleinen Wünſche und Bedürfniſſe ſeines Lieblings zu verwenden ſei. Der Bürgermeiſter wandte ein, daß eigentlich Herr von Tucher die Verwaltung dieſes Geldes übernehmen müſſe, doch der Lord ſchüttelte den Kopf und meinte, in Herrn von Tuchers Verfahren liege zu viel vorgefaßte Strenge, er handle nach einem erdachten Ideal von Tugend, eine ſo zarte Lebenspflanze könne nur in liebevollſter Nachſicht aufgezogen werden. „Seien wir doch eingedenk, daß das Schickſal eine alte Schuld an Caſpar abzutragen hat und daß es engherzig iſt, immerfort hemmen und beſchneiden zu wollen, wo die Natur ſelbſt gegen den Willen der Menſchen ein ſo herrliches Gebilde erzeugt hat.“ Der Ernſt dieſer Worte wie auch das hoheitsvolle Weſen des Lords machten großen Eindruck auf den Bürgermeiſter. Er ſprach nochmals ſein Bedauern darüber aus, daß die Abſichten des Grafen nicht ſogleich verwirklicht werden konnten, und verſicherte, daß die Stadt es ſich ſtets zur Ehre rechnen würde, einen ſolchen Gaſt in ihren Mauern zu beherbergen. Von hier begab ſich Stanhope unverweilt zu Herrn von Tucher. Man ſagte ihm, der Baron ſei mit einigen Bekannten auf die Jagd geritten, auch Caſpar ſei ausgegangen, müſſe aber in Bälde zurückkehren, er möge zu warten geruhen. Ungeduldig ſchritt er in dem großen Salon auf und ab. Er nahm die Brieftaſche heraus, zählte Geld, notierte mit dem Bleiſtift Ziffern auf ein Blatt, wobei er mit den Zähnen knirſchte und der feine weiße Hals ſich langſam dunkelrot färbte wie bei einem Trinker. Er ſtampfte auf den Boden, das Geſicht war förmlich aufgeriſſen, der Blick glitzerte. „Gottverdammte Beſtien,“ murmelte er, und auf den ſchmalen Lippen lag eine wilde Verachtung. Da war nichts mehr von der Gemeſſenheit und Würde des Edelmanns. O, Herr Graf, muß der Vorhang des öffentlichen Theaters nur für eine Viertelſtunde fallen, damit der Schauſpieler, überdrüſſig der gutgelernten Rolle, ſein geſchminktes Antlitz zu furchtbarer Wahrheit verändere? Schade, daß kein Spiegel in dem Raum angebracht war, vielleicht hätte er den Lord zur Beſinnung gebracht und zur Behutſamkeit ermahnt, denn es brauchte ja nur ſchnell eine Tür aufzugehen, und das Stück begann von neuem. Aber zeugte dieſer Umſtand nicht zugunſten des Grafen? Wäre mehr Beherrſchung nicht ein Beweis von größerer Kunſt geweſen? Der echte Komödiant tragiert ſein Spiel auch leeren Räumen vor und macht ſelbſt die Wände zu Zuſchauern. In dieſer Bruſt aber waren noch Stimmen des Verrats, in ihrer Tiefe war noch Sturm, ihr dumpfes Höhlengetier hatte noch Augen, die vom Strahl der Wandelbarkeit getroffen wurden. Es ſcheint, daß der Lord ein ſchlechter Rechner war, denn die aufgeſtellten Zahlen wollten nicht das notwendige Ergebnis liefern, ſo daß er immer wieder von neuem begann und mit gerunzelter Stirn einzelne Poſten auf ihre Richtigkeit prüfte. „Für Popularitätszwecke entſchieden zu wenig,“ ſagte er mürriſch, eine Äußerung, deren Unbedachtſamkeit dadurch gemildert war, daß ſie in engliſcher Sprache getan wurde. Dann noch ein ſonderbares Wort, unheimlich anzuhören, nicht wie aus einem geiſtreichen Schauſpiel, ſondern wie aus einem Räuberdrama: „Wenn der Graue ſich wieder blicken läßt, will ich ihn in den Schwanz kneifen; ſeine Beute iſt wahrhaftig groß genug. Kronen ſind keine Marktware, er mag ehrlicher im Teilen ſein.“ Beklagenswerter Lord! Auch die Einſamkeit hat ihre Laute. Durch eine ſchlechtverſchloſſene Fenſterſpalte zwängt ſich der Wind, und es gleicht einer Stimme, oder das Holz der jahrhundertalten Möbel zieht ſich zuſammen, und es klingt wie ein Schuß oder wie ein Miniaturgewitter. Zudem war Graf Stanhope abergläubiſch; das Rieſeln der Kalkkörner hinter den Tapeten erinnerte ihn an den Tod; wenn er mit dem linken Fuß ein Zimmer betrat, wurde ihm übel und ängſtlich. Dies war hier geſchehen; er nahm ſich zuſammen und ſchwieg, um ſo mehr als er vom Flur herauf Caſpars helle Stimme hörte; er begab ſich wieder in ſeine Rolle, die Augen gewannen ihren gazellenhaften Glanz zurück, er holte einen Band Rousſeauſcher Schriften aus dem Bücherregal in der Ecke, ſetzte ſich in den Lehnſtuhl und begann mit ſinniger Miene zu leſen. Und doch, als Caſpar eintrat, als das freudeverklärte Antlitz aus dem Dämmer tauchte, da zitterte empfundener Schmerz über die Züge des Lords und eine plötzliche Verzagtheit raubte ihm die Sprache. Ja, er wurde verwirrt, er lenkte den Blick abſeits, und erſt als Caſpar, durch das fremdere Weſen betroffen, ihn leiſe anrief, brach er das Schweigen; es lag nahe, die bevorſtehende Reiſe als Grund der Verſtimmung anzuführen, aber der Zuſtand inneren Zurückbebens und jähen Wankelmutes in ſolchen Augenblicken war dem Lord nicht unbekannt, wenngleich er ſich heute ſtärker als ſonſt fühlbar machte. Ihm war dann, als ob der Anblick des Jünglings den vorgeſetzten Willen lähme, als ob mühſam aufgebaute Pläne zuſammenbrächen, wie von einem Orkan gefaßt, ſo daß er das Werk wieder von vorn beginnen konnte, wenn er allein war und ſich erholt hatte; er glich dann der Penelope, die, was ſie tagsüber kunſtvoll geſponnen, bei Nacht wieder in ſeine Fäden trennte. Caſpars wehmütige Klage bei der unerwarteten Kunde wurde nicht beſchwichtigt durch den Hinweis, daß ſein eignes Wohl dieſe Trennung erforderlich mache, auch nicht durch die Verſicherung Stanhopes, daß er ſobald als möglich, vielleicht ſchon nach Verlauf eines Monats, zurückkehren werde. Caſpar ſchüttelte den Kopf und ſagte mit erſtickter Stimme, die Welt ſei gar zu groß; er umklammerte den Freund und bat flehentlich, mitgenommen zu werden, der Graf ſolle den Diener entlaſſen, er, Caſpar, wolle dienen, er brauche kein Bett, auch keinen Lohn, er wolle wieder von Brot und Waſſer leben. „Ach, tu es, Heinrich!“ rief er unter Tränen. „Was ſoll ich denn ohne dich hier anfangen?“ Der Lord ſtand auf und befreite ſich ſanft aus den Armen des Jünglings. Der Troſt, den er ſpenden durfte, rettete ihn vor ſich ſelbſt und verlieh ſeinen Worten größeres Gewicht. „Daß du ſo kleinmütig biſt, Caſpar, beweiſt ein kleines Vertrauen zu mir,“ ſagte er, „wie kannſt du nur glauben, daß Gott, der uns endlich vereinigt hat, uns nun wieder voneinander reißen wird? Das hieße ſeine Weisheit und Güte verdächtigen. Die Welt iſt ein Bau von hoher Harmonie, und der Menſch findet ſich zum Menſchen durch ein auserwähltes Geſetz; halte du deine Beſtimmung feſt, ſo tragen dich Raum und Zeit ans Ziel, und ob ich eine Stunde lang oder wochenlang von dir fort bin, gilt gleichviel vor der Gewißheit der Erfüllung. Wartet doch mancher bis zum Tod auf den Erlöſer und wird nicht ungeduldig. Auch mußt du dich beherrſchen lernen, Caſpar; Fürſtenſöhne weinen nicht.“ Es war mittlerweile dunkel geworden; der Lord führte Caſpar zum offenen Fenſter und ſprach bewegt: „Blick auf zum Himmel, Caſpar, ſchau, wie die Sterne durch das Firmament brechen! In dieſem Zeichen wollen wir uns erkennen.“ Mit Befriedigung bemerkte Stanhope, daß Caſpar nachdenklich wurde und, feierlich geſtimmt, ſich der zügelloſen Verzweiflung ſchämte, die keinen Zwang des Wechſels anerkennen, keine Zukunft gegen die beglückte Gegenwart in Kauf nehmen wollte. Es war, als ſpüre Caſpar die höhere Notwendigkeit, welche die Schickſale ſteigert und heimlich ineinander ſtickt; vielleicht erwachte ſein verwundert umherſchauendes Auge in dieſer Stunde zum Begreifen und der Damm, der den Strom der Sehnſucht hemmte, wurde eine Kraft der Seele; die beſiegte Leidenſchaft adelt den Jüngling zum Mann. Fürſtenſöhne weinen nicht; ein ſtarkes Wort; der leiſe Windhauch, der die Vorhänge bauſchte, flüſterte es nach. Der Lord ſchaute auf die Uhr und erklärte, daß er Eile habe, er wolle der Hitze wegen die Nacht durch fahren. Vor dem Wagen unten nahm er Abſchied; Stanhope reichte Caſpar einen kleinen mit Goldſtücken gefüllten Beutel; er gebot ihm, damit nach ſeinem Belieben zu ſchalten und keiner Einrede Gehör zu leihen. Dieſe unbedachte oder vielleicht ſchlau berechnete Weiſung verſchuldete ein ernſtes Zerwürfnis zwiſchen Caſpar und ſeinem Vormund. Herr von Tucher erfuhr von dem abermaligen Geſchenk des Grafen und verlangte, daß Caſpar ihm das Geld abliefere. Caſpar weigerte ſich wiederum, Herr von Tucher beſtand jedoch mit ſeiner ganzen Autorität darauf, und er würde Gewalt angewendet haben, wenn nicht Caſpar, eingeſchüchtert durch Drohungen wie durch das Gefühl der Abweſenheit ſeines mächtigen Freundes, klein beigegeben hätte. Doch verharrte er in dumpfer Auflehnung, und dies brachte Herrn von Tucher außer ſich. „Ich werde dich aus dem Haus ſtoßen,“ rief er, nicht mehr fähig, ſich zu beherrſchen, „ich werde deine Schande der Welt offenbaren; man ſoll dich endlich kennen lernen, du Schlack!“ Caſpar, betrübt und erregt, glaubte in ſeiner Weiſe ebenfalls drohen zu ſollen. „Ach, wenn das der Graf wüßte, der würde Augen machen!“ ſagte er erbittert und mit naiver Bedeutſamkeit, als ob es in der Macht des Grafen läge, jedes Unrecht zu ſühnen. „Der Graf? Auch gegen ihn machſt du dich ja des Undanks ſchuldig,“ verſetzte Herr von Tucher. „Wie oft hat er mir verſichert, er habe dich zur Folgſamkeit und Treue ermahnt, habe dich himmelhoch gebeten, deinen Wohltätern keinen Anlaß zur Klage zu geben. Du aber mißachteſt ſein Gebot und biſt ſeiner großmütigen Liebe ganz und gar unwürdig.“ Caſpar erſtaunte. Von ſolchen Ratſchlägen des Grafen wußte er nichts, eher vom Gegenteil; er beſtritt daher, daß der Lord dergleichen geſagt habe. Da ſchalt ihn Herr von Tucher mit verächtlicher Ruhe einen Lügner, woraus erſichtlich iſt, daß das ſo weiſe aufgerichtete Erziehungsſyſtem ſich nicht einmal für ſeinen Schöpfer als tragfähig genug erwies, um Ausbrüche empörter Leidenſchaft und verwundeten Selbſtgefühls hintanzuhalten. Die Grundſätze waren endgültig in die Flucht geſchlagen. Herr von Tucher war des unerquicklichen Kampfes müde; obwohl entſchloſſen, Caſpar nicht länger zu behalten, verſchob er die Ausführung ſeines Vorſatzes bis zur Rückkehr des Grafen. Um nicht durch Caſpars Anblick der beſtändigen Pein der Enttäuſchung ausgeſetzt zu ſein, folgte er der Einladung eines Vetters und begab ſich für den Reſt des Sommers auf ein Landgut in der Nähe von Hersbruck, wo ſeine Mutter ſchon ſeit drei Monaten weilte. Da es Ferienzeit war und der Lehrer ohnedies nicht ins Haus kam, brauchte er für den Unterricht Caſpars keine Maßnahmen zu treffen; er empfahl ihm fleißiges Eigenſtudium, trug Sorge für ſeine täglichen Bedürfniſſe, ließ ihm vier Silbertaler an Taſchengeld zurück und ging nach kaltem Abſchied, die Aufſicht über ihn der Polizei und einem alten Diener des Hauſes überlaſſend. Caſpar zählte die Tage und durchſtrich jeden vergangenen mit roter Kreide auf dem Kalender. Das lautloſe Haus, die verödete Gaſſe, in der die Sonne brütete, ließen ihm das Alleinſein ſtetig fühlbar werden. Geſellſchaft hatte er keine, Fremde, die noch immer zahlreich kamen, zahlreicher noch, ſeit die paſſionierte Teilnahme eines Lord Cheſterfield den Findling wie mit einem Nimbus umgab, wurden nicht zugelaſſen, die früheren Bekannten aufzuſuchen hatte er keine Luſt. Am Abend nahm er manchmal ſein Tagebuch zur Hand und ſchrieb; da war ihm dann der Freund näher, es glich einer Unterhaltung mit ihm durch die trennende Ferne. Ohne das Gelöbnis des Stillſchweigens über das, was Stanhope ihm anvertraut, zu vergeſſen, wurde doch auf ſolche Weiſe das Papier zum Mitwiſſer der myſteriöſen Andeutungen. Aber aus ſeiner Art, ſie zu faſſen, erhellte klar, daß er ſich im mindeſten nicht dabei zurechtfinden konnte. Es war ein Märchen. Er verſtand nicht den Bau der Ordnungen, nicht das labyrinthiſch verſchlungene Gefüge der menſchlichen Geſellſchaft. Noch war das Schloß mit ſeinen weiten Hallen ein Traum: da wehten die Schauer unbekannter Sterne. Nur heimzugehen war ſein Wunſch, dies Wort hatte Sinn und Kraft. Wehe, wenn er zum Begreifen erwachte; erſt wenn die Finſternis entwichen, kann der verirrte Wanderer ermeſſen, wie weit er von ſeinem Ziel verſchlagen worden. Anfangs September erhielt Caſpar die erſte kurze Nachricht vom Grafen, die auch deſſen bevorſtehende Rückkehr meldete. Seine Freude war groß, doch war ihr ein ahnender Schmerz zugemiſcht, als könne es zwiſchen ihm und dem Freund nicht mehr werden wie vordem, als hätte die Zeit ſein Antlitz verwandelt. Bei jedem Wagenrollen, jedem Läuten am Tor dehnte ſich ſein Herz bis zum Springen. Als der Erwartete endlich erſchien, war Caſpar keines Lautes mächtig; er taumelte nur ſo und griff um ſich, wie wenn er an der Wahrheit der Erſcheinung zweifle. Der Lord veränderte Haltung und Miene; es ſah aus, als verſchiebe er ein vorgeſetztes Andersſein für ſpäter, das Lauern ſeiner Blicke verſank in der weicheren Regung, in die der Jüngling ihn ſtets verſetzte, der einzige Menſch vielleicht, dem er Macht über ſein Inneres zugeſtehen mußte und deſſen Geſchick er zugleich hinter ſich herſchleifte wie der Jäger das erbeutete Wild. Er fand Caſpar ſchlecht ausſehend und fragte ihn, ob er genug zu eſſen gehabt habe. Der Bericht über die mit Herrn von Tucher vorgefallenen Streitigkeiten entlockte ihm nur Sarkasmen, doch ſchien er nicht weiter mißgelaunt darüber. „Haſt du denn bisweilen an mich gedacht, Caſpar?“ erkundigte er ſich, und Caſpar antwortete mit dem Blick eines treuen Hundes: „Viel, immer.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe ſogar an dich geſchrieben, Heinrich.“ „An mich geſchrieben?“ wiederholte der Lord verwundert. „Du wußteſt doch meinen Aufenthalt nicht!“ Caſpar drückte die Hände zuſammen und lächelte. „In mein Buch hab’ ich’s geſchrieben,“ ſagte er. Der Graf wurde nervös, doch ſtellte er ſich zutraulich. „In welches Buch? Und was haſt du denn geſchrieben? Darf ich’s nicht leſen?“ Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Alſo Heimlichkeiten, Caſpar?“ „Nein, keine Heimlichkeiten, aber zeigen kann ich dir’s nicht.“ Stanhope brach das Geſpräch ab, nahm ſich aber vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er war wieder im „Wilden Mann“ abgeſtiegen, doch lebte er anders als vorher. Zu jeder Mahlzeit beſtellte er Champagner und teure Weine und trieb den größten Aufwand, als ſei es ihm darum zu tun, Reichtum zu zeigen. Er brachte ſeine eigne Equipage mit, deren Räder vergoldet waren, während am Schlag Wappen und Adelskrone prangten. Als Dienerſchaft hatte er einen Jäger und zwei Kämmerlinge, und dieſe drei Betreßten erregten das Staunen der Nürnberger. Er ſäumte nicht, ſein Anſuchen um die Überlaſſung Caſpar Hauſers zu erneuern. Zum Beleg ſeines günſtigen Vermögensſtandes wies er, ſcheinbar nur nebenbei, auf die Kreditbriefe hin, die er ſeit ſeiner Rückkunft beim Marktvorſteher Simon Merkel deponiert hatte. Es lag darin eine Gebärde von Prahlerei, als ſeien ſo geringfügige Summen kaum der Rede wert; in der Tat aber waren die Akkreditive, von deutſchen Wechſelhäuſern aus Frankfurt und Karlsruhe ausgeſtellt, von rieſiger Höhe. Der Magiſtrat ſah ſich jedes ſtichhaltigen Einwands gegen die Wünſche des Lords beraubt. In der Verſammlung der Stadtväter wurde die Frage aufgeworfen: ja warum? Was will er eigentlich mit dem Hauſer? Darauf las Bürgermeiſter Binder mit beſonderem Nachdruck eine Stelle aus der Zuſchrift des Grafen vor, worin es hieß: „Der Unterzeichnete fühlt um ſo mehr den Beruf, ſich des unglücklichen Findlings anzunehmen, als er bei langem Umgang mit ihm die ſelbſt einem Vaterherzen wohltuende Erfahrung gemacht hat, wie ſehr ihm dies kindliche Gemüt in liebender Anhänglichkeit und Dankbarkeit ergeben iſt.“ „Fragen wir alſo den Hauſer ſelber,“ hieß es, „man muß wiſſen, ob er Luſt hat, dem Grafen zu folgen.“ Caſpar wurde vor Gericht zitiert. In tiefer Bewegung erklärte er, er ſei überzeugt, daß der Herr Graf den innigſten Anteil an ſeinem Schickſal nehme, erklärte, mit dem Grafen gehen zu wollen, wohin ihn dieſer auch führen werde. Trotz alledem verzögerte ſich die förmliche Bewilligung des Magiſtrats durch eine Reihe erſt ſcheinhafter und ungreifbarer Umſtände, die aber nach und nach zu entſchiedenem Widerſtand erwuchſen, bis ſie ſich ſchließlich in einer einzelnen Stimme Gehör verſchafften, welcher niemand zu widerſtehen wagte. Der übermäßige Eifer des Lords, ſich der Perſon Caſpars zu verſichern, rührte den unterirdiſch murrenden Argwohn immer wieder empor. Sein pomphaftes Auftreten mißfiel dem Bürger, der einer beſcheidenen Lebensführung, auch bei Großen, mehr Vertrauen entgegenbrachte als einer Verſchwendungsſucht, die nur die ſchlechten Inſtinkte des Pöbels nährte. Es erbitterte, wenn der Graf in ſeiner Prunkkaroſſe daherfuhr, mit Abſicht die belebteſten Plätze wählte und nach rechts und links Kupfermünzen ins Volk ſtreute, das ſich dann, jeder Würde bar, vor dem in nachläſſiger Leutſeligkeit thronenden Fremdling im Kot wälzte. Man ſprach davon, daß Stanhope vom Marktvorſteher Merkel auf die Kreditbriefe hin hohe Summen entlehnt habe. Merkel, wenngleich er geſichert ſchien, wurde zur Vorſicht ermahnt; es lief das Gerücht, der Lord dürfe die Papiere gar nicht angreifen oder doch nur bis zu einer vorgeſchriebenen Grenze. Mittlerweile war Herr von Tucher vom Land zurückgekehrt. Die Entwicklung der Dinge war ihm bekannt; er wollte für ſeinen Teil ein klares Ende herbeiführen. Er richtete an den Lord einen ziemlich weitläufigen Brief, in welchem er ihn ſchließlich vor die Wahl ſtellte: entweder den Jüngling ganz zu ſich zu nehmen und ihn, den Baron, damit ſeiner Verantwortlichkeitspflicht zu entheben, oder einen jährlichen Beitrag auszuſetzen, welcher es ermögliche, Caſpar einem verſtändigen und gebildeten Mann vollſtändig zu übergeben; in letzterem Falle müſſe Seine Herrlichkeit allerdings die Güte haben, jedem Verkehr mit Caſpar ſchriftlich wie mündlich für die Dauer mehrerer Jahre zu entſagen; er ſeinerſeits würde ſich dafür gern verbinden, dem Lord regelmäßigen Bericht über Caſpars Tun und Treiben abzuſtatten. In der ſonſtigen Faſſung des Schreibens herrſchte jedoch die gebotene Devotion vor. „Mit dem wärmſten Dank habe ich, hochzuverehrender Herr, die zahlloſen Beweiſe des Wohlwollens anzuerkennen, mit denen Sie mich ſeit den wenigen Wochen Ihres Hierſeins überſchüttet haben,“ hieß es unter anderm; „aus dem Grund meiner Seele habe ich die ungeheuchelte Verehrung an den Tag zu legen, zu welcher mich Ihre Herzensgüte und Ihr ſeltener Edelmut zwingen. Aus dieſer Geſinnung entſpringt mir auch die Pflicht des Vertrauens, zu der Sie mich ſo oft aufgefordert haben, und ſo trete ich vor Ihnen, edler Mann, geraden und offenen Sinnes auf mit der Zuverſicht, daß Sie meinen Worten ein geneigtes Ohr ſchenken werden. Caſpar iſt nicht der, für den Sie ihn zu halten ſcheinen. Wie konnten Sie auch dieſes wunderliche Zwitterding kennen lernen, da ihn ja im Umgang mit Ihnen, dem er alles verdankt und von dem er alles erwartet, was ſein Sinn begehrt, auch alles dazu einlud, im beſten Licht zu leuchten. Herr Graf! Sie haben ihm eine Freundſchaft bezeigt, wie man ſie nur einem Gleichgeſtellten ſchenkt. Bei der unbegrenzten Eitelkeit, mit welcher die Natur neben ſo reichen Gaben ſeine Seele verunſtaltet hat und die von einfältigen Menſchen hier noch großgezogen wurde, haben Sie unſchuldigerweiſe ein Gift in ſein an ſich ſchon krankes Weſen gemiſcht, das kein Seelenarzt, auch nicht der geſchickteſte, wird jemals wieder daraus entfernen können. Ich bin von nichts weiter entfernt, als Ihnen damit einen Vorwurf zu machen, ich bitte Sie inſtändig, auch nicht einen ſolchen finden zu wollen. Sie ſind außer Schuld. Aber feſtſtellen muß ich, daß während der ganzen Zeit, die Caſpar in meinem Hauſe weilte, kein Anlaß war, mit ihm unzufrieden zu ſein, während er ſeit Ihrem Aufenthalt dahier, ich ſage es mit blutendem Herzen und mit der Zaghaftigkeit, die mir Liebe und Ehrfurcht gegen Sie, vortrefflicher Mann, gebieten, wie umgewandelt und verkehrt iſt.“ Eine ſolche Sprache mußte auch dem verwöhnteſten Ohr ſchmeicheln. Nichtsdeſtoweniger gab ſich Lord Stanhope den Anſchein, durch den Brief des Freiherrn herausgefordert und verletzt worden zu ſein, ſprach auch überall in Geſellſchaft davon. In einer Eingabe an das Kreisgericht in Ansbach, die ſich als notwendig erwieſen und worin er ſeine Bereitwilligkeit anzeigte, nicht nur während ſeines Lebens für Caſpar Hauſer zu ſorgen, ſondern auch deſſen Erhaltung für den Fall ſeines Todes zu ſichern, erwähnte er, daß zwiſchen ihm und Herrn von Tucher Verhältniſſe eingetreten ſeien, die ihm für jetzt und künftig jeden Verkehr unmöglich machten; es ſei deshalb von Wichtigkeit, daß Caſpar tunlichſt bald in eine andre Umgebung verſetzt werde. Hofrat Hofmann in Ansbach beeilte ſich, Herrn von Tucher von der verhüllten Anklage des Lords zu unterrichten. Herr von Tucher war außer ſich. Er teilte der Behörde ſeinen an Stanhope gerichteten Brief wörtlich mit, ſchilderte noch einmal und in düſteren Farben den unheilvollen Einfluß des Grafen auf Caſpars Charakter und erſuchte um ſchleunige Decharge von einer Vormundſchaft, die ihm, wie er ſich ausdrückte, Sorgen, Plagen und Laſten und zuletzt noch Undank und Verargung ſeines redlichen Willens zugezogen habe. Da das Ansbacher Amt ein Gutachten über die Perſon des Lords gewünſcht, ſchrieb er zurück, er habe den Herrn Grafen als einen ſeltenen Mann von ausgezeichneten Eigenſchaften kennen gelernt. Das Gerücht bezeichne ihn als ſehr vermöglich, er ſelbſt behaupte, eine jährliche Rente von zwanzigtauſend Pfund Sterling, alſo dreimalhunderttauſend Gulden, zu genießen, welches Einkommen ihn übrigens als Earl und erblichen Pair von Großbritannien noch keineswegs unter die reichen Edelleute ſeines Landes ſetze. „Vorausgeſetzt, daß die hochlöbliche Kuratelbehörde genügende Sicherheit erlangt,“ ſchloß er ſein mächtig langes Schreiben, „auch ſolche, die über gewiſſe bedenkliche Konjunkturen in England Aufſchluß gibt, habe ich als Vormund gegen die Adoption Caſpar Hauſers durch Lord Stanhope, ſonderlich in finanzieller Hinſicht, nichts einzuwenden.“ Ein umſtändliches Verfahren, ein endloſer Inſtanzenweg. Stanhope zappelte ſchon vor Ungeduld und Wut. Doch ſchienen ungeachtet des geſchäftigen Klatſches und der widerſtreitenden Meinungen alle Hinderniſſe beſeitigt, und er ſah ſich dem von Anfang an mit langſamer Zähigkeit verfolgten Ziele nahe, als plötzlich alles wieder vernichtet wurde. Der Präſident Feuerbach legte nämlich ſein Veto ein gegen die Entfernung Caſpars aus Nürnberg. Er ſchickte einen Privatboten an den Bürgermeiſter Binder und ließ ihn wiſſen, daß er ſoeben von ſeiner Badekur in Karlsbad zurückgekommen und was im Werke ſei als vollkommene Neuigkeit vernehme. Er unterſagte jede Entſcheidung, bevor er den ihm verworren und verdächtig erſcheinenden Fall geprüft und die auszuführenden Schritte gutgeheißen habe. Der Bürgermeiſter fand ſich verbunden, den Lord ſogleich von der neuen Wendung der Dinge in Kenntnis zu ſetzen. Stanhope empfing und las das Briefchen Binders in ſeinem Hotel gerade während man ihn raſierte. Er ſtieß den Bader beiſeite, ſprang auf und rannte, noch mit dem Seifenſchaum auf ſeiner Wange, heftig erregt durch das Zimmer. Es dauerte geraume Zeit, bis er ſich ſeiner Toilettenpflicht wieder erinnerte; er zerriß den Zettel, den ihm Binder geſchickt, in hundert kleine Stücke und ſaß dann unter dem Raſiermeſſer mit einem Geſicht ſo voll Haß und Galle, daß die Hand des erſchrockenen Barbiers zu zittern begann und er ſich nach vollendeter Arbeit eilig aus dem Staube machte. Zu ſpät bedachte der Graf, daß er ſich vergeſſen habe; aber wie empfindlich mußte der Schlag ſein, der ihn getroffen, wenn dadurch die eherne Ruhe und Zurückhaltung eines ſo vom Zweck Umpanzerten erſchüttert werden konnte! Mit fliehender Hand ſchrieb er einige Zeilen, ſchloß und ſiegelte den Brief, ließ den Jäger kommen, gebot ihm, ein Pferd zu ſatteln, und trug ihm auf, die Botſchaft vor Ablauf von achtundvierzig Stunden an Ort und Stelle zu bringen, koſt’ es, was es wolle. Der Mann entfernte ſich ſchweigend. Er kannte ſeinen Herrn. Er wußte, daß ſein Herr ſich nicht mit Späßen beſchäftigte, Liebeshändeln und kleinen Intrigen. Er kannte dieſes Geſicht an Seiner Lordſchaft, dieſe Spannung eines gräßlichen Entweder-Oder, dieſe Miene eines angeſtrengten Wettläufers, dieſe krampfhafte Faſſung des Haſardſpielers. Man hatte dergleichen Ritte ſchon oft unternommen bei Tag wie bei Nacht; man mußte eine verſchwiegene Zunge haben, um die unbehaglichen Zutaten ſolcher Obliegenheiten vor einer wißbegierigen Welt bergen zu können, denn es hatte nicht ſelten den Anſchein, als ob man der Mittler lichtſcheuer Geſchäfte ſei. Eile war ſtets geboten; man kam auch ſtets zurecht, doch jenes „Koſt’ es, was es wolle“ war ein bißchen aufſchneideriſch, man erhielt nicht immer ſeinen Lohn, man mußte oft wochenlang warten und heimlich nach den Brocken haſchen, die von der gräflichen Tafel abgetragen wurden; Seine Herrlichkeit war eben nicht bei Kaſſa, man erwartete Gelder aus England oder aus Frankreich oder man wurde ſogar um Geld zu irgendeinem vornehmen Herrn geſchickt, und es war auffallend, daß dem gräflichen Verlangen häufig nicht eben dienſteifrig begegnet wurde, der vornehme Herr ließ in ſeiner Sprache eher etwas von Geringſchätzung als von Ehrfurcht gegen die Perſon des Lords merken. Woran hing das alles? Wohin liefen die Fäden, die dieſes über den Pöbel erhobene Schickſal an die gemeine Notdurft knüpften? Der edle Abkömmling eines edeln Geſchlechts, ſeine Tage in einer erbärmlichen Spelunke friſtend, einer der ſtolzeſten Namen eines ſtolzen Reiches, abhängig von der ſchmierigen Freundlichkeit eines Gaſtwirts, verdammt, ſeines Lebens Mark und Kern mit eignen Füßen in den Schlamm zu treten, das ſtrenge Gedächtnis unantaſtbarer Ahnen preiszugeben, wofür? Woran hing das alles? Jede gegenwärtige Stunde war eine Ruine der Vergangenheit, jeder Tag die Trümmerſtätte eines goldenen Ehemals; ehemals, da der Name Stanhope in den Hauptſtädten Europas noch jene Rolle geſpielt, die ſeinem Träger ſelbſt nur noch wie eine Sage erſchien, als der jugendliche Lord das Entzücken der Salons von Paris und Wien geweſen war, als er reich geweſen und den Reichtum benutzt hatte, um ſeine maßloſe Jugend damit zu ſättigen und der Welt ſeiner Standesgenoſſen das Schauſpiel einer Verſchwendung ohnegleichen zu geben. Seine Feſte und Gaſtmähler waren berühmt geweſen. Er war von Land zu Land gereiſt mit einem Hofſtaat von Köchen, Sekretären, Kammerdienern, Handwerkern und Spaßmachern. Er hatte bei einer Pergola in Madrid für fünfundzwanzigtauſend Livres Blumen an die Frauen verteilen laſſen. Er hatte während des Wiener Kongreſſes die Könige und Fürſten bewirtet, Wettrennen veranſtaltet, die allein ein Vermögen verſchlangen, und Oratorien und Opern für eigne Rechnung aufführen laſſen. Seine luxuriöſen Launen hielten die Geſellſchaft in Atem; er beſchenkte ſeine Freunde mit Villen und Landgütern und ſeine Freundinnen mit Perlenketten. Er war jahrelang der Timon des Kontinents geweſen, um den ſich eine Armee von geilen Schmarotzern drängte, die alle ihr Profitchen an ihm machten und ihre ausſchweifenden Gelüſte bei ihm befriedigten. Seine Gutherzigkeit und Freigebigkeit war ſprichwörtlich geworden, ſeine Art, mit immer gefüllten Händen Gold um ſich her zu ſtreuen, achtlos, ob es in die Goſſe oder auf die Teppiche fiel, glich dem Wahnſinn oder einer tollen Probe auf die menſchliche Habgier. Dann das Ende: Falliſſement und Selbſtmord eines Bankiers beſchleunigten den unaufhaltſamen Zuſammenbruch. Es war an einem Abend im Palais Bourbon, man hatte hoch geſpielt, Stanhope verlor viele Tauſende, um ſo bezaubernder wirkte ſein unbefangenes Geplauder, das Feuer und die Anmut ſeines Geiſtes. Der Geſandte, Lord Caſtlereagh, trat zu ihm und machte ihm eine haſtige Mitteilung. Man ſah ihn erblaſſen, ein Lächeln von eigner Schwermut gefror auf den feinen Zügen, andern Tags reiſte er. Er glaubte in der Heimat das zurückgezogene Leben eines Landedelmannes führen zu können, dies mißlang. Die Güter waren überſchuldet, von allen Seiten drängten Gläubiger, außerdem graute ihm vor der Einſamkeit, haßte er die menſchenloſe Natur. Er floh. Der Glanz vergangener Zeiten mußte Fetzen borgen für ein Daſein, das allmählich von innen ausgehöhlt wurde durch die Angſt um das nackte Brot. Es war ſtill um ihn geworden; ſeine Wanderzüge waren eine Jagd nach den früheren Freunden und Genoſſen, aber auf einmal gab es keinen mehr, der nicht alles vorher gewußt hätte und aus ſicherer Schanze heraus Verdammnis predigte. In einem römiſchen Hotel nahm er, verzweifelt, erſchöpft, aller Hoffnung bar, Strychnin. Eine junge Sizilianerin pflegte und rettete ihn. Das Gift, das ſeinen Körper verlaſſen hatte, ſchien von ſeiner Seele Beſitz zu ergreifen. Er rang mit dem Dämon, der ihn niedergeſtoßen; er wurde wild und kalt; ſeine ans Erhabene ſtreifende Menſchenverachtung erleichterte ihm, die Schwächen ſeiner Umgebung zu benutzen. Er begab ſich in den Dienſt hoher Herren und ſtudierte die ſchmutzigen Myſterien ihrer Vorzimmer und ihrer Hintertreppen. Er wurde Emiſſär des Papſtes und bezahlter Agent Metternichs. Bald war ſein Name ausgeſtrichen aus der Liſte der Untadeligen und jenen Abenteurern zugezählt, die an den Grenzbezirken der Geſellſchaft eine gefürchtete Korſarenrolle ſpielen. Die außerordentlichen Talente, die er beſaß, machten ihm keine Aufgabe ſchwer; der unabläſſige Zwang zu handeln, die Vielfältigkeit der Beziehungen erſtickten die Stimmen des Gewiſſens und die Empfindung dunkler Schmach. Oben geächtet und bei aller Nützlichkeit gemieden, war er in den Niederungen noch immer der erlauchte Mann; er wurde ein geübter Menſchenjäger und Seelenfänger; was dem Druck des Unglücks entſprungen war, wurde Metier; das unwiderſtehliche, ſanfte Lächeln: Metier; die edeln Manieren, das ritterliche Betragen, die gewinnende Konverſation, die treffliche Bildung: alles Metier; jedes Zucken der Wimpern, jede Verbeugung war Geſchäft; alles hatte Folgen, alles Urſache, ein nachläſſiges Wort konnte das Mißlingen einer Aufgabe bedeuten — und doch, wie entbehrungsvoll war ein ſolches Daſein, wie jämmerlich der Lohn! Und wie ging es bei alldem langſam bergab, ins Kleine hinein, als ob die Kette, an der er zog, von ſelber und ohne daß ſie ſich lockerte, Glied um Glied abſetzte, um ihn in den Abgrund zu zerren. Eines Tages hieß die Kriegsloſung Caſpar Hauſer. Der Auftrag war deutlich, ſeine Quelle klar, die Umſtände finſter wie nichts zuvor. Man ſagte: Du biſt der rechte Mann, das Unternehmen iſt ſchwer, aber einträglich, es ſcheint von geringer Bedeutung, doch Ungeheures ſteht auf dem Spiel. Die Verhandlungen wurden nicht von Geſicht zu Geſicht geführt, alles war hinter Vorhängen verſteckt, jeder Mittler trug das Wort eines namenloſen Gebieters. Das Geſpenſtertreiben reizte die Phantaſie, der Abgrund begann zu leuchten. Das Ausſpinnen des Plans hatte etwas von Wolluſt; der ſeltene Vogel mußte meiſterlich beſchlichen werden. Ja, der Auftrag war deutlich, er hatte Hand und Fuß. Du haſt den Findling aus dem Bereich zu entfernen, in welchem er anfängt für uns gefährlich zu werden, lautete die Weiſung; nimm ihn zu dir, nimm ihn mit in ein Land, wo niemand von ihm weiß; laß ihn verſchwinden, ſtürze ihn ins Meer oder wirf ihn in eine Schlucht oder miete das Meſſer eines Bravo oder laß ihn unheilbar krank werden, wenn du dich auf Quackſalberei verſtehſt, aber verrichte das Werk gründlich, ſonſt iſt uns nicht gedient. Unſers Dankes biſt du verſichert; wir notieren unſern Dank mit der und der Summe bei Israel Blauſtein in X. Was war zu überlegen? Alle Not konnte zu Ende ſein. Jedes Zögern machte ſchon mitſchuldig; den untätigen Wiſſer zu beſeitigen war für jene ein Zwang. Es gab keine Wahl. Der Beginn des Unternehmens lag weit zurück; ſchon damals, wo man den Mordgeſellen in Daumers Haus geſchickt, hatte Stanhope Befehl, einzugreifen, falls der Anſchlag, an dem er ſelber unbeteiligt war, nicht gelingen ſollte. Die Roheit und Verworfenheit der angewandten Mittel ſchreckten ihn, beleidigten ſeinen guten Geſchmack, rüttelten ſein beſſeres Weſen auf. Er floh, er verbarg ſich. Das Elend und drohender Hunger lockten ihn wieder ins Garn, und ſo machte er ſich auf „aus weiter Ferne“, um ſein Opfer zu betören. Doch wie ſonderbar war ſchon das erſte Begegnen und Zuſammenſein! Welch eine Stimme! Welch ein Auge! Was erſchütterte den Verderber und riß ihn hin? Er wurde betört, er! Dieſer Vogel verſtand auch zu ſingen, das hatte der Netzeknüpfer nicht bedacht. Auf einmal ſah er ſich geliebt. Nicht wie Frauen lieben, das hatte er erfahren, das kann gewürdigt und auch vergeſſen werden, es liegt im Fluß der Dinge begründet, Zufall und Trieb haben gleichen Anteil daran; auch nicht wie Männer lieben oder Eltern oder Geſchwiſter oder wie ein Kind liebt; Geſetz und Aneignung, Not und Wille binden die Kreatur an ihresgleichen; doch im tiefſten Grund ruht Wetteifer, Kampf und Feindſchaft. Dies aber war anders, ungeahnt und wunderſam rührte die Schönheit einer Seele an das ummauerte Herz. Es gibt eine Sage, die von einem Land erzählt, wo nicht Tau noch Regen fiel, daher entſtand Trockenheit und Waſſermangel, weil nur ein einziger Brunnen war, der Waſſer erſt in großer Tiefe enthielt; wie nun die Leute zu verſchmachten anfingen, da kam ein Jüngling zu dem Brunnen, der die Zither ſpielte und ſeinem Inſtrument ſo ſüße Melodien entlockte, daß das Waſſer bis zur Mündung des Brunnens heraufſtieg und im Überfluß dahinſtrömte. So wie dem Brunnen erging es dem Lord, wenn der Jüngling Caſpar bei ihm weilte und die ſüßen Melodien ſeines Weſens ſpielte. Sein Geiſt ſtieg aus der Tiefe, ein jammernder Blick flog rückwärts, Scham entzündete das bebende Gemüt, leicht ſchien es das Übel ungeſchehen zu machen, er fand ſich ſelbſt wieder, es ſtrahlte ihm aus dieſem Antlitz das Bild der eignen noch unbefleckten Jugend entgegen, und ſo, wie er hätte ſein können, wenn das Schickſal nicht ſein Edelſtes zermalmt hätte, ſo ſah er ſich genommen, geglaubt und verherrlicht. Und ſo wahr, ſo reich, ſo grundlos ſchenkend, daß der verruchteſte Geizhals und Böſewicht ſeine Truhe nach Koſtbarkeiten durchwühlt hätte, nur um ſich der Qual der Verſchuldung zu entledigen. Aber er gab — nichts. Er konnte ſich nicht ſelber geben, denn ſeine Perſon war zum voraus verſchrieben, ſein Leben war von denen bezahlt, denen er diente, bezahlt ſein Tag und ſeine Nacht, bezahlt ſeine Reue, ſein Unfrieden, ſein ſchlechtes Gewiſſen. Er führte eine Tat im Schilde, die jede Falte ſeines Geſichts mit Lüge bemalte, aber bisweilen dachte er in Wirklichkeit daran, mit Caſpar zu fliehen. Doch wohin? Wo gab es eine Ruheſtatt für den Geächteten eines Erdteils? Ach, wenn er die ſtillen Stunden mit Caſpar verbrachte und dieſes Antlitz ihm zugeneigt war, in dem der reine Glanz des Menſchen wohnte, da fühlte er, daß auch er noch ein Menſch war, und er konnte in unermeßlicher Wehmut vor ſich hintrauern. Dann vergaß er Zweck und Sendung und rächte ſich an jenen, deren ſchuldiges Opfer er war, indem er hinwarf, was er von ihren Geheimniſſen wußte, und doppelten Verrat beging. Er erfüllte Caſpar mit Erwartungen auf Macht und Größe, das war ſeine Gegengabe, das Geſchenk des Geizhalſes. Ein Glück, daß der Zauber an Kraft verlor, wenn er von dem Jüngling entfernt war und er nicht mehr jenen fragenden Blick auf ſich laſten fühlte, bei dem ihm zumute war, als ſei ein Geſandter Gottes neben ihn hingeſtellt. Inmitten der finſtern Überlegung und im Verfolg der furchtbaren Pläne ſchrieb er gleichwohl kurze leidenſchaftliche Briefchen an den Umgarnten, wie dies: „In der erſten Woche, da ich dich kennen lernte, hieß ich mich deinen Vaſall; ſollteſt du je für eine Frau dasſelbe fühlen, was du für mich empfindeſt, ſo bin ich verloren.“ Oder: „Wenn du einmal Kälte an mir bemerkſt, ſo ſchreibe es nicht einer Herzloſigkeit zu, ſondern nimm es für den Ausdruck jenes Schmerzes, den ich bis ans Grab in mich verſchließen muß; meine Vergangenheit iſt ein Kirchhof, als ich dich fand, hatte ich Gott ſchon halb verloren, du warſt der Glöckner, der mir die Ewigkeit einläutete.“ Es waren Wendungen im Geſchmack der Zeit, beeinflußt durch Modepoeten, aber ſie bekundeten doch die Ratloſigkeit eines bis ins Innerſte verworrenen Gemüts. So hin- und hergeriſſen, hemmte er ſelbſt den Gang ſeiner Unternehmung. Er ließ geſchehen, was geſchah, und unterlag dem Anprall der Ereigniſſe, denn ſie waren mächtiger als ſeine Entſchlüſſe. Er wußte, daß er ſein ſchändliches Werk enden würde und enden müſſe, aber er zauderte, und dies Zaudern gab ihm Zeit, ſein Geſchick zu beklagen. Er verſuchte ſich eine Ausrede vor dem Himmel zu ſchaffen, indem er betete, und vor dem Richter in ſich ſelbſt, indem er aus ſeinem Daſein ein Fatum machte. Den an Genuß und Wohlleben hängenden Geiſt beſchwichtigte er durch den Sophismus, daß die Notwendigkeit ſtärker ſei als Liebe und Erbarmen, und das klare Bild des Endes eskamotierte er hinweg mit einem billigen: es wird ja ſo ſchlimm nicht werden! Indeſſen wurde auch nach der haſtigen Abſendung des Jägers die Unſicherheit ſeiner Lage immer größer, die Koſten des Aufenthalts wuchſen beſtändig, die Kreditbriefe nutzten wenig, ſie waren einſtweilen nur ein Aushängeſchild, die Bedrängnis zwang ihn zu Taten, und er faßte den Entſchluß, nach Ansbach zu reiſen und mit dem Präſidenten Feuerbach perſönlich zu unterhandeln. An einem Samſtag zu Ende November gebot er, eilends den Reiſewagen inſtand zu ſetzen, und ſchickte eine Nachricht ins Tucherſche Haus, daß Caſpar ſogleich zu ihm kommen möge. Er aber begab ſich, nachdem er Auftrag erteilt, Caſpar bis zu ſeiner Wiederkehr zurückzuhalten, auf einem Weg, wo er dem Gerufenen nicht zu begegnen fürchten mußte, ſelbſt dorthin, ließ ſich in Caſpars Zimmer führen, gab vor, auf ihn warten zu wollen, und als er allein war, durchſtöberte er in gehetzter Eile alle Schubläden, Bücher und Hefte des Jünglings, um einen vor Wochen von ihm ſelbſt an Caſpar geſchriebenen Brief zu finden, in welchem ihm höchſt unbedachte, auf die Zukunft Caſpars bezügliche Bemerkungen entſchlüpft waren und den er um jeden Preis aus der Welt ſchaffen wollte, denn ſchon hatte man ihn gewarnt, ſchon hatten die Finſteren hinter dem Vorhang gedroht. Sein Suchen war vergeblich. Da öffnete ſich auf einmal die Tür, und Herr von Tucher ſtand auf der Schwelle. In ſeinem ängſtlichen Eifer hatte der Lord die nahenden Schritte überhört. Herr von Tucher ſah mächtig groß aus, da ſein Scheitel den oberen Pfoſten der Türe berührte; in ſeiner Haltung lag ein ſchmerzliches Erſtaunen, und nach einem langen Schweigen ſagte er mit heiſerer Stimme: „Herr Graf! Das ſind doch nicht etwa die Geſchäfte eines Spions?“ Stanhope zuckte zuſammen. „Einen Anwurf ſolcher Art erlauben Sie mir wohl mit Schweigen zu übergehen,“ entgegnete er mit gelaſſenem Hochmut. „Aber was ſoll das,“ fuhr Herr von Tucher fort, „wie ſoll ich den Augenſchein deuten? Mir ahnt, Herr Graf, eine innere Stimme verrät es mir, daß hier nicht alles auf geraden Wegen vor ſich geht.“ Der Lord geriet in Verwirrung; er preßte die eine Hand an die Stirn, und mit flehendem Ton ſagte er: „Ich bedarf mehr des Mitleids und der Nachſicht, als Sie denken, Baron.“ Er zog das Taſchentuch aus der Bruſttaſche, drückte es vor die Augen und begann plötzlich zu weinen, wirkliche, unverſtellte Tränen. Herr von Tucher war ſprachlos. Seine erſte Regung war ein düſterer Argwohn und der Verdacht, daß alle trüben und verſteckten Redereien über Caſpars Schickſal eines ernſtlichen Grundes doch nicht entbehren mochten. Stanhope, als ahne er, was in dem klugen Manne vorging, faßte ſich ſchnell und ſagte: „Nehmen Sie ſich eines ſchwankenden Herzens an. Ich tappe im Dunkeln. Ja, es will in Worte gebracht ſein, ich zweifle an Caſpar! Ich vermag ihn nicht loszuſprechen von gewiſſen Unaufrichtigkeiten und heuchleriſchen Künſten_...“ „Auch Sie alſo!“ konnte ſich Herr von Tucher nicht enthalten auszurufen. „Und ich fahnde nach Beweiſen.“ „Dieſe Beweiſe ſuchen Sie in Schubladen und Schränken, Herr Graf?“ „Es handelt ſich um geheime Aufzeichnungen, die er mir vorenthielt.“ „Wie? Geheime Aufzeichnungen? Davon iſt mir nicht das mindeſte bekannt.“ „Sie ſind nichtsdeſtoweniger vorhanden.“ „Vielleicht meinen Sie am Ende das Tagebuch, das er vom Präſidenten erhalten hat?“ Stanhope griff dieſen Gedanken, der ihn aus der ſchiefen Situation halbwegs rettete, mit Vergnügen auf. „Ja, gerade dieſes, ohne Frage dasſelbe,“ beteuerte er raſch, indem er ſich zugleich gewiſſer verräteriſcher Andeutungen Caſpars darüber entſann. „Ich weiß nicht, wo er es aufbewahrt,“ ſagte Herr von Tucher; „ich würde auch Anſtand nehmen, es Ihnen in ſeiner Abweſenheit auszuliefern. Im übrigen weiß ich zufällig, daß er vor einiger Zeit aus demſelben Tagebuch das Bildnis des Präſidenten, das ſich auf der erſten Seite befand, herausgeſchnitten und das Ihre, Herr Graf, an deſſen Stelle geſetzt hat.“ Damit langte Herr von Tucher nach einer Mappe, die auf dem Schreibpult lag, zog ein darin befindliches Blatt hervor und reichte es Stanhope. Es war Feuerbachs Porträt. Der Lord ſah eine Weile darauf nieder, und beim Anſchauen dieſer jupiterhaften Züge beſchlich ihn eine niegekannte Furcht. „Das iſt alſo der berühmte Mann,“ murmelte er; „ich bin im Begriff, ihn aufzuſuchen, ich erwarte viel von ſeiner unbeſtechlichen Einſicht.“ Doch alles, was er plante, der Weg dorthin, der Zwang, dem furchtbaren Blick dieſer Augen ſtandhalten zu ſollen, verſetzte ihn in eine Befangenheit, deren er nicht Herr werden konnte. „Exzellenz Feuerbach wird zweifellos entzückt ſein, Ihre Bekanntſchaft zu machen,“ ſagte Baron Tucher höflich, und da Stanhope ſich anſchickte zu gehen, bat er ihn, dem Präſidenten ſeine verehrungsvollen Grüße zu übermitteln. Zwei Stunden ſpäter ſauſte der Wagen des Lords auf der Reichsſtraße dahin. Es war ein arger Sturm, in Wellen und Spiralen krümmte ſich der Staub empor, der Lord kauerte, in Tücher eingehüllt, in der Ecke des Gefährts und wandte keinen Blick von der herbſtlich-trübſeligen Landſchaft. Doch ſein krankhaft leuchtendes Auge ſah weder Felder noch Wälder, ſondern ſchien die Ebene nach verborgenen Gefahren zu durchſpähen. Das Auge eines Beſeſſenen oder eines Flüchtlings. Als kurz vor dem Städtchen Heilsbronn das Gedudel eines Leiermanns hörbar wurde, drückte er die Hände gegen die Ohren, wandte ſich ab und ſtöhnte ſeine zur Einſamkeit verdammte Qual in das ſeidene Ruhekiſſen des Wagens. Danach ſaß er wieder aufrecht, hart und kalt wie Stahl, ein Hexenlächeln um die dünnen Lippen. 13. Geſpräch zwiſchen einem, der maskiert bleibt, und einem, der ſich enthüllt Es regnete in Strömen, als die Kaleſche des Lords am ſpäten Abend über den Ansbacher Schloßplatz donnerte. Dazu ſcheuten die Pferde plötzlich vor einem über den Weg trottenden Hund, und der elſäſſiſche Kutſcher fluchte in ſeinem greulichen Dialekt ſo laut, daß ſich hinter den dunkeln Fenſterquadraten ein paar weiße Zipfelmützen zeigten. Die Zimmer im Gaſthof zum Stern waren vorausgemietet, der Wirt tänzelte mit einem Parapluie vors Tor und begrüßte den Fremdling mit unzähligen tiefen Komplimenten und Kratzfüßen. Stanhope ſchritt an ihm vorüber zur Treppe, da trat ihm ein Herr in der Uniform eines Gendarmerieoffiziers entgegen, ſehr eilfertig, mit regentriefendem Mantel und ſtellte ſich ihm als Polizeileutnant Hickel vor, der die Ehre gehabt habe, Seiner Lordſchaft vor einigen Wochen beim Rittmeiſter Weſſenig in Nürnberg flüchtig, „leider allzu flüchtig“, begegnet zu ſein. Er nehme ſich die Freiheit, dem Herrn Grafen ſeine Dienſte in der unbekannten Stadt anzubieten, und bitte um Vergebung für die einem Überfall ähnliche Störung, aber es ſei zu vermuten, daß Seine Lordſchaft wenig Zeit und vielerlei Geſchäfte habe, darum wolle er nicht verſäumen, in erſter Stunde nachzufragen. Stanhope ſchaute den Mann verwundert und ziemlich von oben herab an. Er ſah ein friſches, volles Geſicht mit eigentümlich kecken und dabei zärtlich ergebenen Augen. Unwillkürlich zurücktretend, hatte Stanhope das Gefühl, daß hier einer ſeine ganze Perſon als Werkzeug antrug, gleichviel zu welchen Zwecken; nichts Neues war ihm der begehrlich ſtreberiſche Glanz ſolcher Blicke, ſchon glaubte er ſeinen Mann in- und auswendig zu kennen. Aber woher wußte der Dienſtbefliſſene davon? Wer hatte ihn auf die Fährte gebracht? Eine feine Naſe war ihm jedenfalls zuzutrauen. Der Lord dankte ihm kurz und erbat ſich für eine beſtimmte Stunde ſeinen Beſuch, worauf der Polizeileutnant militäriſch grüßte und ebenſo eilig, wie er gekommen war, wieder in den Regen hinausrannte. Stanhope bewohnte den ganzen erſten Stock und ließ ſogleich in allen Zimmern Kerzen aufſtellen, da ihm unbeleuchtete Räume verhaßt waren; während der Kammerdiener den Tee bereitete, nahm er ein in Saffian gebundenes Andachtsbüchlein aus der Reiſetaſche und begann darin zu leſen. Oder wenigſtens hatte es den Anſchein, als leſe er, in Wirklichkeit dachte er hundert zerſtreute Gedanken, die Ruhe des kleinen Landſtädtchens war ihm unheimlicher als Kirchhofsſtille. Nach dem Imbiß ließ er den Wirt rufen, befragte ihn über dies und jenes, über die Verhältniſſe im Ort, über den anſäſſigen Adel und die Beamtenſchaft. Der Wirt zeigte ſich den neuen Läuften gründlich überlegen. Er hatte noch die ſelige Markgrafenzeit erlebt, und mit dem Tag, wo Höfling und Hofdame aus ihren ziervollen Rokokopaläſtchen die Flucht vor dem heranſauſenden Kriegsſturm ergriffen hatten, war es aus mit dem Glanz der Welt; ein ſtinkendes Rattenneſt war ſie geworden, ein Aktentrödelmarkt mit dem hochtrabenden Namen Appellationsſenat, eine Tintenhöhle, ein Paragraphenloch. Damals, ach, damals! Wie verſtand man zu ſchäkern, wie heiter war das Treiben, man ſpielte, man parlierte, man tanzte — und der dicke Mann fing vor den Augen des Lords an, einige gravitätiſche Menuettpoſen und Pas de deux zu illuſtrieren, wozu er eine verſchollene Melodie trällerte und mit zwei Fingern jeder Hand ſchelmiſch die Rockſchöße hob. Der Lord blieb vollkommen ernſthaft. Er fragte auch beiläufig, ob Herr von Feuerbach in der Stadt ſei, doch bei dieſen Worten zog der Dicke ein ſäuerliches Geſicht. „Die Exzellenz?“ grollte er. „Ja, die iſt da. Wohler wäre uns, ſie wär’ nicht da. Wie ein brummiger Kater lauert ſie uns auf und faucht uns an, wenn wir ein bißchen pfeifen. Er kümmert ſich um alles, ob die Straßen gekehrt ſind, ob die Milch verwäſſert iſt; überall iſt er hinterher, aber Galanterie hat er keine im Leib. Nur eines verſteht er gründlich, er iſt ein ſcharfer Eſſer, und halten zu Gnaden, Herr Graf, wenn Sie mit ihm zu tun haben, müſſen Sie alles loben, was auf ſeinen Tiſch kommt.“ Stanhope entließ den Schwätzer huldvoll, dann bezeichnete er dem Diener die Kleider, die für morgen inſtand zu ſetzen ſeien, und begab ſich zur Ruhe. Am andern Morgen erhob er ſich ſpät, ſchickte den Lakaien in die Wohnung Feuerbachs und ließ um eine Unterredung bitten. Der Mann kam mit der Botſchaft zurück, der Herr Staatsrat könne heute und wohl auch in den nächſten Tagen nicht empfangen, er erſuche Seine Lordſchaft, ihm das Anliegen ſchriftlich mitzuteilen. Stanhope war wütend. Er begriff, daß er ſich überſtürzt habe, und fuhr ſogleich zum Hofrat Hofmann, der ihm empfohlen war. Indeſſen hatte ſich die Kunde von ſeiner Anweſenheit verbreitet, und nach weiteren vierundzwanzig Stunden war ſchon ein Sagenkranz um ſeine Perſon geflochten. Ein halb Dutzend mit Goldguineen gefüllte Säcke ſeien auf dem Reiſewagen des Fremdlings aufgeſchnallt geweſen, hieß es, und er wolle das Markgrafenſchloß ſamt dem Hofgarten kaufen, er führe ein Bett mit Schwanendaunen mit ſich und geſtickte Wäſche, er ſei ein Vetter des Königs von England und Caſpar Hauſer ſein leiblicher Sohn. Stanhope, kühl bis in die Nieren, ſah ſich als Mittelpunkt kleinſtädtiſchen Schwatzes und war es zufrieden. Der Hofrat hatte ihm keine Erklärung über das Verhalten des Präſidenten zu geben vermocht. Um die dienſtlichen Schritte zu beraten, ſuchten ſie den Archivdirektor Wurm auf, der bei Feuerbach großes Vertrauen genoß. Stanhope ſpürte, daß man nur mit ſcheuer Vorſicht an die Sache ging; die amtsſäſſigen Herren konnten ſich keines freien Verhältniſſes zu einem Manne rühmen, deſſen Hand wie Eiſenlaſt auf ihnen ruhte. Am Abend folgte Stanhope der Einladung in einen Familienkreis. Als er hier die Rede auf den Präſidenten brachte, wurde eine Reihe von Anekdoten erzählt, die teils lächerlich, teils bizarr klangen, oder man berichtete, wie um den Mangel an Liebe und echtem Sichbeſcheiden durch Umſtände zu verdecken, welche das Mitleid herausforderten, von dem Unglück, welches Feuerbach an zweien ſeiner Söhne erlebe, von einer zerrütteten Ehe, von der menſchenhaſſenden Einſamkeit, in welcher der Alte hauſte, und in der man doch wieder etwas wie eine dunkle Verſchuldung ſehen wollte. „Er iſt ein Fanatiker,“ ließ ſich ein kahlköpfiger Kanzleivorſtand vernehmen, „er würde, wie Horatius, ſeine eignen Kinder dem Henkersknecht ausliefern.“ „Er vergibt niemals einem Feind,“ ſagte ein andrer klagend, „und dies beweiſt keine chriſtliche Geſinnung.“ „Das alles wäre nicht ſo ſchlimm, wenn er nicht in jedem Menſchen eine Art von Übeltäter ſehen würde,“ meinte die Dame des Hauſes, „und bei jeder Harmloſigkeit gleich das ganze Strafgeſetz aufmarſchieren ließe. Neulich ging ich um die Dämmerung mit meiner Tochter auf der Triesdorfer Straße ſpazieren, und wir waren unbedachtſam genug, ein paar Äpfel von den Bäumen zu pflücken; auf einmal ſteht die Exzellenz vor uns, ſchwingt den Stock in der Luft und ſchreit mit einer fürchterlich krähenden Stimme: Oho, meine Gnädige, das iſt Diebſtahl am Gemeindegut! Nun bitt’ ich einen Menſchen, Diebſtahl! Was ſoll denn das heißen?“ „Du mußt aber auch ſagen, Mama,“ fügte die Tochter hinzu, „daß er dabei ganz pfiffig geſchmunzelt hat und ſich kaum das Lachen verbeißen konnte, als wir, vor Schrecken zitternd, die Äpfel in den Graben warfen.“ Der bloße Name des Mannes glich einem Steinblock im Strom, vor dem das Waſſer ſtaut und aufprallt. Stanhope machte kein Hehl aus ſeiner Bewunderung für den Präſidenten. Er zitierte Stellen aus ſeinen Schriften, ſchien ſelbſt die trockenſten juriſtiſchen Abhandlungen zu kennen und pries die von Feuerbach durchgeführte Abſchaffung der Folter als eine Tat, die über die Jahrhunderte leuchten würde. Es war ein Mittel zu blenden, wie irgendein andres. Auf allen Gaſſen, in allen Salons gab es alsbald nur einen einzigen Geſprächsſtoff, und das war Lord Stanhope. Lord Stanhope, der Held und die Zuflucht der unſchuldig Verfolgten; Lord Stanhope, der Gipfel der Eleganz, Lord Stanhope, der Freigeiſt, Lord Stanhope, der Liebling des Glücks und der Mode, Lord Stanhope, der Melancholiſche, und Lord Stanhope, der Strengreligiöſe. So viel Tage, ſo viel Geſichter; heute iſt Lord Stanhope kalt, morgen iſt er leidenſchaftlich; zeigt er ſich hier heiter und ungebunden, dort wird er tiefſinnig und würdevoll ſein; Gelehrſamkeit und leichte Tändelei, die Stimme des Gemüts und ſittliche Forderung: es kommt nur auf das Regiſter an, das der geſchickte Orgelſpieler braucht. Wie intereſſant ſein Aberglauben, wenn er in einem Zirkel bei Frau von Imhoff ſeine Furcht vor Geſpenſtern bekennt und ſchildert, daß er dabei geweſen, wie ein Landsmann in den Krater des Veſuv zur Hölle gefahren ſei; wie entzückend die Ironie, mit der er bei andrer Gelegenheit gottloſe Gedichte von Byron zu rezitieren verſteht. Die Elemente miſchen ſich, man weiß nicht wie. Es iſt eine Luſt, die Welle zu Schaum zu ſchlagen und den kleinen provinzlichen Sumpf im vergoldeten Kahn zu durchfahren. Am fünften Tag kam der Jäger zurück. Er brachte erweiterte Vollmachten; Befehle, denen Stanhope durch ſeine Reiſe nach Ansbach zum Teil zuvorgekommen war, aus denen als bemerkenswert etwas wie Furcht vor den Maßnahmen Feuerbachs auffiel. Es wurde ihm geboten, ſich dem Präſidenten in jedem Fall zu fügen, da Widerſtand Verdacht erweckt hätte; das Äußerſte zu verſuchen, aber ſich zu fügen und neue Minen zu graben, wenn die alten wirkungslos geworden. Von einem gefährlichen Dokument war die Rede, das einſtweilen beiſeitegebracht oder unſchädlich gemacht werden müſſe, von deſſen Inhalt aber jedenfalls Abſchrift zu nehmen ſei. Das überreichte Schreiben ſollte im Beiſein des Jägers zerriſſen und verbrannt werden. Dies geſchah. Vor allem brachte der Burſche Geld, herrliches bares Geld. Stanhope atmete auf. Am nächſten Abend lud er einige der vornehmſten Familien der Stadt zu einem geſelligen Beiſammenſein in die Räume des Kaſinos. Man raunte ſich zu, daß er die Speiſen nach beſonderen Rezepten habe bereiten laſſen und die Muſikpiecen mit dem Kapellmeiſter ſelbſt durchprobiert habe. Vor Beginn des Tanzes erhielt jede Dame ein ebenſo ſinniges wie koſtbares Angebinde: ein kleines Schildchen von Gold, auf welchem in emaillierter Schrift die Deviſe ſtand: „[Dieu et le cœur.]“ Danach nahm der Lord ſein Glas und forderte die Anweſenden auf, mit ihm das Wohl eines Menſchen auszubringen, der ihm ſo teuer ſei, daß er den Namen vor ſo vielen Ohren gar nicht auszuſprechen wage, wüßten doch alle, wen er meine: jenes wunderbare Geſchöpf, vom Schickſal wie auf eine Warte der Zeit hingeſtellt: [Dieu et le cœur], dies gelte ihm, dem Mutterloſen, deſſen die Mütter gedenken möchten, welche Kinder geboren, und die Jungfrauen, die ſich der Liebe weihten. Man war gerührt; man war außerordentlich gerührt. Ein paar weiße Taſchentücher flatterten in ſanften Händen, und eine ergriffene Baßſtimme murrte: „Seltener Mann.“ Der ſeltene Mann, als ob er ſeine eigne Bewegung nicht anders meiſtern könne, begab ſich auf den anſtoßenden Balkon und ſchaute ſinnend auf das Volk, das teils in ehrfürchtig flüſternden Gruppen ſtand, teils in der Dunkelheit auf und ab promenierte. Viele auch hatten ſich, der Muſik lauſchend, an die gegenüberliegende Mauer gedrängt, und eine ganze Reihe von Geſichtern glänzte fahl in dem aus den Fenſtern flutenden Lichtſchein. Da gewahrte Stanhope den Uniformierten, der ſich ihm bei ſeiner Ankunft in der Stadt präſentiert. Er hatte ihn ſeitdem völlig aus dem Gedächtnis verloren, der Mann war zur feſtgeſetzten Stunde im Hotel geweſen, doch hatte Stanhope die Verabredung nicht gehalten, und jener hatte nur die Karte zurückgelaſſen. Jetzt ſtand er wenige Schritte entfernt unter einem Laternenpfahl, und ſein Geſicht ſchien auffallend böſe. Ein Unbehagen überlief den Lord. Er verbeugte ſich höflich nach der Richtung, wo der Regungsloſe ſtand. Darauf hatte der nur gewartet; er trat näher, und dicht am Balkon ſtehend, war ſein Geſicht etwa in Bruſthöhe des Grafen. „Polizeileutnant Hickel, wenn ich nicht irre,“ ſagte Stanhope und reichte ihm die Hand; „ich hatte das Unglück, Ihren Beſuch zu verſäumen, ich bitte mich zu entſchuldigen.“ Der Polizeileutnant ſtrahlte vor Ergebenheit und heftete den Blick andächtig auf den redenden Mund des Grafen. „Schade,“ verſetzte er, „ich hätte ſonſt gewiß den Vorzug, den heutigen Abend in Mylords Geſellſchaft zu verbringen. Man rechnet meine Wenigkeit hier gleichfalls zu den oberen Zehntauſend, haha!“ Stanhope rückte kaum merklich den Kopf. Was für ein unangenehmer Geſelle, dachte er. „Waren Eure Herrlichkeit ſchon beim Staatsrat Feuerbach?“ fuhr der Polizeileutnant fort. „Ich meine heute. Die Exzellenz war nämlich bis jetzt ſtarrköpfig, wollte mit Eurer Herrlichkeit nur ſchriftlich unterhandeln. Es iſt mir endlich gelungen, den eigenſinnigen Mann andern Sinnes zu machen.“ All das wurde in der biederſten Weiſe vorgebracht; doch Stanhope zeigte ein befremdetes Geſicht. „Wie das?“ fragte er ſtockend. „Nun ja, ich kann bei dem guten Präſidenten manches durchſetzen, woran andre ſich umſonſt die Zähne ausbeißen,“ erwiderte Hickel, ebenfalls mit dem heiterſten und gefälligſten Ausdruck. „Solche Hitzköpfe ſind um den Finger zu wickeln, wenn man ſie zu nehmen verſteht. Haha, das iſt luſtig: um den Finger gewickelte Hitzköpfe, haha!“ Stanhope blieb eiſig. Er empfand einen an Ekel grenzenden Widerwillen. Der Polizeileutnant ließ ſich nicht beirren. „Mylord ſollten keinesfalls lange überlegen,“ ſagte er. „Wenn auch die Angelegenheit jetzt nicht gerade ſonderlich drängt, ſo treffen Sie doch den Staatsrat in einem Zuſtand von Unentſchloſſenheit, dünkt mich, der auszunutzen iſt. Und was das bedrohliche Dokument anbelangt_...“ Er hielt inne und machte eine Pauſe. Stanhope fühlte, daß er bis in den Hals erbleichte. „Das Dokument? Von welchem Dokument ſprechen Sie?“ murmelte er haſtig. „Sie werden mich vollſtändig verſtehen, Herr Graf, wenn Sie mir eine halbe Stunde Gehör ſchenken wollen,“ antwortete Hickel mit einer Unterwürfigkeit, die ſich beinahe wie Spott ausnahm. „Was wir uns zu ſagen haben, iſt nicht unwichtig, muß aber keineswegs noch heute geſagt werden. Ich ſtehe zu jeder beliebigen Zeit zur Verfügung.“ Seiner Unruhe trotzend, glaubte Stanhope Gleichgültigkeit zeigen zu ſollen. Obwohl ein Stichwort gefallen war, das er nicht überhören durfte, verſchanzte er ſich hinter einer vornehmen Unnahbarkeit. „Ich werde mich ſicherlich an Sie wenden, wenn ich Ihrer bedarf, Herr Polizeileutnant,“ ſagte er kurz und wandte ſich ſtirnrunzelnd ab. Hickel biß ſich auf die Lippen, ſchaute mit einiger Verblüffung dem Grafen nach, der durch die offene Saaltür verſchwunden war, und ging dann leiſe pfeifend über die Straße. Plötzlich drehte er ſich um, verbeugte ſich höhniſch und ſagte mit geſchraubter Verbindlichkeit, wie wenn Stanhope noch vor ihm ſtünde: „Der Herr Graf ſind im Irrtum; auch bei dero Gnaden wird mit Waſſer gekocht.“ Als Stanhope wieder unter ſeine Gäſte getreten war, zog er den Generalkommiſſär von Stichaner ins Geſpräch. Im Verlauf der Unterhaltung äußerte er, er habe ſich entſchloſſen, dem Präſidenten morgen ſeinen Beſuch zu machen; wenn Feuerbach auch dann bei ſeinem wunderlichen Starrſinn verbleibe, werde er es als vorſätzlichen Affront auffaſſen und abreiſen. Er ſagte das mit ſo lauter Stimme, daß einige danebenſtehende Herren und Damen es hören mußten; unter dieſen befand ſich auch Frau von Imhoff, die mit Feuerbach ſehr befreundet war. An ſie hatte ſich der Lord offenbar wenden wollen. Frau von Imhoff war aufmerkſam geworden, ſie blickte herüber und ſagte etwas verwundert: „Wenn ich mich nicht täuſche, Mylord, ſo hat Exzellenz ja Ihnen einen Beſuch abgeſtattet. Ich traf ihn ſpät nachmittags in ſeinem Garten, als er eben im Begriff war, zum ‚Stern‘ zu gehen. Sie waren wohl nicht zu Hauſe?“ „Ich verließ mein Hotel um acht Uhr,“ antwortete Stanhope. Eine Stunde ſpäter ſchickten ſich viele zum Aufbruch an. Der Lord erbot ſich, Frau von Imhoff, deren Gatte verreiſt war, in ſeinem Wagen nach Hauſe zu bringen. Da ſie der Weg vorüberführte, ließ Stanhope beim „Stern“ halten und erkundigte ſich, ob in ſeiner Abweſenheit jemand vorgeſprochen habe. In der Tat hatte Feuerbach ſeine Karte abgegeben. Am andern Vormittag um elf Uhr hielt die gräfliche Karoſſe in der Heiligenkreuzgaſſe vor dem Tor des Feuerbachſchen Gartens. Mit ariſtokratiſch gebundenen Schritten, die gertenhaft biegſame Geſtalt unnachahmlich geſtreckt, näherte ſich Stanhope dem landhausähnlichen Gebäude, indem er genau die Mitte der kahlen Baumallee einhielt. Sein Anzug bekundete peinliche Sorgfalt; in dem Knopfloch des braunen Gehrocks glühte ein rotes Ordensbändchen, die Krawatte war durch eine Diamantſchließe gehalten und wie ein geiſtiger Schmuck umſpielte ein müdes Lächeln die glattraſierten Lippen. Als er ungefähr zwei Drittel des Wegs zurückgelegt hatte, hörte er eine brüllende Stimme aus dem Haus, zugleich rannte eine Katze vor ihm über den Kies. Ein böſes Omen, dachte er, verfärbte ſich, blieb ſtehen und ſchaute unwillkürlich zurück. Es war ſo neblig, daß er ſeinen Wagen nicht mehr ſah. Er zog die Glocke am Tor und wartete geraume Weile, ohne daß geöffnet wurde. Indes dauerte das Geſchrei drinnen fort, es war eine Männerſtimme in Tönen wilder Wut. Stanhope drückte endlich auf die Klinke, fand den Eingang unverſperrt und betrat den Flur. Er ſah niemand und trug Bedenken, weiterzugehen. Plötzlich wurde eine Tür aufgeriſſen, ein Frauenzimmer ſtürzte heraus, anſcheinend eine Magd, und hinterher eine gedrungene Geſtalt mit mächtigem Schädel, in welcher Stanhope ſofort den Präſidenten erkannte. Doch erſchrak er dermaßen vor dem zornverzerrten Geſicht, den geſträubten Haaren und der durchdringenden Stimme, daß er wie angewurzelt ſtehen blieb. Was hatte ſich ereignet? War ein Unheil paſſiert? Ein Verbrechen zu Tag gekommen? Nichts von alledem. Bloß ein ſtinkender Qualm zog durch den Korridor, weil ein Topf mit Milch in der Küche übergelaufen war. Die Frauensperſon hatte ſich beim Waſſerholen verſchwatzt, und da war es denn ein gar würdeloſer Anblick, den alten Berſerker zu ſehen, wie er mit den Armen fuchtelte und bei jeder jammernden Widerrede der Geſcholtenen von neuem raſte, die Zähne fletſchte, mit den Füßen ſtampfte und ſich vor Bosheit überſchrie. Ein komiſches Männlein, dachte Stanhope voll Verachtung; und vor dieſem kleinen Provinztyrannen und Polizeiphiliſter habe ich gebebt! Sich vornehm räuſpernd, ſchritt er die drei Stufen empor, die ihn noch von dem lächerlichen Kriegsſchauplatz trennten, da wandte ſich Feuerbach blitzſchnell um. Der Lord verneigte ſich tief, nannte ſeinen Namen und bat nachſichtig lächelnd um Entſchuldigung, wenn er ſtöre. Schnelle Röte überflog das Geſicht Feuerbachs. Er warf einen ſeiner jähen, faſt ſtechenden Blicke auf den Grafen, dann zuckte es um Naſe und Mund, und auf einmal brach er in ein Gelächter aus, in welchem Beſchämung, Selbſtironie und irgendeine gemütliche Verſicherung lag, kurz, es hatte einen befreienden, wohltuenden und überlegenen Klang. Mit einer Handbewegung forderte er den Gaſt zum Eintreten auf; ſie kamen in ein großes wohlerhaltenes Zimmer, das bis in jeden Winkel von außerordentlicher Akkurateſſe zeugte. Feuerbach begann ſogleich über ſein bisheriges Verhalten gegen den Lord zu ſprechen, und ohne Gründe anzuführen, ſagte er, die Notwendigkeit, die ihn beſtimmt, ſei ſtärker als die geſellſchaftliche Pflicht. Doch habe er eingeſehen, daß er einen Mann von ſolchem Rang und Anſehen nicht verletzen könne, zumal ihm ſchätzenswerte Freunde ſo viel Anziehendes berichtet hätten, deshalb habe er Seine Lordſchaft geſtern aufgeſucht. Stanhope verbeugte ſich abermals, bedauerte, daß er Seiner Exzellenz nicht habe aufwarten können, und fügte beſcheiden hinzu, er müſſe dieſe Stunde zu den höchſten ſeines Lebens rechnen, vergönne ſie ihm doch die Bekanntſchaft eines Mannes, deſſen Ruf und Ruhm einzig und über die Grenzen der Sprache wie der Nation hinausgedrungen ſei. Von neuem der jähe, ſcharfe Blick des Präſidenten, ein ſchamhaft ſatiriſches Schmunzeln in dem verwitterten Geſicht und dahinter, faſt rührend, ein Strahl naiver Dankbarkeit und Freude. Der Lord ſeinerſeits ſtellte vollendet einen Mann der großen Welt dar, der vielleicht zum erſtenmal befangen iſt. Sie nahmen Platz, der Präſident durch die Gewohnheit des Berufs mit dem Rücken gegen das Fenſter, um ſeinen Gaſt im Licht zu haben. Er ſagte, eine der Urſachen, weshalb er ihn zu ſprechen verlange, ſei ein geſtern eingetroffener Brief des Herrn von Tucher, worin ihm dieſer nahelege, Caſpar zu ſich ins Haus zu nehmen. Dieſe plötzliche Sinnesänderung ſei ihm um ſo merkwürdiger erſchienen, als er ja wiſſe, daß Herr von Tucher den Abſichten des Grafen geneigt geweſen; er habe den Faden verloren, die ganze Geſchichte ſei ihm verſchwommen geworden, er habe nun ſehen und hören wollen. Im Tone größten Befremdens erwiderte Stanhope, er könne ſich das Vorgehen Herrn von Tuchers durchaus nicht erklären. „Man braucht den Menſchen nur den Rücken zu kehren und ſie verwandeln ihr Geſicht,“ ſagte er geringſchätzig. „Das iſt nun ſo,“ verſetzte der Präſident trocken. „Ich will übrigens Ihre Erwartung nicht hinhalten, Herr Graf. Wie ich ſchon dem Bürgermeiſter Binder mitteilte, kann es auf keinen Fall geſchehen, daß Ihnen Caſpar überlaſſen werde. Ein ſolches Anſinnen muß ich gänzlich und ohne Bedenken abweiſen.“ Stanhope ſchwieg. Ein ſchlaffer Unwillen malte ſich in ſeinen Zügen. Er blickte unabläſſig auf die Füße des Präſidenten, und als ob ihn das Sprechen Überwindung koſte, ſagte er endlich: „Laſſen Sie mich Ihnen, Exzellenz, vor Augen führen, daß Caſpars Lage in Nürnberg unhaltbar iſt. Aufs ſonderbarſte angefeindet und von keinem unter allen, die ſich ſeine Schützer nennen, verſtanden; mit dem Druck einer Dankesſchuld beladen, die das Schickſal ſelbſt für ihn aufgenommen hat und die er niemals wird bezahlen können, da ihm ja ſonſt jeder Tag und jedes Erlebnis zu einer wucheriſchen Zinſenabgabe würde und er, ein Junger, ein Wachſender, der er iſt, ſein Daſein für ſich verzehren muß, iſt er waffenlos ausgeſetzt. Zudem will die Stadt, wie mir ausdrücklich verſichert wurde, nur noch bis zum nächſten Sommer für ihn ſorgen und ihn dann einem Handwerksmeiſter in die Lehre geben. Das, Exzellenz, dünkt mich ſchade.“ (Hier erhob der Lord ſeine Stimme ein wenig, und ſein Geſicht mit den niedergeſchlagenen Augen erhielt den Ausdruck verbiſſenen Hochmuts.) „Es dünkt mich ſchade, die ſeltene Blume in einen von aller Welt zerſtampften Raſen ſetzen zu laſſen.“ Der Präſident hatte aufmerkſam zugehört. „Gewiß, das alles iſt mir bekannt,“ antwortete er. „Eine ſeltene Blume, gewiß. War doch ſein erſtes Auftreten derart, daß man einen durch ein Wunder auf die Erde verlorenen Bürger eines andern Planeten zu ſehen vermeinte, oder jenen Menſchen des Plato, der, im Unterirdiſchen aufgewachſen, erſt im Alter der Reife auf die Oberwelt und zum Licht des Himmels geſtiegen iſt.“ Stanhope nickte. „Meine Hinneigung zu ihm, die dem allgemeinen Urteil übertrieben erſchienen iſt, entſtand mit dem erſten Hörenſagen über ſeine Perſon; ſie findet auch in der Geſchichte meines Geſchlechts etwas wie eine ataviſtiſche Rechtfertigung,“ fuhr er in kühlem Plauderton fort. „Einer meiner Ahnen wurde unter Cromwell geächtet und floh in ein Grabgewölbe. Die eigne Tochter hielt ihn verborgen und nährte ihn, bis die Flucht gelang, kümmerlich mit erſtohlenen Brocken. Seitdem weht vielleicht ein wenig Grabesluft um die Nachgeborenen. Ich bin der Letzte meines Stammes, ich bin kinderlos. Nur noch ein Traum oder, wenn Sie wollen, eine fixe Idee bindet mich ans Leben.“ Feuerbach warf den Kopf zurück. Die Linie ſeines Mundes zuckte in die Länge wie ein Bogen, deſſen Sehne zerriſſen iſt. Plötzlich lag Größe in ſeiner Gebärde. „Eine innere Verantwortung hindert mich, Ihnen zu willfahren, Herr Graf,“ ſagte er. „Hier ſteht ſo Ungeheures auf dem Spiel, daß jeder Gnadenbeweis und jedes Liebesopfer daneben gar nicht mehr in Frage kommt. Hier iſt den in Abgründen kauernden Dämonen des Verbrechens ein Recht zu entreißen und dem bangen Auge der Mitwelt, wenn nicht als Trophäe, ſo doch als Beweis dafür entgegenzuhalten, daß es auch dort eine Vergeltung gibt, wo Untaten mit dem Purpurmantel bedeckt werden.“ Der Lord nickte wieder — doch ganz mechaniſch. Denn innerlich erſtarrte er. Es wurde ihm ſchwül vor der elementaren Gewalt, die aus der Bruſt dieſes Mannes zu ihm redete, und die ſelbſt das Pathos verzehrte, das ihm anfangs unbehaglich war und ihn ironiſch geſtimmt hatte. Er fühlte, daß gegen dieſen Willen zu kämpfen, der ſich wie Unwetter verkündigte, ein ausſichtsloſes Mühen ſein würde, und wenn es ein Beſchluß über ihm war, durch den er in das Labyrinth lichtſcheuer Verrichtungen mehr geglitten als geſchritten war, ſo fand er ſich jetzt ratlos und ohnmächtig darin, und es wurde ihm auf einmal wichtig, einen Anſchein von Ehre und Tugend aus dem Chaos ſeines Innern zu retten. Er beugte ſich vor und fragte ſanft: „Und iſt das Recht, das Sie jenen entreißen wollen, die Leiden deſſen wert, dem es zukommt?“ „Ja! Auch dann, wenn er daran verbluten müßte!“ „Und wenn er verblutet, ohne daß Sie Ihr Ziel erreichen?“ „Dann wird aus ſeinem Grab die Sühne wachſen.“ „Ich ermahne Sie zur Vorſicht, Exzellenz, um Ihretwillen,“ flüſterte Stanhope, indem ſein Blick langſam von den Fenſtern zur Tür wanderte. Feuerbach ſah überraſcht aus. Es war etwas Verräteriſches in dieſer Wendung, in irgendeinem Sinn verräteriſch. Aber die blauen Augen des Lords ſtrahlten durchſichtig wie Saphire, und eine frauenhafte Trauer lag in der Neigung des ſchmalen Hauptes. Der Präſident fühlte ſich hingezogen zu dem Manne, und unwillkürlich nahmen ſeine Worte einen milden, ja faſt liebreichen Klang an, als er ſagte: „Auch Sie? Auch Sie ſprechen von Vorſicht? Meine Sprache ſcheint Ihnen kühn; ſie iſt es. Ich bin es ſatt, auf einem Schiff zu dienen, das durch die Verblendung ſeiner Offiziere in den ſchmählichen Untergang rennt. Aber ich könnte mir denken, daß es einem Bürger des freien England unbegreiflich iſt, wenn ein Menſch wie ich ſeine Ruhe und die Sicherheit der Exiſtenz aufgeben muß, um das Gewiſſen des Staats für die primitivſten Forderungen der Geſellſchaft wachzurütteln. Es iſt überflüſſig, mich zur Vorſicht zu mahnen, Mylord. Ich würde alles das auch demjenigen ins Ohr ſchreien, der ſich mir als Denunziant bekennte. Ich fürchte nichts, weil ich nichts zu hoffen habe.“ Stanhope ließ einige Sekunden verſtreichen, bevor er verſonnen antwortete: „Mein Unkenruf wird Sie weniger verwundern, wenn ich Ihnen geſtehe, daß ich nicht uneingeweiht in die Verhältniſſe bin, auf die Sie hindeuten. Ich bin nicht das Werkzeug des Zufalls. Ich bin nicht ohne äußeren Antrieb zu dem Findling gekommen. Es iſt eine Frau, es iſt die unglücklichſte aller Frauen, als deren Sendboten ich mich betrachte.“ Der Präſident ſprang empor, als ob ein Blitz im Zimmer gezündet hätte. „Herr Graf!“ rief er außer ſich. „Sie wiſſen alſo_—“ „Ich weiß,“ verſetzte Stanhope ruhig. Nachdem er mit düſterer Miene beobachtet hatte, wie der Präſident krampfhaft die Stuhllehne gepackt hielt, ſo daß die Arme ſichtbar zitterten, und wie das große Geſicht ſich verfaltete und bewegte, fuhr er mit monotoner Stimme und einem matten, ſeltſam ſüßlichen Lächeln fort: „Sie werden mich fragen: Wozu die Umwege? Was wollen Sie mit dem Knaben? Ich antworte Ihnen: Ich will ihn in Sicherheit bringen, ich will ihn in ein andres Land bringen, ich will ihn verbergen, ich will ihn der Waffe entziehen, die fortwährend gegen ihn gezückt iſt. Kann man klarer ſein? Wollen Sie noch mehr? Exzellenz, ich habe Kenntnis von Dingen, die mein Blut gefrieren laſſen, ſelbſt wenn ich nachts erwache und in der Pauſe zwiſchen Schlaf und Schlaf daran denke, wie man an ein Fieberbild denkt. Erſparen Sie mir die Ausführlichkeit. Rückſichten, bindender als Schwüre, machen meine Zunge lahm. Auch Sie ſcheinen ja, es iſt mir rätſelhaft, auf welche Weiſe, Einblick gewonnen zu haben in dieſen grauenhaften Schlund von Schande, Mord und Jammer; ſo darf ich Ihnen wohl ſagen, daß ich, der den Königen und Herren der Erde ſehr genau und ſehr nah ins Geſicht geſchaut hat, niemals ein Antlitz ſah, dem Geburt und Geiſt einen gleich hohen Adel und der Schmerz eine ergreifendere Macht verliehen haben als dem jener Frau. Ich ward ihr Sklave mit dem Augenblick, wo das Bild ihrer tragiſchen Erſcheinung zum erſtenmal mein Gemüt belud. Es wurde meine Lebensidee, die ihr vom Schickſal zugefügten Wunden in ihrem Dienſt zu mildern. Ich will ſchweigen darüber, wie ich Gewißheit über den Zuſtand der gemarterten und am Rand des Todes hinſiechenden Seele gewann und wie ſich mir von denen, die ein Jahrzehnte hindurch fortgeſponnenes Gewebe von Leiden um das unbeſchützte Daſein der Unglücklichen flochten, langſam Stirn um Stirn entſchleierte. Das Haupt der Meduſe kann nicht gräßlicher ſein. Genug damit, daß ich meine wahre Natur unterdrücken und mich harmlos geben mußte; ich mußte lügen, ſchmeicheln, ſchleichen und Ränke durch Ränke ſchlagen, ich habe mich verkleidet und täuſchungsvolle Aufgaben übernommen. Dabei fraß mir der Zorn am Mark und ich fragte mich, wie es möglich ſei, weiterzuleben mit ſolcher Wiſſenſchaft in der Bruſt. Aber das iſt es ja eben: man lebt weiter. Man ißt, man trinkt, man ſchläft, man geht zu ſeinem Schneider, man promeniert, man läßt ſich die Haare ſcheren, und Tag reiht ſich an Tag, als ob nichts geſchehen wäre. Und genau ſo iſt es mit jenen, von welchen man glaubt, daß das böſe Gewiſſen ihre Sinne verwüſten und ihre Adern verdorren müſſe, ſie eſſen, trinken, ſchlafen, lachen, amüſieren ſich, und ihre Taten rinnen von ihnen ab wie Waſſer von einem Dach.“ „Sehr wahr! Das iſt es, ſo iſt es!“ rief Feuerbach leidenſchaftlich bewegt. Er eilte ein paarmal durch das Zimmer, dann blieb er vor Stanhope ſtehen und fragte ſtreng: „Und weiß die Frau von allem_—? Weiß ſie von ihm? Was iſt ihr bekannt? Was erwartet, was hofft ſie?“ „Aus perſönlicher Erfahrung kann ich darüber nichts melden,“ entgegnete der Lord mit derſelben traurigen und matten Stimme wie bisher. „Vor kurzem wurde bei der Gräfin Bodmer erzählt, ſie habe laut aufgeweint, als man den Namen Caſpar Hauſer vor ihr genannt. Mag ſein, ganz glaubwürdig iſt es nicht. Hingegen iſt mir ein andrer Vorfall bekannt, der auf eine faſt überſinnliche Beziehung ſchließen läßt. Eines Mittags vor zwei Jahren befand ſich die Fürſtin allein in der Schloßkapelle und verrichtete ihr Gebet. Nachdem ſie geendet und ſich erheben wollte, ſah ſie plötzlich über dem Altar das Bild eines ſchönen Jünglings, deſſen Geſicht einen unendlichen Kummer ausdrückte. Sie rief den Namen ihres Sohnes, Stephan hieß er, der Erſtgeborene, dann fiel ſie in Ohnmacht. Später erzählte ſie die Viſion einer vertrauten Dame, und dieſe, die Caſpar ſelbſt in Nürnberg geſehen hatte, war von der Ähnlichkeit tief berührt. Und das Wunderbare iſt, daß die Erſcheinung ſich am ſelben Tag und zur ſelben Stunde gezeigt hatte, wo der Mordanfall im Hauſe Daumers ſtattfand. So viel iſt klar, daß ſich auf beiden Seiten ein geheimnisvolles Zuſammenſtreben offenbart. Ferner iſt es klar, Exzellenz, daß jedes Zaudern Gefahr bedeutet und ein leichtfertiges Vergeuden günſtiger Gelegenheit. Ich rufe Ihnen das in ernſter Not entgegen. Es könnte kommen, daß unſre Verſäumniſſe vor einen Richterſtuhl gefordert werden, wo keine Reue das Geſchehene ausgleicht.“ Der Lord erhob ſich und trat zum Fenſter. Seine Augenlider waren gerötet, ſein Blick verdunkelt. Wen verriet er eigentlich, wen belog er? Seine Auftraggeber? Den Jüngling, den er an ſich gekettet? Den Präſidenten? Sich ſelbſt? Er wußte es nicht. Er war erſchüttert von ſeinen eignen Worten, denn ſie erſchienen ihm wahr. Wie ſonderbar, alles das erſchien ihm wahr, als ob er der Retter wirklich ſei. Er liebte ſich in dieſen Minuten und hätſchelte ſein Herz. Eine Finſternis des Vergeſſens kam über ihn, und ſofern er Müdigkeit und Ekel zu erkennen gab, galten ſie nur dem weſenloſen Schemen, das an ſeiner Stelle geſeſſen, an ſeiner Statt geredet und gehandelt hatte. Er löſchte zwanzig Jahre Vergangenheit von der Tafel ſeines Gedächtniſſes hinweg und ſtand da — reingewaſchen durch eine Halluzination von Güte und Mitleid. Feuerbach hatte ſich vor ſeinen Schreibtiſch niedergelaſſen. Den Kopf in die Hand geſtützt, ſchaute er ſinnend in die Luft. „Wir ſind die Diener unſrer Taten, Mylord,“ begann er nach langem Schweigen, und die ſonſt polternde oder ſchrille Stimme hatte einen ſanften und feierlichen Klang. „Vor dem ſchlimmen Ende zittern, hieße jede Schlacht aufgeben, bevor ſie geſchlagen. Offenheit gegen Offenheit, Herr Graf! Bedenken Sie, ich ſtehe hier auf einem verlorenen Poſten des Landes. Mein Leben war für eine andre Bahn beſtimmt, einſt glaubte ich es wenigſtens, als in der Verborgenheit einer Kreisſtadt beſchloſſen zu werden. Ich habe meinem König Dienſte geleiſtet, die gewürdigt worden ſind und die vielleicht dazu beigetragen haben, ſeinem Namen das ſtolze Attribut des Gerechten zu verleihen. Noch größere wollte ich leiſten, ſein Volk erhöhen, die Krone zu einem Symbol der Menſchlichkeit machen. Dies ſcheiterte. Ich ward zurückgeſtoßen. Freilich, man hat mich belohnt, aber nicht anders als wie Domeſtiken belohnt werden.“ Er hielt inne, rieb das Kinn mit dem Handrücken und knirſchte mit den Zähnen. Dann fuhr er fort: „Von früher Jugend an habe ich mich dem Geſetz geweiht. Ich habe den Buchſtaben verachtet, um den Sinn zu veredeln. Der Menſch war mir wichtiger als der Paragraph. Mein Streben war darauf gerichtet, die Regel zu finden, die Trieb von Verantwortung ſcheidet. Ich habe das Laſter ſtudiert wie ein Botaniker die Pflanze. Der Verbrecher war mir ein Gegenſtand der Obſorge; in ſeinem erkrankten Gemüt wog ich ab, was von ſeinen Sünden auf die Verirrungen des Staates und der Geſellſchaft entfiel. Ich bin bei den Meiſtern des Rechts und bei den großen Apoſteln der Humanität in die Lehre gegangen, ich wollte das Zeitalter der überlebten Barbarei entreißen und Pfade zur Zukunft bauen. Überflüſſig zu beteuern. Meine Schriften, meine Bücher, meine Erläſſe, meine ganze Vergangenheit, das heißt eine Kette ruheloſer Tage und arbeitsvoller Nächte, ſind Zeugen. Ich lebte nie für mich, ich lebte kaum für meine Familie; ich habe die Vergnügungen der Geſelligkeit, der Freundſchaft, der Liebe entbehrt; ich zog keinen Gewinn aus eroberter Gunſt; kein Erfolg ſchenkte mir Raſt oder nachweisbares Gut, ich war arm, ich blieb arm, geduldet von oben, begeifert von unten, mißbraucht von den Starken, überliſtet von den Schwachen. Meine Gegner waren mächtiger, ihre Anſichten waren bequemer, ihre Mittel gewiſſenlos; ſie waren viele, ich einer. Ich bin verfolgt worden wie ein räudiger Hund; Pasquillanten und Verleumder beſudelten meine gute Sache mit Schmutz. Es war eine Zeit, da konnte ich nicht durch die Straßen der Reſidenz gehen, ohne die gröblichſten Inſulten des Pöbels fürchten zu müſſen. Als ich, durch widerwärtige Intrigen und Anfeindungen gezwungen, mein Profeſſorenamt in Landshut aufgeben mußte, als man den ſtudentiſchen Janhagel gegen mich in Raſerei verſetzt hatte und ich nach meiner Heimat floh, Weib und Kind im Stich laſſend, da trachteten mir bezahlte Schergen nach dem Leben. Es war der große Krieg, alle Ordnung war zerrüttet; von der öſterreichiſchen Partei wurde ausgeſprengt, daß ich mit der franzöſiſchen Partei im Bündnis ſtehe, die dem Kaiſer Napoleon zur Errichtung eines okzidentaliſchen Kaiſerreichs den Weg bahnen und die ſouveränen Fürſten ſtürzen wolle, die Franzoſen verdächtigten umgekehrt meine Beziehungen zu Öſterreich. Es gab einen Mann, einen Amts- und Berufsgenoſſen, einen Gelehrten, berühmt und angeſehen — o, ein feiger Poltron, die Zeit wird ſeinen Namen an einen der Schandpfähle des Jahrhunderts heften!_—, der ſich nicht entblödete, mich öffentlich als Spion zu bezeichnen, und mein Proteſtantentum zum Vorwand nahm, den König gegen mich mißtrauiſch zu machen. Ich erlag nicht. Die Widrigkeiten hatten ein Ende, mein Fürſt nahm mich wieder in Gnaden auf, freilich nur in Gnaden. Ein neuer Herr beſtieg den Thron, ich blieb in Gnaden. Heute bin ich ein alter Mann, ſitze hier in der Stille, immer in Gnaden. Auch meine Feinde ſind beſänftigt oder ſie ſtellen ſich ſo, auch ſie ſind in Gnaden. Aber was es bedeutet, eine aufs Große und Allgemeine gerichtete Exiſtenz vernichtet zu ſehen, bevor noch die letzte Faſer des Geiſtes, der ſie trug und nährte, ihre Kraft verzehrt hat, das empfinden nicht jene, das weiß nur ich.“ Feuerbach ſtand auf und atmete tief. Hierauf griff er zur Schnupftabaksdoſe, nahm eine Priſe, dann wandte er Stanhope voll das Geſicht zu, und unter den barſchen Brauen blitzte ein rührend-ängſtlicher und dankbarer Blick hervor, während er ſagte: „Herr Graf, ich bin mir nicht ganz klar darüber, was mich bewegt, ſo zu Ihnen zu ſprechen. Es erſtaunt mich ſelbſt. Sie ſind der erſte, der zu hören bekommt, was ſo verzweifelt den Klagen eines Zurückgeſetzten ähnelt und doch nur die Erklärung für eine unabänderliche Notwendigkeit bieten ſoll. Es iſt mir in der Angelegenheit Caſpars nichts an dem Beſonderen des Falles gelegen, und nicht das Beſondere der Perſon iſt es, was meinen Beſchluß ſtärkt. An mich tritt der härteſte Zwang heran, der einen Mann von grauen Haaren treffen kann, und nötigt mich zu der Frage an das Schickſal: ob denn alles Geopferte und Gewirkte umſonſt geweſen, ob es mir und den Gleichſtrebenden keine andre Frucht gezeitigt hat als Ohnmacht hier und Gleichgültigkeit dort. Ich muß die Probe machen, ich muß es durchführen, komme, was da wolle; ich muß wiſſen, ob ich in Wind geredet und auf Sand geſchrieben habe; ich muß wiſſen, ob die Verſprechungen, mit denen man die Bitterkeit meines Exils verſüßt hat, nur wohlfeile Lockſpeiſe waren; ich muß und will wiſſen, ob man es ernſt meint mit mir und meiner Sache. Ich habe Beweiſe, Graf, es liegen furchtbare Indizien vor; ich kann dreinſchlagen, ich habe den Donnerkeil und kann das Wetter machen, alles iſt von mir fixiert und in einem beſonderen Dokument dargeſtellt; man weiß es, man wird es nicht zum Äußerſten treiben, denn zum Äußerſten bin ich entſchloſſen, um das koſtbare Gut zu wahren, zu dem ich vor Gott und den Menſchen als Hüter beſtellt bin. Immerhin, ich werde warten, große Dinge brauchen viel Geduld. Aber Caſpar darf mir nicht entfernt werden. Er iſt die lebendige Waffe und der lebendige Zeuge, deren ich bedarf, und zwar in ſtets erreichbarer Nähe. Verlöre ich ihn, ſo wäre das Fundament meines letzten Werks dahin, ich ſpür’ es wohl, es iſt das letzte, und jeder Anſpruch auf Gehör würde weſenlos. Und Sie, edler Mann, was verlören Sie? Wollen Sie eine Tat der Barmherzigkeit oder der Liebe verrichten und der Gerechtigkeit nicht gedenken? Das hieße Gold wegwerfen, um Häckerling zu erhalten.“ Stanhopes Geſicht war nach und nach ſo fahl geworden, als flöſſe kein Blut mehr unter der Haut. Er hatte ſich niedergeſetzt, ſich geduckt, wie wenn er ſich verkriechen wollte; ein paarmal waren Blicke aus ſeinen Augen gebrochen wie wilde Tiere, die ihren Käfig zertrümmert haben, dann rief er ſie wieder zurück, ſaugte ſie in ſich hinein, hielt den Atem an, neſtelte mit den Fingern am Kettchen des Lorgnons, und als der Präſident am Ende war, richtete er ſich mit einer leidenſchaftlichen Bewegung auf. Er hatte Mühe, ſich zu finden, er hatte Mühe, Worte zu finden, in heftigem Wechſel zuckte es um ſeinen Mund, wie wenn er lachen oder einen körperlichen Schmerz verbeißen wollte, und als er die Hand des Präſidenten ergriff, wurde ihm eiskalt; der Doppelgänger ſtand an ſeiner Seite, dieſer Schattenleib des Gelebten, Begangenen, Verſäumten, und ziſchelte ihm das Wort des Verrats ins Ohr, aber ſeine Augen waren feucht, als er ſagte: „Ich verſtehe. Alles, was ich zu antworten vermag, iſt: nehmen Sie mich als Freund, Exzellenz, betrachten Sie mich als Ihren Helfer. Ihr Vertrauen iſt mir wie ein Wink von oben. Doch welche Bürgſchaft haben Sie? Welche Gewähr, daß Sie Ihr Herz nicht einem Unwürdigen eröffnet haben, der nur beſſer zu heucheln verſteht als alle andern? Ich hätte Caſpar entführen können, ich könnte es noch_—“ „Wenn dies Antlitz lügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ſtehen, dann will ich es meinetwegen für ein Hirngeſpinſt erklären, Wahrheit auf Erden zu ſuchen,“ unterbrach ihn Feuerbach lebhaft. „Entführen, Caſpar entführen?“ fuhr er gutmütig lachend fort. „Sie ſcherzen; ich möchte das jedem Manne widerraten, der noch Wert darauf legt, im Sonnenſchein ſpazierenzugehen.“ Stanhope verſank eine Weile in regungsloſes Grübeln, dann fragte er haſtig: „Was ſoll aber geſchehen? Schnelles Handeln iſt Pflicht. Wohin mit Caſpar?“ „Er ſoll hierher nach Ansbach,“ verſetzte Feuerbach kategoriſch. „Hierher? Zu Ihnen?“ „Zu mir, nein. Das iſt leider unmöglich, aus vielen Gründen unmöglich. Ich muß viel allein ſein, ich habe viel zu arbeiten, ich bin viel auf Reiſen, meine Geſundheit iſt erſchüttert, mein Charakter eignet ſich ſchlecht zu der Rolle, die ich dabei übernehmen müßte, und außerdem verbietet es die Sache, ein allzu perſönliches Band zu knüpfen.“ Stanhope atmete auf. „Wohin alſo mit ihm?“ beharrte er. „Ich werde nach einer Familie Umfrage halten, wo er gute Pflege und geiſtige wie ſittliche Unterſtützung findet,“ ſagte der Präſident. „Noch heute will ich mit Frau von Imhoff ſprechen und ihren Rat einholen, ſie kennt die hieſigen Leute. Seien Sie deſſen verſichert, Mylord, daß ich über den Jüngling wachen werde wie über mein eignes Kind. Die Nürnberger Schwabenſtreiche ſind zu Ende. Daß ich Ihrem Verkehr mit Caſpar keinerlei Schranken ſetze, bedarf nicht der Erwähnung. Herr Graf, mein Haus iſt das Ihre. Glauben Sie mir, auch unter der Hülle des Beamten und Richters ſchlägt ein für Freundſchaft empfängliches Herz. Man wird in dieſem Land der Kleingeiſterei nicht verwöhnt durch den Umgang mit Männern.“ Nachdem ſie noch flüchtig über die an Herrn von Tucher und den Nürnberger Magiſtrat zu ſendenden Nachrichten beraten hatten, verabſchiedete ſich Stanhope. Der Präſident ſchritt lange Zeit, in tiefe Gedanken verſunken, auf und ab. Von Minute zu Minute wurde ſein Geſicht unruhiger und finſterer. Ein ſonderbares, nagendes, nicht abzuweiſendes Mißtrauen ſtieg in ſeiner Bruſt empor. Je mehr Friſt verſtrich, ſeit der Graf das Zimmer verlaſſen hatte, je mehr wuchs dieſe peinigende Empfindung. Er war ein zu gewiegter Menſchenkenner, um ſich gewiſſen Merkmalen zu entziehen, die ihn bedenklich ſtimmten. Plötzlich ſchlug er ſich mit der Hand vor die Stirn, begab ſich an den Schreibtiſch und ſchrieb in großer Haſt drei Briefe: einen nach Paris an einen hochgeſtellten engliſchen Freund, einen an den bayriſchen Geſchäftſträger nach London und einen dritten an den Staatsminiſter der Juſtiz, Doktor von Kleinſchrodt, in München. In jenen beiden zog er genaue Erkundigungen über die Perſon des Grafen Stanhope ein, in letzterem meldete er ſeine baldige Ankunft in der Reſidenz und erſuchte um Reiſeurlaub. Alle drei Briefe ließ er zur Stunde mit expreſſer Poſt aufgeben. 14. Nacht wird ſein Stanhope hatte dem Kutſcher befohlen, vorauszufahren, und ging zu Fuß durch die menſchenleeren Gaſſen, in denen ſein Schritt wie in einer Kirche widerhallte. Er war verſtört, zerſchlagen und außerſtande, eine vernünftige Überlegung anzuſtellen. Im Gaſthof angelangt, ſchloß er ſich ein und machte eine halbe Stunde lang Fechtübungen mit dem Florett. Er unterbrach ſich erſt, als er von draußen eine Stimme vernahm, die mit dem Kammerdiener unterhandelte, der Auftrag hatte, niemand vorzulaſſen. Stanhope lauſchte; er erkannte die Stimme, nickte gleichgültig, und mit dem Degen noch in der Hand öffnete er. Es war Hickel, der auch ſofort eintrat und den ihn ſchweigend betrachtenden Grafen etwas verlegen begrüßte. Nach ſeinem Begehr gefragt, räuſperte er ſich und ſtotterte ein paar unzuſammenhängende Floskeln, aus denen hervorging, daß er um den Beſuch Stanhopes bei Feuerbach wußte. Sein Benehmen verriet trotz einer unangenehm wirkenden Kriecherei eine nicht zu faſſende freche Vertraulichkeit. Stanhope verwandte keinen Blick von dem aufgeregten Mann in der kleidſamen Uniform. „Was hatte es eigentlich zu bedeuten, daß Sie mir zu einer Zuſammenkunft mit dem Herrn Präſidenten Ihre Hilfe anboten?“ fragte er froſtig. „Der Herr Graf haben ſich aber meine Hilfe doch gefallen laſſen,“ erwiderte Hickel. „Wer weiß, ob der Staatsrat ohne mich zu haben geweſen wäre, er verſteht es, ſich zu verſchanzen. Der Herr Graf geruhen das nicht anzuerkennen. Je nun,“ fügte er achſelzuckend hinzu, „große Herren haben ihre Launen.“ „Wie kommen Sie denn überhaupt dazu, ſich zum Zwiſchenträger anzubieten?“ „Zwiſchenträger? Der Herr Graf legen meiner unſchuldigen Zuvorkommenheit ein zu großes Gewicht bei.“ „Das Gewicht gaben Sie ſelbſt. Sie beliebten dunkel zu ſein. Sie gefielen ſich in einigen Wendungen, um deren Aufklärung ich höflichſt gebeten haben möchte.“ Stanhope verbarg nach wie vor unter ſteifer Würde die Unſicherheit, die er dieſem Menſchen gegenüber empfand. „Ich ſtehe dem Herrn Grafen ganz zu Dienſten,“ verſetzte Hickel. „Darf ich meinerſeits fragen, inwieweit ſich der Herr Graf zu eröffnen gedenken werden?“ „Zu eröffnen? Wem zu eröffnen? Ihnen? Ich habe nichts zu eröffnen.“ „Der Herr Graf haben in mir einen Mann von unbedingter Verſchwiegenheit vor ſich.“ „Was ſoll das heißen?“ fuhr Stanhope auf. „Wollen Sie mir Scharaden zu löſen geben?“ „Man hat ſich vor der Ankunft Eurer Lordſchaft nach einer vertrauenswürdigen Perſönlichkeit umgeſehen,“ ſagte Hickel plötzlich mit eiſiger Ruhe. „Meine langjährigen Beziehungen zu Exzellenz Feuerbach empfahlen mich mehr als einige beſcheidene Fähigkeiten.“ Stanhope entfärbte ſich und ſah zu Boden. „Sie haben alſo direkte Aufträge?“ murmelte er. Der Polizeileutnant verbeugte ſich. „Aufträge? Nein,“ entgegnete er zögernd. „Man verſicherte ſich meines guten Willens und ich wurde angewieſen, mich Eurer Lordſchaft zur Verfügung zu ſtellen.“ Es war Stanhope zumute, als ob er an dieſem Tag ſchon einmal geſtorben wäre, und zwar einen bußfertigen Tod, und als ob er nun wieder zum Leben aufgeſtanden und ein für allemal ſeiner Beſtimmung übergeben ſei. Er wollte um fünf Uhr bei Frau von Imhoff zum Tee erſcheinen und fragte den Polizeileutnant, ob er ein Stück Wegs mitfahre. Obwohl aus der Frage der Wunſch einer Ablehnung klang, nahm Hickel, dem es darum zu tun war, mit dem Lord öffentlich geſehen zu werden, das Anerbieten dankbar an. Die Straßen waren jetzt etwas belebter als am Mittag; die alten Beamten und Penſioniſten machten um dieſe Stunde ihren täglichen Spaziergang über die Promenade. Viele blieben ſtehen und grüßten gegen das Innere der hocherlauchten Kutſche. Nun paſſierte es, daß an einer Straßenecke der Mann auf dem Bock wieder einmal ſein welſches Geſchrei ertönen ließ; es ſtand nämlich mitten auf dem Fahrdamm ein träumeriſch wolkenwärts guckender Herr, der von dem Herannahen der gräflichen Karoſſe keine Notiz zu nehmen ſchien. Höchſt erſchrocken ſprang er beiſeite, als der Elſäſſer zu fluchen begann, doch nicht ſchnell genug, daß nicht ſeine Kleider durch den Kot beſchmutzt wurden, der von den Hufen der Pferde und den Rädern aufſpritzte. Hickel bog den Kopf zum Fenſter hinaus und griente, denn der Beſudelte ſtand mit einem verdutzten und unglücklichen Geſicht, hielt die Arme vom Leib und ſah ſich die Beſcherung an. „Wer iſt der ungeſchickte Mann?“ erkundigte ſich Stanhope, den die Schadenfreude des Polizeileutnants verdroß. „Das? Das iſt der Lehrer Quandt, Mylord.“ Eigner Zufall; eine halbe Stunde ſpäter wurde bei Frau von Imhoff derſelbe Name genannt. Der Präſident und ſeine Freundin waren nach langen Beratungen übereingekommen, Caſpar in die Obhut des Lehrers Quandt zu geben. „Er iſt ein aufgeklärter und gebildeter Kopf und genießt als Bürger wie als Menſch allgemeine Achtung,“ ſagte Frau von Imhoff. „Und iſt er denn geneigt, eine ſo verantwortungsreiche Aufgabe zu übernehmen?“ fragte der Lord zerſtreut. Doch darüber konnte Frau von Imhoff keine Auskunft geben. Als Stanhope ſich am andern Morgen beim Präſidenten melden ließ, traf er Herrn Quandt dortſelbſt. Beide waren offenbar ſchon einig, denn Feuerbach zeigte ſich ſehr aufgeräumt, und als ſich der Lord wegen des geſtrigen Zwiſchenfalls mit dem Wagen bei Quandt entſchuldigte, hatte der Präſident ſeinen Spaß an der Verlegenheit des Lehrers, die er durch harmloſe Witzchen über zerſtreute Denker und dergleichen noch ſteigerte. Sein Gelächter trieb einen wahren Angſtſchweiß auf Quandts Stirn, er verneigte ſich vor Stanhope wie ein Muſelmann vor dem Kalifen, und es hatte den Anſchein, als müſſe er ſich geſchmeichelt fühlen, daß der Kot der gräflichen Karoſſe ſeine geringe Perſon der Beachtung wert gefunden. „Na, Quandt, machen Sie ſich nicht ſo mauſig,“ mahnte der Präſident beluſtigt, „ich wette, Ihre Ehefrau hat Ihnen tüchtig den Marſch geblaſen und ſich gemüht, das Röcklein wieder ſauber zu kriegen.“ „Es war ja nur der Mantel, Euer Exzellenz,“ erwiderte Quandt lächelnd und von ſo viel Leutſeligkeit beglückt. Stanhope blieb gemeſſen. Sie befanden ſich diesmal im Staatszimmer des Präſidenten, und drei hohe Fenſter gewährten Ausſicht gegen den Garten. Der Raum war wohnlich geſchmückt, auch hier alles von der größten Nettigkeit. In einer Art von vertiefter Niſche hing ein gutes Ölbild Napoleon Bonapartes im Krönungsornat; Stanhope betrachtete es mit vorgeblichem Intereſſe; in Wirklichkeit prüfte er aufmerkſam das Weſen und Gehaben des Lehrers. Quandt war mittelgroß und hager; über der hohen Stirn waren tabaksgelbe Haare mit Hilfe von Pomade ganz lächerlich glatt zurückgekämmt. Die Augen blickten ſchüchtern, faſt betrübt, und blinzelten bisweilen, die Hakennaſe ſtach ein wenig prahleriſch in die Luft, der Mund, verſteckt unter demütigen und zerbiſſenen Schnurrbartſtoppeln, hatte einen ſäuerlichen Zug, der die Berufsgewohnheit vielen Nörgelns verriet. Der Lord war nicht unzufrieden mit dem Ergebnis ſeiner Beobachtung; er fragte den Präſidenten, ob die Verhandlungen zum gewünſchten Ziel geführt hätten, und als dieſer bejahte, wandte er ſich an Quandt, reichte ihm ſtumm dankend die Rechte und ſagte, er werde ihm am Nachmittag ſeinen Beſuch abſtatten. Sehr benommen von ſolcher Huld, verbeugte ſich der Lehrer abermals tief, machte ſein Kompliment gegen den Präſidenten und ging. Auch Stanhope entfernte ſich bald, da Feuerbach zu einer Gerichtsſitzung mußte. Im Hotel angekommen, verbrachte er zwei Stunden mit dem Schreiben eines Briefes, und als er fertig war, ſchickte er den Jäger damit ab. Um halb zwei ſtellte ſich, wie verabredet, der Polizeileutnant ein; ſie aßen zuſammen und gingen hernach zu Quandt. Das Häuschen des Lehrers, das am Kronacher Buck beim oberen Tor lag, war auf den Glanz hergerichtet; Frau Quandt, eine friſche, gefällige junge Frau, mit dem roſtfarbigen Seidenkleid wie zu einer Hochzeit angetan, ſtand knickſend am Eingang, in der guten Stube war der Tiſch mit Konditorkuchen beladen, und das feine Porzellanſervice blinkte einladend auf dem ſchneeweißen Tuch. Der Lord war gegen die Lehrerin von väterlicher Freundlichkeit; da ſie guter Hoffnung war, wünſchte er Glück, ein Händedruck bekräftigte ſeine zarte Teilnahme; er fragte, ob es das erſtemal ſei; das junge Weib wurde purpurrot, ſchüttelte den Kopf und ſagte, ſie habe ſchon einen dreijährigen Knaben. Als der Kaffee aufgetragen war, gab ihr Quandt einen Wink, ſie ging ſtill hinaus und die drei Männer blieben allein. Stanhope ſagte, noch könne er ſich nicht in den Gedanken einer Trennung von Caſpar finden, aber er ſei enchantiert von dieſer friedlichen und geordneten Häuslichkeit und es beruhige ihn ungemein, ſeinen Liebling hier untergebracht zu wiſſen. So dürfe man denn endlich hoffen, daß der Unglückliche, an dem ſchon ſo viele Pfuſcherhände herumprobiert und der dabei an Leib und Seele Schaden erlitten, einen rettenden Port erreicht habe. Quandt legte beteuernd die Hand auf die Bruſt. „Ja,“ miſchte ſich Hickel ein, indem er den letzten Biſſen Kuchen hinunterſchluckte und Schnurrbart und Lippen mit dem Handrücken abwiſchte, „das wohl; und es muß nun einmal Licht werden um dieſes Kind der Dunkelheit.“ Der Lord runzelte die Brauen, ein Zeichen des Unwillens, das Hickel nicht entging; er lächelte leer vor ſich hin, nahm aber eine drohende Miene an. „Leider iſt ja Anlaß zum Argwohn vorhanden,“ fuhr Stanhope fort, und ſeine Stimme war tonlos und kalt; „wohin man ſich auch wendet und wie man es auch betrachtet, überall Argwohn und Zweifel. Da iſt es kein Wunder, wenn die urſprüngliche Neigung von Bitterkeit durchtränkt iſt. Will ich mich gleich dem liebenden Gefühl hingeben, ſo melden ſich doch immer wieder Stimmen, deren Urteil oder Gewicht zu verdächtigen ſinnlos wäre, und der ſchlummernde Funke des Mißtrauens löſcht nicht aus.“ „Nun alſo,“ ließ ſich Hickel wieder vernehmen, „ſo hab’ ich doch recht! Man muß reinen Tiſch machen. Man muß den hinterliſtigen Burſchen endlich Mores lehren. Man muß ihm die Mucken aus dem Kopf jagen.“ Stanhope erblaßte; über Hickel hinwegblickend, ſagte er ſchneidend: „Herr Polizeileutnant, ich muß mich gegen einen ſolchen Ton verwahren. Was immer auch gegen den Jüngling zeugen mag, ſo iſt er doch nur als die mißleitete Kreatur eines unbekannten Frevlers zu betrachten.“ Hickel ſenkte den Kopf, und von neuem irrte das leere Lächeln über ſein Geſicht. „Verzeihen Eure Lordſchaft,“ entgegnete er haſtig und ziemlich erſchrocken, „aber das iſt die Meinung der ganzen Welt, zumindeſt des aufgeklärten und vernünftigen Publikums. Erſt geſtern war ich Zeuge, wie der Ritter von Lang und der Pfarrer Fuhrmann ſich über den Findling und die Dummheit der Nürnberger geäußert haben. Das hätten der Herr Graf nur hören ſollen. Wir wiſſen ja dahier auch, es iſt von Gerichts wegen bekannt geworden, was der Herr von Tucher über den Undank und die moraliſche Verderbtheit des Findlings an Eure Lordſchaft geſchrieben hat. Zeigen Sie doch Herrn Quandt den Brief des Barons und er wird ſich überzeugen, daß ich nur geſagt habe, was jeder anſtändige und vorurteilsloſe Mann darüber denkt.“ Und Hickel heftete auf den Grafen einen befremdet-forſchenden Blick. „Dem iſt nicht ganz ſo,“ verſetzte Stanhope abweiſend und nippte mechaniſch von der Kaffeetaſſe. „Herr von Tucher ſpricht in ſeinem Brief nur von einigen übeln Gewohnheiten Caſpars. Auch ich habe Augen; ein liebendes Herz iſt niemals blind; verſteht es nicht abzuwägen, ſo iſt ihm doch die Gabe der Ahnung eigen. Im übrigen wollen wir unſerm würdigen Gaſtgeber nicht vorgreifen. An ihm wird es ſein, zu richten. Was krumm gewachſen iſt, kann er grade biegen, und wenn er mir die häßlichen Flecken von meinem Kleinod nimmt, will ich’s ihm fürſtlich danken.“ Hickel verzog das Geſicht und ſchwieg. Quandt hatte mit geſpannter Aufmerkſamkeit das Geſpräch verfolgt. Wozu der Wortſtreit? dachte er; als ob es nicht die leichteſte Sache von der Welt wäre, zu erkennen, ob einer ein Spitzbube iſt. Man muß die Augen offen halten, das iſt alles; der Gute iſt gut, der Böſe iſt bös, wo liegt da die Schwierigkeit? Ein Übel auszurotten, wenn es ſich nicht zu tief eingefreſſen hat, iſt nur eine Frage der Tatkraft und Umſicht. Aber mir ſcheint, mir ſcheint, meditierte der Lehrer in ſeinem ſtillen Sinne weiter, da ſind noch ganz andre Dinge verborgen, die Herren reden nicht von der Leber weg. Und damit traf er wohl das Richtige, wie ſich bald erweiſen ſollte. Er entwickelte dem höflich zuhörenden Lord ſeine Anſchauungen über Moral, über den Verkehr mit Menſchen, den Umgang mit Schülern, die Notwendigkeit der Aufmunterung, den Wert der Zenſur; alles ein wenig umſtändlich und verklauſuliert, aber einfach, ſtaunenswert einfach; nur die ſorgenvolle Miene gab einen Anſchein von Schwierigkeit und Philoſophie. Der Lord nickte ein paarmal mit dem Kopf, während Hickel entſchiedene Zeichen von Ungeduld von ſich gab. Dann beim Fortgehen, während Stanhope ſich von der Frau verabſchiedete, zog Hickel den Lehrer beiſeite und flüſterte ihm zu: „Laſſen Sie ſich nicht ins Bockshorn jagen durch die Reden des Grafen, lieber Quandt. Der gute Graf betrügt ſich ſelber und möchte das Sonnenklare nicht wahr haben. Die Teufelsgeſchichte nimmt ihn abſonderlich her. Sie leiſten ihm einen gewaltigen Dienſt, wenn Sie den Schwindler entlarven.“ Das war das Merkwort und der Anſchlag. Es barg den Kern des Komplotts. Nun, Caſpar, ſollſt du in ein kleines Städtchen gehen und in ein kleines Haus, ſollſt in Verborgenheit leben, und die Wände der Welt ſollen ſich verengen, bis ſie wieder zum Kerker werden. Gewalt hat ſich der Liſt verbrüdert; der Richter wird richten, was er ſieht, und nicht wiſſen, was er fühlt. Niedrig ſollſt du werden, damit die Freunde ſich in Feinde verwandeln und deine Einſamkeit leichtere Beute des Verfolgers ſei. Das Blut ſoll gegen ſich ſelber zeugen, Licht ſoll verweslich werden, Frucht ſoll nicht mehr wachſen, die Stimme des Himmels ſoll verſtummen, und auf die Nacht — denn Nacht wird ſein — ſoll keine Frühe folgen. 15. Ein Kapitel in Briefen Freiherr von Tucher an Lord Stanhope: Seit geraumer Zeit bin ich ohne Nachricht von Eurer Herrlichkeit. Die unſichere Lage, in der ich mich Caſpar gegenüber befinde, veranlaßt mich, zudringlicher zu ſein, als es Ihnen, verehrter Herr, genehm ſein mag, und Sie um eine raſche Erledigung der ſchwebenden Angelegenheit zu bitten, um ſo mehr, da meine Teilnahme an dem Findling nicht mehr die gleiche wie ehedem iſt, und er ſelbſt wiederum durch den gezwungenen Aufenthalt in meinem Hauſe ſich mehr als ein Gefangener, denn als Gaſt und zugehöriges Glied erſcheinen muß. Ein endgültiger Zuſtand wäre dem Jüngling eheſtens zu wünſchen; ſeine aufgeregten Hoffnungen enthalten ſeinem Geiſt jede Ruhe vor, und Tag für Tag glüht er in einer ſo fieberhaften Erwartung, daß an ein vorgeſetztes Studium nicht mehr zu denken iſt und auch dem blödeſten Auge die Unruhe ſeines Gemüts nicht entgeht. Die Abende bringt er mit unnützen Schreibereien hin, und ſein Hauptvergnügen iſt, mit der Spitze eines Bleiſtifts auf einer großen Landkarte die Straßen zu verfolgen, die er bald mit Eurer Lordſchaft zu fahren hofft, jedenfalls eine praktiſche, wenn auch einſeitige Art, Geographie zu treiben. Er ſpricht, denkt und träumt von nichts anderm als von der bevorſtehenden Reiſe, und wenn Ihnen, Mylord, noch ein Geringes an dem Wohl des unglücklichen Jünglings gelegen iſt, ſo vermag ich keinen ſtärkeren Appell an Ihre Güte zu erheben als den, ein ſo drängendes und fruchtloſes Hinweben in möglichſter Bälde zu beenden. Sie ſind der einzige Menſch auf Erden, deſſen Wort und Name noch Gewicht in ſeinen Ohren hat, und ſein grenzenloſes Vertrauen gegen Sie muß auch das Herz desjenigen bewegen, der ſonſt durch die Launen, die Unverläßlichkeit und Zwitterhaftigkeit des rätſelvollen Weſens eines ehemals intenſiven Attachements für ihn beraubt wurde. Daumer an den Präſidenten Feuerbach: Eure Exzellenz haben mir die Ehre erwieſen, mich um Auskunft über Caſpar Hauſers nunmehrige Verfaſſung zu erſuchen. Ich muß geſtehen, daß mich dies einigermaßen in Verlegenheit geſetzt hat. Ich habe mich in den letzten anderthalb Jahren wohl gehütet, dem ſo ſorgfältig Abgeſchloſſenen nahezutreten, weil ja hierzulande jeder ängſtlich bedacht iſt, ſein kleinſtes Privileg vor fremdem Einſpruch zu wahren, und ſo wird ein Intereſſe, das die Menſchheit angeht und jeden freien Geiſt in Mitleidenſchaft ziehen muß, unverſehens zur Angelegenheit einer Partei. Eure Exzellenz möge dieſe Inſinuation entſchuldigen, ſie möge lediglich für meine unerloſchene Teilnahme an dem Los des Findlings zeugen, das ſeinen Freunden heute weniger als je Anlaß zu übertriebenen Hoffnungen gibt. Die vertrauensvolle Zuſchrift Eurer Exzellenz hat meine Bedenklichkeit beſiegt, ich habe Caſpar letzter Tage im Tucherſchen Haus aufgeſucht, er iſt auch, zum erſtenmal ſeit langer Zeit, bei mir geweſen, und ich gebe Ihnen hier einige Mitteilungen über ihn, die, wiewohl allgemeiner Natur, doch das Beſondere ſeiner gegenwärtigen Lage erhellen. Caſpar iſt ein hochaufgeſchoſſener junger Mann geworden, der jetzt gut und gern den Eindruck eines etwa Zweiundzwanzigjährigen macht. Träte er, der nun den geſitteten Menſchen von Lebensart zugerechnet werden muß, unerkannt in eine Geſellſchaft, ſo würde er doch als eine befremdliche Erſcheinung auffallen; ſein Gang hat etwas von dem Furchtſam-Zaudernden und Vorſichtigen einer Katze; ſeine Züge ſind weder männlich noch kindlich, weder jung noch alt: ſie ſind alt und jung zugleich, beſonders auf der Stirn verraten einige leicht gezogene Furchen ſeltſam ein vorzeitiges Altern. Auf ſeiner Lippe ſproßt heller Bartflaum, dies ſcheint ihn oft befangen zu machen, will auch nicht zu der ſanften Mädchenhaftigkeit des Geſichts und den noch immer bis zur Schulter hängenden braunen Haarlocken ſtimmen. Seine Freundlichkeit iſt herzgewinnend, ſein Ernſt bedächtig, über beiden ſchwebt ſtets ein Hauch von Melancholie. Sein Benehmen iſt altklug, hat aber eine vornehme, ganz ungezwungene Gravität. Tölpelhaft und ſchwerfällig ſind bloß noch manche ſeiner Gebärden, auch ſeine Sprache iſt hart und die Worte ſind ihm nicht immer bereit. Er liebt es, mit wichtiger Miene und in anmaßendem Ton Dinge zu ſagen, die bei jedem andern läppiſch klängen, aus ſeinem Mund jedoch ſich ein ſchmerzlich-mitleidiges Lächeln erzwingen; ſo iſt es höchſt poſſierlich, wenn er von ſeinen Zukunftſplänen ſpricht, von der Art, wie er ſich einrichten wolle, wenn er was Rechtes gelernt, und wie er es mit ſeiner Frau halten wolle. Eine Frau betrachtet er als notwendigen Hausrat, als etwas wie eine Obermagd, die man behält, ſolange ſie taugt, und fortſchickt, wenn ſie die Suppe verſalzt oder die Hemden nicht ordentlich flickt. Sein immer ſich gleichbleibendes ſtilles Gemüt ähnelt einem ſpiegelglatten See in der Ruhe einer Mondſcheinnacht. Er iſt unfähig zu beleidigen, er kann keinem Tier weh tun, er iſt barmherzig gegen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet. Er liebt den Menſchen; jedes Menſchengeſicht wird ihm zum Götterantlitz, und er ſucht den ganzen Himmel darin. Nichts Außerordentliches iſt mehr an ihm als das Außerordentliche ſeines Schickſals. Ein reifer Jüngling, der keine Kindheit beſeſſen, die erſte Jugend verloren, er weiß nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Altersgenoſſen, ohne Freunde, gleichſam das einzige Geſchöpf ſeiner Gattung, erinnert ihn jeder Augenblick an ſeine Einſamkeit mitten im Gewühl der ihn umdrängenden Welt, an ſeine Ohnmacht, an ſeine Abhängigkeit von der Gunſt und Ungunſt der Menſchen. Und ſo iſt eigentlich all ſein Tun nur Notwehr; Notwehr ſeine Gabe zu beobachten, Notwehr der umſichtige Scharfblick, womit er jede Beſonderheit und Schwäche des andern erfaßt, Notwehr die Klugheit, womit er ſeine Wünſche anbringt und den guten Willen ſeiner Gönner ſich dienſtbar zu machen weiß. Ja, Eure Exzellenz, er iſt ohne Freunde. Denn wir, die ihm wohlwollen, ihn vor der gröbſten Bedrängnis des Lebens bewahren, wir ſind doch nur Zuſchauer vor dem Ungeheuern ſeiner Exiſtenz. Und jener vielberedete Mann, Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caſpars Freund genannt werden? Was dürfen wir glauben? Wo findet der begründete Zweifel Stillung? Mir ahnt Schreckliches, wenn ich der Erwartungen des Jünglings in bezug auf den Grafen denke, der ein Heiliger, ein Ohnegleichen ſein müßte, wenn ſich alle Verſprechungen erfüllen würden, die mit ſeinem Auftreten für Caſpar verbunden waren. Und erfüllen ſie ſich nicht, erfüllt ſich nur ein Hundertstel von ihnen nicht, ſo prophezeie ich ein böſes Ende. Denn ein ſolches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum Leben der Welt, aus äußerſtem Frieden den ausſchweifendſten Lockungen erſchloſſen, will alles, fordert das ganze Maß des Glücks oder muß, nur um ein weniges betrogen, einer ungemeſſenen Devaſtation anheimfallen. Ich geſtehe, daß mein ſchwarzſichtiges Temperament mehr als das immer unverhohlener werdende Gerede der Hieſigen mir die Kühnheit zu ſolchen Erwägungen gibt; wie dürfte ſich auch mein Mißtrauen an einem ſo hochgeſtellten Mann vermeſſen. Aber man ſpricht ſeit heute davon, daß Caſpar nach Ansbach in Pflege kommen ſolle. Frau Behold, die alte Feindin Caſpars, trägt das Gerücht in der Stadt herum und verkündet überall mit Schadenfreude, daß aus der engliſchen Reiſe und aus den Luftſchlöſſern des Grafen nichts geworden ſei. Wie mir meine Schweſter erzählt, habe die Magiſtratsrätin indirekte Nachricht von der Lehrerin Quandt erhalten; beide Frauen ſind Jugendfreundinnen und in demſelben Haus mitſammen aufgewachſen. Gott verhüte, daß Caſpar von dieſem Geſchwätz etwas erfährt. Ich wäre Eurer Exzellenz ſehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft berichten ließen, damit ich dem ungereimten Geklatſche ſo entgegentreten kann, wie es für das Wohl unſers Schützlings wünſchbar iſt. Feuerbach an Herrn von Tucher: Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der eingetretenen Notwendigkeit Rechnung tragend, teile ich Ihnen hierdurch mit, daß Sie Ihres Amtes als Vormund Caſpar Hauſers von heute ab enthoben ſind. Eine gleichzeitige Urkunde des Kreis- und Stadtgerichtes wird Ihnen dies in amtlicher Form bekanntgeben, wie auch weiterhin die Verfügung, daß Caſpar dem Grafen Stanhope zu überlaſſen ſei; freilich einſtweilen nur der Form nach, denn bis die ſchwierigen und verwickelten Verhältniſſe eine Änderung erlauben werden, ſoll Caſpar in der Familie des Lehrers Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope hat während dieſer Zeit für ſeine zweckmäßige Erziehung und Verpflegung zu ſorgen, ich ſelbſt werde in Abweſenheit des Pflegevaters über das Wohl des Jünglings wachen. Am ſiebenten des Monats wird der Gendarmerieoberleutnant Hickel bei Ihnen eintreffen, ein energiſcher Beamter, der durch Regierungsdekret zum Spezialkurator für die Überſiedlung Caſpars nach Ansbach beſtellt iſt. Seine Lordſchaft, Graf Stanhope, hat ſich in letzter Stunde entſchloſſen, einer Handlung, die in den Augen des Publikums einen durchaus amtlichen Charakter tragen ſoll, fernzubleiben, und dieſer Vorſatz hat meine volle Billigung. Ich ſehe keine Schwierigkeit darin, Caſpar von der veränderten Lage der Dinge zu unterrichten, und halte die Beſorgniſſe wegen dieſes Punktes für übertrieben. Ich ſelbſt werde dieſer Tage eine längſt vorbereitete Reiſe nach der Hauptſtadt antreten, ich hoffe bei dieſer Gelegenheit eine günſtige Wendung in den Lebensumſtänden Caſpars endgültig herbeizuführen. Baron Tucher an den Präſidenten Feuerbach: Eurer Exzellenz die untertänige Nachricht, daß der plötzliche Tod meines Oheims mich zwingt, die Stadt zu verlaſſen und nach Augsburg zu reiſen. Ich habe die Obſorge für den noch in meinem Hauſe weilenden Caſpar Herrn Bürgermeiſter Binder und Herrn Profeſſor Daumer übergeben und es ihnen anheimgeſtellt, Caſpar hier zu belaſſen oder für die reſtliche Friſt ſeines Aufenthaltes in der Stadt zu ſich zu nehmen. Eine Mitteilung über das Bevorſtehende oder auch nur eine Andeutung iſt von meiner Seite aus gegen den Jüngling noch nicht erfolgt, und ich muß ohne Hehl bekennen, daß mich eine gewiſſe unbeſiegbare Furcht davon abhält. Caſpar glaubt noch ſteif und feſt daran, daß er mit ſeinem erlauchten Beſchützer nach England oder Italien reiſen ſoll, ihm erſcheint eine, wenn auch nur zeitweiſe Entfernung von dem Grafen als eine Sache der Unmöglichkeit, und derjenige, der ihm eine ſolche Kunde überbringt, müßte eine göttliche Überredungskunſt beſitzen, um ihn mit den neuen Umſtänden zu verſöhnen. Meinem unmaßgeblichen Erachten nach iſt es ein Fehler, den Knaben wiederum in enge Verhältniſſe zu bringen, die ihn niemals werden befriedigen, ſeinen Durſt nach Leben und Betätigung nicht werden ſtillen können. Der Hang ſeiner Ideen hat eine verhängnisvolle Anmaßung gewonnen, er iſt dem Kreis friedlicher Bürgerlichkeit entwachſen, ſein Lerneifer in den vergangenen Monaten war gleich Null, alle ſeine Gedanken, ſein ganzes Streben iſt auf den Lord gerichtet, und wenn nun Graf Stanhope von ihm gehen wird, dann bin ich ſicher, daß er einen unglücklichen Geſellen, ein unnützes und bedauernswertes, aus jedem ſozialen Zuſammenhang gelöſtes Glied der menſchlichen Geſellſchaft zurücklaſſen wird. Wenn es der eigentliche Weſenszug der Fürſtenkinder wäre, daß ſie dem privaten Leben untauglich und hilflos gegenüberſtehen, dann allerdings wäre Caſpar ein Auserwählter unter den Prinzen. Vielleicht aber ſchmiedet ihn das Schickſal noch, und es wird ein Mann aus ihm, der eine Krone zu erwerben vermag, wenn es auch eben keine Fürſtenkrone iſt. Für mich iſt die Epiſode Caſpar Hauſer nunmehr abgeſchloſſen, und was auch immer ich an Enttäuſchung und Bitterkeit daraus gewonnen habe, ſie hat mir einen Einblick in Menſchenwahn und Menſchengeſchäfte gegeben, den ich für mein ferneres Leben nicht miſſen möchte. So muß eben jeder auf ſeine Weiſe bezahlen. Daumer an den Präſidenten Feuerbach: Ich fühle mich verpflichtet, Eurer Exzellenz von den Ereigniſſen der letzten Tage eine wahrheitsgetreue Darſtellung zu machen, inſoweit eben Wahrheit auf zwei Augen ruht. Vielleicht klingt vieles von dem, was ich zu berichten habe, ſo ungewöhnlich, daß ich mich fragen muß, ob ein Mann, der den übeln Ruf eines nicht ganz nüchternen Kopfes genießt, die geeignete Perſon iſt, ſolche Vorfälle zu beſchreiben. Aber die ſtrenge Einſicht Eurer Exzellenz habe ich noch am wenigſten zu fürchten; wenn ich ſachlich bin, wird die Sache für ſich ſelber ſprechen, und meiner Hand bleibt nur die Aufgabe, die Reihenfolge der Begebniſſe feſtzuhalten, was freilich nicht immer ganz leicht ſein mag. Vor vier Tagen beſuchte mich Herr von Tucher und teilte mir mit, daß er wegen eines Todesfalles verreiſen müſſe. Schon vorher hatte er mich wie auch Herrn Binder gebeten, die Aufſicht über Caſpar zu führen ſo lange, als der Jüngling noch in Nürnberg bleiben müſſe. Da mir dies befremdlich erſchienen war, ließ Herr von Tucher durchblicken, die an höherer Stelle beliebte Umgehung ſeiner Perſon mache ihm ein ſolches Handeln zum Gebot. Er meinte das Schreiben Eurer Exzellenz, durch welches ich, halb wider Willen, bewogen wurde, Caſpar aufzuſuchen und mich neuerdings mit ihm zu beſchäftigen. Dies hatte Herr von Tucher ſehr übel aufgenommen. Ich gab mir keine Mühe, den ſtolzen Mann andern Sinnes zu machen, auch vermute ich zu ſeiner Ehre, daß dies Betragen noch eine ernſtere, menſchliche Regung habe, denn als ich ihn fragte, ob er Caſparn ſchon eine Andeutung über die zu erwartende Ankunft des Polizeileutnants Hickel gemacht, wich er aus und entgegnete haſtig, er wolle dies mir überlaſſen, der ich doch eines gewinnenderen Zuredens fähig ſei und bei Caſpar mehr Vertrauen genieße. Am Nachmittag beſchloß ich, zu Caſpar zu gehen. Als ich in ſein Zimmer trat, las er die chriſtliche Andacht des Tages. Er ſchaute heiter von dem Buch empor, blickte in mein Geſicht und, Seltſameres iſt nicht zu denken, im Nu überzogen ſich ſeine Wangen mit leichenfahler Bläſſe. Es war mir ſchwül um die Bruſt, ich ſetzte mich auf einen Stuhl und ſchwieg ängſtlich. Ganz und gar vergaß ich die übernommene Rolle, ich fühlte bloß mit ihm, ich ſah, daß er alles, was ich ihm zu ſagen hatte und weswegen ich gekommen war, von meinen Augen abgeleſen hatte, die unbewußte Furcht mußte wohl in ſeinem Innern geſchlummert haben, anders kann ich es auf natürlichem Weg nicht erklären, ich fühlte, wie plötzlich die Wurzeln ſeines Herzens aufgeriſſen wurden. Er erhob ſich, er ſchwankte, ich wollte ihn halten, er gewahrte mich kaum, er ſchien völlig betäubt. Ich folgte ihm bis zum Bett, er warf ſich darauf hin, krümmte den Körper und fing in einer ſolchen Weiſe zu weinen an, daß mir das Mark in den Knochen gefror. Noch war nichts geſchehen, es konnte noch alles gut werden; ſo bildete ich mir ein und ließ es an tröſtlichen Worten nicht fehlen. Das Weinen dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erhob er ſich, ſchlich in den Winkel, kauerte hin und bedeckte das Geſicht mit den Händen. Ich redete unabläſſig in ihn hinein, ich weiß nicht mehr, was ich alles vorbrachte. Gegen ſechs Uhr abends verließ ich ihn, und obgleich er bis dahin noch nicht einmal den Mund aufgetan, dachte ich mir, er werde mit der Geſchichte ſchon fertig werden. Ich empfahl dem Diener, ſich bisweilen nach Caſpar umzuſehen, und im ſtillen nahm ich mir vor, nach ein paar Stunden wiederzukommen, aber es war unausführbar, meine Berufsarbeit nahm mich bis in die Nacht in Anſpruch. Als ich von Caſpar fortgegangen war, ſaß er auf einem Schemel zwiſchen Ofen und Wandſchrank, am andern Morgen um halb neun Uhr trat ich wieder in ſein Zimmer, und wer beſchreibt das ſchmerzliche Erſtaunen, das ich empfand, als ich ihn an genau derſelben Stelle, in unveränderter Haltung, noch immer die Hände vors Geſicht geſchlagen, ſo ſah, wie ich ihn vierzehn Stunden früher verlaſſen. Das Bett war noch in demſelben Zuſtand, etwas zerdrückt von ſeinem erſten Draufhinſinken, kein Gegenſtand war berührt, auf dem Tiſch ſtand der mit einer dicken Haut überzogene Milchbrei, ſein Nachteſſen, daneben die Schale mit erkaltetem Kaffee vom Morgen, und es herrſchte eine ſtickige, ungelüftete Atmosphäre. Der Diener kam, begegnete meiner ſtummen Frage mit einem Achſelzucken, ich wandte mich an Caſpar ſelbſt, ich rüttle ihn an der Schulter, ich packe ſeine eiskalte Hand — nichts, keine Antwort, kein Laut, er ſchwelt vor ſich hin, kaum daß ſich ſeine Augen rühren. So verging wieder eine Viertelſtunde, da wurde mir’s unheimlich, ich beſchloß nach dem Arzt zu ſchicken, vielleicht habe ich auch dergleichen vor mich hingemurmelt, jedenfalls hatte Caſpar verſtanden, was ich wollte, denn jetzt regte er ſich, hob den Kopf wie aus einer Grube heraus und ſchaute mich an. Ach, dieſen Blick! Und wenn ich Abrahams Alter erreichte, nie könnte ich dieſen Blick vergeſſen. Das war ein andrer Menſch. Leider liegt es nicht in meiner Natur, eine Situation momentan in ihrer ganzen Bedeutung zu erfaſſen; anſtatt zu ſchweigen, begann ich wieder mit Scheintröſtungen, aber ich ſpürte gleich, daß es beſſer ſei, das letzte Abendrot der Hoffnung nicht noch einmal über die verdunkelte Seele heraufzubeſchwören; was mich entſchuldigt, iſt, daß ich ſelber ja kaum mit Klarheit wußte, was im Werk war, und daß mich die zermalmende Wirkung von etwas vollſtändig Unausgeſprochenem, deren Zeuge ich war, mehr lähmte und erſchütterte als das Wiſſen darum. Doch will ich Eure Exzellenz nicht durch Betrachtungen verwirren und hübſch in der Ordnung bleiben. Ich hatte ſchon zuviel Zeit verloren, ich mußte fort. Nach vieler Mühe war es mir gelungen, Caſpar zu überreden, daß er ſich ein bißchen niederlege, auch hatte er mir verſprochen, mittags bei uns zu eſſen; das war mehr als ich erwarten durfte, ich ging alſo beruhigter meinen Geſchäften nach, war um halb eins wie gewöhnlich zu Hauſe, wir warteten einige Zeit, aber wer nicht kommt, iſt Caſpar. Ich vermutete, er ſei eingeſchlafen, denn daß er die Nacht über nicht ein Auge geſchloſſen, hatte ich ihm angeſehen, und ohne böſe Gedanken ging ich um zwei Uhr wieder ins Gymnaſium mit dem Vorſatz, beim Nachhauſeweg in der Hirſchelgaſſe nachzuſchauen. Das tat ich auch, es war halb fünf und dämmerte ſchon ſtark, als ich am Tucherhaus war, aber wie wurde mir, als mir der Pförtner mitteilte, Caſpar habe ſchon um zwölf Uhr das Haus verlaſſen und angegeben, er gehe zu mir. Ich war wie vor den Kopf geſchlagen; neben aller Verantwortlichkeit durfte ich auch die begründetſte Sorge für den armen Menſchen hegen; ich lief in meine Wohnung, da hatte ſich kein Caſpar blicken laſſen, ich ſchickte die Schweſter zum Bürgermeiſter, die alte Mutter ſogar machte ſich auf die Beine, um bei einigen Bekannten nachzufragen; währenddeſſen beriet ich mich mit dem Kandidaten Regulein, und als meine Schweſter Anna binnen kurzem zurückkam und wir gleich an ihrem Geſicht merkten, daß ſie nichts erfahren hatte, ſchien es geboten, ohne Verzug die Polizei zu unterrichten, die ja im Fall eines Unglücks mitſchuldig war, da man die Bewachung in letzter Zeit auffallend vernachläſſigt hatte. Ich gab haſtig noch ein paar Anweiſungen und war eben im Fortgehen begriffen, als ſich die Tür auftat und Caſpar auf die Schwelle trat. Aber war er es wirklich? Wir glaubten ſein Geſpenſt zu ſehen. Ich mache mich keiner Übertreibung ſchuldig, wenn ich verſichere, daß wir alle den Tränen nahe waren. Ohne ſich umzuſehen und ohne zu grüßen, ſchritt er mit ſonderbarer Langſamkeit durch die Stube bis zum Tiſch, nahm auf dem Holzſeſſel Platz, ſtützte das Kinn in die Hand und ſchaute mit unverwandtem Blick regungslos ins Licht der Lampe. Wir waren alle drei wie verzaubert, und meine Schweſter ſowie der Kandidat geſtanden mir ſpäter, daß ihnen ganz fröſtlich zumute geweſen ſei. Mittlerweile war auch meine Mutter zurückgekehrt, ſie war die erſte, die an den Tiſch trat und Caſpar fragte, wo er geſteckt habe. Er gab keine Antwort. Meine Schweſter Anna glaubte ihn beſſer zum Reden bringen zu können, ſie nahm ihm den Hut vom Kopf, ſtrich mit der Hand über ſeine Haare und ſuchte ihn mit leiſer Stimme ſeinem Brüten zu entreißen. Ganz vergeblich; er ſchaute immer nur ins Licht, immer ins Licht, die geöffnete Hand an der Wange, das Kinn über dem Daumen. Ich ſah mir ihn jetzt genauer an, indem ich mich unauffällig näherte, jedoch ſein Antlitz verriet nichts als einen unbeweglichen, gar nicht einmal ſchmerzlichen, ſondern ſtarren, faſt ſtupiden Ernſt. Meine Mutter fuhr fort, in ihn zu dringen, er ſolle doch ſagen, wo er herkomme und wo er geweſen ſei. Da ſah er uns alle der Reihe nach an, ſchüttelte den Kopf und faltete bittend die Hände. Wir beredeten uns nun, daß Caſpar in unſerm Hauſe bleiben und da übernachten ſolle; wir hatten, um das Aufſehen wegen Caſpars Verſchwinden gleich wieder zu erſticken, die Magd zum Bürgermeiſter geſchickt, auch zu den andern Leuten, die wir ſchon inkommodiert hatten, und meine Mutter ging in die Küche, um fürs Abendeſſen zu ſorgen, da erſchien der Tucherſche Diener, erkundigte ſich, ob Caſpar bei uns ſei, und als wir dies bejahten, ſagte er, er ſolle gleich nach Hauſe, der Polizeileutnant Hickel aus Ansbach wäre da und Caſpar müſſe noch am Abend mit ihm abfahren. Eine ſolche Botſchaft kam mir nicht weiter unerwartet, nur daß die Sache gar ſo eilig ſein ſolle, verſetzte mich einigermaßen in Wallung, und ich war unüberlegt genug, dem Menſchen eine ſcharfe Antwort zu geben; wenn ich mich recht erinnere, ſo ſagte ich, der Herr Polizeileutnant möge ſich doch gedulden, es ſei ja nicht ein Sack Kartoffeln zu expedieren, den man holterdiepolter auflade. Meine Erregung muß jedem verſtändlich erſcheinen, der das Vorhergegangene in gerechte Erwägung zieht, es kamen mir aber doch Bedenken an, ich ärgerte mich nachher über meine Unbeſonnenheit und veranlaßte den Kandidaten Regulein, daß er ins Tucherſche Haus gehe, um mit dem Herrn aus Ansbach zu ſprechen und ihn tunlichſt aufzuklären. Das wäre ſoweit ganz gut geweſen, nur paſſierte dabei die Fatalität, daß der Kandidat, der etwas redſeliger Natur iſt und der froh war, den Fremden mit irgend etwas unterhalten zu können, dem Herrn Polizeileutnant die Geſchichte von dem Verſchwinden Caſpars brühwarm hinterbrachte, woraus ſich denn ſpäter der peinlichſte Auftritt ergab. Es war ſchon ſieben, als das Eſſen auf den Tiſch geſetzt wurde, der Kandidat war noch nicht zurück, wir nahmen alle Platz und waren nun wieder einmal, wie in früheren Zeiten, mit Caſpar ganz unter uns. Aber wie anders waren die Zeiten, wie anders Caſpar! Ich mußte mir den Menſchen beſtändig anſehen, wie er mit niedergeſchlagenen Augen daſaß und luſtlos in der Grütze löffelte. Seine Blicke waren jetzt unruhig und bisweilen überlief ein Schauder ſeine Haut. Lange konnte ich mich ſolchen Betrachtungen nicht überlaſſen, denn gegen viertel acht wurde mit ſonderbarer Heftigkeit an der Hausglocke geriſſen, Anna lief hinunter, um zu öffnen, und alsbald erſchien ein Offizier in Gendarmenuniform, und bevor er noch ſeinen Namen nannte, wußte ich natürlich, wer es war. Caſpar war bei dem grellen Glockenlärm ſtark zuſammengefahren. Hinzufügen muß ich noch, daß die vorher erwähnte Auseinanderſetzung mit dem Diener ſowie das Geſpräch mit dem Kandidaten im Flur vor der Treppe ſtattgefunden und Caſpar nichts davon gehört hatte; er erhob ſich jetzt und ſchaute mit einem langen Blick gegen die Türe, und als er des Herrn Polizeileutnants anſichtig geworden, wurden ſeine Wangen wieder genau ſo tödlich fahl wie tags zuvor, da ich in ſein Zimmer gekommen war. Ich kann mir, wenn ich die Tatſachen im Zuſammenhang gegeneinander halte, keine andre Erklärung denken, als daß Caſpar alles das, was ſich nun ſeit vierundzwanzig Stunden abſpielte, von innen aus erriet, ſozuſagen durch ein inneres Geſicht, und daß er der äußeren Beſtätigung durch die Ereigniſſe gar nicht mehr bedurfte, denn es gab ſich eine Verſunkenheit an ihm kund, die ich nur mit der ſchrecklichen Ruhe eines Schlafwandlers vergleichen kann. Ich ſelbſt war nachgerade ſo benommen, daß ich, wie ich fürchte, Herrn Hickel mit einer unfreundlich wirkenden Kälte empfing. Glücklicherweiſe ſchien dieſer keine Notiz davon zu nehmen, und nachdem er ſich gegen meine Damen verbeugt, wandte er ſich an Caſpar und ſagte mit einem Ton der Überraſchung, der freilich nicht ganz aufrichtig klang: „Das iſt alſo der Hauſer! Iſt ja ein ganz ausgewachſener Menſch, mit dem wird ſich ja reden laſſen!“ Caſpar ſchaute den Mann groß an, und zwar mit einem finſter prüfenden Blick, in dem durchaus nichts Wehleidiges oder Jämmerliches war. Es entſtand nun ein allſeitiges Schweigen; ich überlegte mir, wie ich es anſtellen könnte, damit Caſpar die Nacht über noch in meinem Hauſe bleiben könne, denn in ſeinem Zuſtand ihn einem Fremden zu überlaſſen erſchien mir unratſam. Ich erklärte mich Herrn Hickel mit offenen Worten, er hörte mich ruhig an, ſagte aber dann, er habe gemeſſenen Auftrag, Caſpar gleich mitzunehmen, es ſei keine Zeit zu verlieren, die Sachen müßten noch gepackt werden und der Wagen ſtehe ſchon bereit. Meine Schweſter Anna, unbändig wie ſie iſt, rief mir zu, ich ſolle mich darum nicht kümmern, zugleich trat ſie, wie um ihn zu ſchützen, an Caſpars Seite. Herr Hickel lächelte und ſagte, wenn uns ſo viel an einem Aufſchub gelegen ſei und wir noch etwas mit Caſpar zu beſprechen hätten — ſein Ton war dabei ſo beziehentlich, daß ich ſtutzig wurde_—, wolle er nicht den Spielverderber machen, ich müſſe mich aber verpflichten, Caſpar punkt neun Uhr zum Tucherſchen Haus zu bringen. Jetzt verlor auch ich die Faſſung und fragte, ob denn die Sache um Gottes willen ſo dringend ſei, daß er in die Nacht hineinreiſen wolle. Herr Hickel zuckte die Achſeln, ſchaute auf die Uhr und antwortete kalt, ich möge mich entſchließen. Jetzt begann Caſpar zu ſprechen, und mit einer Stimme, deren Klarheit und Feſtigkeit mir bei ihm etwas ganz Neues war, ſagte er, er wolle ſogleich mitgehen. Wir ſahen aber alle, daß er vor Erſchöpfung zitterte und daß er ſich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Meine Mutter und Schweſter beſchworen ihn zu bleiben, Herr Hickel, der bei Caſpars Worten abermals gelächelt hatte — o, ich kenne dieſes Lächeln! wie oft hat es mir die Schamröte ins Geſicht getrieben!_—, kehrte ſich gegen mich und ſagte: „Alſo um neun Uhr, Herr Profeſſor,“ und zu Caſpar gewandt, erhob er den Finger und ſagte ſchalkhaft drohend: „Daß Sie mir ja pünktlich ſind, Hauſer! Auch muß ich wiſſen, wo Sie ſich den Nachmittag über herumgetrieben haben. Laſſen Sie ſich beileibe nicht einfallen, mich anzulügen, ſonſt gibt’s was. Da kenn’ ich keinen Scherz.“ Grüßend ging Hickel und ließ uns in einem Zuſtand von Empörung, Zweifel und Unruhe zurück. Das alles nahm ſich ja ſchlimmer aus, als es die ärgſte Befürchtung malen konnte. Beſonders die letzten Worte des Leutnants hatten mich wie auch meine Angehörigen mit Schrecken erfüllt. Was ſollten wir von der Zukunft Caſpars denken, was von ſeinem Glück erhoffen, wenn Drohungen von ſo brutaler Art unverhüllt auftreten durften? Das Herz war mir ſchwer geworden. Doch war zu grübeln nicht die Zeit. Ich beſchloß, zum Bürgermeiſter zu gehen und mich mit ihm zu beraten. Anna hatte ſchnell auf dem Sofa ein Lager bereitet, ſie führte Caſpar hin, er ſank nieder, und kaum ruhte ſein Kopf auf dem Kiſſen, ſo ſchlief er auch ſchon. Indes ich mich zum Fortgehen anſchickte, läutete es, und Herr Binder kam ſelbſt. Ich verſtändigte ihn in Eile von dem Vorgefallenen, er war höchlichſt befremdet von dem Auftreten des Ansbacher Herrn, und da er es für tunlich hielt, mit dieſem ſelbſt zu ſprechen, forderte er mich auf, ihn zu begleiten. Wir überließen Caſpar der Obhut der Frauen und gingen in die Hirſchelgaſſe. Es hatten ſich trotz der Abendſtunde eine Menge Menſchen hauptſächlich aus der niederen Volksklaſſe vor dem Tucherſchen Haus eingefunden, die, ich weiß nicht durch welche Umſtände, von der bevorſtehenden Abreiſe Caſpars unterrichtet waren und teils laut, teils murrend ihre Mißbilligung ausdrückten. Als wir die Tür von Caſpars Zimmer geöffnet hatten, bot ſich uns ein ſonderbarer Anblick. Die Kommodeſchubladen und Schränke waren vollſtändig ausgeräumt; Wäſche, Kleider, Bücher, Papier, Spielwaren, alles lag wüſt auf dem Boden und auf Stühlen, und Herr Hickel kommandierte den Diener, der damit begonnen hatte, die Sachen ordnungslos in einem Reiſekoffer und einer kleinen Kiſte unterzubringen. Als er uns gewahrte und den Unwillen aus unſern Blicken las, ſagte er lächelnd, als ob es ſich um eine Schmeichelei handle, jetzt fange ein neues Regiment für den Findling an, jetzt werde alles an den Tag kommen. Mit finſterem Geſicht entgegnete Herr Binder, was er damit meine, was denn eigentlich an den Tag kommen ſolle; zugleich gab er ſich unter Nennung ſeines Namens zu erkennen. Herr Hickel geriet in Verlegenheit; mit einigen nichtsſagenden Wendungen entſchlug er ſich der Antwort; er behauptete, Caſpar zu lieben; es ſei ihm nur darum zu tun, den jungen Menſchen vor falſchen Illuſionen zu bewahren. Da ſtieg mir das Blut zu Kopfe, und ich antwortete, wer denn anders ſolche Illuſionen erzeugt und genährt hätte als gewiſſe Herrſchaften, die ſich nun aus dem Staub zu machen ſchienen; erſt ſchmücke man den Argloſen mit einem feſtlichen Kleid, und wenn er dann darin herumzuſpazieren wage, ſehe man einen gefährlichen Überhebling in ihm. Das begreife wer wolle, ein ſolches Spiel ſei verdammungswürdig. Das war heftig, war unvorſichtig, es ſei geſtanden, doch muß ich hinzufügen, daß mich die ironiſche Ruhe des Polizeileutnants aufreizte. Um ſo verblüffter war ich, als er mir nun in jedem Punkt beipflichtete, ſich aber auf keine weitere Erörterung einließ und ſich wieder zu dem Diener kehrte, indem er Eile vorſchützte, da er nicht in ſo ſpäter Nacht abreiſen wolle. Herr Binder bemerkte ihm darauf, daß die Abfahrt ſehr gut bis morgen verſchoben werden könne, Caſpar bedürfe der Ruhe, die Verantwortung ſei er bereit auf ſich zu nehmen. Herr Hickel verſetzte, das ſei unmöglich, er habe ſtrikten Befehl und müſſe auf ſeiner Anordnung beſtehen. Wir waren ratlos. Der Polizeileutnant hatte ſich auf den Tiſchrand geſetzt und blickte uns Schweigende ſpöttiſch-erwartungsvoll an. Da vernahmen wir Schritte, und als wir uns umwandten, die Türe ſtand offen, ſahen wir Caſpar und hinter ihm meine Schweſter. Anna flüſterte mir zu, Caſpar ſei kurz nach unſerm Fortgehen erwacht, er habe erklärt, mit dem fremden Mann gehen zu wollen, und ſich durch keinen Einwand zurückhalten laſſen; ſo habe ſie ihn denn begleitet. Caſpar ſchaute ſich forſchend um, dann ſagte er, zu Herrn Hickel gewandt: „Nehmen Sie mich nur mit, Herr Offizier. Ich weiß ſchon, wohin Sie mich bringen wollen, ich fürcht’ mich nicht.“ Es war in dieſen Worten, ſo wenig Beſonderes ſie enthielten, ein wunderbarer Antrieb und das, was man Haltung nennt, und ich kann nicht verhehlen, daß ich durch ſie aufs tiefſte bewegt wurde. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich Caſpar jetzt eine Stunde lang für mich allein hätte haben können. Der Herr Polizeileutnant verbarg ſeine Freude über die unvermutete Wandlung nicht und antwortete lachend: „Na, fürchten, Hauſer! Warum nicht gar! Es geht ja nicht nach Sibirien!“ Er näherte ſich nun dem Jüngling, legte beide Hände auf deſſen Schulter und fragte: „Jetzt ſeien Sie einmal ganz offen, Hauſer, und ſagen Sie mir ohne Umſchweife, wo Sie den Nachmittag über geſteckt haben?“ Caſpar ſchwieg und beſann ſich, dann entgegnete er dumpf: „Das kann ich Ihnen nicht ſagen.“ — „Ja wie denn, was denn, was ſoll das heißen, heraus mit der Sprache!“ rief der Leutnant, und Caſpar darauf: „Ich hab’ was geſucht.“ — „Ja, was denn geſucht?“ — „Einen Weg.“ — „Zum Donnerwetter,“ begehrte Herr Hickel auf, „ſpielen Sie mir kein Theater vor und machen Sie keine Flauſen, ſonſt werde ich Ihnen zeigen, was die Glocke geſchlagen hat. Wir in Ansbach werden Ihnen nicht auf das aberwitzige Weſen hereinfallen, das laſſen Sie ſich nur geſagt ſein.“ Herr Binder und ich waren durch ſolche herausfordernde Redeweiſe wie begreiflich ſehr empört. Aber Herr Hickel zeigte keine Luſt, ſich zu rechtfertigen, er befahl Caſpar in knappen Worten, ſich fertigzumachen, in einer halben Stunde werde er fahren. Währenddem kamen der Baron Scheuerl, der Aſſeſſor Enderlin und andre Bekannte Caſpars, die von der Abreiſe gehört hatten und ihm Lebewohl ſagen wollten; ich hatte keine Zeit mehr, nur drei Worte mit ihm zu wechſeln, binnen kurzem waren wir alle im Hausflur verſammelt. Die Menge auf der Straße hatte ſich vermehrt, in der Dunkelheit ſah es aus, als ob ganz Nürnberg auf den Beinen ſei. Die Zunächſtſtehenden ſtießen drohende Reden aus, Herr Hickel forderte vom Bürgermeiſter, daß er die Wache aufziehen laſſen ſolle, doch eine ſolche Maßregel erklärte dieſer für überflüſſig, und in der Tat genügte ſein bloßes Erſcheinen, um die Ruhe wiederherzuſtellen. Als Caſpar zum Wagenſchlag trat, rannte alles zuhauf, jeder wollte ihn noch einmal ſehen. Die Fenſter der gegenüberliegenden Häuſer waren erleuchtet und Frauen winkten mit Tüchern herab. Die Kiſten und Vachen waren aufgebunden, der Kutſcher ſchnalzte, die Pferde zogen an — und fort war er. Überzeugt, daß Eure Exzellenz zu den wenigen aufrichtigen Gönnern des Jünglings gehören, fühlte ich mich im Innerſten gedrängt, Ihnen über dieſe Vorfälle genauen Bericht zu erſtatten. Nur einige Stunden ſind ſeit den erzählten Begebenheiten verfloſſen, es iſt weit über Mitternacht, die Feder will meiner Hand entſinken, aber ich durfte keine Friſt verſtreichen laſſen, um nicht ſelber zum Fälſcher meiner Erinnerung zu werden. Wo die Verleumdung ſo unermüdlich am Werk iſt, ſoll auch der Gutgeſinnte eine Nachtwache nicht ſcheuen, wenn er zu fürchten hat, daß ihn der bloße Schlaf nur um eine Linie von der Deutlichkeit ſeines Erlebens betrügen könnte. Vielleicht finden Eure Exzellenz, daß ich die Dinge falſch deute oder in ihrer Wichtigkeit überſchätze. Mag ſein, ich habe jedoch meine Pflicht erfüllt und bin mir keiner Verſäumnis bewußt. Ich trage ſchwere Sorge um Caſpar, ohne daß ich ganz zu ſagen vermöchte weshalb, aber ich bin nun einmal als Geiſter- und Geſpenſterſeher auf die Welt gekommen, und mein Auge ſieht den Schatten früher als das Licht. Nicht vergeſſen will ich zum Schluß die Erwähnung, daß mir Herr von Tucher bei ſeinem letzten Beſuch die hundert Goldgulden übergab, die Caſpar vom Herrn Grafen Stanhope geſchenkt erhalten. Ich werde die Summe mit nächſter fahrender Poſt an Eure Exzellenz überſchicken. Frau Behold an Frau Quandt: Werte Frau, [excusez], daß ich mich ſchriftlich an Sie wende, was Sie extraordinaire finden werden, da ich Ihnen doch im ganzen fremd bin, obwohl Sie in meiner Eltern Hauſe Ihre Jugend verlebten. Mit großem Etonnement vernehme ich, daß der Caſpar Hauſer nunmehr in Ihrem Heim weilen wird, und ich fühle mich gedrungen, Ihnen zum Belehr etwelches über den Sonderling zu eröffnen. Sie wiſſen doch, daß der Hauſer das Wunderkind von Nürnberg war. Lob und Verhätſchelei hätten bei einem Haar den Knaben zum Narren gemacht, es iſt eben ein tolles Volk dahier. In ſolchem verderbten Zuſtand haben wir ihn aus reinem chriſtlichem Mitleid und, ich ſchwöre, ohne jede Nebenabſicht zu uns genommen. Bei aller Tollheit haben die andern doch vor dem vermummten Kerl mit dem Beil Angſt gehabt, wir aber fürchteten nichts, und der Hauſer wurde bei uns wie ein Kind geliebt und eſtimieret. Übel iſt uns das gelohnt worden; keine Erkenntlichkeit vom Hauſer, und noch dazu die böſe Nachrede ſeines Anhangs. Wieviel ärgerliche Stunden, wieviel Verdruß er uns durch ſeine entſetzliche Lügenhaftigkeit bereitet hat, davon ſind alle Mäuler ſtumm. Nachher freilich hat er alleweil Beſſerung gelobet und ward mit friſcher Liebe an unſer Herz geſchloſſen, aber fruchten tat es nichts, der Lügengeiſt war nicht zu bannen, immer tiefer verſank er in dieſes abſcheuliche Laſter. Iſt viel Gerede geweſen von ſeinem keuſchen Sinn und ſeiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hierüber kann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab’s mit meinen eignen Augen geſehen, wie er ſich meiner damals dreizehnjährigen Tochter, heute iſt ſie in der Schweiz in Penſion, unziemlich und unmißverſtehlich näherte. Nachher zur Rede geſtellt, wollt’ er’s nicht wahr haben, und aus Rache hat er mir die arme Amſel umgebrungen, die ich ihm donationieret. Gebe Gott, daß Sie nicht ähnliche Erfahrungen an ihm machen; er ſteckt voller Eitelkeit, meine Liebe, voller Eitelkeit, und wenn er den Gutmütigen agieret, iſt der Schalk dahinter verborgen, und ſo man ihm den Willen bricht, iſt es mit ſeiner Katzenfreundlichkeit am Ende. Wieviel wir auch durch ſein deteſtables Betragen zu dulden hatten, Undank und Calomnie, aus unſern Lippen iſt keine Klage gefahren, denn warum, man hätt’ ihm auch dann die Wahrheit nicht mehr glauben können, und ein Betrüger iſt er nicht, nur ein armer Teufel, ein ſehr armer Teufel. Ihnen und dem Herrn Gemahl glaube ich hingegen einen Gefallen zu erweiſen, wenn ich die Decke lüpfe, unter der er ſeinen Unfug treibet; der gegen ihn ſo gütig geſinnte Graf Stanhope wird gewiß bald zu der ſchmerzlichen Entdeckung gelangen, daß er eine Schlange an ſeinem Buſen nähret. Wäre der Herr Graf nur zu mir gekommen, dieſes aber hat der Pfiffikus Hauſer hintertrieben, und aus guten Gründen. Seien Sie nur recht wachſam, gute Frau; er hatte alleweil Heimlichkeiten, bald da, bald dort verſteckt er was in einem Winkel, das läßt auf nichts Gutes ſchließen. Und nun bitte ich Sie oder den Herrn Gemahl, mir in einiger Zeit Nachricht zu geben, wie ſich Ihr Zögling produzieret und was Sie von ihm halten, denn ohneracht alles Geſchehenen nimmt er doch ein Plätzchen in meinem Herzen ein, und ich wünſche nur, daß er tätig an ſeiner Selbſtbeſſerung arbeite, ehe er in die große Welt entrieret, wo er viel mehr Kraft und Beſtändigkeit vonnöten haben wird als in unſrer kleinen. Von mir ſelbſt iſt nicht viel Gutes zu ſagen, ich bin krank; der eine Doktor meint, es iſt ein Geſchwür auf der Milz, der andre nennt’s eine [Maladie du cœur]. Die große Teuerung der Lebensmittel iſt auch nicht angetan, einem die Laune zu verbeſſern, Gott ſei Lob gehen die Mannsgeſchäfte im allgemeinen gut. Bericht Hickels über den vollführten Auftrag der Überſiedlung Caſpar Hauſers: Ich traf am 7. ds. vorſchriftsgemäß in Nürnberg ein, verfügte mich ſogleich in die Wohnung des Freiherrn von Tucher, fand aber den Kuranden nicht zu Hauſe und erfuhr zu meiner Verwunderung, daß er ſich den ganzen Nachmittag über aufſichtslos und unbekannt wo herumgetrieben habe, was doch gegen die Vorſchrift iſt, und daß er ſich zurzeit beim Profeſſor Daumer aufhalte, wahrſcheinlich in der Abſicht, die Reiſe zu verzögern und dabei die Unterſtützung ſeiner Freunde zu finden. Denn als ich bei Herrn Daumer vorſprach, wurden zu beſagtem Zweck alle möglichen Ausreden verſucht, auch gefiel ſich der Hauſer ſelbſt in einigen leicht durchſchaubaren Schnurrpfeifereien, was mich aber nicht hinderte, auf der mir erteilten Weiſung zu beharren. Eine ſtrenge Inquiſition nach ſeinem Verbleib während des Nachmittags blieb fruchtlos, der Burſche gab die albernſten Antworten von der Welt. Mein entſchiedenes Auftreten hatte die Wirkung, daß von einer Verzögerung nicht weiter geſprochen wurde, um neun Uhr war der Wagen zur Stelle, es war großer Zulauf in den Gaſſen, die Leute, vermutlich insgeheim aufgehetzt, gebärdeten ſich einigermaßen revoltant, wurden aber durch meine Drohung, daß ich die Wache aufziehen laſſen würde, ſchnell eingeſchüchtert. Dem Kutſcher gebot ich Eile, und nach einer Viertelſtunde hatten wir das Weichbild der Stadt verlaſſen. Während der ganzen drei Stunden bis zum Dorfe Großhaslach ließ mein Kurand nicht eine Silbe verlauten, ſondern ſtarrte ununterbrochen in die Dunkelheit hinaus; gewiß mag es ihm gar trübſelig zumute geweſen ſein, da er nun doch erkennen mußte, daß es mit ſeinen großen Hirngeſpinſten Matthäi am letzten war. Ich hatte den Sergeanten nach Großhaslach beſtellt, und derweil die Pferde gefüttert und getränkt wurden, verfügten wir uns in die Poſtſtube. Hauſer legte ſich daſelbſt alſogleich auf die Ofenbank und entſchlief. Ich konnte aber des Verdachts nicht ledig werden, daß er ſich nur ſchlafend ſtellte, um mich und den Sergeanten ſicher zu machen und unſer Geſpräch zu belauſchen. In dieſem Argwohn bekräftigte mich auch das jedesmalige Blinzeln ſeiner Lider, wenn ich in nicht gerade ſchmeichelhaften Ausdrücken ſeiner Perſon erwähnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen und zugleich herauszubringen, was es mit dem allerwärts verbreiteten Märchen von ſeinem ſteinernen Schlummer für eine Bewandtnis habe, nahm ich meine Zuflucht zu einer kleinen Liſt. Nach einer Weile gab ich nämlich dem Sergeanten einen Wink, und wir erhoben uns leiſe, als ob wir gehen wollten, und ſiehe da, kaum hatte ich die Türklinke gefaßt, ſo ſchnellte mein Hauſer wie von der Tarantel geſtochen empor, tat ein wenig wirr und verſtört und folgte uns, die wir uns kaum das Lachen verbeißen konnten. Im Wagen fragte mich Hauſer plötzlich, ob der Herr Graf noch in Ansbach weile; ich bejahte, fügte aber hinzu, daß Seine Lordſchaft dieſer Tage gen Frankreich fahren werde, worauf Hauſer einen tiefen Seufzer ausſtieß; er lehnte ſich in die Ecke zurück, ſchloß die Augen und ſchlief nun wirklich ein, wie ich aus ſeinen tiefen Atemzügen entnehmen konnte. Die Weiterfahrt verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle, es war ein Viertel nach drei, als wir bei Schneetreiben vor dem Sterngaſthof anlangten; ich hatte diesmal harte Mühe, den Hauſer aus dem Schlaf zu bringen, und erſt als ich ihn energiſch anſchrie, entſchloß er ſich, aus der Kutſche zu ſteigen. Da nur der Torwart zugegen war und ich den Herrn Grafen nicht wecken laſſen wollte, brachten wir den jungen Menſchen in eine Kammer unterm Dach; ich befahl ihm, ſich zu Bette zu begeben, ſperrte der größeren Sicherheit halber die Tür von außen zu und hieß meinen Sergeanten, bis zum Anbruch des Tages auf Wache zu bleiben. Soll ich nun zum Schlusſe über die Perſon und das Betragen des Kuranden ein Urteil abgeben, ſo muß ich bekennen, daß mir der junge Mann wenig Sympathie oder Mitgefühl abnötigte. Sein verſchloſſenes, trotziges und hinterhältiges Weſen läßt auf einen, wenn auch nicht verdorbenen, ſo doch angefaulten und widrigen Charakter ſchließen. Von wunderbaren Eigenſchaften hab’ ich an ihm nichts beobachtet, als eine in der Tat wunderbare Begabung zur Schauſpielerei, was noch milde ausgedrückt iſt. Ich fürchte, man wird hieſigenorts manche Enttäuſchung an ihm erleben. Binder an Feuerbach: Um des ferneren allem überflüſſigen Gerede und Vermuten vorzubeugen, das in derſelben Sache ſchon an Eure Exzellenz gelangt ſein mag, diene die Nachricht, daß ich bereits genügenden Aufſchluß habe über den rätſelhaften, vier bis fünf Stunden andauernden Verbleib Caſpar Hauſers am letzten Nachmittag ſeines Aufenthalts in hieſiger Stadt. Freilich, dieſer Aufſchluß iſt im Grunde keiner, denn ſo wenig der Jüngling ſich ſelbſt hatte erklären wollen, ſo wenig erklären die mir bekannt gewordenen Einzelheiten ſeine ganze Handlungsweiſe. Ich will mich kurz faſſen. Am Morgen nach Caſpars Abreiſe kam der Gefängniswärter Hill zu mir und berichtete, der Hauſer ſei geſtern mittag nach eins bei ihm auf dem Turm erſchienen und habe gebeten, ihm die Kammer zu zeigen, worin er einſt gefangen geweſen. Zufällig war an jenem Tag kein Häftling auf dem Luginsland, und er, Hill, habe nach einigem verwunderten Fragen und Forſchen Caſpar eintreten laſſen. Nachdem er eine Weile grübelnd dageſtanden, begab er ſich in dieſelbe Ecke, wo ehedem ſein Strohlager geweſen, hockte auf den Boden und brütete ſtumm vor ſich hin. Dem Hill war das befremdlich, und da alle Verſuche, den Jüngling ſeiner Lethargie zu entreißen, nichts fruchteten, kehrte er in ſeine Wohnung zurück und machte ſeiner Ehefrau von dem Vorfall Mitteilung. Sie überlegten gerade, was zu tun ſei, da kam Caſpar von ſelbſt die Stufen herunter und trat in das Zimmerchen, das ihm ebenfalls von früher wohlbekannt war, das er jedoch mit bohrend nachdenklichen Blicken durchmuſterte, genau wie er oben in der Zelle getan. Hill und ſein Weib dachten nicht anders als der arme Menſch habe den Verſtand eingebüßt. Die Frau näherte ſich ihm, ſtellte einige Fragen, erhielt aber keine Antwort. Da fiel ſein ſchweifendes Auge auf die beiden Kinder des Wärters, die auf einem Tritt beim Fenſter mitſammen ſpielten, und plötzlich lächelte er gar wunderlich, ſchlich ſich heran und ſetzte ſich am Rand des über den Boden erhöhten Tritts nieder. Hill tat das Vernünftigſte, was er tun konnte, er ließ ihn gewähren und wartete ab, was daraus werden würde. Nachdem ſich Caſpar alſo niedergelaſſen, begann er die zwei Kinder auf eine Weiſe anzuſtarren, als ob er nie im Leben Kinder geſehen hätte; er beugte ſich vorwärts, er ſtudierte förmlich ihre Finger, ihre Lippen, ſeine heißhungrigen Blicke verſchlangen gleichſam jede ihrer Gebärden; der Frau wurde dabei angſt und bang, mit Mühe hielt Hill ſie ab, dazwiſchenzufahren, denn er fürchtete nichts. „Kenn’ ich doch Hauſers ſanfte Seele,“ ſo drückte er ſich mir gegenüber aus. Auf einmal ſprang Caſpar auf, ſtreckte die Arme in die Luft, ſtöhnte, ſtarrte vor ſich hin, als ſehe er einen Geiſt, dann kehrte er ſich um und rannte mit erſtaunlicher Geſchwindigkeit zur Tür und die Treppe hinunter auf den Platz. Hill folgte ihm unverzüglich, denn er ſchloß mit Recht, daß Caſpar in einer bedenklichen Verfaſſung ſei und daß man ihn ſo nicht ſich ſelber überlaſſen dürfe. Als er den Burgberg herunter gegen die Füll lief, gewahrte er ihn noch rechtzeitig und konnte ihn im Auge behalten. Caſpar eilte nun durch mehrere Gaſſen, und zwar ganz unſinnig die kreuz und quer, danach über die Glacis und nach St. Johannis hinüber. Hill folgte in einer Entfernung von fünfzig oder ſechzig Ellen und hatte auf jede Bewegung Caſpars genau acht. Trotzdem es den Anſchein zielloſen Gehens hatte, war doch der Schritt des Jünglings ſo beſchleunigt, ja ungeduldig, als wolle er ein vor ihm fliehendes Etwas erhaſchen. Es ging nun durch die Mühlgaſſe, am Ende dieſer Gaſſe breitet ſich das flache Feld aus und die Straße verwandelt ſich in einen Wieſenweg, der längs der Mauer des Johanniskirchhofs zur Pegnitz und zum Wald hinunterführt. An der Kirchhofsmauer, die ſo niedrig iſt, daß auch ein mittelgroßer Menſch leicht über ſie hinwegblicken kann, blieb Caſpar jählings ſtehen, riß den Hut vom Kopf und preßte die Hand gegen die Stirn. Es wird Eurer Exzellenz bekannt ſein, eine wie ungeheure Wirkung ſchon früher einmal bei der Annäherung an den Gräberort an ihm wahrgenommen worden iſt. Er ſchien zu zittern, er atmete mit offenem Mund, ſeine Züge drückten Grauen aus, die Hautfarbe wurde bleifahl, er ſah aus, als könne er ſich nicht losreißen, plötzlich aber ſtürzte er ſo ſchnell weiter, daß ſein Beobachter Mühe hatte, ihm nah zu bleiben, auch dachte Hill, Caſpar müſſe ins Waſſer ſtürzen, da er am Flußufer in ein wildes Torkeln geriet. Glücklicherweiſe wandte er ſich gegen den nahen Forſt und verſchwand alsbald zwiſchen den Stämmen. Hill hatte Angſt, daß er ihm entkommen könnte; er bemerkte einige Arbeiter, die an einer Erdgrube Sand ſchaufelten, und forderte ſie auf, ihm zu helfen; drei oder vier geſellten ſich zu ihm, und ſie drangen verteilt ins Gehölz; doch Hill ſelbſt war es, der Caſpar nach langem Suchen und als er ſchon höchlichſt beſorgt wurde, zuerſt wieder erblickte. Er ſah ihn kniend am Fuß einer mächtigen Tanne, er ſah, wie er die Hände aufhob, und hörte ihn mit einer leidenſchaftlich flehenden Stimme rufen: „O Baum! O du Baum!“ Nichts weiter als dieſe Worte, und mit ſolchem Gefühl, wie man ein Gebet ſpricht, wenn der Geiſt in höchſter Bedrängnis iſt. Hill ſagte aus, er habe es nicht über ſich gebracht, ihn anzurufen, überhaupt hat der einfache Mann bei all dieſen Vorgängen ein Zartgefühl und eine Menſchlichkeit bewieſen, um deretwillen ich ihm meine Anerkennung nicht verſagen kann. Die Arbeiter, die er mitgenommen, riefen ihm, er gab ein Zeichen, ſie kamen herbei; Caſpar hatte ſich indes erſchrocken aufgerichtet, blickte die Leute der Reihe nach an, und es ſchien, als erkenne er Hill nicht. Dieſer dankte den Männern und bedeutete ihnen, daß er ſie nicht mehr brauche. Von ihm untergefaßt, ließ ſich Caſpar ohne Widerſtand aus dem Forſt herausführen; im Gegenſatz zu ſeinem bisherigen Weſen zeigte er nun eine vollkommene Gelaſſenheit. Hill fragte ihn, wohin er denn gehen wolle, und nach einigem Zögern antwortete Caſpar, er müſſe zum Mittageſſen zu Herrn Daumer. Da lachte Hill und erinnerte ihn, daß Mittag längſt vorbei ſei; als ſie vor der Stadtmauer ankamen, begann es ſchon zu dämmern. Caſpar ging jetzt außerordentlich langſam, und trotzdem Hill um vier Uhr auf der Polizeiwache hätte ſein ſollen, begleitete er ihn noch zu Profeſſor Daumers Haus und wich erſt von der Stelle, als ſich das Tor hinter ſeinem Schützling geſchloſſen hatte. Dies, Exzellenz, die getreue Wiedergabe deſſen, was der Mann berichtet hat. Ich habe ſeine Erzählung, deren Glaubwürdigkeit zu bezweifeln kein Anlaß vorliegt, protokollieren laſſen. Aus den Begebniſſen ſelbſt weiß ich, wie geſagt, nichts zu machen, auch iſt es nicht an mir, den Schlüſſen Eurer Exzellenz vorzugreifen. Geſtern habe ich mich von Hill zu der Stelle führen laſſen, wo Caſpar kniend gefunden wurde, denn ich dachte mir, daß da vielleicht etwas Beſonderes ſei. Es iſt, ungewöhnlich bei ſolcher Stadtnähe, ein friedensvoller Ort; der Wald iſt dicht beſtanden, lautloſe Einſamkeit fordert zu beſchaulicher Stimmung auf. Hill erkannte den Platz mit Sicherheit wieder und zeigte zum Beweis auf Fußabdrücke und zerwühltes Moos. Sonſt habe ich nichts Bemerkenswertes wahrgenommen. Der Polizeiſoldat, der durch ſeine Nachläſſigkeit in Caſpars Bewachung all dieſes verſchuldet hat, wurde der verdienten Strafe zugeführt. Lord Stanhope an den Grauen: Ich weile noch immer in dem weltentlegenen Neſt, obwohl ich zu Weihnachten in Paris ſein wollte. Ich ſehne mich nach freier Konverſation, nach Maskenbällen, nach der italieniſchen Oper, nach einem Spaziergang auf den Boulevards. Hier ſind aller Augen auf mich gerichtet, jeder will teilhaben an mir; von einer gewiſſen Hofratsfamilie, die nicht in den beſten Verhältniſſen lebt, wird erzählt, ſie habe eine goldene Stehuhr, ein vortreffliches Erbſtück, verſetzt, um eine Soiree zu Ehren des Lords geben zu können. Man verdächtigt eine Dame, Frau von Imhoff — uralter Patrizieradel!_—, der näheren Beziehung zu mir, vielleicht nur deswegen, weil die Arme in einer unglücklichen Ehe lebt, an der ſich der Klatſch ſeit Jahren mäſtet. Scherzhafter Unſinn. Die Dame iſt, leider, ein makelloſer Menſch. Das übrige Volk iſt kaum der Rede wert. Die guten Deutſchen ſind ſervil bis zum Erbrechen. Der behäbige Kanzleidirektor, der mit einer ſklaviſch tiefen Reverenz den Hut vor mir zieht, würde mir mit Vergnügen die Stiefel putzen, wenn ich’s ihm befähle. Nichts hindert mich, hier eine Art Caligula zu ſpielen. Zur Sache. Ein äußerer Grund meines Verweilens hier iſt nicht mehr vorhanden. Der bislang vorgeſchriebene Teil meiner Aufgabe iſt erfüllt. Was verlangt man noch von mir? Weſſen hält man mich noch weiterhin für fähig? Hat Euer Hochgeboren oder dero Gebietende noch intime Wünſche, ſo wäre es geraten, ſie in Bälde vernehmen zu laſſen, denn der ergebenſt Unterzeichnete iſt ſatt. Die Mahlzeit füllt ihn bis zum Hals, er muß jetzt ans Verdauen denken. Ich gehe mit der Abſicht um, in Rom Prälat zu werden oder mich hinter Kloſtermauern einzuſperren, vorher muß ich noch das nötige Schwergeld für den Ablaß beiſammen haben; wenn der Papſt kein Einſehen hat, kehr’ ich in den Schoß der puritaniſchen Kirche zurück, ſo bin ich wenigſtens der Sorge und des Ekels enthoben, mir den Bart wachſen laſſen zu müſſen. Auch in meinem Land gibt es Masken und jedenfalls ein würdigeres Koſtüm. Iſt der Miniſter H. in S., der Penſioniſt, von allen Vorgängen verſtändigt und hat man ihn gegen Überfälle geſichert? An welcher Bankſtelle kann ich meinen nächſten Zinsgroſchen beheben? Dreißig Silberlinge; mit welcher Zahl darf ich die Summe multiplizieren? Denn auf Multiplikation iſt nun einmal mein Leben geſtellt. Herr von F. iſt vor einigen Tagen nach München abgereiſt; dies zur Notiz. Das bewußte Dokument iſt, wie ein ranziges Stück Fleiſch, von einem gewiſſenhaften Raben in Ausſicht genommen, vorläufig aber noch unzugänglich. Wie hoch normiert man den Preis und, ſollten im Kriegsfalle kühnere Maßregeln geboten ſein, was billigt man demjenigen zu, der die Hölle um einen neuen Untertanen reicher machen will? Ich muß dies wiſſen, gegenwärtig ſtellen auch die geringſten Diener des Satans ihre Anſprüche. Wenn Herr von F. ſo weit kommt, mit der Königin zu verhandeln, wie er beabſichtigt, muß ein geeigneter Repräſentant gefunden werden, um das angefachte Feuer zu löſchen; freilich wird dann das ranzige Stück Fleiſch anfangen zu ſtinken. Dabei fällt mir ein penetranter Paſſus in dem letzten Schreiben von Eurer Hochgeboren ein; wie lautet er doch gleich: „Sie beginnen, mein lieber Graf, zu viel Wert auf das Verruchte und Verfluchte zu legen, ſobald es nur einen Anſchein von Zweckmäßigkeit und Behendigkeit hat.“ Ich nehme dieſen Worten die Schminke und leſe: es iſt unglaublich, was Sie für ein Spitzbube ſind. Kennen Sie die hübſche Replik des alten Fürſten M., als ihn der amerikaniſche Geſandte ins Geſicht hinein einen Betrüger nannte? „Mein Lieber, Teurer,“ erwiderte der Fürſt mit ſeinem ſanfteſten Lächeln, „daß Sie doch in Ihren Ausdrücken niemals maßhalten können!“ Ja, halten wir Maß, wenn auch nicht im Tun, ſo doch im Reden. Wozu Sottiſen? Ein Schurke wird geboren ſo gut wie ein Edelmann. Wer ſich anmaßt, in den Lauf eines fremden Schickſals zu pfuſchen, iſt ein Philiſter oder ein Dummkopf, wenn nicht beides. Wer kennt mich? Wer will mich richten oder formen? Verrät mich nicht jeder Atemzug? Verwandte Sterne haben über Ihrer und meiner Wiege geleuchtet. Sie ſind ein getreuer Diener. Das iſt eine wunderſchöne Ausrede. Werfen Sie ab, was Sie bindet, fliehen Sie in eine Einöde, auf das Meer, in die Wüſte, zum Pol, auf einen andern Planeten, zu ſich ſelbſt und erproben Sie, ob Sie ſich noch am Glanz des Himmels und am Schein der Sonne zu freuen vermögen, und wenn das der Fall iſt, wollen wir über das Thema weiter verhandeln. Schlagen wir uns in die Nacht wie Wölfe und ſammeln wir Mut, denn das Opfer könnte wehrhaft werden. Unſer Schutzbefohlener bereitet mir neueſtens mancherlei Sorge, und ich muß geſtehen, daß er es iſt, der mich in dieſer gottverlaſſenen Gegend noch immer feſthält. Allerdings ohne daß er davon weiß, aber er iſt mir in jeder Hinſicht verdächtig geworden, und ich komme mir bisweilen wie ein tauber Muſikant vor, der auf einer verſtopften Flöte ſpielen muß. Aber nicht nur dies hält mich, ſondern auch noch ein andres, womit ich jedoch Ihr allen Empfindſamkeiten abholdes Ohr nicht beläſtigen will. Auf jeden Fall, und dies nun im Ernſt, entlaſſen Sie mich aus der Arena. Ich bin betäubt, ich bin müde, meine Nerven gehorchen nicht mehr, ich werde alt, ich fange an, den Geſchmack an Treibjagden zu verlieren; es erregt meinen Widerwillen, wenn der geängſtigte Haſe dem biſſigſten der Hunde von ſelbſt in die Zähne rennt, ich bin zu ſehr Schöngeiſt, um dies noch ergötzlich zu finden, und ich könnte kaum dafür einſtehen, daß ich nicht im letzten Moment eine Breſche in die Treiberkette ſchlage, die der verfolgten Kreatur zur Flucht verhilft. Dann aber könnte ſich eine merkwürdige Metamorphoſe begeben, der Haſe könnte zum Löwen werden und zurückkehren und die blutgierige Meute müßte zitternd in ihre Hinterhalte ſchleichen. Doch fürchten Sie nichts: dies ſind Zuckungen und Phantaſien eines ſenilen Gewiſſens. Auch ich bin ein treuer Diener — meiner ſelbſt. Das Werk befiehlt. Unſre Lüſte ſind die Schergen der Seele. Nur der Dieb, der keine Philoſophie im Leibe hat, verdient gehängt zu werden. In meiner Jugend hatte ich Tränen übrig, wenn ich mir den gitarreſpielenden Knaben auf Carpaccios Bild in Venedig betrachtete, jetzt bliebe ich ungerührt, wenn man das Kind von der Mutterbruſt riſſe und ſeinen Schädel am Rinnſtein zerſchmetterte. Das macht die Philoſophie. Wenn ſie ſich beſſer bezahlte, wäre ich vielleicht fröhlicher. Bei dieſer Gelegenheit muß ich Ihnen einen amüſanten Traum erzählen, den ich neulich hatte, eine wahre Gorgo von Traum. Wir beide, ich und Sie, feilſchten um eine gewiſſe Ware; plötzlich unterbrachen Sie mich mit den Worten: „Nehmen Sie, was ich Ihnen biete, denn wenn Sie jetzt erwachen, bekommen Sie gar nichts.“ Ich fand dies Argument göttlich und ſo wenig zu widerlegen, daß ich in der Tat, mit Angſtſchweiß bedeckt, erwachte. Genug, übergenug. Mein Jäger überbringt Ihnen dieſen Brief, der durch ſeinen Mangel an Inhalt Ihren Verdruß erregen wird. Das beiliegende Akzept, um deſſen Signierung ich bitte, dürfte Sie noch weniger verſöhnen. Dem Lehrer habe ich ein Halbjahr im voraus bezahlt. Er iſt ein brauchbarer Mann, unbeſtechlich wie Brutus und lenkbar wie ein frommes Pferd. Wie alle Deutſchen hat er Prinzipien, die ſein Selbſtvertrauen hervorbringen. Gott befohlen, die Nacht will ihren Schlaf. 16. Anbetung der Sonne Am Morgen nach Caſpars Ankunft blieb der Lord länger als gewöhnlich in ſeinen Zimmern. Auch dann vermied er es noch, Caſpar rufen zu laſſen, und machte erſt die tägliche Promenade. Als er zurückkam, ging Caſpar vor dem Salon auf und ab; die Bewegung Stanhopes, als wolle er ihn umarmen, ſchien Caſpar zu überſehen; er blickte ſteif zu Boden. Sie traten ins Zimmer, der Lord entledigte ſich ſeines ſchneebedeckten Pelzmantels und ſtellte möglichſt unbefangen Fragen: wie es Caſpar ergangen, wie der Abſchied, wie die Reiſe geweſen und mehr dergleichen. Caſpar antwortete bereitwillig, wenn auch ohne Ausführlichkeit, war freundlich und keineswegs bedrückt oder vorwurfsvoll. Dies gab Stanhope zu denken, und es bedurfte einer gewiſſen Anſtrengung von ſeiner Seite, um die ſonderbar kühle Unterhaltung fortzuſetzen. Er konnte ſogar einen leiſen Schrecken nicht unterdrücken, wenn er Caſpar anſah, der ihn mit ſeinen weinfarbigen Augen fortwährend fremd betrachtete. Es war eine Erlöſung, als der Polizeileutnant gemeldet wurde. Stanhope empfing ihn im Nebenzimmer; ſie ſprachen dort über eine halbe Stunde leiſe miteinander. Nachdem der Graf hinausgegangen war, trat Caſpar zum Schreibtiſch, ſtreifte den Diamantring von ſeinem Finger und legte ihn mit bedächtiger Gebärde auf einen angefangenen, in engliſcher Sprache geſchriebenen Brief; dann ſchritt er zum Fenſter und blickte in das Schneetreiben. Stanhope kam allein zurück. Er fragte, ob Caſpar wiſſe, wo er untergebracht werden ſolle. Caſpar bejahte. „Es iſt am beſten, wir gehen mal gleich zu den Lehrersleuten hin, um dein künftiges Quartier in Augenſchein zu nehmen,“ ſagte der Lord. Caſpar nickte und wiederholte: „Ja, es iſt am beſten.“ „Der Weg iſt nicht weit,“ meinte Stanhope, „wir können zu Fuß gehen; wenn du es aber wünſcheſt und die Zudringlichkeit der Menſchen ſcheuſt, die zu erwarten iſt, kann ich den Wagen beſtellen.“ „Nein,“ erwiderte Caſpar freundlich, „ich gehe lieber; die Leute werden ſich ſchon tröſten, wenn ſie ſehen, daß ich auch auf zwei Beinen ſpaziere.“ Da fiel Stanhopes Blick auf den Ring. Erſtaunt nahm er ihn in die Hand, ſah Caſpar an, ſah den Ring an, überlegte mit zuſammengezogenen Brauen, lächelte flüchtig und wild, dann legte er den Ring ſchweigend in eine Lade, die er verſchloß. Als ob nichts geſchehen wäre, zog er den Mantel an und ſagte: „Ich bin bereit.“ Das Aufſehen in den Gaſſen war erträglich; es ſpielte ſich alles in Ruhe ab, das Volk hier war gutmütig und ſcheu. Über dem Tor des Quandtſchen Hauſes war ein Kranz aus Immergrün aufgehängt, in deſſen Mitte auf einem Pappendeckel ein gemaltes „Willkommen“ prangte. Quandt trat den Ankömmlingen im braunen Bratenrock entgegen, ſonntäglich ausſehend, ſeine Frau hatte einen ſchottiſchen Schal umgehängt, damit ihr körperlicher Zuſtand weniger auffällig hervortrete. Zuerſt wurde Caſpars Zimmerchen beſichtigt, das im obern Flur lag. Der Raum hatte auf einer Seite eine ſchiefe Manſardenwand, bot aber ſonſt ein nettes Anſehen. Über dem altväteriſch-bunten Kanapee hing ein ſchwarzgerahmter Stich; das Bild ſtellte ein unſagbar ſchönes Mädchen vor, das die Arme ſchmerzlich nach einem Jemand ausſtreckte, von dem man gerade noch zwiſchen Gebüſchen die Beine und einen fliegenden Mantel ſah. An der andern Wand hingen zwei längliche Deckchen, worauf Sinnſprüche eingeſtickt waren; auf dem einen: „Früh auf, ſpät nieder bringt verlorene Güter wieder“; auf dem andern: „Hoffnung iſt des Lebens Stab von der Wiege bis zum Grab“. Auf dem Sims ſtanden Töpfe mit Winterblumen, und über niedriges Dächerwerk hinweg konnte ſich der Blick an einer lieblich geſchloſſenen Landſchaft ergötzen; ſchneeweiße Hügel begrenzten in nicht zu großer Weite das anſteigende Tal. Caſpar war es beim Hinſchauen recht jämmerlich zumute; er dachte gewiſſer Vorſtellungen von ehedem, die jetzt keinen Bezug mehr hatten: eine Fahrt mit weitgeſtecktem Ziel; die Straße läuft fröhlich dem Wagen voran; Wolken teilen ſich beim Näherkommen; Berge treten gefällig zur Seite; die Luft ſchwirrt vom Geſang der Fremde; Wälder und Wieſen, Dörfer und Städtchen hüpfen im beſonnten Nebel vorüber, und unter dem ſchließenden Ring des Himmels ſtrömt Welt auf Welt hervor. Es war nicht mehr an dem. Unten im Wohnzimmer dunſteten die friſchgefegten Dielen noch von Feuchtigkeit. Quandt ſetzte dem Lord die wichtigſten Punkte ſeines Programms auseinander. Bisweilen ſchaute er Caſpar dabei an, und ſein Blick war dann durchdringend wie bei einem Schützen, der das Ziel fixiert, ehe er die Flinte anlegt. Stanhope ſagte, er ſchätze ſich glücklich, daß Caſpar endlich Ausſicht auf eine geregelte Bildung habe, alles bisherige ſei ja nur Willkür und Ungefähr geweſen. Wenn der Herr Staatsrat nicht ſo feſt darauf beſtanden hätte, daß Caſpar in Ansbach bleibe — dies ſollte offenbar eine Erklärung gegen den ſtill zuhörenden Jüngling ſein_—, wären ſie ohne Zweifel heute ſchon in England oder doch auf dem Weg dahin. „Da ich ihn aber in ſo guten Händen weiß,“ fügte er hinzu, „bin ich nichtsdeſtoweniger froh; man ſieht daraus, daß auch ein unerwünſchter Zwang oft die erſprießlichſten Folgen hat.“ Seine Worte waren trocken; es war, als rede ſein Hut oder ſein Stock. Das Kompliment, das ſie enthielten, war ſchal, oft gebraucht wie Spülwaſſer. Aber für Quandt waren ſie eine Herzenserquickung. Er belebte ſich zuſehends und meinte eifrig, es ſei am geratenſten, wenn Caſpar noch heute einziehe. Stanhope ſchaute Caſpar fragend an; dieſer ſenkte den Kopf, worauf ſich der Lord zu einem nachſichtigen Lächeln zwang. „Wir wollen nichts überſtürzen,“ ſagte er. „Ich laſſe morgen früh das Gepäck herſchaffen, heute ſoll er noch bei mir bleiben.“ Es war dunkel geworden, als beide das Haus verließen. Quandt begleitete ſie bis auf die Straße. Zurückkehrend ſchloß er ganz leiſe und langſam die Tür, wie er immer zu tun pflegte, dann ſtellte er ſich in die Mitte des Zimmers, legte beide Hände flach gegen die Bruſt und ſchüttelte mindeſtens eine Viertelminute lang in lautloſem Erſtaunen den Kopf. „Warum ſchüttelſt du denn ſo den Kopf?“ fragte Frau Quandt. „Ich begreife nicht, ich begreife nicht,“ antwortete der Lehrer bekümmert und ſchlich herum, als ſuche er etwas auf dem Boden. „Was begreifſt du denn wieder nicht?“ fragte die Frau verdrießlich. Quandt zog einen Stuhl herbei, ſetzte ſich neben ſeine Gattin und ſchaute ſie aus ſeinen blaſſen Augen feſt an, bevor er fortfuhr: „Haſt {du} vielleicht etwas Wunderbares an dem Menſchen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette, haſt du etwas, irgend etwas Außergewöhnliches bemerkt, irgend etwas, das ihn von einem andern Menſchen unterſcheidet?“ Frau Quandt lachte. „Ich habe nur bemerkt, daß er nicht beſonders höflich war und daß er ſeidene Strümpfe trägt wie ein Marquis,“ entgegnete ſie leichthin. „Ja, nicht wahr? nicht beſonders höflich, wie? und ſeidene Strümpfe, ganz recht,“ ſagte Quandt mit ſonderbarer Haſt, als ſei er einer Entdeckung auf der Spur. „Na, die ſeidenen Strümpfe werden wir ihm ſchon abgewöhnen und das Modeweſtchen auch; dergleichen ſchickt ſich nicht für unſer einfaches Haus. Aber ich frage dich: verſtehſt du die Menſchen? verſtehſt du die Welt? Davon hört man nun ſeit Jahren als von einem noch nie dageweſenen Wunder reden! Dafür erhitzen ſich geiſtreiche Männer, Männer von Geſchmack, von Welt, von Kenntniſſen; iſt es zu faſſen? Gibt es denn keinen, der mit ſeinen eignen, ihm von Gott eingeſetzten Augen ſehen kann? Iſt es zu faſſen?“ Mittlerweile waren Caſpar und der Lord zum Gaſthof zurückgekehrt. Stanhope war nicht gerade roſig geſtimmt. Die Schweigſamkeit ſeines Begleiters erboſte ihn; es war ihm, als werde hinter einem Vorhang eine Piſtole gegen ihn gerichtet. Er war unruhig, fühlte ſich in die Enge getrieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schickſale ſich wie auf einem ſchmalen Pfad zwiſchen Abgründen begegnen und wo es zum Austrag kommen muß. Da ſtellen ſich Worte ungerufen ein; die Dämonen erheben ſich aus dem Schlummer. Stanhope ſchellte dem Diener, ließ die Lichter anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich darauf wurde der Hofrat Hofmann gemeldet; der Lord ſagte, er ſei nicht zu ſprechen, gab auch Befehl, niemand mehr vorzulaſſen. Er machte ſich unter ſeinen Papieren zu ſchaffen und fragte dabei Caſpar: „Wie haben dir die Lehrersleute gefallen?“ Caſpar wußte nicht recht, wie, und gab eine unbeſtimmte Antwort. In Wahrheit wußte er überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder deſſen Frau oder das Haus ausſahen. Er erinnerte ſich bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee aus der Untertaſſe getrunken und den Zucker dazu abgebiſſen hatte, was ihm ſehr albern erſchienen war. Plötzlich kehrte ſich Stanhope um und fragte mit der Miene eines Menſchen, der die Geduld verliert: „Alſo, was iſt es mit dem Ring? Was wollteſt du damit ſagen?“ Caſpar antwortete nicht; in traurigem Trotz ſchaute er ins Leere. Stanhope näherte ſich ihm, tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter und ſagte ſcharf: „Sprich; ſonſt wehe dir!“ „Mir iſt ſchon weh genug,“ entgegnete Caſpar eintönig, und ſein Blick glitt von der Geſtalt des Grafen wie von etwas Schlüpfrigem hinweg auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kaminfeuer Schatten malte. Was hätte er ſagen ſollen? War doch ſein Gefühl faſt ungemindert gegen den, der ihm den Weg gewieſen, der zum erſtenmal wie ein Menſch zu ihm geredet. Sollte er von der furchtbaren Nacht im Tucherſchen Haus erzählen, wo er geſeſſen, die Fäuſte in der Bruſt, das Herz zerrieben, einſam und der Welt beraubt? Wie er angefangen hatte zu ſuchen, zu ſuchen, wie er die Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt war, wie er Kinder geſehen, den Fluß geſehen, an einem Baume gekniet, alles wie nie zuvor, alles anders, er ſelbſt verwandelt, mit neuen Augen, von Unwiſſenheit erlöſt_... Unmöglich, ſolches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte. Er fuhr fort, ins Leere zu ſtarren, indes Stanhope, die Hände auf dem Rücken, auf und ab wanderte und widerwillig, haſtig, ſtoßweiſe zu reden begann. „Willſt du mich etwa anklagen? Soll ich mich rechtfertigen? Goddam, ich habe für dich gekämpft wie für mein eigen Fleiſch und Blut, Vermögen und Ehre zum Pfand geſetzt, keine Demütigung geſcheut, mich unter Pöbelvolk und Pedanten herumgeſchlagen, was denn noch? Wer das Unmögliche von mir verlangt, iſt mir nicht wohlgeſinnt. Noch iſt nicht aller Tage Abend, das Garn iſt noch nicht abgewickelt, ich ſtelle noch immer meinen Mann, aber ich muß mir verbitten, daß du mich wie den Ausſteller eines Schuldſcheins beim Buchſtaben packſt und meine ſchöne Freiwilligkeit unter moraliſchen Druck ſetzeſt. Wenn du von mir forderſt, anſtatt das Gewährte dankbar zu erkennen, dann ſind wir geſchiedene Leute.“ Was er doch alles ſpricht, dachte Caſpar, der kaum zu folgen vermochte. Der nächſte Gedanke Stanhopes war, Caſpar habe vielleicht eine geheime Verbindung und von daher Lehre und Ermunterung empfangen, denn er ſah wohl, und mit Angſt nahm er es wahr, daß er nicht mehr das willenloſe Geſchöpf von ehedem vor ſich hatte. Aber auf ſeine rauh zufahrende Frage machte Caſpar ein ſo verwundertes Geſicht, daß er den Argwohn ſogleich fallen ließ. Caſpar legte die Hände flach zuſammen und ſagte nun in ſeiner um Deutlichkeit bemühten Weiſe, er habe Stanhope nicht kränken wollen, auch mit dem Ring nicht; es ſei nur etwas geſchehen, was die Geſchichten betreffe; man habe ihm immer Geſchichten erzählt, Geſchichten von ihm ſelbſt, er habe zugehört und doch nicht ordentlich verſtanden. Es ſei wie mit dem Holzpferdchen geweſen, mit dem er in ſeinem Kerker geredet und geſpielt und das doch nichts Lebendiges geweſen ſei. „Aber jetzt,“ fügte er ſtockend hinzu, „jetzt iſt das Holzpferdchen lebendig geworden.“ Stanhope warf den Kopf zurück. „Wie? was denn?“ rief er ſchnell und furchtſam, „ſprich deutlich.“ Er nahm die Lorgnette und ſchaute Caſpar ſtirnrunzelnd durch die Gläſer an, eine Gebärde, die Hochmut ausdrücken ſollte, aber im Grunde nur Verlegenheit war. „Ja, das Holzpferdchen iſt lebendig geworden,“ wiederholte Caſpar bedeutungsvoll. Ohne Zweifel glaubte er mit dieſem kindlichen Sinnbild alles dargelegt zu haben, was ihm das entſchleierte Antlitz der Vergangenheit verraten hatte. Er mochte die Gewalten ahnen, die ſein Schickſal geformt hatten, und jedenfalls begriff er das Wirkliche, das ſchwer von Gründen Wirkliche ſeiner langen Gefangenſchaft, die ihn, außerhalb der Geſetze, bis über das Jünglingsalter hinaus zum Zuſtand eines Halbtiers verurteilt hatte. Es mochte ihm klar geworden ſein, daß es ſich dabei um eine Sache handelte, der in den Augen der Menſchen ein hoher, ja der höchſte Wert zukam; daß ſein Anrecht auf dieſe Sache ungeſchmälert fortbeſtand und daß, wenn er nur hinginge, um zu zeigen, daß er lebe, um zu ſagen, daß er wiſſe, aller Widerſtand und Willkür zu Ende ſei und er beſitzen durfte, weſſen er freventlich beraubt. Das war es etwa, aber es war noch mehr. Und es fügte ſich, daß der Lord ſelbſt, in Angſt für ſich, für ſeine Auftraggeber, für die Zukunft, für das ganze Gebäude, an dem er mitgezimmert und von dem er, wenn es zuſammenbrach, vielleicht mit zerſchmetterten Gliedern in eine bodenloſe Tiefe ſtürzen mußte, daß er ſelbſt das Wort fand und ausſprach, welches dies andre, Größere, Unſagbare für Caſpar zauberhaft und ſchrecklich erleuchtete. Beinahe fühlte ſich Stanhope beſiegt, und er hatte nur noch wenig Luſt, gegen eine Macht zu kämpfen, die gleichſam aus dem Nichts entſtanden war und wie der Ifrid aus Salomons Wunderflaſche den ganzen Himmel verfinſterte. Ich war zu großmütig, dachte er; ich war zu lau; Wankelmut trägt die eigne Haut zu Markt; läßt man die Träumer aufwachen, ſo greifen ſie nach den Zügeln und machen die Roſſe ſcheu; das ſüße Zeug ſchmeckt nicht länger, nun gilt es Salz in den Brei zu tun. Er ſetzte ſich an den Tiſch, Caſpar gegenüber, und indem er beim Sprechen kaum die Zähne voneinander entfernte und fortwährend düſter und blicklos lächelte, ſagte er: „Ich glaube dich zu verſtehen. Man kann es dir nicht verübeln, daß du Schlüſſe aus meinen, wie ich bekennen muß, ein wenig unvorſichtigen Erzählungen gezogen haſt. Ich werde in dieſem Augenblicke ſogar noch weiter gehen und dir an Deutlichkeit nichts zu wünſchen übriglaſſen. Ich will dein lebendig gewordenes Holzpferdchen aufzäumen, und wenn du dann Luſt haſt, kannſt du es meinetwegen reiten. Ich habe dich nicht getäuſcht: du biſt durch deine Abkunft den mächtigſten unter den Fürſten ebenbürtig, du biſt das Opfer der ſcheußlichſten Kabale, die Satans Bosheit je erſonnen hat; hätteſt du keine andre Inſtanz zu fürchten als die der Tugend und des moraliſchen Rechts, dann ſäßeſt du nicht hier, und ich wäre nicht gezwungen, dich ſo zu warnen, wie ich es jetzt tue. Denn merk auf. So gegründet deine Anſprüche, deine Hoffnungen ſind, ſo verderblich müſſen ſie dir werden, ſobald ſie dich nur den erſten Schritt zum vorgefaßten Ziele lenken. Die erſte Handlung, das erſte Wort beſiegelt unabänderlich deinen Tod. Du wirſt vernichtet ſein, eh du noch den Finger ausgeſtreckt haſt, um zu nehmen, was dir gebührt. Vielleicht kommt eine Stunde, morgen oder in einem Monat oder in einem Jahr, wo du an der Aufrichtigkeit deſſen, was ich dir ſage, zweifeln könnteſt; nun, ſo beſchwöre ich dich: glaube mir! Laß deine Lippen ſiebenfach vernietet ſein. Fürchte die Luft und den Schlaf, daß ſie dich nicht verraten. Möglich, daß einſt der Tag kommt, an dem du ſein darfſt, was du biſt, aber bis dahin halte ſtill, wenn dir dein Leben lieb iſt, und laß dein Holzpferdchen hübſch im Stall.“ Langſam hatte ſich Caſpar erhoben. Ein übergewaltiger Schrecken donnerte, vielgeſtaltig wie die Blöcke eines Felsſturzes, um ihn her. Um ſeine Gedanken anderswo hinzulenken, betrachtete er mit einer an Wahnſinn grenzenden Aufmerkſamkeit die lebloſen Gegenſtände: Tiſch, Schrank und Stühle, den Leuchter, die Gipsfiguren am Kamin, den krummgebogenen Schürhaken. War ihm dies alles neu oder nur unerwartet? Keineswegs. Es hatte, wie giftige Luft, ſchon lange um ihn her gebrütet. Aber ein andres das bloße Ahnen und Spüren und ein andres das zermalmende Wiſſen. Auch Stanhope war aufgeſtanden; er trat nahe vor Caſpar hin und fuhr mit eigentümlich näſelnder Stimme fort: „Es hilft nichts; in dieſem Zeichen biſt du eben geboren; in dieſem Zeichen hat dich deine Mutter geboren. Das iſt das Blut. Es richtet dich und rechtfertigt dich; es iſt dein Führer und dein Verführer.“ Und nach einer Weile: „Laß uns nun ſchlafen gehen, es iſt ſpät. Morgen früh wollen wir in die Kirche und beten. Vielleicht ſchickt uns Gott eine Erleuchtung.“ Caſpar ſchien nicht zu hören. Blut! das war das Wort. Das war die Kraft, die alle Poren ſeines Weſens durchdrang. Schrie nicht ſein Blut aus ihm, und von fernher wurde der Schrei erwidert? Blut trug aller Erſcheinungen Grund, verborgen, wie es war, in Adern, im Geſtein, in Blättern und im Licht. Liebte er ſich nicht in ſeinem Blut, ſpürte er nicht die eigne Seele wie einen Spiegel aus Blut, in dem er ſich ruhend beſchauen konnte? Wieviel Menſchen in der Welt, ſo nahe beieinander, ſo reich bewegt, ſo fremd und ſtumm, und alle durch einen Strom von Blut wandelnd, und ſein Blut doch beſonders rauſchend, ein beſonderes Ding, in einſamem Bette fließend, voll von Geheimniſſen, unbekannter Schickſale voll! Auch als er den Blick wieder gegen den Grafen kehrte, war es, als wandle der durch Blut, eine Vorſtellung, die freilich durch die ſcharlachfarbene Tapete begünſtigt, wenn nicht erzeugt wurde. Wenn man die Kerzen verlöſcht, dachte Caſpar, wird alles tot ſein, das Blut und die Worte, er und ich; ich will nicht ſchlafen dieſe Nacht, nicht ſterben. Ja, Caſpar hätte, was ſein Mund geredet, gern wieder in ſich hineingeſchluckt, in jenen Kerker des Leibes geſperrt, der Schweigen hieß. Gehorſam ſein, unwiſſend ſein, unglücklich ſein, Schande und Schimpf ertragen, die Stimme des Blutes erſticken, nur nicht ſterben müſſen, nur leben, leben, leben. Ei, man wird ſich fürchten, man wird feig ſein wie eine Maus, man wird Türen und Fenſter verriegeln, man wird die Träume vergeſſen, den Freund vergeſſen, man wird ſich klein machen, man wird das Holzpferdchen vergraben, aber man wird leben, leben, leben_... Der Lord wünſchte, daß Caſpar nicht in ſeiner Manſarde, ſondern hier unten nächtige. Er befahl dem Aufwärter, ein Bett auf dem Sofa zu richten. Indes Caſpar ſich entkleidete, ging er hinaus, kam jedoch nach einiger Zeit wieder, überzeugte ſich, daß der Jüngling ruhig lag, und verlöſchte die Lichter. Die Verbindungstür zu ſeinem Zimmer ließ er offen ſtehen. Ungeachtet ſeines Vorſatzes ſchlief Caſpar bald ein und nahm ſein aufgewühltes Gemüt in den Schlummer hinüber. Er mochte vier bis fünf Stunden geſchlafen haben, als ſich ſein bleiernes Daliegen in ein ruheloſes Herumwälzen verwandelte. Plötzlich erwachte er mit einem tiefen Seufzer und ſtarrte brennenden Auges in die Finſternis. An den Fenſterſcheiben war ein Kribbeln und Taſten, das von den anprallenden Schneeflocken herrührte und dem leiſen Pochen einer Hand ähnlich war. Aus dem Nebenraum hörte er die gleichmäßigen Atemzüge des ſchlafenden Stanhope; höchſt befremdlich klang dies Atmen des andern Menſchen in der Nacht, wie ein drohendes Geflüſter: hüte dich, hüte dich. Er ertrug es nicht mehr im Bett. Es war, als ſei ihm der Körper mit tauſend Fäden umſchnürt, und als er aufſtand, geſchah es nur, weil er ſich vergewiſſern wollte, ob er ſich noch frei bewegen könne. Er ſchlug die Wolldecke um die Schultern und trat barfüßig ans Fenſter. Das ganze große All war angefüllt mit den geſprochenen Worten, die wie rote Beeren in der Dunkelheit hingen. Überall Gefahr; bloß zu denken, war ſchon Gefahr; jeder Anhauch aus fremdem Munde Gefahr. Er fing an zu zittern. Die Knie ſaßen loſer in den Gelenken, es war ihm ſo leicht und ſchwer zugleich; ſein Nachdenken hatte eine andre, nähere Folge, auch alle Gegenſtände waren näher, und das Ganze der Erde und des Himmels, Wolken, Wind und Nacht hatten etwas eingebüßt, etwas unbegreiflich Flüchtiges und Wandelbares. Alles iſt nun ſo wunderlich wahr. Caſpar hält die Scherben eines koſtbaren Gefäßes in der Hand, und ſeine Phantaſie will nicht einmal die ſchöne Form, wie ſie geweſen, zurückgeſtalten. Unten auf der Gaſſe geht lautlos der Nachtwächter. Der zuckende Schein ſeiner Laterne vergoldet den Schnee. Caſpar folgt ihm mit den Blicken, denn es iſt, als ob der Mann in irgendeinem unerklärlichen Zuſammenhang mit ſeinem Schickſal ſtehe. Sie wandeln miteinander über ein verſchneites Feld, jener fragt Caſpar, ob ihn friere, und wirft ihm einen Teil ſeines Mantels um die Schultern, ſo daß ſie beide unter derſelben Hülle gehen. Auf einmal gewahrt Caſpar, daß es kein Männergeſicht iſt, das ſich ſo mild erbarmend zu ihm kehrt, ſondern das ſchöne, traurige Geſicht einer Frau. Es enthalten dieſe Trauer und dieſe Schönheit etwas Redendes, und daß ſie zuſammen unter demſelben Mantel wandern, hat den allertiefſten Sinn, etwas, das mit Qual und Freuden eines iſt und vom Anfang der Dinge ſtammt. Da tönte das ungeheure Wort des Grafen neuſchallend in die Nacht: „In dieſem Zeichen hat dich deine Mutter geboren.“ Dich geboren! Welcher Laut! Was war darin beſchloſſen! Caſpar legte beide Hände vors Geſicht; ihm ſchwindelte. Da hörte er ein Geräuſch von Schritten. Jäh drehte er ſich um, es war ein Emportauchen aus finſterer Flut; der Graf ſtand im Schlafrock vor ihm. Wahrſcheinlich hatte Caſpars nächtliches Wachſein ihn aufgeweckt, er hatte einen leiſen Schlummer. „Was treibſt du?“ fragte Stanhope mürriſch. Caſpar machte einen Schritt auf ihn zu und ſagte dringlich, atemlos, drohend und flehend: „Führ mich zu ihr, Heinrich! Einmal laß mich die Mutter ſehen, nur einmal, nur ſehen; nicht jetzt, ſpäter vielleicht. Einmal, nur einmal! Nur ſehen! Nur einmal!“ Stanhope wich zurück. Dieſer Aufſchrei hatte etwas Überirdiſches. „Geduld,“ murmelte er, „Geduld.“ „Geduld? Wie lange noch? Hab’ ſchon lange Geduld.“ „Ich verſpreche dir_—“ „Du verſprichſt es, aber wie ſoll ich glauben?“ „Setzen wir die Friſt eines Jahres feſt.“ „Ein Jahr iſt lang.“ „Lang und kurz. Ein kleines, kurzes Jahr und dann_—“ „Dann_—?“ „Dann will ich wiederkommen_—“ „Und mich holen?“ „Dich holen.“ „Gelobſt du das?“ Caſpar heftete einen ſuchenden und wie ein mattes Flämmchen erlöſchenden Blick auf den Grafen. Da der Widerſchein des Schnees die Nacht erhellte, konnte jeder des andern Züge deutlich unterſcheiden. „Ich gelob’ es.“ „Du gelobſt es, aber wie kann ich’s wiſſen?“ Stanhope geriet in eine ſonderbare Bedrängnis; dies Gegenüberſtehen zu ſolcher Stunde, die immer herriſcher, ſtürmiſcher werdenden Fragen des Jünglings wirkten wie Geſpenſterſchauer auf ſeine Einbildungskraft. „Reiß mich aus deinem Herzen aus, wenn es nicht geſchieht,“ murmelte er dumpf; er mußte in dieſem Augenblick lebhaft des Mannes gedenken, der vom Teufel lebendigen Leibes in den feuerſpeienden Veſuv geſchleudert wurde. Und Caſpar darauf: „Was kann mir das nützen? Sag mir den Namen, ſag mir ihren Namen, ſag mir meinen Namen.“ „Nein! niemals! niemals! Aber glaube mir nur. Es wacht ein Gott über dir, Caſpar. Es kann dir nichts verſagt ſein, denn du haſt die Kaufſumme für das Glück zum voraus entrichtet, die wir andern täglich in kleiner Münze bezahlen müſſen. Und bezahlt muß werden, alles muß bezahlt werden, das iſt der Sinn des Lebens.“ „Du verſprichſt alſo, in einem Jahr wieder dazuſein?“ „In einem Jahr.“ Caſpar bohrte die Finger in Stanhopes Hand und richtete einen tiefen, ſeltſam ſeelenhaften, ſeltſam ſtolzen Blick auf den Lord, der ſeinerſeits die Augen ſenkte, während ſein Geſicht ſteinalt ausſah. Als er in ſein Zimmer zurückging, begann er plötzlich leiſe plappernd das Vaterunſer zu beten. Erſt gegen Morgen entſchlief er wieder. Als er ſich mittags erhob, war Caſpar längſt auf; er ſaß am Fenſter und ſchien die Eisblumen zu ſtudieren. Um ein Uhr verließ er mit ihm das Hotel. Arm in Arm, ein Schaugepränge für die Einwohnerſchaft, ſpazierten ſie über den hochliegenden Schnee durch das Herrieder Tor zum Markt. Dort war eine große Verſammlung von Bauern und Händlern. Vor dem Portal der Gumbertuskirche blieb Stanhope ſtehen und forderte Caſpar auf, mit hineinzugehen. Caſpar zögerte, folgte jedoch dem Grafen in den hohen, ſchmuckloſen, von ſchwarzem Gebälk überdachten Raum. Mit raſchen Schritten eilte Stanhope zum Altar, warf ſich mit den Knien auf die ſteinernen Stufen, beugte die Stirn herab und verblieb ſo in vollkommener Unbeweglichkeit. Caſpar, peinlich berührt, ſchaute ſich unwillkürlich um, ob niemand Zeuge dieſer demütigen Handlung ſei. Aber die Kirche war leer. Warum krüppelt er ſich ſo zuſammen, dachte er verſtimmt, Gott kann doch nicht im Boden drinnen ſein. Allmählich ward ihm bange; das Schweigen des rieſigen Raumes ſtrömte bis in ſeine Bruſt. Und wie er nun in die Höhe blickte, ſah er oben, durch ein geöffnetes Bogenfenſter, wie die Sonne mit Macht die winterlichen Nebel zu gewältigen ſuchte. Da rötete ſich ſein bläßliches Geſicht zu ſchüchterner Freude und das Schweigen in ſeiner Bruſt wandelte ſich zu einer hinaufziehenden Verehrung. „O Sonne,“ ſagte er halblaut und mit einfältiger Inbrunſt, „mach doch, daß alles nicht ſo iſt, wie es iſt. Mach es doch anders, Sonne. Du weißt ja, wie es iſt; du weißt ja, wer ich bin. Scheine nur, Sonne, daß meine Augen dich immer ſehen können, immer wollen dich meine Augen ſehen.“ Indem er ſo ſprach, flutete eine goldene Lichtwelle bis auf die kreidig-weißen Flieſen, und Caſpar, ſehr zufrieden, meinte, die Sonne hätte ihm damit auf ihre Weiſe eine Antwort erteilt. 17. Man erfährt einiges über Herrn Quandt ſowie über eine vorläufig noch ungenannte Dame Die Überſiedlung Caſpars ins Lehrerhaus fand ohne Zwiſchenfälle ſtatt. „Nun wohlan denn,“ ſagte Quandt während der erſten gemeinſamen Mahlzeit, als die Suppenſchüſſel aufgetragen wurde, „jetzt beginnt für Sie ein neues Leben, Hauſer. Hoffentlich iſt es ein Leben der Gottesfurcht und des Fleißes. Wenn wir uns lobenswert betätigen und in unſern Gedanken nicht den Schöpfer aller Dinge vergeſſen, wird unſer irdiſches Bemühen ſtets von Erfolg gekrönt ſein.“ Nach Tiſch mußte Quandt zur Schule, und als er um vier Uhr zurückkam, erkundigte er ſich befliſſen, was Caſpar die Zeit über getrieben habe. Seine Frau konnte ihm nur ungenügenden Beſcheid geben, und er tadelte ſie deshalb. „Wir müſſen aufpaſſen, liebe Jette,“ ſagte er, „wir müſſen die Augen offen halten.“ In der Tat, Quandt paßte auf. Wie ein emſiger Buchhalter legte er in ſeinem Innern ein Konto an, um alle Worte und Handlungen ſeines Pflegebefohlenen zu verzeichnen. Bei dieſer umſichtigen Geſchäftsführung ſtellte es ſich bald heraus, daß Soll und Haben einander nicht die Wage hielten, daß die Schuldſeite nach und nach bedenklich überlaſtet wurde. Das betrübte den Lehrer aufrichtig; jedoch gab es ein geheimes Winkelchen in ſeiner Bruſt, worin er ſich deſſen freute. Es war nämlich mit dieſem Manne derart beſchaffen, daß er in einer merkwürdigen Zweiheit exiſtierte. Der eine Teil war die öffentliche Perſon, der Bürger, der Steuerzahler, der Kollege, das Familienhaupt, der Patriot; der andre Teil war ſozuſagen der Quandt an ſich. Jener war ein Heros der Tugend, eine wahre Muſterſammlung von Tugenden; dieſer lag verſteckt in einer ſtillen Ecke und belauerte die liebe Gotteswelt. Die öffentliche Perſon, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allgemeinen Angelegenheiten, wohingegen der Quandt an ſich vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas paſſierte: ſei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltſtellung eines verdienten Beamten oder ein Diebſtahl bei einer Vereinskaſſa oder ein Radſchaden an der Poſtkutſche oder eine kleine Feuersbrunſt beim reichen Bauern Soundſo oder die ſkandalöſe Heirat der Gräfin Ypſilon mit ihrem Stallburſchen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienhaupt, der Kollege ſeinen Pflichten nachkam, der Quandt an ſich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Poſten, um der Weltregierung auf die Finger zu ſchauen, und ſtets beſorgt, daß keinem mehr Ehre geſchah, als er nach genauer Bilanz über ſeine Verdienſte und Mängel, ſeine Vorzüge und Laſter füglich beanſpruchen durfte. Der öffentliche Quandt ſchien zufrieden mit ſeinem Los, der geheime fand ſich allerorten und zu jeder Zeit zurückgeſetzt, beleidigt, vor den Kopf geſtoßen und in ſeinen vornehmſten Rechten gekränkt. Nun ſollte man denken, mit zwei ſo verſchieden geſinnten Koſtgängern unter einem Dach ſei ſchwer zu wirtſchaften. Nichtsdeſtoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid iſt ein boshaftes Tier; er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwiſchen den zwei Seelen, und wie oft der ſtärkſte Damm nicht genügt, um eine verheerende Überſchwemmung zu verhindern, ſo brach eben dieſer Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbeſtellten Gefilde des Gottes- und Menſchenfreundes Quandt. Und was gab es doch nicht alles in der Welt, worüber das tückiſche Untier ſich gefräßig hermachen konnte! Da hatte einer einen Orden bekommen, der das ganze Leben lang hinterm Ofen hockte und Maulaffen feilhielt; dort hatte ein andrer zehntauſend Taler geerbt, der ſchon ohnehin die Woche zweimal Paſteten aß und Moſelwein trank; da wurde ein Name lobend in der Zeitung erwähnt, ohne daß man erforſchen konnte, ob ihm eine ſolche Auszeichnung von Rechtswegen zukam, dort hatte ein Ichweißnichtwer eine Entdeckung gemacht, auf die man, hätte man ſich zufällig mit dem Gegenſtand beſchäftigt, leichterdings auch hätte verfallen können. Warum denn der? Warum nicht ich? murrte dann der heimlich aufrühreriſche Quandt. Es war ein beſtändiger und unſichtbarer Zweikampf mit dem Schickſal unter der Parole: Warum der andre, warum nicht ich? Vielleicht litt der gute Quandt unter ſeiner Abſtammung; ſein Vater war Paſtor geweſen, mütterlicherſeits kam er von Bauern her. Er beſaß viel vom Bauern und vom Paſtor: ſein ſehr irdiſches Streben war rundherum mit Theologie behangen. Dabei war der Bauer dem Paſtor beſtändig im Wege, denn wo hätte man je gehört, daß ein auf Religion und Friedfertigkeit geſtimmtes Gemüt rachſüchtig, mißgünſtig und ehrgeizig geweſen wäre? Die Wahrheit liebte Quandt über alles; er ſagte es, er beteuerte es und es war auch ſo. Nichts war ihm offenbar genug; nirgends ſtimmte die Rechnung; überall hatten die Menſchen eine falſche Addition gemacht oder den Kaſus verwechſelt. Er ſagte und beteuerte, daß er niemals in ſeinem Leben gelogen hatte. Ein bewundernswerter Fall; und wirklich ſtand es feſt und war nachzuweiſen, daß er mit dem einzigen Buſenfreund, den er je beſeſſen, einem Schulamtskandidaten in Tauberbiſchofsheim, deshalb für immer gebrochen hatte, weil er ihm auf eine Lüge gekommen war. Wie ratlos mußte nun Caſpar einer ſo ernſten Wachſamkeit, einer ſolchen Vereinigung von ſeltenen und vorbildlichen Eigenſchaften, wie ſie der beſſere Teil des Lehrers bot, gegenüberſtehen. Wir, der Leſer und ich, haben darin leichtes Spiel, uns kann man nicht betrügen, uns ſind die Kleiderfalten offen und die Haut über dem Herzen iſt uns durchſichtig; wir weilen auf einer höheren Warte, wir ſind Seher und Humoriſten; wir verfolgen Herrn Quandt, wenn er in einen Krämerladen tritt, mit höflicher Gemeſſenheit ein halbes Pfund Käſe verlangt und dabei mit unruhig-eifrigen Augen die Einkäufe ſeiner Nebenmenſchen, gleichviel ob es Köchinnen oder Generale ſind, in ſeinem Innern notiert; wir hören ihn, wenn er mit dem Oberinſpektor Kakelberg ſpricht und ſich mit Schmerz über die zunehmende Verlotterung der Schuljugend beklagt; wir ſehen ihn jeden Sonntagmorgen gebürſtet, friſiert, gewaſchen zum Gottesdienſt eilen und mit Beſcheidenheit ſein Gebetbüchlein aufſchlagen; wir wiſſen, daß er reſpektvoll gegen Höhere und unnachſichtig gegen Geringere iſt, denn ſein Pflichtbewußtſein nach beiden Seiten unterliegt keinem Zweifel. Aber wir wiſſen auch, daß er jeden Abend vor dem Schlafengehen im Nachthemd auf der Kante ſeines Bettes ſitzt und ſich mit düſterer Miene erinnert, daß ihn der Regierungsrat Hermann heute ziemlich nachläſſig gegrüßt hat; mit Bedauern nehmen wir von der Tatſache Kenntnis, daß er ſeine Schüler, ſelbſtverſtändlich nur die faulen und ſtörriſchen, mit einem ſorgſam getrockneten ſpaniſchen Rohrſtock empfindlich zu züchtigen pflegt, und leider dürfen wir nicht verhehlen, daß er ſeine gutmütige Frau nicht immer ſo zart und rückſichtsvoll behandelt, wie es vor Fremden geſchieht, die nach ihren Beobachtungen ohne weiteres der Anſicht ſind, daß dieſe Ehe als das leuchtende Beiſpiel eines guten Einvernehmens zwiſchen Gatten zu betrachten ſei. So war für Caſpar, der den Vorteil unſrer Allwiſſenheit und Allgegenwart natürlich nicht genießt, Herr Quandt eine zwar dunkle und unfrohe, aber durchaus imponierende Geſtalt. Ein bißchen Alpdruck ſpürte er jedesmal, wenn Quandt in wunderlich forſchendem Ton und mit unabgewandtem Blick zu ihm ſprach. Er fühlte ſich anfangs bedrückt in dieſer gar engen Häuslichkeit, in der man faſt nicht einmal mit ſeinen Gedanken allein ſein konnte, und der einzige Troſt war, daß der Graf, der ſchon anfangs Dezember hatte reiſen wollen, noch immer in der Stadt war. Stanhope behauptete zwar, auf wichtige Briefe warten zu müſſen, in Wirklichkeit harrte er jedoch der Rückkehr des Präſidenten Feuerbach, da ihn das Beginnen des Mannes, der Grund ſeines Fernſeins beunruhigte wie den Wanderer ein drohendes Gewitter. Auch Caſpar hielt ihn, und das in eigner Weiſe. Er pflegte den Jüngling jeden Nachmittag für eine oder anderthalb Stunden zum Spazierengehen abzuholen; ſie gingen dann gewöhnlich den Weg zum Schloßberg hinauf und gegen das Bernadotter Tal, das in ſchöner Abgeſchiedenheit wie eine Vorhalle zu den finſter umſchließenden und weitgedehnten Wäldern lag. Caſpar empfand einen ſehr wohltuenden Einfluß von der Bewegung in der kalten, meiſt froſtklaren Luft. Ihre Geſpräche ſtrebten ſtets von einem unverbindend perſönlichen Punkt aus ins Allgemeine, wo das zu Sagende gefahrlos wurde und doch das Lehrhafte wie das Erzählende nicht den Reiz einer anmutenden Vertraulichkeit entbehrte. Es ſchien dem ein Übereinkommen zugrunde zu liegen, ein Friedensſchluß vor einer dumpf gefühlten Wandlung, welche die vergangene Schönheit ihres Verhältniſſes vollends zerſtören mußte. So gingen ſie dahin, anzuſehen wie Freunde, in einer ihrem Schickſalskreis fremden Region aufrichtig einander ergeben, den Unterſchied der Jahre und der Erfahrung ausgleichend durch ein williges Schenken von der einen und ein nicht minder williges Empfangen von der andern Seite. Der Lord fand ſich durch dieſe Form eines Verkehrs lebhaft angezogen, ja im wahrſten Sinn ergriffen. Durfte er ſich doch auch einmal wieder unbefangen fühlen, ohne Joch, von keiner Peitſche zu ausbedungenem Ziel gezwungen; in ſich ſelber ruhend, betrachtſam und nicht ohne Wehmut überſchauend, wie das Leben in ſeiner Bruſt gehauſt und was es dem zwecklos ſpielenden Geiſt übrig gelaſſen, der ja das eigentliche Element iſt, in welchem der Menſch den Menſchen erkennt. Er ging über die Tiefen ſeines Daſeins hin wie über eine gebrechliche Brücke, die der leichteſte Windhauch in den Abgrund ſtürzen kann. Am liebſten redete er über Menſchenlos und Menſchendinge: erzählte, wie der begonnen, wie jener geendet, was dieſen ins Unheil geſtürzt und jenem zu Anſehen verholfen; wie er einen im Glück gewahrt, an der Tafel des Königs ſchwelgend, und wie ſelbiger zwei Jahre ſpäter in einer Dachkammer elend krepiert war. Ungleich ging es zu auf Erden; in ſchwer erklimmbarer Höhe blühten die Blumen; nichts ſicher, nichts von Beſtand, nirgends Verlaß. Gewiſſe Regeln durften nicht unbeachtet bleiben, nach welchen das Wirken des einzelnen ſich zu fügen hatte. Stanhope erwähnte das Buch des Lord Cheſterfield, eines Vorfahrs und weitläufigen Verwandten, der in berühmten Briefen an ſeinen Sohn gar treffliche Maximen gegeben hatte; ganze Seiten daraus wußte er aus dem Gedächtnis herzuſagen. Derſelbe Cheſterfield habe, um den Ahnenſtolz des Adels zu verſpotten, in ſeinem Schloß zwei Bilder aufhängen laſſen, einen nackten Mann und ein nacktes Weib, und darunter geſchrieben: Adam Stanhope, Eva Stanhope. Der Graf gab ſeiner Überraſchung darüber oft draſtiſchen Ausdruck, einen wie klugen Kopf er in Caſpar bei aller Einfalt und Schweigſamkeit entdeckte: immer zutreffend im Widerpart, durchaus weltlich geſtimmt, in Frage und Antwort aus erſter Hand, das Gegenſätzliche mühelos erfaſſend und phantaſievoll verknüpfend. Die Wandlung kam bald. Ein unbedeutender Anlaß führte ſie herbei. Eines Tages, während der Rückkehr nach der Stadt, ſprach ſich Stanhope darüber aus, wie fruchtbar es für die innere Haltung eines Menſchen ſei, wenn er ſeine Erlebniſſe nicht leichtſinnig vorüberfließen laſſe, ſondern ſie moraliſch zu nützen ſuche, indem er durch ſchriftliche oder mündliche Mitteilung den Stoff ſeines Nachdenkens bereichere. Caſpar fragte, wie er das meine; ſtatt der Antwort ſtellte der Graf, den dieſer Umſtand längſt beunruhigte, die lauernde Gegenfrage, ob Caſpar noch ein Tagebuch führe. Caſpar bejahte. „Und willſt du mir nicht gelegentlich daraus vorleſen?“ Caſpar erſchrak, überlegte und antwortete zögernd, ja, er wolle es tun. „So nehmen wir die gute Stunde wahr und machen uns gleich daran,“ ſagte Stanhope. „Ich wünſche nur einen ungefähren Einblick zu erhalten und bin neugierig, wie du ſo etwas anpackſt.“ Zu Hauſe angelangt, begleitete der Lord Caſpar auf deſſen Zimmer und nahm, der Erfüllung des Verſprechens gewärtig, auf dem Kanapee Platz. Im Ofen praſſelte Feuer; draußen herrſchte ſeit dem Mittag ſtarker Tauwind; es dämmerte ſchon, die Hügel waren violett umſchleiert. Caſpar machte ſich unter ſeinen Büchern zu ſchaffen, doch Minute auf Minute verging, ohne daß er ſich im geringſten anſchickte zu tun, was Stanhope erwartete. „Nun, Caſpar,“ meldete ſich endlich ungeduldig der Graf, „ich bin bereit.“ Da gab ſich Caſpar einen Ruck und ſagte, er könne nicht. Stanhope ſah ihn groß an; Caſpar ſchlug die Augen nieder. Das Tagebuch ſei unter vielen andern Sachen verſteckt, und es ſei unbequem, es zu erreichen, murmelte er ſtockend. „So ſo,“ verſetzte der Lord und lachte faſt lautlos durch die Naſe. „Wie flink du in Ausflüchten biſt, Caſpar; ich hätte nicht geglaubt, daß du ſo flink in ... Ausflüchten biſt. Ei, ſieh doch!“ In dieſem Moment klopfte und ſcharrte es an der Tür, der Lord rief und die Geſtalt Quandts ſchob ſich langſam ins Zimmer. Er tat erſtaunt, den Herrn Grafen hier zu finden, und fragte, ob Seiner Lordſchaft eine kleine Erfriſchung gefällig ſei. Der Lord dankte ſtumm und heftete den Blick fortgeſetzt auf Caſpar. Quandt merkte gleich, daß da was auf der Pfanne brodelte. Er erkundigte ſich, ob Seine Herrlichkeit Anlaß habe, mit dem Hauſer unzufrieden zu ſein. Stanhope entgegnete, er habe allerdings einigen Grund, ſich zu ärgern, und in kurzen Worten teilte er dem Lehrer mit, worum es ſich handle. Hierauf, zu Caſpar gewandt, ſagte er laut und markiert: „Wenn es von vornherein nicht in deiner Abſicht lag, mir von deinen Intimitäten Kenntnis zu geben, ſo hätteſt du es nicht verſprechen dürfen. Und wenn du dein Verſprechen bereut haſt, ſo durfteſt du es ſchicklich wieder zurücknehmen. Aber ſtatt deſſen zu einer ſolchen“ — eine beredte kleine Pauſe — „Ausflucht zu greifen, das ſcheint mir deiner und meiner nicht würdig.“ Er erhob ſich und verließ das Zimmer. Quandt folgte ihm. Unten im Flur blieb Stanhope ſtehen und fragte den Lehrer kurz angebunden, ob er ſich in der verfloſſenen Zeit ſchon ein Urteil über die Fähigkeiten und den guten Willen Caſpars gebildet habe. „Eben wollte ich Eure Lordſchaft ergebenſt erſuchen, mir zur Beſprechung dieſes Punktes eine Viertelſtunde Gehör zu ſchenken,“ erwiderte Quandt. Er nahm das Öllämpchen vom Nagel und bekomplimentierte den Lord in ſein Studio. Indes ſich Stanhope in den Lederſtuhl ſetzte, Bein auf Bein kreuzte und gelangweilt in die Luft ſtarrte, ramſchte Quandt ſeine Notizblätter zuſammen und ſagte, er habe den Hauſer gleich vom erſten Tag an tüchtig vorgenommen, ihm diktiert, ihn leſen und rechnen laſſen, die deutſche und lateiniſche Grammatik abgefragt, alles aus dem Gröbſten und nur des Überblicks halber. „Und das Ergebnis?“ fragte Stanhope, wobei die Langweile ſeine Naſenflügel auseinander dehnte. „Das Ergebnis? Leider ziemlich troſtlos, leider!“ Es mußte ein Schmerz für Herrn Quandt ſein, denn in dieſem „leider“ lag ein tiefgefühlter Ton. Es mußte ein Schmerz für ihn ſein, daß Caſpars Handſchrift ſo viel zu wünſchen übrigließ. „Er hat nichts Freies und Zügiges in ſeiner Hand, und mit der Orthographie ſteht er auf geſpanntem Fuß,“ ſagte er. Es mußte ein Schmerz für Quandt ſein, wenn ein Menſch den Dativ nicht in allen Fällen vom Akkuſativ unterſcheiden konnte. „Von der funktionellen Bedeutung des Konjunktivs hat er nicht die geringſte Vorſtellung,“ ſagte Quandt und fuhr fort: „Im ſprachlichen Ausdruck ſcheint er nicht ungewandt, hier ragt er ſogar über ſeine ſonſtige Bildungsſtufe hinaus, und er kennt die Sätze und ihre Verbindungen ſo weit, daß er den Punkt, das Kolon, das Anführungs-, Frage- und Ausrufungszeichen genau und das ſogar von Sprachforſchern ſo verſchieden in Anwendung gebrachte Semikolon manchmal richtig zu ſetzen weiß.“ Immerhin ein Lichtſtrahl. Hingegen die Arithmetik, o weh! Er beherrſcht die vier Grundrechnungen in gleichbenannten Zahlen noch nicht mit Sicherheit. „Eine Null wird für ihn bald da, bald dort zum unüberwindlichen Hindernis,“ ſagte Quandt. Die Lehre von den Brüchen, vom Kettenſatz, von den einfachen und zuſammengeſetzten Proportionen: ein hoffnungsloſes Dunkel. „Erſtaunlicherweiſe arbeitet er jedoch in dieſen Dingen am willigſten,“ ſagte Quandt. „Wie erklären Sie ſich das?“ erkundigte ſich der Lord mit der Neugierde eines Verſchlafenen, den man an den Füßen kitzelt. „Ich erkläre mir das ſo: Jedes Exempel ſtellt ſich als ein für ſich beſtehendes Ganzes dar. Ein ſolches zu geſtalten, dazu hat er immer Luſt und Verlangen, und es macht ihm Spaß, wenn er es vollendet ſieht. Was ihn aber lange beſchäftigt, erregt ſein Mißbehagen und kann ihn ſogar zu allerlei unwahren Entſchuldigungen veranlaſſen. Daher zeigt er ſich auch verdrießlich bis zum Zorn, wenn er ein leichtes Exempel falſch gerechnet hat und den Fehler der Oberflächlichkeit nicht finden kann.“ Weiter, weiter: Geſchichte, Geographie, Malen, Zeichnen ... Was die Geſchichte betreffe, ſo habe Quandt noch niemals und bei keinem Menſchen eine ähnliche Gleichgültigkeit gefunden, ſowohl gegen vaterländiſche Begebenheiten wie gegen welthiſtoriſche Fakta, gegen Monarchen, Staatsmänner, Schlachten, Umwälzungen, Helden und Entdecker. „Nur die Anekdote feſſelt ihn, ein Geſchichtlein, damit kann man ihn ködern.“ Traurig! Und die Geographie? „Auf der Erdkugel fühlt er ſich keineswegs zu Hauſe,“ ſagte Quandt. „Auch iſt er oft zerſtreut; er merkt nicht auf. Die nürnbergiſche Schwärmerei über ſein wunderbares Gedächtnis iſt mir ein Rätſel, ein unſagbares Rätſel, Mylord.“ Mylord hatte genug. Vom Malen und Zeichnen wollte Mylord nichts mehr wiſſen; er unterbrach den Lehrer, der Proben zeigen wollte, und warf ein, daß ihm die Ausbildung in dieſen Nebenfächern zwar wünſchenswert erſcheine, daß er aber kein großes Gewicht darauf lege. „Wünſchenswert, jawohl,“ verſetzte Quandt, „und das Wünſchenswerte ſollte doch gepflegt werden. Der Geiſt eines Menſchen iſt wie ein Zuchtgarten, in welchem das Schöne und das Nützliche nebeneinander gedeihen dürfen. Ich glaube, der mächtigſte Anſporn für den Hauſer iſt ſeine Eitelkeit. Wenn man es verſteht, ſeine Eitelkeit zu befriedigen, kann man ihn zu allem haben. Noch eine Frage, Mylord, haben Sie beſondere Wünſche wegen des Religionsunterrichts? Ich habe ſchon mit Herrn Pfarrer Fuhrmann geſprochen, der ſich erboten hat, zweimal wöchentlich Caſpar eine Stunde zu geben. Die Bibel habe ich ſelbſt mit ihm durchzunehmen begonnen.“ Stanhope hatte nichts dawider; er wollte aufbrechen, aber mit verlegenem Stottern brachte Quandt jetzt das Quartiergeld aufs Tapet, ſeine Frau liege ihm über die zunehmende Teuerung am Hals. Der Lord, ganz Seigneur, bewilligte kurzerhand einen Zuſchuß; es wurde vereinbart, daß Caſpar einen Mittagstiſch für zwölf und einen Abendtiſch für acht Kreuzer erhalten ſolle. Um den übeln Eindruck dieſer Erörterung zu verwiſchen, die ihn beſchämte und demütigte, äußerte Quandt den Wunſch, Seiner Lordſchaft nach deren Abreiſe periodiſchen Bericht über die Fortſchritte Caſpars zu ſenden. Stanhope, ſchon völlig ergeben, ſtellte dies ſeinem Belieben anheim. „Es wäre ratſam,“ ſchlug Quandt vor, „Hauſers Briefe an Eure Herrlichkeit zugleich als Stilübungen zu betrachten. Ich könnte, ohne natürlich am Gedanken etwas zu verändern, die Hauptfehler korrigieren und mit roter Tinte eine Zenſur darunter ſchreiben. So hätten Sie immer ein Bild ſeiner derzeitigen Fähigkeiten.“ Stanhope fand dieſen Gedanken unvergleichlich. Sie traten nun in den Flur, Quandt trug wieder das Öllämpchen voran. Auf einmal prallte er zurück und hielt das Lämpchen hoch. Am Stiegengeländer ſtand eine dunkle Geſtalt. Es war Caſpar. Aha, der hat gehorcht, fuhr es Quandt durch den Kopf. Er drehte ſich um und ſah den Lord beziehungsvoll an. Caſpar trat auf Stanhope zu und bat ihn mit bewegter Stimme, noch einmal auf ſein Zimmer zu kommen. Der Graf antwortete kalt, er habe wenig Zeit, Caſpar möge ſein Anliegen hier vorbringen. Caſpar ſchüttelte den Kopf; der Lord dachte, Caſpar habe ſich eines Beſſern beſonnen, er ſtellte ſich, als ob es ihn Überwindung koſte, dem Wunſch zu willfahren, dann ging er mit kleinen, wie gezählten Schritten die Stiege hinan. Quandt folgte unaufgefordert und blieb im Zimmer oben als ſtumme Perſon neben der Tür ſtehen. Caſpar ſagte, er wolle dem Lord das Tagebuch gerne zeigen, aber dieſer möge ihm verſprechen, nichts darin zu leſen. Der Lord verſchränkte die Arme über der Bruſt. Dies wurde ihm denn doch zu bunt. Aber er antwortete mit der Ruhe einer vollendeten Selbſtbeherrſchung: „Du kannſt mir wohl glauben, daß ich ohne deine Einwilligung nicht in deine Privatangelegenheiten dringen werde.“ Caſpar öffnete die Schublade des Kommodekäſtchens und hob den Zipfel eines Seidentüchleins, unter welchem das blaue Heft lag. Der Graf näherte ſich und blickte in wortloſer Befremdung bald auf das Heft, bald auf Caſpar. „Was für eine kindiſche Zeremonie!“ ſtieß er finſter heraus. „Ich hatte nicht die geringſte Begierde geäußert, deinen papierenen Schatz zu ſehen. Soviel ich weiß, wollteſt du mir daraus vorleſen; mit Flunkereien bitte ich mich zu verſchonen.“ Auch Quandt war nun herangekommen, und mit zweifelnden Blicken maß er das myſteriöſe Heft. Caſpar ſchaute währenddem, auch indes der Lord das Zimmer ſchweigend verließ, mit einem chineſiſch-ſchiefen, ſchief-beſinnenden Blick vor ſich hin, einem Blick der Verſunkenheit und Jenſeitigkeit, wie ihn manche Köpfe auf ſehr alten Bildern haben. „Wenn ich meine unmaßgebliche Meinung äußern darf,“ ſagte Quandt, der den Grafen zum Tor begleitete, „ſo muß ich geſtehen, ich glaube nicht an dieſes Tagebuch. Ich glaube nicht, daß ein Charakter wie der des Hauſer von ſich ſelbſt aus den Antrieb findet, ein Tagebuch zu führen. Ich kann mir nicht helfen, Mylord, aber ich glaube nicht daran.“ „Ja, denken Sie denn, daß er uns da bloß leeres Papier gezeigt hat?“ verſetzte Stanhope ſchroff. „Das nicht, aber_...“ „Was alſo?“ „Je nun, man muß der Sache nachgehen, man muß ſich damit beſchäftigen, man muß ſehen, was dahinter ſteckt.“ Stanhope zuckte die Achſeln und ging. Er hatte gehofft, aus den Aufzeichnungen des Jünglings mancherlei über ſich ſelbſt zu hören; dies lockte; er wußte, daß er dort auf einem hohen Poſtament ſtand und daß er vergöttert worden war; es iſt ſchön, vergöttert zu werden, wie wenig Ähnlichkeit man auch mit einem Gott haben mag, und wenngleich das Götterbild vom Sockel geſtürzt war, um ſeine Trümmer mußte noch eine reizende Romantik blühen. Dies lockte. An das Verräteriſche des Büchleins dachte er nicht, wollte er nicht denken, damit mochten ſich die Schergen abfinden. Trotzdem begab er ſich am nächſten Mittag ins Lehrerhaus, trat in Caſpars Zimmer und forderte kurz und ſtreng von dem Jüngling die Ablieferung der Briefe, die er ihm während ihrer Trennung nach Nürnberg geſchrieben. Caſpar gehorchte ohne zu fragen. Die Briefe, es waren nur drei, darunter der gefährliche, geſchwätzige, den der Graf zu fürchten hatte, lagen in einer beſonderen Mappe in einer Hülle von Goldpapier. Stanhope zählte ſie nach, ſteckte ſie in die Bruſttaſche und ſagte dann etwas milderen Tons: „Du holſt mich heute abend um acht Uhr vom Hotel ab. Wir ſind aufs Schlößchen zu Frau von Imhoff geladen. Zieh dich gut an.“ Caſpar nickte. Stanhope ſchritt zur Tür. Die Klinke in der Hand, drehte er ſich noch einmal um: „Morgen reiſe ich.“ In der Krümmung ſeines Mundes lag Überdruß und Grauen. Ihm graute plötzlich vor dieſer Stadt und vor ihren Menſchen, ihm graute vor etwas, das er wie eine hölliſche Unholdfratze über ſich in der Luft hängen ſah und dem er durch die Geſchwindigkeit ſeiner Pferde zu entrinnen hoffte. Den Präſidenten zu erwarten hatte er aufgegeben, denn Feuerbach hatte ſeinem Stellvertreter geſchrieben, er käme erſt nach Neujahr. „Morgen ſchon?“ flüſterte Caſpar betrübt; und nach einer Pauſe fügte er ſcheu hinzu: „Was abgemacht iſt, das gilt aber?“ „Was abgemacht iſt, das bleibt beſtehen.“ Die Einladung der Imhoffs war zugleich eine Abſchiedsfeier für den Grafen. Es waren gebeten: der Regierungspräſident Mieg, der Hofrat Hofmann, der Direktor Wurm, Generalkommiſſär von Stichaner mit Frau und Töchtern und einige andre Herrſchaften; alle kamen in großer Gala. Man war ſehr geſpannt auf Caſpars erſtes Erſcheinen in der hieſigen Geſellſchaft. Sein Auftreten enttäuſchte nicht. Wie fetierte man ihn, bemühte man ſich um ihn; man ſagte ihm Komplimente, die lächerlichſten Komplimente, lobte ſeine kleinen Ohren und ſchmalen Hände, fand, daß ihm die Narbe auf der Stirn, die vom Schlage des Vermummten herrührte, intereſſant zu Geſicht ſtehe, beſtaunte ſein Reden und ſein Schweigen und wähnte damit den Lord zu entzücken, der ſich jedoch über eine gemeſſene Höflichkeit hinaus nicht verpflichtete und dem überſchwenglichen Weſen der Damen ſeinen verbindlichſten Sarkasmus entgegenſetzte. Nachdem die Tafel aufgehoben war, erſchien der Kämmerling des Lords und brachte ein Paket, welches in ungefähr einem Dutzend Exemplaren das in Kupfer geſtochene Porträt Stanhopes enthielt, worauf er in Pairstracht mit der Grafenkrone dargeſtellt war. Er verteilte die Bilder an „die lieben Ansbacher Freunde“, wie er mit bezauberndem Lächeln ſagte. Das Kunſtwerk erfuhr die lauteſte Bewunderung, ſowohl in bezug auf die Ähnlichkeit wie auf die Ausführung; als jeder ſeinen Dank gezollt, kam das Geſpräch auf Bilder überhaupt, und es entſtand eine Meinungsverſchiedenheit darüber, ob man aus den Zügen eines Porträts auf die Charaktereigenſchaften der betreffenden Perſon ſchließen könne. Der Hofrat Hofmann, als der negative Geiſt, der er überhaupt war, beſtritt es mit großer Lebhaftigkeit und mit Aufwand von vielen Gründen; er ſagte, jedes Bildnis gebe ſchließlich doch nur eine Eſſenz der beſten oder einſchmeichelndſten oder am offenſten ſich darbietenden Eigenſchaften, es komme dem Maler oder Stecher nur darauf an, einen beſonderen, ſeinem Kunſtweſen verwandten Zug bis zur vorgeſetzten Wirkung zu übertreiben, ſo daß von der wahren Art des betreffenden Menſchen kaum noch etwas übrigbleibe. Dem wurde heftig widerſprochen; das hänge ja vor allem von dem Genie des Künſtlers ab, wurde erwidert, und Lord Stanhope, der die Äußerungen des Hofrats bei dieſem Anlaß als einen Mangel an Delikateſſe empfinden mußte, ereiferte ſich ſehr gegen ſeine ſonſtige Gepflogenheit und behauptete, er ſeinerſeits getraue ſich aus jedem Bildnis, wen es auch darſtelle und von weſſen Hand auch immer es gefertigt ſei, die ſeeliſche Beſchaffenheit der abgebildeten Perſon zu erraten. Bei dieſen Worten lächelte die Hausfrau bedeutungsvoll. Sie verſchwand in einem Nebenraum und kehrte alsbald mit einem goldgerahmten ovalen Ölbild zurück, das ſie, noch immer lächelnd, in kurzer Entfernung von dem Grafen aufrecht auf den Tiſchrand ſtellte. Die Gäſte drängten ſich herzu, und faſt von allen Lippen erſcholl ein Ausruf der Bewunderung. Es war ein äußerſt lebendig und natürlich gemaltes Bild, welches eine junge Frau von verblüffender Schönheit darſtellte: ein Geſicht weiß wie Alabaſter und überhaucht von zartem Roſenrot; klare und ebenmäßige Züge, einen Blick, dem offenbar die Kurzſichtigkeit etwas Poetiſches und Schüchternes gab, und im ganzen der Phyſiognomie ein himmliſches Leuchten von Gefühl. „Nun, Mylord?“ fragte Frau von Imhoff ſchelmiſch. Stanhope nahm eine neunmalweiſe Miene an und ließ ſich vernehmen: „Wahrlich, in dieſem Geſchöpf verbindet ſich orientaliſche Weichheit mit andaluſiſcher Grazie.“ Frau von Imhoff nickte, als ob ſie das Geſagte vortrefflich fände. „Schön, Mylord,“ meinte ſie, „wir wollen etwas über den Charakter der Dame wiſſen.“ „O, man will mich attrappieren!“ verſetzte Stanhope heiter. „Nun gut. Ich denke, es iſt das eine Frau, welche jede Art von Leiden oder Ungemach mit außerordentlicher Langmut zu ertragen verſteht. Sie iſt ſanft, ſie iſt gottesfürchtig, ſie liebt den idylliſchen Frieden des Landlebens, ihre Neigungen gehören den ſchönen Künſten_—“ Frau von Imhoff konnte nicht mehr an ſich halten und brach in beluſtigtes Lachen aus. „Ich bin ſicher, Graf, daß Sie nur, um mich zu necken, eine ſo falſche Deutung unternommen haben,“ ſagte ſie. Der Hofrat machte ein mokantes Geſicht, Stanhope errötete. „Wenn ich mich blamiert habe, ſo belehren Sie mich eines Beſſern, gnädige Frau,“ antwortete er galant. „Um das zu können, müßte ich Ihre Geduld länger als wünſchbar in Anſpruch nehmen,“ ſagte Frau von Imhoff plötzlich ernſt. „Ich müßte Ihnen von dem ungewöhnlichen Schickſal dieſer Frau erzählen, die meine beſte Freundin iſt, und ich würde Gefahr laufen, die gute Stimmung zu zerſtören, in der Sie ſich alle befinden.“ Aber man wollte ſich nicht damit zufriedengeben, und Frau von Imhoff mußte ſchließlich dem allgemeinen Drängen willfahren. „Meine Freundin kam als Mädchen von achtzehn Jahren an den Hof einer mitteldeutſchen Reſidenz,“ begann ſie mit einer reizenden Befangenheit. „Sie war vater- und mutterlos und in ihrer Exiſtenz ganz auf ihren Bruder angewieſen. Dieſer Bruder, ich will ihn der Kürze wegen den Freiherrn nennen, galt trotz ſeiner Jugend, er war nur um zehn Jahre älter denn ſeine ſchöne Schweſter, für einen Mann von hervorragenden Talenten; der Fürſt, obwohl ſchwächlich und ausſchweifend, wußte ſeine Fähigkeiten vollauf zu würdigen, gab eine der höchſten Stellen des Landes unter ſeine Verwaltung und überhäufte ihn mit Ehren und Auszeichnungen. Doch nahm der Freiherr an den Vergnügungen des Hofes nur inſofern teil, als er die Schweſter in die Salons und Geſellſchaften des Adels einführte, und er hatte auch die Genugtuung, daß ſie nicht nur durch ihre Schönheit, ſondern auch durch Geiſt, Anmut und ein ſelten befeuertes Naturell der Mittelpunkt jedes Kreiſes wurde, in dem ſie ſich ſehen ließ. „Eines Tages nun wurde das ruhige Zuſammenleben der beiden Menſchen auf eine furchtbare Weiſe zerſtört. Faſt zufällig machte der Freiherr die Entdeckung, daß in der Finanzverwaltung des Landes ganz ungeheuerliche Unterſchleife ſtattgefunden hatten, es handelte ſich um viele Hunderttauſende von Talern, und daß der Fürſt ſelbſt, in Bedrängnis geraten durch eine arge Mätreſſen- und Protektionswirtſchaft, bei dieſen zum Nachteil des Volkes ausgeführten Manipulationen beteiligt war. Der Freiherr wußte ſich keinen Rat. Er vertraute ſich der Schweſter an. Dieſe ſagte ihm: Hier gibt es kein Schwanken, geh zum Fürſten und mach ihn ohne Rückhalt auf die Schwere eines ſolchen Verbrechens aufmerkſam. Es geſchah. Der Fürſt geriet in Zorn, wies dem jungen Mann die Tür und deutete ihm an, daß er ſeinen Abſchied zu nehmen habe. Als der Freiherr ſeiner Schweſter von dem unerwarteten Ausgang ſeines Unternehmens Mitteilung machte, drängte ſie ihn, die Geſchichte vor die verſammelten Landſtände zu bringen. Auch dazu erklärte ſich der Freiherr bereit, eröffnete ſich aber vorher noch einem ſeiner Freunde, der den Entſchluß zu billigen ſchien. Derſelbe Freund ſchrieb ihm am nächſten Abend ein Briefchen, worin er ihn dringlichſt aufforderte, einer wichtigen Beſprechung halber ſogleich in ein nahe der Stadt gelegenes Luſthaus zu kommen. Ohne Zögern folgte der Freiherr dem Ruf, ließ, trotzdem es ſchon ſpät und die Nacht finſter war, ſein Pferd ſatteln und ritt davon. „Seit dieſer Stunde wurde er nicht mehr geſehen. Einige Leute wollten gegen Mitternacht in der Nähe jenes Luſthauſes Schüſſe gehört haben, aber wie dem auch ſein mochte, der Freiherr war verſchwunden, und was mit ihm geſchehen war, blieb ein unerklärtes Rätſel. Den Schmerz der Schweſter kann man ſich denken. Doch vom erſten Tag an verſchmähte ſie es, dieſem Schmerz ſich hinzugeben, und entfaltete eine erſtaunliche Tätigkeit. Da ſie nach und nach den Tod des Bruders glauben mußte, ſetzte ſie alles daran, um wenigſtens ſeinen Leichnam ausfindig zu machen. Sie nahm Arbeiter auf, die in der Umgebung des Luſthauſes wochenlang die Erde aufgraben mußten, mit Güte, mit Liſt, mit Drohungen beſchwor ſie den angeblichen Freund des Bruders, zu reden, wenn er etwas wiſſe; es war umſonſt, er behauptete, nichts zu wiſſen. Niemand wollte etwas wiſſen. Sie warf ſich dem Fürſten zu Füßen, der ſie huldvoll anhörte und, anſcheinend ſelbſt ergriffen, alles zu tun verſprach, um der Sache auf die Spur zu kommen. Es war umſonſt. Einige Tage darauf erkrankte ſie, ohne Zweifel durch Gift; der Verſuch wiederholte ſich. Plötzlich aber ſtarb der Fürſt an einem Schlagfluß. Ihres Bleibens an jenem ſchrecklichen Ort war nun nicht mehr. Sie begann zu reiſen und ſuchte an allen kleinen und großen Höfen Deutſchlands, ſpäter ſogar in London und Paris Miniſter, Monarchen und Männer der Öffentlichkeit zu gewinnen, um Sühne oder wenigſtens Aufklärung zu erlangen. Stellen Sie ſich das Leben vor,“ fuhr Frau Imhoff fort, „das meine Freundin auf ſolche Weiſe länger als drei Jahre führte, immer unterwegs, immer in Haſt, mit beſtändigen Widerwärtigkeiten kämpfend. Ein großer Teil ihres Vermögens ging nach und nach durch ihre fruchtloſen Anſtrengungen verloren. Als ſie nun endlich einſehen mußte, daß ſie nichts erreichen würde, daß die Verbrüderung der Schlechten und Gleichgültigen zu mächtig iſt, entſagte ſie mit derſelben Entſchloſſenheit, die ſie bisher an den Tag gelegt, allen weiteren Verſuchen, zog in eine kleine Univerſitätsſtadt und warf ſich mit einem wunderbaren Eifer auf das Studium der Politik, der Jurisprudenz und der Nationalökonomie. Nicht als ob ſie ſich damit gegen die Welt verſchloß, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache mit einer öffentlichen vertauſcht. Ihre glühende Seele, für den Gedanken der Völkerfreiheit und der Menſchenrechte entflammt, ſuchte Betätigung. Vor zwei Jahren heiratete ſie einen unbedeutenden und keineswegs geliebten Mann; es geſchah deshalb, weil ſich der Mann, dem ſie ſich ſchon geweigert hatte, aus Leidenſchaft zu ihr im Bade die Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und ſie nahm ihn. Doch wurde die Ehe ſchon nach wenigen Monaten in friedlichem Einverſtändnis gelöſt, der Mann iſt nach Amerika gegangen und Farmer geworden. Meine Freundin fing abermals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald aus Wien, bald aus Athen; ſeit einigen Monaten weilt ſie in Ungarn. Überall unterſucht ſie die Lage der Bauern und die Not des arbeitenden Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfindſam, ſondern mit ſachlicher Gründlichkeit; ihr profundes Wiſſen und ihre Kenntnis der Geſetze, Verfaſſungen und öffentlichen Einrichtungen hat ſchon manchem gelehrten Herrn Bewunderung abgezwungen. Sie iſt heute fünfundzwanzig Jahre alt und ſieht faſt immer noch ſo aus wie auf dieſem Bild, das vor ſechs Jahren gemalt wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl glauben, Mylord, daß bei ihr von orientaliſcher Weichheit und ſanfter Leidensdemut nicht wohl die Rede ſein kann. Sanft iſt ſie, ja ſie iſt ſanft, aber ganz anders, wie man ſich das gewöhnlich vorſtellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges und Tätiges, denn es iſt in ihr ein kühner Geiſt und ein erhabenes Vertrauen zu allem, was menſchlich iſt. Immer iſt ihr die Gegenwart das Höchſte.“ Ein lautloſes Schweigen bezeugte der Erzählerin die tiefe Wirkung, die ſie hervorgerufen. Und iſt es denn nicht prächtig, iſt es nicht prächtig-ſpannend und angenehm-gruſelig, ſich dergleichen im wohldurchheizten, hellerleuchteten Zimmer vorerzählen zu laſſen? Der Mann am Kamin reibt ſich gemütlich die Hände, wenn es draußen ſtürmt und wettert. Dem Mann am Kamin verurſacht es ein ſüßprickelndes Behagen, wenn er ſich vorſtellt, daß draußen einige Leute ohne Überzieher und Handſchuhe herumſpazieren. Er, der Mann am Kamin, iſt ſogar imſtande, mit ſolchen Unglücklichen auf das lebhafteſte zu ſympathiſieren. Caſpar war, als Frau von Imhoff zu ſprechen angefangen, etwas außerhalb des Zuhörerkreiſes geſeſſen, dann hatte er ſich langſam erhoben, war näher gekommen, bis er an ihrer Seite ſtand, und hatte wie verzaubert auf ihren redenden Mund geblickt. Jetzt, da ſie fertig war, lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung und erhielten etwas unendlich Anziehendes. Frau von Imhoff geſtand ſpäter, daß ihr ein ſolcher Ausdruck kindlicher Freude noch nirgends vorgekommen ſei; ja, es glich dem Lachen eines kleinen Kindes, nur daß ſich eine höhere und reinere Kraft des Bewußtſeins darin zu erkennen gab und die Empfindung ſeines Innern mit den ſtärkſten Farben malte. Die Umſitzenden waren neugierig, was er ſagen würde, und beugten ſich vor, doch er ſtellte nur die zaghafte Frage: „Wie heißt denn die Frau?“ Frau von Imhoff legte den Arm um ſeine Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu verraten ſtehe ihr jetzt nicht zu, ſpäter vielleicht werde er es erfahren, auch an ihm nehme ſie herzlichen Anteil. Er blieb nachdenklich. Auch als die Geſelligkeit wieder geräuſchvoller wurde und das jüngſte Fräulein von Stichaner am Klavier Lieder ſang, behielt er ſeinen ſchief-beſinnenden Blick. Sonderbar wurde ſein Gefühl durch das ſo beweglich geſchilderte Schickſal jener Unbekannten nach außen getrieben, und wie durch den Wink eines unſichtbaren Geiſtes öffnete ſich zum erſtenmal ſein Herz den Leiden eines andern Ichs, einer fremden Exiſtenz. Es kann doch nicht ſo mit den Frauen beſchaffen ſein, wie ich’s mir immer eingebildet habe, dachte er. Das gab ihm zu denken. An irgendeinem Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt, und ein zwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen: das eine wohlvertraut und nicht geliebt, das zweite unfaßbar wie Schatten, fern wie der Mond, verſchwiſtert beinahe dem der nie geſehenen Mutter. Auf der Brücke zwiſchen Abend und Abend ſchreitet das Leben; was es heute ſchenkt, wird morgen Beſitz. Ohne dieſe Stunde hätte ein Ereignis der folgenden Nacht, bei dem er nur der flüchtige und kaum bemerkte Zeuge war, nicht ſo gewaltig in ſein Inneres gewuchtet, daß er tagelang danach ſich in der ſchmerzlichſten Verwirrung befand. 18. Joſeph und ſeine Brüder Als Abſchiedsgabe erhielt Caſpar vom Lord zwei Paar Schuhe, eine Schachtel mit Brüſſeler Spitzen und ſechs Meter feinen Stoff zu einem Anzug. Nachdem er ſchon den ganzen Vormittag mit ihm verbracht, kam Stanhope nach Tiſch ins Quandtſche Haus, um Caſpar Lebewohl zu ſagen. Um halb vier fuhr der Wagen vor. Caſpar geleitete den Grafen auf die Gaſſe. Er war bleich bis in die Augen; dreimal umarmte er den Scheidenden und biß die Zähne zuſammen, um nicht aufſchreien zu müſſen, war es doch ein Stück ſeines innigſten Seins, das ſich grauſam von ihm trennte — für immer, das fühlte er wohl, ob er den ſo teuer gewordenen Mann wiederſah oder nicht. Mit ihm nahm er Abſchied von der Unſchuld ſeligſten Vertrauens und von der Süßigkeit ſchöner Wünſche und Täuſchungen. Auch der Lord war zu Tränen gerührt. Es entſprach ſeiner reizbaren Natur, ſich bei ſolchen Anläſſen einer wohltätigen Gemütserſchütterung zu überlaſſen. Sein letztes Wort klang wie ein Schutz vor Selbſtvorwürfen; als wolle er geſchwind noch ins Schickſalsrad greifen und die Speichen zurückdrehen; die Kutſche war ſchon im Fahren, da rief er Quandt und dem Polizeileutnant Hickel, die beide am Tor ſtanden, mit feierlich hochgezogenen Brauen zu: „Bewahrt mir meinen Sohn!“ Quandt drückte die Hände beteuernd gegen ſeine Bruſt. Das Gefährt rollte gegen die Krailsheimer Straße. Fünf Minuten ſpäter erſchienen Herr von Imhoff und der Hofrat Hofmann; ſie mußten zu ihrem Leidweſen erfahren, daß ſie die Zeit verpaßt hatten. Um Caſpar ſeiner Traurigkeit zu entreißen, forderten ſie ihn zu einem Spaziergang in den Hofgarten auf, ein Vorſchlag, dem der Lehrer eifrig zuſtimmte. Hickel bat, ſich anſchließen zu dürfen. Kaum waren die vier Perſonen um die nächſte Ecke gebogen, als Quandt raſch ins Haus zurückeilte und ſeiner Frau einen Wink gab, die ihm, ohne zu fragen, weil das Unternehmen verabredet war, in den oberen Flur folgte, wo ſie ſich bei der Treppe als Schildwache aufſtellte. Quandt ſeinerſeits machte ſich nun daran, das Tagebuch zu ſuchen. Er hatte ſich zu dem Ende ein zweites Paar Schlüſſel anfertigen laſſen und konnte damit die Kommode und den Schrank öffnen. In der Kommodeſchublade fand er nichts, das blaue Heft war nicht mehr darin. Aber auch den Schrank durchſtöberte er vergeblich, die Kleider, die Tiſchlade, die Bücher, das Kanapee; vergeblich kroch er in jeden Winkel, es war nichts zu finden. Erſchöpft trocknete er ſich den Schweiß von der Stirn und rief ſeiner Frau durch die offene Tür zu: „Siehſt du, Jette, was ich immer ſage: der Kerl hat’s fauſtdick hinter den Ohren.“ „Ja ja, er iſt falſch wie Bohnenſtroh,“ erwiderte die Frau, „und lauter Scherereien macht er einem.“ Sie ſchimpfte bloß ihrem Mann zu Gefallen, denn im Grund hatte ſie den Jüngling gern, weil noch nie ein Menſch ſich ſo höflich und nett gegen ſie betragen hatte. Quandt blieb für den Reſt des Tages verſtimmt wie einer, der um ein edles Werk betrogen wurde. Und war es nicht ſo? War es nicht ſeine Miſſion auf dieſer Erde, die Lüge von der Wahrheit zu ſcheiden und als rechter Herzensalchimiſt den Mitmenſchen die unvermiſchten Elemente aufzuzeigen? Er durfte nicht ruhig zuſehen und nicht Nachſicht üben, wo der Atem der Lüge wehte. Von ſolchen Empfindungen bewegt, hielt er am ſelben Abend ſeiner Gattin eine längere Rede, worin er ſich folgendermaßen ausſprach: „Sieh mal, Jette, iſt dir nicht ſein gerades und aufrechtes Sitzen bei Tiſch ſchon aufgefallen? Kann man annehmen, daß ſo ein Menſch jahrzehntelang in einem unterirdiſchen Loch vegetiert hat? Kann man dies glauben, wenn man ſeine fünf Sinne ordentlich beieinander hat? Von ſeiner gerühmten Kindlichkeit und Unſchuld kann ich, offen geſtanden, nichts entdecken. Er iſt gutmütig, ja; gutmütig mag er ſein, aber was beweiſt das? Und wie er vor den reichen und vornehmen Leuten ſcharwenzelt und liebedienert als der ausgemachte Duckmäuſer, der er iſt! Da hat deine Freundin, die Frau Behold, den Nagel auf den Kopf getroffen. Sieh mal, oft, wenn ich unverſehens in ſein Zimmer trete, es liegt mir natürlich daran, ihn zu überraſchen, aber da hockt er dir manchmal in der Ecke — es iſt ſonderlich anzuſchauen. Ich weiß nicht, iſt er ſo geiſteſabweſend oder ſtellt er ſich nur ſo, aber wenn er mich dann bemerkt, verändert ſich ſein Geſicht blitzſchnell zu der heuchleriſchen Grimaſſe von Freundlichkeit, die einen leider entwaffnet. Einmal hab’ ich ihn ſogar am hellichten Tag bei heruntergelaſſenen Rouleaus gefunden. Was kann das bedeuten? Es ſteckt eben was dahinter.“ „Was ſoll denn dahinter ſtecken?“ fragte die Lehrerin. Quandt zuckte die Achſeln und ſeufzte. „Das mag Gott wiſſen,“ ſagte er. „Bei alledem mag ich ihn leiden,“ ſchloß er mit verſorgtem Stirnrunzeln; „ich mag ihn gut leiden, er iſt ein aufgeweckter und trätabler Burſche. Man muß aber ſehen, was dahinter ſteckt. Es iſt etwas Unheimliches um den Menſchen.“ Die Lehrerin, die ſich für die Nacht friſierte, war des Schwatzens müde. Ihr hübſches Geſicht hatte den Ausdruck eines dummen, ſchläfrigen Vogels, und ihre auffallend nah beieinander ſtehenden Augen blinzelten matt ins Kerzenlicht. Plötzlich ließ ſie den Kamm ruhen und ſagte: „Horch mal, Quandt.“ Quandt blieb ſtehen und lauſchte. Caſpars Zimmer lag über dem ehelichen Schlafgemach, und ſie vernahmen nun in der eingetretenen Stille die unaufhörlich auf und ab gehenden Schritte ihres rätſelhaften Hausgenoſſen. „Was mag er treiben?“ meinte die Frau verwundert. „Ja, was mag er treiben,“ wiederholte Quandt und ſtarrte finſter zur Decke. „Ich weiß nicht, mir wurde immer geſagt, daß er mit den Hühnern ſchlafen geht; ich merke nichts davon. Nun ſiehſt du’s, da ſoll man ſich auskennen. Jedenfalls wollen wir ihm das Spazierengehen bei Nacht abgewöhnen.“ Quandt öffnete leiſe die Tür und ſchlich auf Pantoffeln vorſichtig hinaus. Vorſichtig ſchlich er die Treppe empor, und als er vor Caſpars Tür angelangt war, verſuchte er durchs Schlüſſelloch zu ſpähen, aber da er nichts ſehen konnte, legte er in derſelben gebückten Stellung das Ohr ans Schloß. Ja, da wandelte er herum, der Unerforſchliche, wandelte herum und ſchmiedete ſeine dunkeln Pläne. Quandt drückte die Klinke, die Tür war verſperrt. Da erhob er ſeine Stimme und forderte energiſch Ruhe. Sogleich ward es drinnen mäuschenſtill. Als nun der Lehrer wieder zu ſeiner Frau kam, fand ſich, daß mit unerwarteter Plötzlichkeit deren ſchwere Stunde angebrochen war. Schon lag ſie ſtöhnend auf dem Bett und verlangte nach der Hebamme. Quandt wollte die Magd ſchicken; die Frau ſagte: „Nein, das geht nicht, geh du ſelber, die Perſon iſt blöde und wird den Weg verfehlen.“ Wohl oder übel mußte ſich Quandt dazu entſchließen, ſo unbequem auch die Sendung war, denn erſtlich hatte er ſich aufs Bett gefreut, zweitens fürchtete er ſich ein wenig vor dem Gang durch die finſtern Gaſſen, war doch erſt zu Pfingſten hinter der Karlskirche ein Rechnungsakzeſſiſt überfallen und halb erſchlagen worden. Verdroſſen haſtete er in die Kleider; hierauf holte er die Magd aus den Federn und befahl ihr, eine befreundete Nachbarin zu rufen, die ſich im Notfall zur Hilfeleiſtung erboten hatte, dann ſchlurfte er wieder herein, durchkramte die Truhe nach ſeinen Piſtolen, wobei er das Nähtiſchlein umwarf, was ihn wieder derart in Verzweiflung ſetzte, daß er mit den Händen ſeinen Kopf packte und ſein unſeliges Los verwünſchte. Die Frau, der das Elend ſchon den Sinn verrückte, entnahm ihrem Zuſtand den Mut, ihm allerlei ſonſt feig zurückgehaltene Aufrichtigkeiten zuzuſchleudern, welche ihn im beſondern und das Mannsvolk im allgemeinen trafen. Das hatte die beſte Wirkung, und nachdem er ſein kleines Söhnchen, das nebenan ſchlief und von dem Tumult erwacht war, in die Magdkammer getragen hatte, trollte er ſich endlich. Caſpar, im Begriff ſich niederzulegen, vernahm auf einmal mit Schaudern die ſchmerzensvolle Stimme der Frau unten. Immer furchtbarer wurden die Laute, immer greller drangen ſie herauf. Dann war es wieder eine Zeitlang ſtille, dann knarrte die Haustüre, Schritte gingen, Schritte kamen, und nun begann das Schreien viel ärger. Caſpar dachte, ein großes Unglück ſei paſſiert; ſein erſter Trieb war, ſich zu retten. Er lief zur Tür, ſperrte auf und eilte die Stiege hinab. Die Wohnzimmertüre war offen, überheizte Luft quoll ihm entgegen. Die Magd und die Nachbarin ſtanden geſchäftig am Bett der Frau Quandt; dieſe ſchrie nach ihrem Mann, ſchrie zu Gott und bäumte ſich auf. Ach, was ſah Caſpar da! Wie ward ihm doch zumute! Ein Köpflein ſah er, einen weißen kleinen Rumpf, ein ganzes winziges Menſchlein, emporgehoben mit Händen, die nicht kleiner waren als es ſelbſt! Alle Glieder zitterten an Caſpar, er wandte ſich um, und ohne daß ihn jemand erblickt, floh er die Stiege hinauf, ſank auf dem oberſten Treppenabſatz atemlos hin und blieb ſitzen. Wieder ging die Haustür, Quandt erſchien mit der Wehfrau, doch ſchon ſtürzte ihm die Nachbarin jubelnd entgegen: „Ein Töchterlein, Herr Lehrer!“ „Ei, ſieh da!“ rief Quandt mit einer Stimme, ſo ſtolz, als hätte er dabei etwas Nennenswertes geleiſtet. Piepſendes Geplärr beſtätigte die Anweſenheit der neuen Weltbürgerin. Nach einer Weile kam trällernd die Magd, und Caſpar ſah, daß ſie eine Schüſſel voll Blut trug. Es mochte in allem nicht mehr denn eine Stunde verfloſſen ſein, als Caſpar ſich endlich erhob und in ſeine Kammer taumelte. Wie betrunken entkleidete er ſich, wühlte ſich in die Betten und vergrub das Geſicht. Er konnte nichts dawider tun: aus der Nacht erhob ſich gleich einer purpurnen Scheibe die Schüſſel voll Blut. Er konnte nichts andres ſehen als dies: aus einem blutigen Schlund krochen junge Weſen und wurden Menſchen genannt. Nackend und winzig, einſam und hilflos und unter dem Jammer der Mutter krochen ſie wehevoll aus einem Kerker ohnegleichen, wurden geboren, ja, geboren, ſowie die Mutter ihn geboren. Das iſt es alſo, dachte Caſpar. Er ſpürte das Band, begriff den Zuſammenhang, fühlte ſeine Wurzeln tief in der blutenden Erde, alles ſtarre Leben regte ſich, das Geheimnis war entſchleiert, die Bedeutung offenbar. Doch Mitleid und Grauen, Sehnſucht und Furcht waren nun eines, Leben und Sterben zu einem Namen verſchmiedet. Er wollte nicht einſchlafen und ſchlief ein, aber je näher der Schlummer kam, eine je qualvollere Todesangſt umfing ihn, ſo daß er ſich nur widerſtrebend ergab: ein banger kleiner Tod im Leben. Da er am Morgen über die gewohnte Stunde ausblieb, verwunderte ſich Quandt, ging hinauf und pochte an der Tür. Obgleich er das Zimmer vom Abend her verſperrt wußte, drückte er auf die Klinke, fand jedoch zu ſeinem Erſtaunen die Tür unverſchloſſen. An Caſpars Bett tretend, rüttelte er ihn und ſagte ärgerlich: „Nun, Hauſer, Sie fangen ja an, ein Siebenſchläfer zu werden. Was iſt’s denn?“ Caſpar ſetzte ſich auf, und der Lehrer ſah, daß das Kopfkiſſen ganz naß war; er deutete hin und fragte, was das ſei. Caſpar beſann ſich ein wenig und antwortete, es ſei vom Weinen, er habe im Schlaf geweint. Was, geweint? dachte Quandt argwöhniſch; warum geweint? wieſo weiß er es denn ſo ſchnell, wenn er im Schlaf geweint hat? und warum hat er ſo lange gewartet, bis ich mich entſchloſſen, ihn zu holen? Dahinter ſteckt eine Finte, entſchied Quandt, er will mich milde ſtimmen. Forſchend ſchaute er ſich um, und ſein Blick fiel auf das Waſſerglas, das auf dem Nachttiſchlein ſtand. Er nahm das Glas und hob es prüfend empor, es war halb leer. „Haben Sie Waſſer getrunken, Hauſer?“ fragte er düſter. Caſpar ſah ihn verſtändnislos an. Der Blick des Lehrers, von dem Glas auf das Kiſſen gleitend, bekam einen vorwurfsvollen Ausdruck. „Sollten Sie nicht aus Verſehen das Waſſer verſchüttet haben?“ fragte er weiter; „ich ſage: aus Verſehen und meine durchaus nichts andres, Sie können freimütig mit mir reden, Hauſer.“ Caſpar ſchüttelte langſam den Kopf; er verſtand nicht, was der Mann wollte. Verſtockt, verſtockt, dachte Quandt und gab das Verhör auf. Als Caſpar zum Unterricht ins Wohnzimmer kam, teilte ihm Quandt in geziemender Würde mit, daß ihm eine Tochter geſchenkt worden ſei. „Wieſo geſchenkt?“ fragte Caſpar naiv. Quandt runzelte die Stirn. Die Gleichgültigkeit, mit welcher der Jüngling ein ſolches Ereignis aufnahm, verdroß ihn ſehr. Seine Haltung war kalt und förmlich, als er ſagte: „Wir beginnen wie gewöhnlich mit der Bibelſtunde. Leſen Sie Ihr Penſum vor.“ Es war die Geſchichte Joſephs. Da iſt ein alter Mann, der viele Söhne hat, aber den jüngſten unter ihnen am meiſten liebt und ihm einen bunten Rock gibt, um ihn auszuzeichnen. Deswegen haſſen ihn nun die Brüder und wollen nicht mehr freundlich mit ihm reden. Und Joſeph erzählt ihnen einen Traum von den Garben. „Siehe, wir banden Garben auf dem Felde“, erzählt er, „da ſtand meine Garbe auf und blieb ſtehen und ſiehe, eure Garben waren ringsum und beugten ſich vor meiner Garbe.“ Da antworten die Brüder: „Willſt du denn König werden über uns? willſt du herrſchen über uns?“ Und ſie haſſen ihn noch mehr wegen ſeiner Träume. Aber Joſeph iſt ſehr arglos, er ſcheint den Grund ihrer Abneigung nicht zu ahnen, er erzählt ihnen alsbald einen zweiten Traum, nämlich wie die Sonne, der Mond und elf Sterne ſich vor ihm beugten. Ein Traum von leichter Deutbarkeit, denn elf iſt die Zahl der Brüder. Sogar der Vater ſchilt ihn wegen dieſes Traumes. „Was denkſt du, Joſeph,“ ſpricht er vorwurfsvoll, „ſoll ich und deine Mutter und deine Brüder, ſollen wir kommen, uns vor dir zu beugen?“ Und bald darauf gehen die Brüder, die alle Hirten ſind, aufs Feld, um die Schafe zu weiden, und Joſeph wird von ſeinem Vater zu ihnen geſandt. Und wie die Brüder ihn von ferne ſehen, ſprechen ſie zueinander: „Seht, da kommt der Träumer.“ Und ſie beſchließen ihn zu erwürgen, ſie wollen ihn in eine Grube werfen und vorgeben, ein wildes Tier habe ihn verzehrt; „dann werden wir ja ſehen, was aus ſeinen Träumen wird,“ ſagen ſie hohnvoll. Da iſt aber einer unter den Brüdern, der Erbarmen hat, und er warnt die andern. Er rät ihnen, den Jüngling in die Grube zu werfen, ihn jedoch nicht zu töten. Und ſo geſchieht es auch; ſie ziehen ihm den Rock aus, den bunten Rock, den er trägt, und werfen den Knaben in die Grube, und als dies vollbracht iſt, erſcheint ein Zug von Kaufleuten aus fernem Land, und die Brüder einigen ſich jetzt, den Joſeph zu verkaufen, und ſie verkaufen ihn um Geld. Dann nehmen ſie Joſephs Kleid, tauchen es in das Blut eines geſchlachteten Tieres und ſprechen zum Vater: „Das blutige Kleid haben wir gefunden, ſieh doch, ob es nicht deines jüngſten Sohnes Kleid iſt.“ Der Alte zerreißt ſein Gewand und ruft aus: „Trauernd will ich hinunterfahren zu meinem Sohn in die Unterwelt.“ Als Caſpar ſo weit gekommen war, verſagte ihm die Stimme. Er ſtand auf, legte das Buch beiſeite, und ſeine Bruſt ward von Seufzern nur ſo geſchüttelt. Die Hand vor den Mund gepreßt, erſtickte er mit großer Anſtrengung das heraufquellende Schluchzen. Quandt ſtutzte. Er beobachtete den Jüngling ſcharf. Er hatte dabei den ſchrägen Blick einer an den Pfahl gebundenen Ziege. „Hören Sie mal, Hauſer,“ ſagte er endlich. „Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß Sie von dieſer ſimpeln Geſchichte ſo ergriffen ſind, die Ihnen noch dazu wohlbekannt ſein muß; meines Wiſſens haben Sie ja dieſen Teil des Alten Teſtaments ſchon beim Profeſſor Daumer durchgenommen. Da muß Ihnen doch auch gegenwärtig ſein, daß es dem Joſeph noch recht glücklich ergangen iſt, denn er war ein reiner und guter Menſch. Ich bitte, ſparen Sie ſich alſo die Mühe. Wenn Sie pflichtgetreu, aufrichtig und folgſam ſind, werden Sie bei mir zehnmal beſſer fahren als durch die unzeitige Schauſtellung von ſo weit hergeholten Affekten. Ich glaube Ihnen Ihre Tränen einfach nicht; ich denke Ihnen das heute ſchon einmal deutlich genug bewieſen zu haben. Damit erzielen Sie bei mir nur das Gegenteil von dem, was Sie beabſichtigen mögen, ich bin nämlich kein Freund von Gefühlsausbrüchen, im allgemeinen nicht, und bei ſo ungegründetem Anlaß ſchon gar nicht. Es iſt nachgerade Zeit für Sie, ſich an den Ernſt des Lebens zu gewöhnen. Und weil wir nun ſchon ſo offen miteinander reden, möchte ich Sie dringend warnen, alle Leute, mit denen Sie zu tun haben, für dumm zu halten; das iſt eine Verblendung von Ihnen, welche die nachteiligſten Folgen haben wird. Ich bin Ihnen wohlgeſinnt, Hauſer, ich meine es wahrhaft gut mit Ihnen, vielleicht haben Sie keinen beſſern Freund als mich, was Sie freilich erſt einſehen werden, wenn es zu ſpät ſein wird. Aber hüten Sie ſich, mich hinters Licht zu führen! Und nun fahren wir fort. Ich will dieſen Zwiſchenfall als nicht geſchehen betrachten.“ Im Verlauf dieſer eindrucksvollen Predigt war die Stimme des Lehrers weich und gütig geworden, und es hatte beinahe den Anſchein, als wolle er nun Caſpar nehmen und an ſein Herz drücken. Aber Caſpar ſtand mit albernem Geſicht, in welchem ein Lächeln hilflos zuckte, vor ihm da. Was iſt denn das? dachte er, was will der Mann? Es war ihm, auch bei ſpäterem Nachdenken, ganz und gar nicht verſtändlich, worauf die Worte des Lehrers hinzielten, und er kam zu der Anſicht, daß Quandt der rätſelhafteſte Menſch ſei, dem er je begegnet. 19. Schloß Falkenhaus Der Präſident traf erſt am Dreikönigstag, nach faſt vierwöchiger Abweſenheit, wieder in der Stadt ein. Die ihm naheſtehenden Perſonen wollten eine bedeutende Veränderung ſeines Weſens an ihm bemerken; er erſchien wortkarg und finſter, und ſein Anteil an den Amtsgeſchäften hatte bisweilen etwas von Lauheit. Es fiel auf, daß er mehrere Tage verſtreichen ließ, ehe er ſich nach Caſpar erkundigte. Als ihn der Hofrat Hofmann während des gemeinſamen Nachhauſewegs unbefangen fragte, ob er den Jüngling ſchon geſehen habe, gab Feuerbach keine Antwort. Tags darauf erſchien der Polizeileutnant bei ihm. Hickel ſtellte ſich um die Sicherheit des Hauſer beſorgt und meinte, man ſolle für eine Überwachung ſorgen; der Präſident ging auf die Sache nicht weiter ein und ſagte bloß, er werde ſich’s überlegen. Am ſelben Nachmittag ließ er den Lehrer rufen und ſtellte ihn über Befinden und Betragen ſeines Zöglings zur Rede. Quandt ſagte dies und ſagte das; es war nicht ſchwarz noch weiß; zum Schluß zog er einen Brief aus der Taſche, es war das Schreiben der Magiſtratsrätin Behold, welches dem Präſidenten zu überreichen er ſich entſchloſſen hatte. Feuerbach überlas das Schriftſtück, und eine Wolke von Mißmut lagerte ſich auf ſeine Stirn. „Sie müſſen auf derlei Zeug kein Gewicht legen, lieber Quandt,“ ſagte er barſch, „wo kämen wir denn hin, wenn wir auf das Gewäſch jeder ſolchen Närrin hören wollten? Sie haben ſich nicht mit der Vergangenheit des Hauſer zu beſchäftigen, das iſt nicht Ihres Amts; ich habe Sie dazu beſtellt, einen tüchtigen Menſchen aus ihm zu machen, wenn Sie in der Hinſicht zu klagen haben, bin ich ganz Ohr, mit andern Dingen verſchonen Sie mich.“ Es läßt ſich denken, daß eine ſo grobe Abfertigung die Empfindlichkeit des Lehrers tief verletzte. Er ging erbittert heim, und obwohl ihm der Präſident den Auftrag gegeben hatte, Caſpar am Sonntag früh zu ihm zu ſchicken, teilte er dies dem Jüngling erſt zwei Tage ſpäter, am Samſtag abend, mit. Als Caſpar zur beſtimmten Stunde ins Feuerbachſche Haus kam, mußte er im Flur ziemlich lange warten, dann erſchien erſt Henriette, die Tochter des Präſidenten, und führte ihn ins Wohnzimmer. „Ich weiß nicht, ob der Vater Sie heute empfangen wird,“ ſagte ſie und erzählte dann, in der vergangenen Nacht ſei ein Einbruch in das Arbeitszimmer des Präſidenten verübt worden; die unbekannten Täter hätten alle Papiere auf dem Schreibtiſch durchwühlt und mit Nachſchlüſſeln die Laden geöffnet; es ſei anzunehmen, daß die Verbrecher irgend beſtimmte Briefe oder Handſchriften hätten an ſich bringen wollen, denn es ſei nichts geraubt worden, auch die gewünſchte Beute hätten ſie nicht machen können, da der Vater ſeine wichtigen Papiere gut verwahrt habe; nur die erbrochenen Fenſter und eine gewaltige Unordnung habe von ihrem Treiben Zeugnis gegeben. Das Fräulein ſchritt während dieſes Berichts in männlicher Weiſe auf und ab, die Arme über der Bruſt verſchränkt, Groll und Zorn in Stimme und Miene. Sie ſagte, der Vater ſei natürlich außer ſich über den Vorfall; währenddeſſen öffnete ſich die Tür und der Präſident trat in Begleitung eines ſchlanken, etwa dreißigjährigen jungen Mannes auf die Schwelle. „Aha, da iſt Caſpar Hauſer, Anſelm,“ ſagte der Präſident. Der Angeredete ſtutzte und blickte Caſpar gedankenvoll und zerſtreut ins Geſicht. Caſpar war betroffen von der außergewöhnlichen Schönheit dieſes Menſchen; wie er ſpäter erfuhr, war es der zweitälteſte Sohn Feuerbachs, der, verfolgt von einem widrigen Geſchick, für einige Tage ins Elternhaus geflüchtet war, um Rat und Hilfe ſeines Vaters in Anſpruch zu nehmen. Caſpar liebte ſchöne Geſichter, zumal wenn ſie ſo voll Geiſt und Schwermut waren, bei Männern ganz beſonders; aber es war dies nur eine kurze Erſcheinung, er ſah ihn nicht wieder. Der Präſident ließ Caſpar ins Staatsgemach treten und kam erſt nach einer Weile. Sofort fiel Caſpars Blick auf das Napoleonbildnis an der Wand. Wie wunderlich es war: ſolche Ähnlichkeit im Ausdruck der ſtolz-abweiſenden Majeſtät und der finſteren Trauer um die anmutig geſchwungenen Lippen mit jenem Mann, den er ſoeben geſehen! Dazu noch der prunkvolle Ornat, Krone, Halsſchmuck und Purpurmantel. Caſpar war bewegt; eine höhere Welt tat ſich ihm auf; am liebſten wäre er hingegangen, um, was an dem Bild geſtalthaft ſchien, mit Händen zu packen und, was ihn ſo hoheitsvoll daraus anredete, in laute Zwieſprach zu verwandeln. Unwillkürlich reckte er ſich auf, als zwinge ihn die königliche Figur zur Nachahmung; er machte ein paar Schritte hin und her und war freudig erſchrocken bei der Wahrnehmung, daß die Augen des Bildes ihn mit dunkler Glut verfolgten. Alſo beſchäftigt fand ihn der Präſident und blieb überraſcht neben der Tür ſtehen. Mochte es Zufall genannt werden oder war es eine der unergründlichen Verkettungen, in denen dies nicht gewöhnliche Schickſal ſich offenbarte, Feuerbach ſah in dem zauberartigen Gegenüberſtehen von Bild und Jüngling etwas wie ein Ordal, eine Beglaubigung von oben. War doch Caſpars Mutter (ſeine Mutter, ja, ſofern der ganze Bau der furchtbaren Annahmen und halben Gewißheiten im Licht der Wirklichkeit nur irgend beſtehen konnte) durch verwandtſchaftliche Bande an jenen Heros geknüpft. „Wiſſen Sie denn auch, wer das iſt, Caſpar?“ fragte Feuerbach mit lauter Stimme. Caſpar ſchüttelte den Kopf. „So will ich’s Ihnen ſagen. Das iſt ein Mann, der die Menſchheit davon überzeugt hat, daß ein großer Wille alles vermag. Haben Sie denn noch nie was vom Kaiſer Napoleon gehört? Ich kannte ihn, Caſpar, ich habe ihn geſehen, ich habe mit ihm geſprochen, ich war Mittelsmann zwiſchen ihm und unſerm König Max. Es war eine große Zeit und nicht mehr viel iſt von ihr übrig.“ Mit wehmütig-ſinnendem Blick wandte ſich Feuerbach ab. Er ſpürte die Laſt der Jahre; lange genug hatte er ſich gegen ihre Pranken gewehrt; faſt mit Angſt ſtreifte ſein Auge den immer noch ſchweigend daſtehenden Jüngling, als erwarte er von ihm das Richterwort, das ſeine nicht mehr zu verbergende Ohnmacht der Welt preisgeben mußte. Das zuletzt Erfahrene, dort bei den Mächtigen Erlittene überflutete ſein Herz mit Scham; eine Flamme des Ingrimms und des Haſſes gegen alles, was Menſchen hieß, loderte plötzlich in ihm auf, zähneknirſchend rannte er ein halbdutzendmal zwiſchen den Fenſtern und der Tür hin und her, und erſt der Anblick des vor Furcht erbleichten Caſpar gab ihm die Beſinnung einigermaßen zurück, und er ſtellte die mürriſche Frage, ob Caſpar bei Quandt genug zu eſſen bekomme. „Darüber iſt nicht zu klagen,“ antwortete Caſpar. Den zweideutigen Ton, in welchem er dies vorbrachte, ſchien Feuerbach zu überhören. „Und was iſt es mit dem Lord?“ fragte er weiter mit einem ſtarr-drohenden Blick, „haben Sie ſchon Nachricht von ihm? Haben Sie ſelbſt ihm ſchon geſchrieben?“ „Einmal jede Woche ſchreib’ ich ihm,“ ſagte Caſpar. „Wo befindet er ſich?“ „Er will jetzt nach Spanien.“ „Nach Spanien; ſoſo; nach Spanien. Das iſt ſehr weit, mein Beſter.“ „Ja, das ſoll weit ſein.“ Dieſe einſilbige Unterhaltung wurde durch einen Polizeibeamten unterbrochen, der eine ſchriftliche Meldung wegen des nächtlichen Einbruchs brachte. Caſpar verabſchiedete ſich. „Wo bleiben Sie denn ſo lang?“ empfing ihn Quandt ärgerlich. „Ich war beim Präſidenten, das wiſſen Sie doch,“ verſetzte Caſpar. „Schön; aber es verrät wenig Lebensart, daß Sie einen Beſuch nicht zu kürzen verſtehen, wenn man zu Haus mit dem Abendeſſen auf Sie wartet.“ Das Eſſen war nämlich eine wichtige Angelegenheit bei Quandts. Der Lehrer ſetzte ſich immer mit einer gewiſſen Rührung zu Tiſch, und ſein prüfender Blick ſchien alle Teilnehmer der Mahlzeit auf den Grad ihrer Andacht zu examinieren. Wenn Frau Quandt verkündigte, was man des Guten zu erwarten habe, begleitete der Lehrer ihre Aufzählungen entweder mit einem Kopfnicken oder bedenklichem Runzeln der Stirne. Schmeckte ihm ein Gericht, ſo wuchs ſeine gute Laune, fand es nicht ſeinen Beifall, ſo aß er jeden Biſſen mit einem Ausdruck weltüberlegener Ironie. Für manches hatte er eine beſondere Vorliebe, wie zum Beiſpiel für ſaure Gurken oder angewärmten Kartoffelſalat, und er unterließ es dann ſelten, während er ſich delektierte, die Einfachheit ſeiner Bedürfniſſe hervorzuheben. Die Lehrerin verſtand trefflich zu kochen, und wenn ihr eine Leibſpeiſe des Mannes gelungen war, blieb ſie für ſein Lob nicht unempfänglich, obſchon es bisweilen in eine zu gelehrte Form gekleidet war; ſo pflegte Quandt im Scherz zu ſagen, wenn er ſie nicht genommen hätte, wäre ſicherlich der ſelige Trimalchio wieder auferſtanden, um ſie zu heiraten. Nach dem Abendeſſen kam die gemütliche Stunde mit Pantoffeln, Schlafrock, Lehnſtuhl und Zeitungsleſen. Ins Wirtshaus ging Quandt faſt nie, einmal wegen der Koſten und dann, weil er keine Anſprache fand. Er zog die bequeme Ofenecke vor. Aber ſeit Caſpar im Haus weilte, war dieſe idylliſche Abendſtimmung ohne rechten Reiz. Quandt war gequält und wußte manchmal kaum die Urſache. Stellen wir uns einen Hund vor, einen klugen, nervigen, wachſamen Hund. Stellen wir uns vor, daß dieſer Hund bei ſeinem Schnuppern in dem anvertrauten Revier irgendwo einen Brocken Gift erwiſcht hat und daß er nun, das verderbliche Feuer in ſeinem Leib, unbewußt das Dunkel ſucht, alle feuchten Winkel lechzend durchraſt, den Schatten verfolgt, die Fliege beknurrt, alles um ſich und über ſich nur auf das eine tolle Drängen bezieht und die ganze Welt für vergiftet hält, während es bloß ſeine armen Gedärme ſind, ſo hätten wir ein anſchauliches Bild von dem Zuſtand des bedauernswerten Mannes. Sein Dämon ſchmiedete ihn feſt an den Jüngling; es wurde ihm vor allen Dingen wichtig, „dahinterzukommen“; er hätte ein paar Jahre ſeines Lebens hergegeben, wenn er dadurch geſchwind zu der Kenntnis gelangt wäre, was „dahinterſteckte“. Um acht Uhr kam der Polizeileutnant zu Beſuch; er war ſchlecht gelaunt, denn er hatte letzte Nacht im Kaſino fünfundſechzig Gulden beim Pharao verloren und war das Geld noch ſchuldig. Gegen Caſpar zeigte er ſich auffallend freundlich; er fragte ihn aus, was er mit dem Präſidenten geſprochen, nahm aber den getreuen Bericht des Jünglings, als zu belanglos, mit Mißtrauen auf. „Ja, unſer guter Freund iſt recht zurückhaltend,“ beklagte ſich Quandt; „ich wußte gar nichts von dem Einbruch beim Präſidenten, und mit Müh und Not, daß er überhaupt davon erzählt hat. Wiſſen Sie Näheres, Herr Polizeileutnant? Hat man ſchon Spuren?“ Hickel erwiderte gleichmütig, man habe bei Altenmuhr einen verdächtigen Landſtreicher aufgegriffen. „Was doch alles vorgeht!“ rief Quandt; „welche Frechheit gehört dazu, das Oberhaupt der Behörde zum Opfer eines ſolchen Anſchlags zu machen!“ Insgeheim aber räſonierte er: recht ſo; das wird den Unantaſtbarkeitswahn der Exzellenz ein bißchen erſchüttern; recht ſo; auch von den Spitzbuben können die großen Herren mitunter eine nützliche Lehre empfangen. „Es ſollte mich ſehr wundern,“ ſagte Hickel mit vornehm geſchloſſenen Lippen — eine Fineſſe, die er dem Lord Stanhope abgeguckt_—, „wenn dieſe Geſchichte nicht wieder irgendwie mit unſerm Hauſer zuſammenhinge.“ Quandt machte große Augen, dann ſchaute er ſchräg auf Caſpar, deſſen erſchrockener Blick dem ſeinen entglitt. „Ich habe Gründe zu einer ſolchen Vermutung,“ fuhr Hickel fort und ſtarrte die blankgeſcheuerten Nägel ſeiner roten Bauernhände an; dieſe Hände flößten Caſpar ſtets einen namenloſen Widerwillen ein; „ich habe Gründe und werde vielleicht ſeinerzeit damit herausrücken. Der Staatsrat ſelber iſt geſcheit genug, um zu wiſſen, was die Glocke geſchlagen hat. Aber er will’s nicht Wort haben, es iſt ihm nicht geheuer dabei zumut.“ „Nicht geheuer zumut? Was Sie ſagen!“ verſetzte Quandt, und ein angenehmes Gruſeln lief ihm über den Rücken. Auch die Lehrerin hörte mit dem Strümpfeſtopfen auf und ſah neugierig von einem zum andern. „Ja ja,“ fuhr Hickel fort und lächelte den Lehrer mit ſeinen gelbblinkenden Zähnen an, „ſie haben ihm dort unten in München gehörig eingeheizt, und er trägt den Kopf bei weitem nicht mehr ſo zuverſichtlich. Meinen Sie nicht auch, Hauſer?“ fragte er und ſah bald Quandt, bald deſſen Frau ſtrahlend an. „Ich meine, es iſt nicht in der Ordnung, daß Sie ſo vom Herrn Staatsrat ſprechen,“ antwortete Caſpar kühn. Hickel verfärbte ſich und biß ſich auf die Lippen. „Sieh mal an, ſieh mal an,“ ſagte er düſter. „Haben Sie das gehört, Herr Lehrer? Schon unkt die Kröte, es wird Frühjahr.“ „Eine höchſt unpaſſende Bemerkung, Hauſer,“ ließ ſich Quandt zürnend vernehmen. „Sie ſind dem Herrn Polizeileutnant Ehrfurcht und Beſcheidenheit ſchuldig ſo wie mir. Gegen den Baron Imhoff oder den Generalkommiſſär würden Sie ſich ſo etwas nicht unterſtehen, des bin ich ſicher. Und ein doppelt Geſicht, ein falſch Geſicht, heißt es. Ich werde das dem Grafen ſchreiben.“ „Echauffieren Sie ſich nicht, Herr Lehrer,“ unterbrach ihn Hickel, „es lohnt ſich nicht, man muß es ſeinem Unverſtand zugut halten. Im übrigen hab’ ich geſtern einen Brief vom Grafen bekommen;“ er griff in die Rockbruſt und zog ein zuſammengefaltetes Papier heraus. „Sie möchten wohl gerne wiſſen, was er ſchreibt, Hauſer? Na, gar ſo ſchmeichelhaft iſt es eben nicht für Sie. Der gute Graf macht ſich Sorgen wie immer und empfiehlt uns rückſichtsloſe Strenge, falls Sie nicht parieren.“ Caſpar machte ein ungläubiges Geſicht. „Das hat er geſchrieben?“ fragte er ſtockend. Hickel nickte. „Er hat ſich auch damals zu ſehr geärgert über die Heimlichtuerei mit dem Tagebuch,“ ſagte Quandt. „Das werd’ ich ihm alles erklären, wenn er wiederkommt,“ verſetzte Caſpar. Hickel rieb den Rücken an der Ofenecke und lachte. „Wenn er wiederkommt! Wenn! Wer weiß aber, ob er wiederkommt? Mir deucht, er hat nicht allzu große Luſt dazu. Glauben Sie denn, Sie Kindskopf, ſo ein Mann hat nichts Beſſeres zu tun, als ſeine Zeit dahier zu verſitzen?“ „Er kommt wieder, Herr Polizeileutnant,“ ſagte Caſpar mit triumphierendem Lächeln. „Oho, oho!“ rief Hickel, „das klingt ja allerdings verläßlich. Woher weiß man denn das ſo genau?“ „Weil er es verſprochen hat,“ entgegnete Caſpar mit treuherziger Offenheit. „Er hat heilig verſprochen, in einem Jahr wieder da zu ſein. Am achten Dezember hat er’s verſprochen, ſind alſo noch zehn Monate und ſechzehn Tage bis dahin.“ Hickel ſah Quandt an, Ouandt ſah ſeine Frau an, und alle drei brachen in Gelächter aus. „Im Rechnen ſcheint er ſich ja geübt zu haben,“ meinte Hickel trocken. Dann legte er Caſpar die Hand auf den Kopf und fragte: „Wer hat Ihm denn die herrlichen Locken abgeſchnitten?“ Quandt erwiderte, Caſpar habe es ſelbſt gewünſcht, nachdem er ihm vorgeſtellt, daß es für einen erwachſenen Menſchen nicht ſchicklich ſei, mit ſo einem Haarwald herumzulaufen. „Sie können jetzt ſchlafen gehen, Hauſer,“ ſagte er hierauf. Caſpar reichte jedem die Hand und ging. Als er draußen war, öffnete Quandt leiſe die Tür und lauſchte. „Sehen Sie, Herr Polizeileutnant,“ flüſterte er Hickel bekümmert zu, „wenn er weiß oder annimmt, daß man ihn hört, ſteigt er ganz langſam und bedächtig die Stiege hinan, wenn er ſich aber unbeachtet glaubt, da kann er wie ein Haſe ſpringen, gleich über drei Stufen auf einmal. Iſt’s nicht ſo, Frau?“ Die Lehrerin beſtätigte es; und wieviel Umſtände er einem mache, fügte ſie verdroſſen hinzu; jetzt ſei er ſechs Wochen im Haus und habe vierzehn Hemden in der Wäſche; immer müſſe er herausgeputzt ſein wie eine Docke, und ſchon in aller Herrgottsfrüh fange er an, ſeine Kleider zu bürſten. Sie ſetzte dem Polizeileutnant ein Gläſchen Schnaps vor und ging ins Nebenzimmer, um den Säugling zu ſtillen, der ſich ſchreiend meldete. „Ja, es iſt des Teufels mit ihm,“ ſetzte Quandt das Lamento ſeiner Gattin fort; „da hab’ ich neulich einmal aus der ‚Bayriſchen Deputiertenkammer‘ vorgeleſen. Der Hauſer ſtellt ſich hinter mich, und wie ich fertig bin, lieſt er den Titel der Zeitung halblaut für ſich hin, wie wenn ihn das Wort verwundere. Nun wird aber doch die ‚Bayriſche Deputiertenkammer‘ in jedem anſtändigen Hauſe geleſen, nicht wahr? Außerdem hat er Tag für Tag Gelegenheit gehabt, das Blatt auf unſerm Tiſch zu ſehen, und der Name konnte ihm unmöglich neu ſein. Ich frage alſo, ob er denn nicht wiſſe, was das ſei, eine Deputiertenkammer. Darauf ſagt er mir mit ſeinem unſchuldigſten Geſicht: das ſei wohl ein Zimmer, wo man Leute einſperre. Nun bitt’ ich Sie um alles in der Welt, das geht doch über den grünen Klee. Es muß ſchon ein Engel vom Himmel herunterkommen, damit ich ſolche Ungereimtheiten auf Treu und Glauben hinnehmen ſoll, und ſelbſt dann getrau’ ich mich noch zu bezweifeln, ob es auch ein richtiger Engel iſt und kein nachgemachter.“ „Was wollen Sie,“ antwortete der Polizeileutnant, „es iſt alles Schwindel, alles iſt Schwindel.“ Und indem er ſich auf den geſpreizten Beinen hin und her wiegte, loderte in ſeinen Augen ein unbeſtimmter, träger Haß. Alles Schwindel; ein Urteil, das ſich nicht etwa bloß auf die vorgetragene Anekdote bezog, ſondern auf das ganze, ihm bis zum Ekel gleichgültige Treiben der Menſchen, ſofern es nicht mit ſeinem Wohlbehagen verknüpft war. Mochten ſie ſich einander die Köpfe abhacken, mochten ſie über Himmel und Hölle, um König und Land ſtreiten, mochten ſie ihre Häuſer bauen, ihre Kinder zeugen, mochten ſie morden, ſtehlen, einbrechen, ſchänden und betrügen oder ſich ehrlich rackern und edle Taten vollbringen, ihm war letzten Endes alles Schwindel, ausgenommen der Freibrief für ein ſorgenloſes Daſein, den ihm die Geſellſchaft nach ſeiner Anſicht ſchuldig war. Der Ritter von Lang, der an Hickel wegen ſeines einſchmeichelnden Weſens Gefallen hatte, pflegte gern zu erzählen, wie Hickel einſt mit ſeinem, des Ritters, Sohn, einem jungen Doktor der Philoſophie, über die Landſtraße gegangen und wie der junge Mann, gegen das ausgeſtirnte Firmament deutend, angefangen habe, von den zahlloſen Welten dort oben zu reden; da habe Hickel mit ſeinem mokanteſten Geſicht erwidert: „Ja, glauben Sie denn im Ernſt, Doktor, daß dieſe hübſchen Lichterchen etwas andres ſind als eben — Lichterchen?“ Das war nicht etwa bloß Unbildung, ſondern nur der Ausdruck jener Überlegenheit, die in dem Worte gipfelte: alles Schwindel. Man wußte in der ganzen Stadt, daß Hickel über ſeine Verhältniſſe lebte. Es war ſein Ideal, für einen Kavalier zu gelten, ſeine Leidenſchaft, elegant zu ſein, auch beſaß er die feinſte Naſe für die Echtheit und Legitimität aller damit zuſammenhängenden Dinge. Als vor einiger Zeit ſeine Aufnahme in den vornehmen Beamtenklub ſtrittig geweſen war, hatte man lange gezögert, denn er war keineswegs beliebt und außerdem war er von niedriger Abkunft, ſeine Eltern waren arme Kätnersleute in Dombühl; ſchließlich hatte er ſeinen Wunſch mit Hilfe einiger erſchlichener Familiengeheimniſſe durchgeſetzt, mit denen er den betreffenden Perſönlichkeiten bange zu machen verſtand. Der Hofrat Hofmann, ſein früherer Vorgeſetzter, gab dem vorherrſchenden Gefühl gegen ihn bezeichnenden Ausdruck, indem er verſicherte: „Er decouvriert ſich nicht; dieſer Hickel decouvriert ſich nicht.“ In der Tat hatte es ſtets den Anſchein, als ob der Polizeileutnant mit etwas Gefährlichem im Hinterhalt bleibe. Ausgezeichnet verſtand er es, ſich mit dem Präſidenten zu ſtellen. Er durfte ſich ſogar erlauben, dem ſonſt ſo Unnahbaren gewiſſe Wahrheiten zu ſagen, die liebenswürdig oder ſorgenvoll klangen, im Grunde aber nichts waren als verzuckerte Bosheiten. Er beſaß eine nicht zu leugnende Geſchicklichkeit im Erzählen amüſanter Hiſtörchen und mancherlei einlaufenden Stadtklatſches. Dies ergötzte Feuerbach und ſtimmte ihn für vieles andre nachſichtig. „Rätſelhaft,“ ſagten die Leute, „was der Staatsrat an dem Hickel für einen Narren gefreſſen hat.“ Jedenfalls fand der Polizeileutnant ſtets williges Gehör bei Feuerbach, und mit Schlauheit ließ er ſich dafür gern gefallen, daß der Präſident in ſeiner bärbeißigen Manier an ihm herum erzog, ſeinen leichtſinnigen Wandel tadelte und ſeine ſchlechten Inſtinkte mit erſtaunlichem Scharfblick ſozuſagen in den Wurzeln entblößte. Iſt es nicht wahrſcheinlich, daß gerade dies den Präſidenten verführte und verſtrickte? Indem er ſo klar die Leerheit und Düſterkeit dieſer Seele durchſchaute, hatte er ſich vielleicht ſchon zu vertraut gemacht mit ihr, um ſie von ſich ſtoßen zu können. Hickel wußte den Präſidenten nach und nach zu überreden, daß man Caſpar nicht ſo frei wie bisher herumgehen laſſen dürfe, und es wurde als Wächter ein alter Veteran beſtellt, der einen Stelzfuß hatte und einarmig war. Dieſer Wackere faßte ſeine neue Obliegenheit ſehr gewiſſenhaft auf und folgte Caſpar auf Schritt und Tritt zum Gelächter der Gaſſenjugend. Der Polizeileutnant hatte richtig ſpekuliert, wenn die ſo fürſorglich ausſehende Maßregel dazu dienen ſollte, die Bewegungsfreiheit des Jünglings möglichſt zu hemmen. Es gab Beſchwerden über Beſchwerden, bald von Quandt, bald von Caſpar, bald von dem Invaliden, den Caſpar nicht ſelten überliſtete, indem er ſich heimlich davonſtahl. Er klagte dem Pfarrer Fuhrmann, bei dem er Religionsunterricht empfing, ſeine Not; dieſer ihm wohlgeſinnte Greis ermahnte ihn zur Geduld. „Was ſoll es nutzen, geduldig zu ſein!“ rief Caſpar trotzig, „wird ja doch immer ſchlechter!“ „Was es nutzen ſoll?“ verſetzte der Pfarrer mild. „Was nutzt es Gott, daß er unſerm unſinnigen Treiben zuſchaut! Durch Geduld führt er uns zum Guten. Geduld bringt Roſen.“ Dennoch wandte ſich Pfarrer Fuhrmann an den Präſidenten, und dieſer verſprach Abhilfe, ohne jedoch vorläufig etwas zu unternehmen. Die jährliche Inſpektionſreiſe durch den Bezirk entfernte ihn für drei Wochen aus der Stadt; als er zurückgekehrt war, ließ er eines Tages den Polizeileutnant auf ſein Arbeitszimmer rufen. „Hören Sie mal, Hickel,“ redete er ihn an, „Sie ſind doch in der hieſigen Gegend ziemlich gut bekannt? Schön. Haben Sie mal etwas über das Falkenhaus gehört?“ „Gewiß, Exzellenz,“ antwortete Hickel. „Das ſogenannte Falkenhaus iſt ein uraltes markgräfliches Jagdſchlößchen im Triesdorfer Wald.“ „Stimmt. Das Objekt intereſſiert mich ſchon ſeit einiger Zeit. Ich habe Nachforſchungen eingezogen und habe folgendes erfahren. Das Falkenhaus hat bis vor ungefähr vier Jahren als Förſterwohnung gedient, und zwar hat der letzte Förſter jahrzehntelang mutterſeelenallein dort gelebt. Der Mann hat nie mit irgendeinem Menſchen verkehrt, iſt nie in einem Wirtshaus geſehen worden und hat ſeine Einkäufe in den umliegenden Dörfern ſelbſt beſorgt. Eines Tages iſt er plötzlich verſchwunden geweſen, und ein verabſchiedeter Gendarm ſoll ihn im Schwäbiſchen als Beſitzer oder Verwalter eines Gutshofs wiedergeſehen haben. Ich bin auch dieſer Spur nachgegangen, und es hat ſich herausgeſtellt, nicht nur, daß es damit ſeine Richtigkeit hat, ſondern auch, daß der Mann im Oktober 1830 des Nachts in ſeinem Bett ermordet worden iſt.“ „Davon iſt mir nichts bekannt. Ich weiß nur, daß das Falkenhaus verödet und unbewohnt iſt und daß im Volk allerlei geſpenſterhaftes Zeug über die unheimliche Einſiedelei erzählt wird.“ „Richten Sie jedenfalls Ihr Augenmerk darauf,“ ſagte der Präſident; „am beſten, Sie ſenden einen ortskundigen Mann hin, der ſorgfältige Erhebungen einziehen ſoll.“ „Zu Befehl, Exzellenz. Darf ich fragen, um welchen Fall es ſich dabei handelt?“ „Es handelt ſich um Caſpar Hauſer und ſeine Gefangenſchaft.“ „Ah!“ Hickel räuſperte ſich und machte eine Verbeugung, Gott weiß warum. „Ich glaube mit Beſtimmtheit annehmen zu dürfen, daß das Falkenhaus die Stätte ſeiner grauſamen Kerkerhaft iſt. Es war mir ſchon ſeit den erſten Erzählungen Caſpars über die Art ſeiner Wanderung mit dem Unbekannten zweifellos, daß der Ort in Franken ſelbſt, nicht allzu weit von Nürnberg oder Ansbach zu ſuchen ſei. Nun haben mich die Spuren zum Falkenhaus geführt.“ „Wahrſcheinlich brauchen Eure Exzellenz dieſes Indizium zu der Schrift über den Hauſer,“ bemerkte Hickel ſchmeichelnd. „So iſt es.“ „Und ſoll die Veröffentlichung des Werks noch in dieſem Jahr vor ſich gehen? Exzellenz verzeihen meine Neugier, aber ich bin ja herzlich intereſſiert bei der Sache.“ „Sie fragen mich zu viel, Hickel. Laſſen Sie das. Da iſt ein Briefchen für den Hofrat Hofmann, geben Sie es draußen zur Beförderung. Ich will mit dem Hofrat und Caſpar morgen nach Falkenhaus fahren. Benachrichtigen Sie den Hauſer, daß er ſich bereithält, erwähnen Sie aber beileibe nichts von dem Zweck der Fahrt.“ Zur feſtgeſetzten Stunde fand ſich Caſpar ein und ſah ſich alsbald zu ſeiner Verwunderung in der bequemen Kaleſche gegenüber dem Präſidenten und dem Hofrat ſitzen. In ſelten unterbrochenem Schweigen ging es durch die ſonnige Frühlingslandſchaft. Sie langten an. Ein Gang durch das verlaſſene Waldhaus und die eingehende Prüfung ſeiner Lokalitäten brachte nicht den geringſten Aufſchluß. War ein unterirdiſcher Raum zu jenem fürchterlichen Gebrauch vorhanden geweſen, ſo hatte der einſtige Bewohner ihn ſicherlich verſchüttet, und die Zeit hatte alle Merkmale unſichtbar werden laſſen. Da entdeckte das ſcharf umherſuchende Auge des Präſidenten im Freien neben dem rechten Trakt des Gebäudes eine ſonderbar geſtaltete Erdgrube. Die Anzeichen ließen darauf ſchließen, daß ſich vordem ein Holzſchuppen oder dergleichen darüber erhoben hatte, denn ringsum lagen noch vermorſchte Bretter und Balken und riſſige Schindeln. Es führten ſieben in den Sand geſchlagene und ſchon verfallene Stufen hinab, und unten war die ſeltſam geglättete Erde von gelblichem Moos bedeckt. Feuerbach verfärbte ſich, als er dieſes ſah. Nach langem Verſunkenſein ſtieg er hinunter, betaſtete einige Stellen der Wände, bückte ſich in einer Ecke auf den Boden, alles dies finſter und wortlos. Als er wieder heraufkam, ſah er Caſpar durchdringend an. Der aber ſtand ruhig da und ließ den unwiſſenden Blick in die Tiefen des Forſtes ſchweifen. Ahnt er nichts? dachte Feuerbach; ahnt er nicht, worauf ſein Fuß tritt? Weckt ihn kein Hauch der Vergangenheit? Sprechen die Bäume nicht zu ihm? Verrät ihm die Luft nichts? Und da es nicht ſo ſcheint, darf ich mich unterfangen, mit einem Ja oder Nein die ſchauerliche Ungewißheit zu entſcheiden? Der Wagen hielt an der Heerſtraße draußen. Beim Rückweg durch den Wald blieb Caſpar, den plötzlich eine unbeſiegbare Schwermut überfallen hatte, die ihn zu langſamem Gehen zwang, ein großes Stück hinter den beiden Männern. Der Hofrat Hofmann benutzte die Gelegenheit, um dem Präſidenten ſeine vernunftgemäßen Zweifel mitzuteilen. „Ich möchte nur eines wiſſen,“ ſagte er mit verkniffenem Geſicht, „ich möchte wiſſen, warum man den Menſchen, wenn er wirklich ſo lange in Gefangenſchaft geſchmachtet hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das, ſondern mitten in eine große Stadt gebracht hat, wo er das ungeheuerſte Aufſehen erregen, alſo notwendigerweiſe ſeine Peiniger verraten mußte. Eine ſolche Logik will mir nicht einleuchten.“ „Mein Gott, dafür laſſen ſich mancherlei Erklärungen denken,“ erwiderte der Präſident ruhig; „entweder man war ſeiner überdrüſſig geworden; ihn länger zu beherbergen war mit Schwierigkeit, ja mit Gefahr verknüpft; ſein Kerkermeiſter konnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten, faßte jedoch in einer begreiflichen Regung des Erbarmens oder der Anhänglichkeit oder der Furcht den Entſchluß, ihn auf andre Art verſchwinden zu laſſen, und wo konnte das mit mehr Ausſicht auf Erfolg geſchehen als gerade in einer großen Stadt? Man dachte ſich die Sache ſo: der Rittmeiſter Weſſenig, dem mitgegebenen Schreiben folgend, ſteckt ihn unter die Soldaten; dort gibt es der Analphabeten und Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter auffallen, vermeinte der Verbrecher in einem Optimismus, der freilich nur von ſeiner eignen Unbildung zeugt. Als aber die Dinge einen ganz andern Weg nahmen, bekam er’s mit der Angſt, teilte ſich, mußte ſich denen mitteilen, welche die Fäden von Anfang an in der Hand hielten, und dieſe mußten zuſehen, wie ſie den furchtbarſten Zeugen ihrer Schuld wieder unſchädlich machen konnten, der nun, geſchützt von einer Welt, ihnen als Auferſtandener gegenübertrat.“ „Sehr fein, ſehr fein,“ murmelte der Hofrat beifällig, ohne merken zu laſſen, daß er keineswegs überzeugt war. Spät nachmittags kamen ſie in die Stadt zurück. Caſpar trennte ſich von den Herren und ging heimwärts. Auf dem Promenadeweg begegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn und fragte, warum er ſich ſo lange nicht bei ihr ſehen laſſe. „Hab’ keine Zeit, hab’ viel zu arbeiten,“ antwortete Caſpar, doch mit ſo verlegenem Geſicht, daß die kluge Dame merkte, dies könne nicht der wahre Grund ſein. Sie unterließ es aber, ihn auszuforſchen, und fragte ablenkend, ob er ſich auch des Frühlings recht erfreue. Caſpar ſchaute in die Luft und in die Kronen der Ulmen, als habe er den Frühling bis jetzt überſehen, und ſchüttelte den Kopf. Gern hätte er vieles geſagt, das Herz war ihm voll, übervoll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein, und er hatte nicht das Gefühl, daß dieſe Frau, ſo freundlich ſie ſich auch gab, wirklich für ihn aufgelegt ſei. Was kann es nutzen? dachte er. „Ich habe Ihnen einen Gruß zu beſtellen,“ ſagte ſie dann beim Abſchied und nachdem ſie ihn für den Sonntag zu Tiſch gebeten hatte; „erinnern Sie ſich noch der Geſchichte meiner Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope bei uns war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen. Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel.“ „Wie heißt die Frau?“ fragte Caſpar, genau wie damals, nur nicht lächelnd und froh, ſondern zerſtreut. Frau von Imhoff lachte; dieſe Wißbegier nach einem Namen erſchien ihr komiſch. „Kannawurf heißt ſie, Clara von Kannawurf,“ antwortete ſie gutmütig. Ganz hübſch, daß ſie mich grüßen läßt, dachte Caſpar, während er ſeinen Weg fortſetzte, aber was kann es nutzen? Was ſoll’s mir nutzen? 20. Quandt begibt ſich auf ein heikles Gebiet Kaum war Caſpar zu Haus in die Wohnſtube getreten, ſo merkte er, daß etwas Beſonderes los ſein mußte. Quandt ſaß am Tiſch und korrigierte mit finſterer Miene die Schülerhefte, die Lehrerin wiegte den Säugling auf den Knien und erwiderte, dem Beiſpiel ihres Mannes folgend, ſeinen Abendgruß nicht. Die Lampe war noch nicht angezündet, ein ſcharlachner Abendhimmel flammte durch die Fenſter, und als Caſpar ſeinen Hut aufgehängt, ging er wieder hinaus in den Hof. Dort ſpielte das vierjährige Söhnchen des Lehrers mit Schusſern, Caſpar ſetzte ſich daneben auf die Steinbank; nach einer Weile erſchien Quandt, und kaum hatte er die beiden beieinander geſehen, als er hineilte, das Kind bei der Hand ergriff und es raſch wie von einem mit anſteckender Krankheit Behafteten wegführte. Caſpar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus. Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf die Frau allein. „Was gibt es denn bei uns, Frau Lehrerin?“ fragte er. „Na, wiſſen Sie denn nicht?“ verſetzte die Frau befangen. „Haben Sie denn nichts davon gehört, daß ſich die Magiſtratsrätin Behold zum Fenſter heruntergeſtürzt hat? Es ſteht in der Nürnberger Zeitung heut.“ „Heruntergeſtürzt?“ flüſterte Caſpar aufgeregt. „Ja; vom Dachboden ihres Hauſes hat ſie ſich in den Hof geſtürzt und den Kopf zerſchmettert. Die ganze letzte Zeit her ſoll ſie ſich wie eine Verrückte aufgeführt haben.“ Caſpar wußte nichts zu ſagen; ſeine Augen erweiterten ſich, und er ſeufzte. „Es ſcheint Ihnen ja nicht beſonders nahezugehen, Hauſer,“ ließ ſich plötzlich die Stimme Quandts vernehmen, der leiſe hereingetreten war, als er die beiden ſprechen gehört hatte. Caſpar wandte ſich um und ſagte traurig: „Sie war ein ſchlechtes Weib, Herr Lehrer.“ Quandt ſtellte ſich dicht vor ihn hin und rief ſchneidend: „Unſeliger, der du dich nicht entblödeſt, das Andenken einer Toten zu beſudeln! Das ſoll Ihnen unvergeſſen bleiben! Nun haben Sie Ihre ſchwarze Seele enthüllt! Pfui, pfui, ſage ich, und abermals pfui! Gehen Sie mir aus den Augen! Fällt es Ihnen denn nicht aufs Herz, daß die Hingegangene am Ende vielleicht durch Sie, durch den Kummer über den erlittenen Undank zu einer ſolchen Tat getrieben wurde? Ahnen Sie das nicht? Freilich, ein Selbſtſüchtling wie Sie ſchert ſich wenig um die Leiden andrer Menſchen, ihm iſt nur das eigne Wohlergehen wichtig.“ „Mann, Mann, beruhige dich doch,“ miſchte ſich die Lehrerin ein mit einem ſcheuen Blick auf Caſpar, der aſchfahl geworden war und mit völlig geſchloſſenen Augen daſtand, während er die Fingerſpitzen ſeiner Hände gegeneinander gelegt hatte. „Du haſt recht, Frau,“ erwiderte Quandt, „ich vergeude meine Entrüſtung an taube Ohren. Was kann an einem Menſchen noch zu beſſern ſein, der ſelbſt dem Tod gegenüber nicht ein bißchen Andacht und Demut aufbringt? Da iſt Hopfen und Malz verloren.“ Als Caſpar in ſein Zimmer kam, glänzte noch die letzte Glut des Sonnenuntergangs über den Hügeln. Er ſetzte ſich ans Fenſter, nahm einen der Blumentöpfe zur Hand und ſchaute darauf nieder. Die Stengel in den Hyazinthenkelchen ſchüttelten ſich, und ihm war, als vernehme er fernes Geläute. Er wünſchte ſich das Angeſicht einer Blume, um keinen Blick eines Menſchenauges erwidern zu müſſen. Oder er wünſchte wenigſtens ſich im Schoß einer Blume bergen zu können, ſolange bis das Jahr vorüber war, von deſſen Wende er ſo vieles hoffte. Dort könnte man ſtille ſein und warten. In den nächſten Tagen wurde der Magiſtratsrätin keine Erwähnung getan, Quandt vermied es ſorgfältig, den Namen der Frau Behold zu nennen. Um ſo mehr war er überraſcht, als Caſpar ſelbſt davon anfing; am Samſtag beim Mittageſſen ſagte er plötzlich, es gereue ihn, was er über die Tote geſagt, er ſehe ein, daß es unrecht ſei, eine Verſtorbene anzuklagen. Quandt horchte hoch auf. Aha, dachte er, ſein Gewiſſen regt ſich! Aber er entgegnete nichts, ſondern verzog nur das Geſicht, als wolle er ſagen: Laſſen wir das, ich weiß mein Teil. Doch ſtach ihn die Galle, und während ſie alle drei ſchweigend die Suppe löffelten, konnte er ſich nicht enthalten zu ſagen: „Sie müßten ſich doch eigentlich bis in den Fußboden hinein ſchämen, Hauſer, wenn Sie an Ihr Benehmen gegen die unſchuldige Tochter der Magiſtratsrätin denken.“ „Wieſo?“ verſetzte Caſpar verwundert. „Was hab’ ich denn getan?“ „Ei, wollen Sie auch jetzt noch das Lämmchen ſpielen?“ antwortete der Lehrer abſchätzig. „Gottlob hab’ ich alles ſchriftlich und eigenhändig von der Seligen, da hilft kein Leugnen.“ Caſpar ſtaunte unruhig vor ſich hin. Er fragte wieder, da ging Quandt zum Sekretär, holte aus einer Schublade den Brief der Frau Behold hervor und las, neben Caſpar ſtehend, mit dumpfer Stimme vor: „Iſt viel Gerede geweſen von ſeinem keuſchen Sinn und ſeiner Innocence in allem Dahergehörigen. Auch hierüber kann ich ein Wörtlein melden, denn ich hab’s mit meinen eignen Augen geſehen, wie er ſich meiner damals dreizehnjährigen Tochter_... unziemlich und unmißverſtehlich näherte.“ Caſpar begriff allmählich. Langſam legte er Löffel und Brot beiſeite, und der Biſſen blieb ihm im Munde ſtecken. Seine Augen wurden ganz dunkel, er erhob ſich, rief mit jammernder Stimme: „Ach, dieſe Menſchen, dieſe Menſchen!“ und ſtürzte hinaus. Das Ehepaar ſah einander an. Die Lehrerin legte die Hand breit auf das Tiſchtuch und ſagte nachdrücklich: „Nein, Quandt, ich kann’s nicht glauben. Da muß ſich die ſelige Rätin geirrt haben. Er weiß doch nicht mal, was eine Frau iſt.“ Auch Quandt war gerührt. „Das eben ſteht dahin, das wäre zu beweiſen,“ meinte er kopfſchüttelnd. „Du biſt leichtgläubig, meine Gute. Ich erinnere dich nur daran, daß er bei der Geburt unſers Mädchens zu meiner Befremdung wie ein gereifter Mann über die Sache ſprach. Es war mir das gleich enorm verdächtig. Immerhin gebe ich zu, daß Frau Behold in dem Brief zu weit gegangen ſein mag und daß ich mich infolgedeſſen zu einer Übereilung habe hinreißen laſſen. Aber ich muß dahinterkommen, wie weit ſeine Wiſſenſchaft in dem Punkte geht, denn an ſein Kindergemüt, das weißt du, glaub’ ich nun einmal nicht.“ „Du mußt ihn wieder verſöhnen, Quandt, es war zu arg, das da,“ ſagte die Lehrerin. Quandt machte eine bedenkliche Miene. „Verſöhnen? Ja, gut; ich will’s gern tun. Aber er iſt dann immer ſo lieb und anſchmiegſam, daß man ihm ſchwer widerſtehen kann, und dadurch wird das objektive Urteil getrübt. Ich werde morgen einmal mit dem Pfarrer Fuhrmann über das Thema ſprechen.“ Geſagt, getan. Doch leider zeigte Quandt bei dieſem Anlaß die Umſtändlichkeit einer alten Jungfer und umſchrieb das, was er ſagen wollte, mit blühenden Redefiguren, als ob zwiſchen Mann und Weib nur Beziehungen ätheriſcher Art wären, die zuweilen unglücklicherweiſe in den Staub gezogen und befleckt würden durch beleidigende, aber nicht auszurottende Zwiſchenfälle. Der geiſtliche Herr mußte lächeln. Nach einigem verwunderten Nachdenken antwortete er, er habe an Hauſers Charakter nach dieſer Richtung etwas Anſtößiges nicht im geringſten beobachtet, Caſpar ſcheine ihm in allem, was das Verhältnis der Geſchlechter betreffe, noch ein vollſtändiges Kind. Zum Beweis deſſen erzählte er dem Lehrer, daß Caſpar vor ungefähr einem Monat beim Leſen einer Bibelſtelle, die ihm aufgefallen war und die er ihm ſo gut es ging erklärt, mit ſchönem Zaudern von einer gewiſſen wiederkehrenden Beunruhigung geſprochen habe, einem Zuſtande, der ihn ſicherlich ſchon oft bedrängt und für deſſen Deutung er nirgends eine vertrauende Anſprache gefunden. Der alte Mann verſicherte, daß ihm die Art und Weiſe, wie Caſpar dies vorgebracht, unvergeßlich ſein werde, es habe wie ein ahnungsloſer Vorwurf gegen die Natur geklungen, die etwas mit ihm anſtellte, wogegen er ſich nicht wehren könne. Quandt ließ ſich kein Wort entgehen. Er ſah das mit ganz andern Augen an. Er erblickte darin die Merkmale einer verderbten Phantaſie. Doch äußerte er von ſeiner Anſicht gegen den Pfarrherrn nichts, ſondern begab ſich in ſtillem Vorbedacht nach Hauſe, legte ſich emſig auf die Lauer und paßte die Gelegenheit ab. Am Tag darauf ſollte Caſpar bei Imhoffs eſſen, er kam aber wieder zurück, denn die Baronin war krank und lag zu Bett. Beim Abendtiſch kam das Geſpräch darauf, und da Quandt ſein Bedauern ausdrückte, ſagte Caſpar: „Ach, die wird vielleicht nie mehr ganz geſund.“ „Was reden Sie da, Hauſer,“ fiel die Lehrerin ein, „ſo eine junge Frau, ſo reich und ſo ſchön.“ „Ach,“ entgegnete Caſpar wehmütig, „Reichtum und Schönheit tun’s nicht. Die hat ſich ſchon zu ſehr hinuntergegrämt.“ „Ja, hat ſie denn ihren Kummer am Ende Ihnen anvertraut?“ forſchte Quandt ungläubig. Caſpar beantwortete die Frage nicht und fuhr wie zu ſich ſelbſt redend fort: „Nichts fehlt ihr auf der Welt, nur der Mann iſt nicht wie er ſein ſollte, hat andre lieber. Warum? Er iſt doch ſonſt ſo geſcheit! Aber wenn ſich die Frau auch zu Tod betrübt, deshalb wird es nicht beſſer. Und die Leute hinterbringen ihr alles; ich hab’ ihr geſagt, das ſind keine Freunde, die Ihnen ſolches Zeug erzählen, wahre Freunde ſind das nicht.“ „Hm,“ machte Quandt und ſchaute eigentümlich lächelnd auf ſeinen Teller. Er beſiegte ſein Schamgefühl und fragte mit gezwungener Leichtigkeit, ob denn Herr von Imhoff in neuerer Zeit ſeiner Frau wieder Anlaß zur Sorge gegeben habe, ſeines Wiſſens habe doch erſt im März eine Verſöhnung ſtattgefunden. „Ja, freilich hat er Anlaß gegeben,“ verſetzte Caſpar unbefangen, „es iſt ja wieder ein Kind von ihm da.“ Quandt erſchrak. Da haben wir’s, dachte er. Und ſo hart es ihn auch ankam, er beſchloß, Caſpar gleich auf den Zahn zu fühlen. Er wechſelte mit ſeiner Frau einen Blick des Einverſtändniſſes und bat ſie, ſie ſolle nach den Kindern ſchauen. Als nun die Frau das Zimmer verlaſſen hatte, wandte ſich der Lehrer, blaß und aufgeregt durch die Schwierigkeit ſeines Vorhabens, an Caſpar und fragte ihn unvermittelt, ob er ſchon einmal mit einem Frauenzimmer etwas gehabt habe, es lägen verſchiedene Mutmaßungen vor, und Caſpar möge offen wie mit einem Vater zu ihm reden. Dieſe Worte ſtimmten Caſpar dankbar; er ſah in ihnen ein Zeichen von Teilnahme, obgleich er ihren Sinn und Zweck nicht verſtand, ſondern bloß das trübe Element, aus dem ſie ſtiegen, furchtſam ahnte. Er überlegte. „Mit einem Frauenzimmer? Ja wie?“ murmelte er. „Meine Frage iſt doch deutlich, Hauſer; ſtellen Sie ſich nicht ſo kindiſch.“ „Ja, ich verſteh’ ſchon,“ ſagte Caſpar eilig, um die gute Laune des Lehrers nicht zu verſcherzen; „und da iſt auch was geweſen.“ „Na, nur heraus damit! Nur Mut!“ Und harmlos begann Caſpar zu erzählen: „So vor ungefähr ſechs Wochen hab’ ich meinen Sonntagsanzug zur Putzerin in die Uzensgaſſe getragen. Sie wiſſen doch, Herr Lehrer, es iſt das kleine Haus neben dem Bäcker. Wie ich hingekommen bin, war der Laden verſperrt, da bin ich hinauf in die Wohnung gegangen und hab’ an die Tür geklopft. Da hat mir ein junges Mädle aufgemacht und war im Nachtkleid, weiter hat ſie nichts am Leib gehabt, die ganze Bruſt hat man ſehen können, es war ſcheußlich. Sie hat mir die Sachen abgenommen und hat geſagt, ſie wollt’ es der Putzerin ausrichten. Ich war immer noch vor der Tür. Komm nur herein, ſagt ſie. Da bin ich hinein und frage, was ſie will. Da hat ſie angefangen vor mir herumzutänzeln, hat gelacht und ſonderliches Zeug geredet, hat mich gefragt, ob ich ihr Bräutigam ſein will, und zuletzt_—“ er zögerte lächelnd. „Zuletzt? Was zuletzt?“ fragte Quandt, indem er den Kopf weit vorbeugte. „Zuletzt hat ſie verlangt, ich ſoll ihr einen Kuß geben.“ „Nun, und?“ „Da hab’ ich ihr geſagt, dazu ſoll ſie ſich einen andern wünſchen, ich verſteh’ mich nicht aufs Schmatzen.“ „Und weiter?“ „Weiter? Weiter war nichts. Ich bin dann fortgegangen und ſie hat mir vom Fenſter aus nachgeſchaut.“ „Wie konnten Sie denn das bemerken?“ „Weil ich mich umgedreht hab’.“ „Soſo. Umgedreht. Wie heißt die Perſon?“ „Das weiß ich nicht.“ „Das wiſſen Sie nicht? Hm. Und_... ein zweites Mal waren Sie nicht dort?“ Caſpar verneinte. „Schöne Geſchichten,“ murmelte Quandt und erhob ſich mit einem Blick zum Himmel. Er ſpürte vorſichtig nach. Er erfuhr, daß bei jener Putzmacherin wirklich ein Frauenzimmer zweifelhafter Gattung zur Miete wohne. Der Erzählung Caſpars noch näher auf den Grund zu gehen hinderte ihn die Rückſicht auf ſeinen Ruf, hatte er doch ohnehin den Eindruck gewonnen, daß der Jüngling an der ganzen Begebenheit ſo unſchuldig nicht ſein konnte, als er ſich anſtellte; denn, ſo argumentierte er, zu einem derartig niedrigen Benehmen wie dem jenes weiblichen Geſchöpfs kann nur ein Menſch Anlaß geben, dem eine gewiſſe moraliſche Unzulänglichkeit auf der Stirn geſchrieben ſteht. Ja, wenn er nicht lügen würde, dann wäre alles anders, dachte Quandt; aber er lügt, er lügt, und das iſt das Fürchterliche. Hat er mir nicht erzählt, die Herzogin von Kurland habe ihm ein Dutzend geſtickter Taſchentücher geſchenkt? Kein Wort wahr. Hat er nicht behauptet, er kenne den Miniſterialrat von Spieß und habe im Schloßtheater mit ihm geſprochen? Lüge. Hat er nicht dem Muſikus Schüler weisgemacht, er habe die Idyllen von Geßner geleſen, und als ich ihn danach fragte, wußte er kein Wort darüber zu ſagen, wußte nicht einmal, was eine Idylle iſt? Gibt er nicht immer vor, dringende Beſorgungen zu haben, einmal für den Präſidenten, das andre Mal für den Hofrat, und ſpäter zeigt es ſich, daß er bloß herumgebummelt iſt, um einen neuen Schlips ſpazierenzutragen? Steht das nicht alles feſt, oder bin ich ſelbſt ſo dumm und ſo ungerecht, daß ich dieſen Dingen eine Bedeutung zumeſſe, die niemand ſonſt darin finden kann? Quandt wandte ſich an den Pfarrer Fuhrmann und legte ihm Punkt für Punkt die verdammenswerten Vergehungen vor. „Sehen Sie denn nicht, lieber Quandt,“ ſagte darauf der Pfarrer, „daß das lauter armſelige, kleine Lüglein ſind, kaum daß ſie den Namen verdienen? Es iſt das mehr ein Sichliebmachenwollen oder eine durch ihre Ohnmacht bemitleidenswerte Anſtrengung, Feſſeln abzuſtreifen, oder gar nur das harmloſe Vergnügen an einem Wort, an einer Redensart. Vielleicht ſpielt er nur mit ſeiner Zunge, wie er andre Menſchen damit ſpielen ſieht, nur eben viel ungeſchickter.“ „So?“ ereiferte ſich Quandt, „dann will ich Ihnen, Hochwürden, eine Geſchichte erzählen, die den ſtrikten Beweis des Gegenteils erbringt. Hören Sie zu. Vorige Woche findet unſre Magd des Morgens ſeinen Leuchter mit abgebrochener Handhabe; ſie zeigt es meiner Frau, meine Frau macht mich darauf aufmerkſam, und ich konſtatiere, daß der Henkel nicht abgebrochen, ſondern abgeſchmolzen iſt; das Rohr war bis ganz hinunter von der Hitze des Lichtes ſchwarzgebrannt und von außen rötlichblau überflammt, in der Schale konnte man deutlich ſehen, wie hoch das zerfloſſene Unſchlitt gereicht und wie es an mehreren Stellen abgeſchabt war; von der ganzen Kerze, die Hauſer den Abend zuvor erhalten, war keine Spur mehr da. Nun müſſen Sie wiſſen, daß ich ihm ſtreng verboten hatte, bei Kerzenlicht zu leſen oder zu arbeiten; trotzdem wollte ich ihn ſchonen und ließ ihn nur durch meine Frau verwarnen. Aber da leugnet er plötzlich alles ab, verſichert, daß er die Kerze weder wiſſentlich habe verbrennen laſſen, noch dabei eingeſchlafen ſei und erkühnt ſich am Ende zu der Behauptung, es ſei gar nicht ſein Leuchter, ſondern der der Magd, denn beide ſähen gleich aus. Was ſagen Sie dazu?“ Der Pfarrer zuckte die Achſeln. „Wir dürfen doch nicht vergeſſen, daß er trotz allem ein Weſen von beſonderer Beſchaffenheit iſt,“ erwiderte er nachdenklich. „Ich habe mich ſelbſt davon überzeugt. Ich beſitze eine kleine Elektriſiermaſchine, mit der ich manchmal ein bißchen experimentiere. Neulich nahm ich das Ding vor, während Caſpar dabei war, ließ die Funken ſpringen und lud die Leidener Flaſche. Da wird mir der arme Menſch bleich und zuſehends bleicher, fängt zu zittern an, ſpreizt die Finger ſtarr von ſich und ſein Körper zuckt wie ein Hecht, den man auf den Sand wirft. Ich war ſehr erſchrocken und räumte das Zeug beiſeite, worauf er wieder in ſeinen gewöhnlichen Zuſtand zurückkehrte. Doch ſchmerzte ihn der Kopf noch tagelang nachher, wie er mir geſtand; wenn er im Bette lag, hatte er kalten Schweiß, und die Dinge, die er anfühlte, ſtachen ihn wie mit winzigen Nadeln. Bezeichnenderweiſe ſagte er, beim Gewitter ſei ihm jedesmal ähnlich, da kitzle ihn und brenne ihn das Blut, daß er immerfort ſchreien möchte.“ „Und daran glauben Sie?“ rief Quandt, die Hände zuſammenſchlagend. „Ja, warum denn nicht?“ „Nun, wenn Sie daran glauben, befinde ich mich allerdings in einem großen Nachteil gegen den Menſchen, das muß ich zugeben,“ ſagte Quandt. „Das muß ich zugeben,“ wiederholte er bekümmert. So iſt es immer, dachte der Lehrer auf dem Nachhauſeweg; erſt wird entſchuldigt und beſchönigt, und wenn man ſeine triftigen Gründe vorbringt, werden die Achſeln gezuckt, und man tiſcht einem Hiſtörchen auf, die nicht geſtogen und geflogen ſind, und von denen ſich kein Jota beweiſen läßt. Was für ein Satan ſteckt doch in dem Burſchen, daß er überall Neigung und Teilnahme zu erwecken verſteht, wo er ſich auch zeigen mag! Daß kein Menſch ſeine Laſter ſehen will und ganz fremde Leute, darauf verſeſſen, ihn kennen zu lernen, das windigſte Entzücken äußern und ihn verhätſcheln, als ob ſie verzaubert wären, als ob er ihnen ein Liebestränkchen eingegeben hätte! Das erbitterte Quandt. Er ſagte ſich: nehmen wir an, ich träte unter unbekannte Menſchen und gäbe vor, der Heilige Geiſt oder ſein Apoſtel zu ſein oder ſpielte mich als Wundertäter auf, und es fiele dem oder jenem bei, ein wirkliches Wunder zu verlangen, und ich müßte zugeben, es ſei die blanke Spiegelfechterei, was würde da paſſieren? Man würde mich ins Narrenhaus ſtecken oder mit Prügeln traktieren; ja, das würde man, wenn ich auch noch ſo ein Engelsgeſicht aufſetzte, das würde man, und mit Recht; nicht aber würde man mich mit Geſchenken überhäufen und mich anhimmeln und meine ſchönen Augen und weißen Hände bewundern und mir Haare zum Andenken abſchneiden, wie ich das, Gott ſei’s geklagt, von einer verblendeten Menſchheit hier erleben muß. Aus einem Selbſtgeſpräch ſolcher Art geht klar hervor, wieviel Kopfzerbrechen und welche ernſte Seelenkämpfe dem Lehrer aus dem Umgang mit ſeinem Zögling erwuchſen. Und was war früher mit ihm? grübelte Quandt. Wo kommt er eigentlich her? Dahinter müßte doch zu kommen ſein. Wie hat er ſich das alles zurechtgelegt, womit er die Dunkelmänner betört? Ja, das iſt eben das Geheimnis, ſagen die Dunkelmänner. Geheimnis? Es gibt kein Geheimnis; ich verwerfe das Geheimnis. Die Welt von oben bis unten iſt ein klares Gebilde, und wo die Sonne ſcheint, verſtecken ſich die Eulen. Gäbe mir nur der Herrgott einen Wink, wie ich dieſer diaboliſchen Verſtellungskunſt zu Leibe gehen könnte! Man müßte einmal ernſtlich zuſehen, wie es mit dem Tagebuch beſchaffen iſt und was dahinterſteckt. Das Tagebuch ſcheint zu exiſtieren, es ſcheint damit ſeine Richtigkeit zu haben, abgeſehen von allem Geflunker; vielleicht iſt es eine Art Beichtgelegenheit für ihn; man muß dahinterkommen. Die Begebenheiten halfen Quandt, raſcher dahinterzukommen, als er gehofft. 21. Eine Stimme ruft Eines Nachmittags im Hochſommer erſchien Hickel und reichte Caſpar einen an ihn, den Polizeileutnant, gerichteten, aber im Grunde für Caſpar beſtimmten Brief des Grafen Stanhope, in welchem dieſer dem Jüngling klipp und klar befahl, das Tagebuch an Hickel auszuliefern. Caſpar überlas das Schreiben dreimal, ehe er endlich Worte fand; er weigerte ſich zu gehorchen. „Ja, mein Beſter,“ ſagte Hickel, „wenn es nicht gutwillig geht, muß ich leider Gewalt anwenden.“ Caſpar beſann ſich, dann ſagte er mit trüber Stimme, der einzige, dem er das Tagebuch geben könne, ſei der Präſident, und dem wolle er es morgen bringen, wenn man darauf beſtehe. „Gut,“ entgegnete der Polizeileutnant, „ich werde Sie morgen früh abholen, und dann gehen wir mit dem Heft zum Präſidenten.“ Hickel wollte Zeit gewinnen. Er hatte natürlich keine Luſt, das Tagebuch in die Hände Feuerbachs kommen zu laſſen, gerade dies zu verhindern, hatte er Auftrag, und er überlegte, was zu tun ſei. Was Caſpar betrifft, ſo ſtahl er ſich gegen Mittag aus dem Haus und lief in die Wohnung des Präſidenten, um ſich zu beſchweren. Feuerbach war im Senat; Caſpar vertraute ſeine Sorge der Tochter an, und dieſe verſprach dem Vater Bericht zu geben. Nachmittags läutete es bei Quandts, und der Präſident trat ins Zimmer. Mittlerweile hatte Caſpar, um auch dieſem ſonſt verehrten Mann den gehüteten Schatz nicht ausliefern zu müſſen, ſich eine Ausrede erdacht, und als der Präſident im Beiſein Quandts nach dem Tagebuch fragte und ob es wahr ſei, daß er es nicht zeigen wolle, ſagte er ſchnell, er habe es verbrannt. Da gab es dem Lehrer einen Ruck, und er konnte ſich eines zornigen Ausrufs nicht enthalten. „Wann haben Sie es verbrannt?“ fragte Feuerbach ruhig. „Heute.“ „Und warum?“ „Damit ich’s nicht hergeben muß.“ „Warum wollen Sie es nicht hergeben?“ Caſpar ſchwieg und ſtarrte zu Boden. „Das iſt eine Lüge, er hat es nicht verbrannt, Exzellenz,“ zeterte Quandt, bebend vor Ärger. „Und wenn er überhaupt ein Tagebuch geführt hat, ſo muß es ſchon länger beiſeitegebracht ſein. Von Weihnachten an hab’ ich es überall geſucht, in jedem Winkel ſeines Zimmers hab’ ich Umſchau gehalten, und nie, niemals war eine Spur davon zu finden.“ Der Präſident ſchaute Quandt aus großen Augen ſtumm und verwundert an; es war ein Blick, der etwas Mattes und Gramvolles hatte. „Wo war denn das Tagebuch aufbewahrt, Caſpar?“ fuhr er dann zu fragen fort. Caſpar antwortete zaudernd, er habe es bald da, bald dort verſteckt; bald unter den Büchern, bald im Schrank, zuletzt an einem Nagel hinter der Schreibkommode. Quandt ſchüttelte dabei unaufhörlich den Kopf und lächelte böſe. „Haben Sie denn den Nagel ſelbſt eingeſchlagen?“ inquirierte er. „Ja.“ „Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu erteilt?“ „Gehen Sie jetzt, Caſpar,“ ſchnitt der Präſident das Zwiegeſpräch gebieteriſch ab. „Ich begreife nicht,“ wandte er ſich, als Caſpar draußen war, an den Lehrer, „weshalb Lord Stanhope plötzlich ſo großes Gewicht auf das Tagebuch legt; wahrſcheinlich überſchätzt er die ohne Zweifel harmloſen Schreibereien. Mit Güte und Überredung wäre man übrigens beſſer gefahren als durch einen kategoriſchen Befehl.“ „Güte, Überredung?“ verſetzte Quandt händeringend. „Da haben Euer Exzellenz einen ſchlechten Begriff von dieſem Menſchen. Durch Güte entfeſſelt man nur ſeine Selbſtſucht, und jeder Verſuch, ihn zu überreden, vergrößert ſeine Bockbeinigkeit. Ja, er dünkt ſich ſchon etwas, ſtellt ſich auf die Hinterfüße, hält Widerpart und iſt fähig, mir eine Antwort zu geben, daß ich daſtehe wie vor den Mund geſchlagen. Euer Exzellenz mögen verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß ſogar Sie durch Güte und Überredung nichts mehr bei ihm ausrichten können.“ „Na, na,“ machte Feuerbach, ſchritt zum Fenſter und ſah düſter in die regentriefenden Zweige des Birnbaums, der an der Hofmauer wuchs. „Ich getraue mich auch, Euer Exzellenz auf das allerbeſtimmteſte zu verſichern, daß er das Tagebuch nicht verbrannt hat,“ ſchloß Quandt mit beſchwörender Stimme. Der Präſident antwortete nichts. Wie widerwärtig war es ihm, all den kleinen Hader austragen zu ſollen, den ſie ihm da herbeiſchleppten. Ihn dürſtete nach Frieden. Das eine Werk noch, vollendet mußte es werden, dann — Friede. Kaum war Feuerbach gegangen, ſo eilte Quandt in Caſpars Zimmer, rückte die Schreibkommode von der Wand und ſah nach, ob dort ein Nagel ſtecke. In der Tat war ein Nagel ins Holz geſchlagen. Quandt rief die Magd herauf. „Hat der Hauſer in letzter Zeit den Hammer gehabt und haben Sie ihn klopfen gehört?“ fragte er. Die Magd bejahte; er habe vorige Woche Hammer und Nägel aus der Küche geholt, und ſie habe ihn klopfen gehört. Plötzlich hatte Quandt eine Erleuchtung. Wir ſind ja im Sommer, dachte er, und wenn er das Heft wirklich verbrannt hat, muß die Aſche noch im Ofen zu finden ſein. Er ging zum Ofen, kniete nieder, öffnete das Türchen und ſcheuerte mit gierigen Händen alles, was von verbrannten und verkohlten Reſten in dem Loch war, heraus auf den Boden. Es kam viel Papieraſche zum Vorſchein. Quandt gab acht, daß die größeren Stücke nicht zerbrachen, da man auf Aſche eine Schrift noch leſen kann. Sorgſam ſchob er die Trümmer auseinander. Er fürchtete das eine oder das andre mit dem Finger anzugreifen und blies es mit dem Atem ſeines Mundes zur Seite; wenn es beſchrieben war, verſuchte er die Worte zu leſen, fand aber keinen Zuſammenhang. Da näherten ſich Schritte und Caſpar trat ein, nicht wenig erſtaunt über die Lage, in der er den Lehrer ſah, deſſen Hände und Geſicht von Ruß geſchwärzt waren, indes ihm der Schweiß von den Haaren troff. Quandt ließ ſich nicht ſtören. „So viel Aſche kann doch unmöglich von dem einen Tagebuch herrühren,“ ſagte er. „Ich hab’ auch alte Briefe und Schriften damit verbrannt,“ erwiderte Caſpar. Die kühlſachliche Antwort trieb Quandt die Zornröte ins Geſicht; er ſtand haſtig auf, murmelte etwas durch die Zähne und verließ das Zimmer, die Tür hinter ſich zudonnernd. „Sie kommen mir heut abend nicht mit auf die ‚Reſſource‘,“ ſchrie er auf der Stiege. In der „Reſſource“ war ein Gartenfeſt, das der Schützenverein veranſtaltete. Quandt hatte eigentlich keine Luſt, hinzugehen, dergleichen koſtete immer Geld. Aber die Frau wollte auch einmal ein Amüſement haben, war des verdrießlichen Zuhauſehockens ſatt. Sie hatte ſich ſchon vor acht Tagen ein Kattunkleid für dieſen Zweck gemacht, und ſo mußte denn der Lehrer ſich fügen und, wie er ſich ausdrückte, der Unvernunft ſeinen Zoll entrichten, zumal das Wetter gegen Abend ſchön geworden war. Caſpar blieb, bis die Dunkelheit anbrach, am offenen Fenſter ſitzen und genoß der Stille. Dann machte er Licht, und ein Lächeln umſpielte ſeine Lippen, als er zur Wand ging, den Stahlſtich über dem Kanapee herunternahm, die hinter dem Bild befeſtigte Holztafel loslöſte und nun das ſo verborgene Tagebuch hervorzog. Er ſetzte ſich damit zum Tiſch, blätterte nachdenklich in dem Heft herum und überlas einige Stellen. Hier war ein Lebensalter, eine Menſchwerdung zuſammengepreßt in den Verlauf von nicht mehr als vier Jahren, mit unheimlicher Geſchwindigkeit Epoche an Epoche drängend. Was es an mangelhaft Ausgeſprochenem, Geſchildertem enthielt, die unſchuldigen Ergüſſe erſter Freuden und Schmerzen, das erſte bange Welterkennen, knabenhafte Philoſophie und trotziges Hadern mit ahnungsvoll als feindlich empfundenen Mächten irdiſcher und überirdiſcher Natur, alles das hätte die auf dieſe Beute verſeſſenen Jäger bitter enttäuſcht. Aber es war nicht für jene, es war für die Mutter, ihr war es zugelobt ein für allemal, und mit der ihm eignen Wunderlichkeit war Caſpar der Gedanke ganz unfaßlich, daß ein andres Auge je auf dieſen Blättern ruhen ſollte. Es mag auch ſein, daß ihm das Heft nach und nach in der Einbildung zu ſeinem einzigen wirklichen Beſitz geworden war; das einzige Ding, das ihm völlig zugehörte und ſein ganzes Vertrauen beſaß. Auf einer der erſten Seiten ſtand: „Neulich hab’ ich aus Gartenkreſſe meinen Namen geſäet, iſt recht ſchön gewachſen und hat mir große Freude gemacht. Iſt einer in den Garten hereingekommen, hat Birnen geſtohlen, der hat mir meinen Namen zertreten, da hab’ ich geweint. Herr Daumer hat geſagt, ich ſoll ihn wieder machen, hab’ ich ihn wieder gemacht, am andern Morgen haben ihn Katzen zertreten.“ Es folgten in demſelben unbeholfenen Stil einige Verſuche, ſeine Kerkerhaft zu beſchreiben, etwa ſo: „Die Geſchichte von Caſpar Hauſer; ich will es ſelbſt erzählen, wie hart es mir ergangen. Zwar da, wo ich eingeſperrt war in dem Gefängnis, iſt es mir recht gut vorgekommen, weil ich von der Welt nichts gewußt und keinen Menſchen niemals geſehen habe.“ In dieſem Ton ging es weiter; ſpäterhin kamen einige zum Schönredneriſchen ſtrebende Stellen, und eine begann mit dem Satz: „Welcher Erwachſene gedächte nicht mit trauriger Rührung an meine unverdiente Einſperrung, in der ich meine blühendſte Lebenszeit zugebracht habe, und wo ſo manche Jugend in goldenen Vergnügungen lebte, da war meine Natur noch gar nicht erwecket.“ Träume, Hoffnungen, Sehnſuchtsbilder, Berichte über kleine Ausflüge, über Unterhaltungen mit Fremden; hier und da ein beherzigenswertes Wort, in einem Buch gefunden oder aus einem Wuſt ſonſt inhaltloſer Geſpräche geklaubt; allmählich Sätze, an denen etwas wie perſönlicher Schliff hervortrat und eine merkwürdige verhüllte Düſterkeit des Stils. Unmittelbar war nie ein Kummer, ein Urteil, eine Meinung ausgedrückt; er hatte es eben, wie Quandt dieſe Eigenſchaft formulierte, hinter den Ohren. Von einem bedeutungsvollen Tag ſtand oft nur das Datum vermerkt und daneben ein Sternchen; manches Ereigniſſes war nur in ſcheuen Umſchreibungen gedacht; auch Lakonismen waren dieſem Geiſt nicht fremd; ſo hieß es von dem Mordanfall in Daumers Hauſe kurz: „Der Erntemonat wäre bald mein Sterbemonat worden.“ Kleine Vorfälle des täglichen Lebens: „Geſtern hat mich eine Biene geſtochen, das Fräulein von Stichaner hat mir die Wunde ausgeſaugt, ſie ſagte, wen die Biene ſticht, der hat Glück.“ Oder: „Geſtern war eine Feuersbrunſt, über Dautenwinden hat der Wald gebrannt, ich bin die halbe Nacht am Fenſter geſeſſen und hab’ gedacht, die Welt geht unter.“ Sinnliche Empfindlichkeiten kamen zu lapidarem Ausdruck: „Herr Quandt riecht nach alter Luft, die Lehrerin nach Wolle, der Hofrat nach Papier, der Präſident nach Tabak, der Polizeileutnant nach Öl, der Herr Pfarrer nach Kleiderſchrank. Faſt alle Menſchen riechen ſchlecht, nur der Graf hat wie ein Leib gerochen, an dem nichts iſt als guter Odem.“ Dem Grafen war manche Seite gewidmet; hier wurde der Ton poetiſch und nicht ſelten drängend in der Art eines Gebets. Stanhope und die Sonne wurden zu Bildern von verwandter Kraft. Seit dem Abſchied aus Nürnberg hatte das aufgehört, der Name des Lords wurde nicht mehr erwähnt, nur das Gelöbnis vom achten Dezember war aufgeſchrieben. Aus den letzten Tagen ſtammte eine Zeichnung, welche über die Hälfte einer Seite füllte: die Umriſſe eines männlichen Kopfes, mit auffallend geſchickter Hand feſtgehalten. Es war ein fremdartiges Geſicht, keinem irdiſchen ähnlich, eher dem einer Statue, doch wie aus einer ſchauerlichen Viſion geriſſen, von ſchmerzlicher Unbewegtheit. Darunter war geſchrieben: O großer Menſch, was tueſt du mir an? // Du folgeſt mir, und meine Spur iſt blind, // Und ſo du mich erſchauſt, bin ich verwandelt. // Dem Kerker iſt entflohn das arme Kind, // Der Mantel fehlt und Krone auch und Schwert, // Und ohne Reiter läuft das weiße Pferd. Die Zeichnung war in der Nacht gefertigt worden; aus einem Traum auffahrend, hatte Caſpar das Geſicht vor ſich geſehen; er war aus dem Bett geſprungen und hatte es beim Mondlicht gezeichnet. Die Verſe hatte er am Morgen beim Erwachen fertig auf den Lippen gefunden. Ihrem Sinn hatte er nicht weiter nachgegrübelt, erſt jetzt wurde er ſtutzig und flüſterte die Worte mehrere Male vor ſich hin. Mittlerweile war es ſpät geworden, Caſpar wollte gerade vom Tiſch aufſtehen, da hörte er das Haustor knarren, raſche Schritte näherten ſich, es klopfte an die Tür, und Quandts Stimme befahl zu öffnen. Erſchrocken blies Caſpar das Licht aus. Im Finſtern taſtete er ſich zum Sofa, brachte das Tagebuch wieder in ſein Verſteck, und während Quandt immer ſtärker pochte, gelang es ihm, das Bild an den Nagel zu hängen. Quandt hatte nämlich, vom Spitalweg kommend, ſchon aus der Ferne in Caſpars Zimmer Licht bemerkt. Er packte ſeine Frau am Arm und rief: „Sieh mal, Frau, ſieh mal!“ „Was gibt’s denn ſchon wieder?“ murrte die Frau, die voll Ärger darüber war, daß Quandt ihr mit ſeiner übeln Laune den ganzen Abend verdorben hatte. „Jetzt haſt du doch den Beweis, daß er bei der Kerze ſitzt,“ ſagte Quandt. Das Haus hatte durch ein Gartenpförtchen auch einen Zugang von der Rückſeite. Quandt wählte den, und als er mit der Frau im Hof ſtand, fiel ihm ein, ob er nicht zuerſt den Jüngling auf irgendwelche Art belauſchen und ſehen könne, was er treibe. Der Birnbaum an der Mauer war wie geſchaffen dazu. Quandt war geſchickt und kräftig, ohne Mühe erklomm er die Mauer und dann einen breiten Aſt, von wo er Caſpars Zimmer überſchauen konnte. Was er ſah, genügte. Nach kurzer Weile kam er aufgeregt herab, raunte ſeiner Frau zu: „Ich hab’ ihn erwiſcht, Jette,“ und ſtürzte ins Haus und die Stiege empor. Da ſich auf ſein Klopfen drinnen nichts rührte, geriet er in Wut. Er fing an, mit den Fäuſten, ſodann mit den Abſätzen an die Tür zu trommeln, und als auch dies nichts half, beſchloß der beklagenswerte Mann in ſeiner Raſerei, ein Beil zu holen und die Türe einzuſchlagen. Vorher lief er noch geſchwind in den Hof zurück und ſah, daß es in Caſpars Zimmer indeſſen finſter geworden war, ein Umſtand, der ſeinen Zorn nur noch ſteigerte. Von dem Lärm waren die Kinder und die Magd aufgewacht; die Lehrerin trat Quandt jammernd entgegen, als er mit der Holzhacke aus der Küche rannte. Er ſtieß ſie weg, ſchäumte: „Ich will’s ihm ſchon zeigen,“ und ſtürzte wieder hinauf. Nach dem erſten Schlag mit dem Beil öffnete ſich die Tür, und Caſpar trat im Hemd auf die Schwelle. Der Anblick der ruhigen Geſtalt hatte etwas ſo Unerwartetes und Ernüchterndes für den Lehrer, daß er förmlich zuſammenklappte, nichts zu ſagen und zu tun wußte und nur ſonderbar mit den Zähnen knirſchte. „Machen Sie Licht,“ murmelte er nach einem langen Stillſchweigen. Doch ſchon kam die Frau mit einem Licht, leiſe heulend, die Stiege herauf. Caſpar erblickte das Beil im geſenkten Arm des Lehrers und fing an, heftig zu zittern. Bei dieſem Zeichen von Furcht verlor Quandt vollends die Haltung. Er ſchämte ſich, und tief aufſeufzend ſagte er: „Hauſer, Sie bereiten mir großen Kummer.“ Damit drehte er ſich um und ging langſam hinunter. Caſpar ſchlief erſt ein, als der Tag dämmerte. Beim Frühſtück, vor der gewohnten Unterrichtsſtunde, erfuhr er, daß Quandt ſchon ausgegangen ſei. Es wurde Mittag, und während des Eſſens war der Lehrer vollkommen ſtumm; mit dem letzten Biſſen erhob er ſich und ſagte. „Um fünf Uhr ſeien Sie auf Ihrem Zimmer, Hauſer. Der Polizeileutnant will mit Ihnen ſprechen.“ Caſpar legte ſich oben aufs Kanapee. Es war ein heißer Auguſttag, Gewitterwolken lagerten am Himmel, am offenen Fenſter flogen Schwalben ängſtlich zwitſchernd vorüber, die ſchwül erhitzte Luft ſurrte und ſang im engen Gemach. Noch müde von der Nacht, entſchlummerte Caſpar alsbald, und erſt ein heftiges Rütteln an ſeiner Schulter weckte ihn. Hickel und der Lehrer ſtanden neben ihm, er ſetzte ſich auf, rieb die Augen und ſah die beiden Männer ſchweigend an. Hickel knöpfte mit einer amtlichen Gebärde ſeinen Uniformrock zu und ſagte: „Ich fordere Sie hiermit auf, Hauſer, mir Ihr Tagebuch abzuliefern.“ Caſpar erhob ſich tiefatmend und antwortete mit einer mehr von innerem Zwang als Mut eingegebenen Feſtigkeit: „Herr Polizeileutnant, ich werde Ihnen mein Tagebuch nicht geben.“ Quandt ſchlug die Hände zuſammen und rief klagend: „Hauſer! Hauſer! Sie treiben Ihre unkindliche Widerſetzlichkeit zu weit.“ Caſpar ſchaute ſich verzweifelt um und erwiderte zuckenden Mundes: „Ja, bin ich denn ein Eigentum von einem andern? Bin ich denn wie ein Tier? Was wollen Sie denn noch? Ich hab’ ja ſchon geſagt, daß ich das Buch verbrannt habe!“ „Wollen Sie etwa leugnen, Hauſer, daß Sie heute nacht bei der Kerze geſchrieben haben?“ fragte Quandt dringlich. „Briefe haben Sie doch nicht zu ſchreiben gehabt und mit den Exerzitien waren Sie fertig.“ Caſpar ſchwieg. Er wußte nicht ein noch aus. „Ein guter Menſch hat überhaupt die Einſicht in ſein Tagebuch nicht zu ſcheuen,“ fuhr Quandt fort, „im Gegenteil, ſie muß ihm erwünſcht ſein, da doch ſeine Unbeſcholtenheit damit bezeugt wird. Sie am allerwenigſten, lieber Hauſer, haben Grund, ein geheimes Tagebuch zu führen.“ „Wie lange werden Sie uns noch warten laſſen?“ fragte Hickel mit höflicher Kälte. „Da will ich doch lieber ſterben, als daß ich das alles aushalten ſoll!“ rief Caſpar und hob den Arm, um ſein Geſicht darin zu verbergen. „Nun, nun,“ ſagte Quandt beunruhigt, „wir meinen es ja gut mit Ihnen, auch der Herr Polizeileutnant will nur Ihr Beſtes.“ „Freilich,“ beſtätigte Hickel trocken; „übrigens kann ich Ihnen ſagen, daß das Sterben zurzeit nicht der beſte Einfall von Ihnen wäre. Da könnte man unter Umſtänden auf Ihrem Grabſtein leſen: Hier liegt der Betrüger Caſpar Hauſer.“ „Ganz abgeſehen davon, daß ſich in einem ſolchen Satz eine höchſt verwerfliche Geſinnung ausdrückt,“ fügte Quandt tadelnd hinzu, „eine feige und unſittliche Geſinnung.“ „Es liegt mir am Leben nichts, wenn man mich immer mit ſolchen Geſchichten plagt und mir nicht glaubt,“ entgegnete Caſpar bedrückt; „ich hab’ ja früher auch nicht gelebt und hab’ lange nicht gewußt, daß ich lebe.“ Hickel ging indes an der Wand entlang und klopfte mit den Knöcheln wie ſpielend an einige Stellen der Mauer; plötzlich ſchien ſich ſeine Aufmerkſamkeit gegen das Bild über dem Sofa zu richten. Er nahm es lächelnd herab, betrachtete es nach allen Seiten und klappte ſchließlich die Scharniere auf, um die Holztafel zu entfernen. Caſpar wurde ſchlohweiß und bebte wie Eſpenlaub. Aber als nun Hickel das blaue Heft ſchmunzelnd in ſeiner Hand hielt, ging eine ſeltſame Verwandlung mit Caſpar vor. Es ſah aus, als wachſe er plötzlich und werde um Kopfeslänge größer. Mit zwei Schritten ſtand er dicht vor dem Polizeileutnant. Sein Geſicht war förmlich aufgeriſſen. In ſeiner Miene war etwas Erhabenes. Sein Blick glühte von einer leidenſchaftlichen und gebieteriſchen Kraft. Hickel, in dem dumpfen Gefühl, als werde er zermalmt oder zertreten, wich langſam und fasziniert gegen die Tür zurück. Der kalte Schweiß brach aus ſeiner Haut, als ihm Caſpar folgte, Schritt für Schritt, den Arm ausſtreckte, das Heft mit einem Ruck aus ſeinen umklammernden Fingern zog, es mitten durchriß, die beiden Hälften noch einmal und noch einmal zerriß, bis alles in Fetzen auf dem Boden lag. Wer weiß, was noch geſchehen wäre, wenn die Dazwiſchenkunft einer vierten Perſon in dieſem Augenblick nicht die Situation verändert hätte. Es war der Pfarrer Fuhrmann, der im Vorübergehen Caſpar hatte beſuchen wollen, um ihn zu fragen, weshalb er heute vom Unterricht fortgeblieben war. Als er eintrat, mußte ſich ihm eine Ahnung des Geſchehenen aufdrängen; er blickte ſtumm von einem zum andern. Quandt, der dem ganzen Vorgang mit entſetzten Augen zugeſchaut, gewann nur mühſam ſeine Faſſung und ſagte in verlegenem Ton: „Was haben Sie denn da für ein Geſchnitzel gemacht, Hauſer?“ Hickel wanderte mit ein paar großen Schritten durchs Zimmer, dann grüßte er den Pfarrer militäriſch und ging mit kaltem und finſterem Geſicht. Unter der Tür drehte er ſich um, deutete auf den Papierhaufen und machte eine befehlende Kopfbewegung gegen Quandt. Dieſer begriff. Er bückte ſich, um die Schnitzel zuſammenzuſcharren. Aber Caſpar durchſchaute ſeine Abſicht; er ſtellte ſich mit den Füßen darauf und ſagte: „Das kommt ins Feuer, Herr Lehrer.“ Er kniete nieder, raffte das Papier mit zwei Händen auf, trug es zum Ofen, öffnete mit dem Fuß das Türchen und warf alles hinein. Darauf ſchlug er Feuer, und eine Minute ſpäter brannte es lichterloh. Der Pfarrer Fuhrmann war bloß ſchweigender Zeuge des Auftritts, Hickel war gegangen, und der Lehrer, beſtändig hüſtelnd, ſchritt mit der Gleichmäßigkeit eines Wachpoſtens vor dem Ofen auf und ab, indes Caſpar kauernd zuſchaute, bis das letzte Fünkchen verglommen war; dann nahm er den Schürhaken und zerſchlug die Aſchenreſte zu Staub. Der Pfarrer hatte nachher eine Unterredung mit Caſpar, welche trotz dem herabgeſtimmten Gemütszuſtande des jungen Menſchen und einer ſchier krankhaften Unluſt zu ſprechen doch zu mancherlei Eröffnungen führte, die den geiſtlichen Herrn bewogen, ſich wegen des Vorgefallenen an den Präſidenten Feuerbach zu wenden. „Es iſt eigen mit dem Lehrer Quandt,“ ſagte er im Verlauf ſeiner Mitteilungen zu Feuerbach; „ein ſonſt ſo vortrefflicher Mann, und in allem, was den Hauſer betrifft, wie verhext. Die Ruhe des Hauſer macht ihn kribblig, ſeine Sanftheit rauh, ſeine Schweigſamkeit redſelig, ſeine Melancholie ſpöttiſch, ſeine Heiterkeit traurig, und ſeine Ungeſchicklichkeit gibt ihm die durchtriebenſten Liſten ein. Aus allem, was der Hauſer tut und ſagt, ſchließt er im ſtillen das Gegenteil, ſogar das Einmaleins aus dieſem Mund ſcheint ihm eine Lüge. Ich glaube, er möchte ihm am liebſten die Bruſt aufſchneiden, um zu ſehen, was drinnen iſt. Das iſt, weiß Gott, kein chriſtlicher Gedanke von mir, aber ich kann mir nicht helfen, wenn ich ſehe, wie da alles verdächtig gemacht wird. Verdächtig iſt, wenn dem Hauſer etwas neu erſcheint, und verdächtig, wenn er es ſchon kennt; verdächtig, wenn er lange ſchläft, und verdächtig, wenn er früh aufſteht; daß er das Theater liebt und die Muſik nicht liebt, verdächtig; daß er es hinunterſchluckt, wenn man ihn zankt, hingegen die Streitigkeiten zwiſchen andern, zum Beiſpiel zwiſchen Quandt und ſeiner Frau, immer ſchlichten will: verdächtig. Alles iſt verdächtig. Wie ſoll das enden!“ Aber, wie man ſo bezeichnend ſagt, ein Wort gab das andre, und zum Schluß kam nichts heraus. Der Präſident, merkwürdig zerſtreut, verſprach, den Polizeileutnant zur Rede zu ſtellen. Er ließ Hickel rufen und ſchrie ihn gleich beim Eintritt an, daß dem Verdutzten Hören und Sehen verging. Leider diente die Schimpferei der Sache ſchlecht; als der Zorn verdampft war, trug Hickels überlegene Ruhe und berechnete Schmiegſamkeit den Sieg davon. Es kam nichts heraus. Es blieb alles beim alten. Nur daß der Polizeileutnant, in ſeiner Eitelkeit tief gekränkt, doppelt ſtill und kalt ſeiner Wege ging. „Die Bemühung, dem Hauſer eine annehmliche Exiſtenz zu verſchaffen, muß man wohl als geſcheitert betrachten,“ ſagte Feuerbach eines Tages zu ſeiner Tochter. „Der Menſch leidet in ſeiner jetzigen Umgebung, und die Art, wie man ihn behandelt, ſcheint gegen alle Vernunft und Billigkeit.“ „Mag ſein; aber kann man es ändern?“ verſetzte Henriette achſelzuckend. „Mich beruhigt nur die Zuverſicht, daß ja eine Entſcheidung ohnehin fallen muß, wenn die Schrift einmal erſchienen iſt,“ ſagte der Präſident vor ſich hin. „Was ſchadet es auch dem jungen Menſchen, wenn die Wogen des Lebens über ſeinem Kopf zuſammenſchlagen?“ fuhr Henriette fort. „Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Es iſt nicht an Ihnen, Vater, ſeinen Präzeptor zu machen.“ „Vielleicht lernt er ſchwimmen dabei. Vortrefflich ausgedrückt, meine Tochter. Dereinſt mag er dann der überſtandenen Prüfungen dankbar gedenken. Ein Gekrönter, der eine ſolche Schickſalsſchule erfahren hat, von der tiefſten Tiefe zur höchſten Höhe geſtiegen iſt — ei, das gäbe Hoffnungen! Fehlte es den Großen der Erde nicht an Lebenskenntnis, ſo wäre ihnen das Volk mehr und etwas andres als eine Melkkuh. Laſſen wir alſo den Stahl glühen, damit er hart werde. Sind heute Korrekturen gekommen?“ Henriette verneinte und ging ſeufzend hinaus. Es gibt eine innere Stimme, die beredſamer iſt als die Weisheit der Sentenzen. Feuerbach erfuhr die Gewalt dieſer Stimme ſtets aufs neue, wenn er ſich Caſpar gegenüberbefand. Es war ihm nicht gegeben, ſich um den Appell einer höheren Inſtanz, als es Vernunft und Erfahrung ſind, herumzulügen. Den Freimut der Verantwortlichkeit, den er vor dem eignen Herzen empfand, hatte das Alter nicht abgeſtumpft, ſondern geläutert; er mußte ſich bekennen, daß das, was ihn quälte, ganz einfach das ſchlechte Gewiſſen war. Welch ein Dilemma für einen ſolchen Mann! Auf der einen Seite die bis zur Selbſtverleugnung getriebene Erfüllung der Idee, auf der andern das vorwurfsvolle Auge deſſen, dem die Idee galt und dem er ſich nicht ergeben konnte und durfte — aus Furcht vor dem allzu beteiligten Gefühl, aus Furcht vor der Trübung des Urteils, aus Furcht, daß der Engel der Gerechtigkeit ſeiner vorgeſetzten Bahn entfliehen würde, wenn Neigung, Rückſicht und herzliche Annäherung ins Spiel kämen. So wie an die nächſten Freunde ſchickte der Präſident in dieſen Tagen die Aushängebogen ſeiner Caſpar-Hauſer-Schrift auch an Stanhope, der ſich zurzeit in Rom aufhielt. Der Graf dankte oder antwortete mit keinem Wort. Eines ſchlimmeren Zeichens bedurfte Feuerbach nicht. Wie hatte doch das große Wort gelautet, das er einſt in lebendiger Stunde zu jenem Mann geſprochen? „Wenn dieſes Antlitz trügt, Mylord, mit dem Sie hier vor mir ſtehen, dann_...“ Ja, dann! Was dann? Kindliche Anmaßung! Würde die Welt untergehen, weil ein Feuerbach ſich getäuſcht? Wie vielfältig iſt der Menſch, wie viele Geſichter ſind ihm eigen, wie viele Worte findet er um eines erbärmlichen Vorteils willen! Für den Biſſen Brot iſt jeder Bettler ſchon ein Fürſt der Worte, und was Staatskaroſſen, was Pairſchaft, was anmutige Manieren und überredendes Gefühl, wenn dem allen nur das Wort die Schminke iſt, das eine ausſätzige Haut verſchönt? Dazu alſo Herzen zergliedert, im Dunkel der Seelen gewühlt, mit Richterkunſt und -pathos Tat und Untat auf ihr menſchlich Maß geprüft, damit ein aufgeſchmückter Schelm aus England kam, um damit ein ſardoniſches Spiel zu treiben und alles lächelnd ins Abſurde zu führen. Den alten Mann ekelte. Aber die Vorſtellung von der Macht und den Hilfsmitteln der Feinde, mit denen er ſich in ungleichen Kampf eingelaſſen, wurde allmählich ungeheuer, und wenn auch ſein Vorhaben nicht die geringſte Beeinträchtigung erfuhr und er nicht für die Dauer eines Augenblicks ins Schwanken geriet, nahm doch eine verdüſternde Unruhe von ihm Beſitz. Seit jenem nächtlichen Einbruch, deſſen Anſtifter aller aufgewandten Mühe zum Trotz unentdeckt geblieben waren, entbehrte er des dauernden Schlafs. Er erhob ſich bisweilen aus dem Bett, wanderte mit dem Licht durch die Zimmer, über Treppen und Flur, rüttelte an den Fenſtern, probierte die Feſtigkeit der Schlöſſer und erſchrak nicht ſelten vor ſeinem eignen Schatten. Es war für ſeine Kinder ein erſchütterndes Schauſpiel, dieſen Mann der Leidenſchaft und des eingefleiſchten Mutes in dergleichen Geſpenſterweſen verſtrickt zu ſehen. Einſtmals am frühen Morgen fand man an der äußeren Seite des Haustors folgende mit Kreide angeſchriebenen Verſe: Anſelm, Ritter von Feuerbach! // Löſch ’s Feuer unter deinem Dach! // Laß den falſchen Freund nimmer ein! // Zieh den Degen und hau drein, // Sonſt wird’s um dich geſchehen ſein. An einem Abend zu Ende Oktober kam Quandt und begehrte den Präſidenten zu ſprechen. Feuerbach ließ ihn eintreten und beobachtete ſofort in ſeinem Benehmen etwas Verlegenes und Beſtürztes, doch zeigte der Lehrer nicht die gewöhnliche Umſtändlichkeit, ſondern rückte ſchnell mit ſeinem Anliegen heraus. Er berichtete, Caſpar habe vorgeſtern einen Brief des Grafen erhalten und ſeitdem habe er ſich ganz verändert; ob Seine Exzellenz nicht eine Stunde erübrigen könne, um mit dem Menſchen zu reden, er ſelbſt bringe kein Wort aus ihm heraus. Der Präſident fragte, worin die Veränderung beſtehe. „Es iſt, als wäre er taubſtumm geworden,“ verſetzte Quandt. „Bei Tiſch läßt er die Speiſen unberührt, beim Unterricht iſt er äußerſt unaufmerkſam, ja geiſteſabweſend, die Aufgaben macht er nicht mehr, auf Fragen antwortet er nicht, ſchleicht herum wie ein Todkranker und ſtarrt in die Luft. Geſtern nachts hab’ ich und meine Frau ihn belauſcht und wir haben zugehört, wie er erſt eine ganze Weile vor ſich hingewimmert, dann auf einmal hat er einen gräßlichen Schrei ausgeſtoßen.“ „Wiſſen Sie vielleicht, was in dem Brief des Grafen geſtanden hat?“ forſchte der Präſident. „O ja, das weiß ich wohl,“ entgegnete der Lehrer harmlos; „es iſt meine Gepflogenheit, alle Briefe, die er erhält, vorher zu öffnen.“ Feuerbach blickte jäh empor und ſah den Lehrer mit finſterer Neugier an. „Nun, und?“ fragte er. „Ich könnte den Inhalt des Schreibens durchaus nicht mit einer ſolchen Wirkung zuſammenreimen,“ erwiderte Quandt bedächtig. Der Präſident ſtampfte ungeduldig mit dem Fuß. „Gut, gut,“ rief er barſch, „aber was ſtand denn drin, da Sie es doch einmal wiſſen?“ Quandt erſchrak. „Es ſtand drin, der Graf könne in dieſem Jahr nicht mehr nach Ansbach kommen, unerwartete Zwiſchenfälle nötigten ihn, dieſen Plan ins Unbeſtimmte zu verſchieben. Nun iſt mir freilich bekannt, daß Hauſer mit der Herkunft des Lords ſtark gerechnet hat, er ſprach ſogar immer von einem feſten Termin und hielt es für einen Frevel, wenn man ihm das ausreden wollte; er ſchien es geradezu für eine Pflicht des Grafen zu erachten, denn in ſeinem kindiſchen Kopf glaubt er noch fix daran, daß ihn der Graf mit nach England auf ſeine Schlöſſer nehmen werde, und er ahnt gar nicht, daß der Herr Graf ſchon längſt ſein Herz von ihm abgewandt hat_—“ „Woher wiſſen Sie das, Mann?“ brauſte der Präſident auf und erhob ſich mit ſolchem Ungeſtüm, daß der Stuhl hinter ihm umſtürzte. „Eure Exzellenz verzeihen,“ ſtotterte Quandt furchtſam, „aber das iſt doch ſonnenklar.“ Er ging hin, ſtellte den Stuhl mit einer höflichen Grimaſſe wieder auf, und während der Präſident mit ſeinen ſteifen, kurzen Schritten auf und ab wanderte, ſagte er ſchüchtern: „Trotz allem iſt mir die Wirkung dieſer in den urbanſten Formen gehaltenen Abſage unerklärlich und beſorgniſerregend; es muß da etwas dahinter ſtecken, und Eure Exzellenz ſind vielleicht imſtande, es herauszubringen.“ „Ich werde der Sache nachgehen,“ ſchnitt Feuerbach das Geſpräch kurz ab. Quandt machte ſeinen Bückling und entfernte ſich. Er ging nicht heimwärts, ſondern wandte ſich gegen die Herrieder Vorſtadt, da er ſeine Frau vom Haus ihrer Mutter abholen wollte. Es war ein heftiger Sturm, Blätter und Zweige wirbelten durch die Luft, Quandts Mantelumhang flatterte hochauf, und mit beiden Händen mußte er die Ränder ſeines Schlapphuts feſthalten. Kurz nach dem Lehrer hatte Caſpar heimlich das Haus verlaſſen, eigentlich ohne Ziel. Als er auf der Straße war, fiel ihm ein, ob er nicht zu Frau von Imhoff gehen könne, und ungeachtet der Dunkelheit und des böſen Wetters, und obgleich das Imhoffſchlößchen eine Viertelſtunde vor der Stadt gelegen war, entſchloß er ſich dazu. Aber als er angelangt war, als er am Gittertor ſtand und zu den erleuchteten Fenſtern hinaufſchaute, ſchwand ihm alle Luſt und er fürchtete ſich vor den hellen Zimmern. Sah er ſich doch ſchon droben; hörte er doch ſchon die Worte, die ihm nichts waren und nichts galten, er kannte ſie alle, er hätte ſie auswendig an der Schwelle herſagen können. Ja, er kannte nun die Worte der Menſchen, er erfuhr nichts Neues durch ſie, ſie fielen in das unermeßliche Meer ſeiner Traurigkeit wie kleine trübe Tropfen, deren Aufſchall die Tiefe verſchlang. Ein Schatten glitt an den Fenſtern vorbei, ein andrer folgte. So weilten ſie in ihren Wohnungen, ſtill und emſig, zündeten ihre Lichter an und wußten nicht, wer draußen ſtand am Tor. Mitten im Windgebrauſe vernahm Caſpar Töne wie von einem Saiteninſtrument, das unter den Wolken aufgehängt war. Es befand ſich nämlich auf dem Dach des Schlößchens eine Aeolsharfe, Caſpar wußte dies nicht und hielt es für eine geiſterhafte Muſik. Als er den Rückweg antrat, ſchlugen immer von Zeit zu Zeit die orgelnden Akkorde an ſein Ohr. Er wünſchte noch nicht heimzugehen; der gleiche dumpfe Drang, der ihn vor das Schlößchen der Imhoffs getrieben hatte, führte ihn noch zum Hauſe des Generalkommiſſärs, dann zum Haus des Regierungspräſidenten, dann zum Feuerbachſchen Haus und ſchließlich vor ein Gebäude, das unbewohnt war und das mit ſeinen verſchloſſenen Läden, ſeinen bemoſten Simſen und ſeinem hochbogigen Tor, über welchem ein Auge in den Stein und darüber die Worte gemeißelt waren: „Zum Auge Gottes“, ſchon lang vorher ſeine Wißbegier aufgeweckt hatte. Zur Markgrafenzeit ſollte ein Goldmacher darin gewohnt haben. Es war ihm zumute, wie wenn er in all dieſen Häuſern zu Gaſt geweſen ſei, wie wenn er unſichtbar unter ihren Bewohnern oder in ihren leeren Räumen herumgegangen ſei und als ob er dabei eine merkwürdige Kenntnis von dem vergangenen und gegenwärtigen Leben ihrer Menſchen gewonnen hätte. Ziemlich müde und dabei tief erregt langte er im Lehrerhaus an. Quandt und ſeine Frau waren noch nicht daheim, die Kinder ſchliefen, die Magd war nicht zu ſehen, es herrſchte eine große Stille, nur der Wind umheulte die Mauern, und das Flurlämpchen flackerte wie vor Furcht. Da, während Caſpar zur Treppe ſchritt, vernahm er eine langgezogene feine Stimme, ähnlich dem Zirpen der Sommergrille, und die Stimme rief: „Stephan!“ Er blieb befremdet ſtehen und ſah ſich um. Da alles ruhig war, glaubte er ſich getäuſcht zu haben, glaubte, es ſei eine Stimme draußen auf der Straße geweſen. Aber kaum hatte er drei Schritte getan, ſo erſchallte die Stimme neuerdings, nur unvergleichlich lauter, anſcheinend aus dichterer Nähe: „Stephan!“ Es war etwas unendlich Ergreifendes in dem Ton; es klang, wie wenn einer, der zu ertrinken fürchtet, aus dem Waſſer ruft. Unverkennbar war es eine männliche Stimme, die nun zum drittenmal wie von Schluchzen erſtickt ausrief: „Stephan!“ Kein Zweifel, der Ruf galt ihm, ihm, Caſpar. Er ſtreckte die Arme aus und fragte: „Wo? Wo biſt du? Wo biſt du?“ Da ſah er oben über der Tür, körperlos ſchwebend, ein fahlleuchtendes Geſicht. Es war das Geſicht Stanhopes, mit aufgeriſſenen Augen und aufgeriſſenem Mund, wie in äußerſtem Schrecken verzerrt, häßlich, ſchier unkenntlich häßlich. Caſpar verharrte angewurzelt an ſeinem Platz, ſeine Glieder, ja ſeine Augen waren wie verſteinert. Als er zum zweitenmal hinblickte, war das Antlitz verſchwunden, auch die Stimme ließ ſich nicht mehr vernehmen. Flur und Stiege erleuchtet, alle Türen zu, kein Menſch zu ſehen, kein Laut zu hören. 22. Es wird eine Reiſe beſchloſſen Eines Nachmittags im Dezember ſahen erſtaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie beſeſſen aus ſeinem Haus und gegen die Neuſtadt ſtürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und ohne ſich Zeit zu gönnen, ſeinen Hut vom Kopf zu nehmen, griff er in die Rocktaſche und hielt Hickel wortlos ein dünnes Druckheft entgegen. Es war die vor kurzem erſchienene Caſpar-Hauſer-Broſchüre Feuerbachs. Quandt hatte das Büchlein erſt heute in die Hände bekommen und es in einem Zug durchgeleſen. Hickel nahm das Heft, beſah es rundum und ſagte gelaſſen: „Na, und? Was ſoll’s? Meinen Sie, daß das eine Neuigkeit für mich iſt? Sie echauffieren ſich doch nicht etwa? Der Alte ſchreibt, weil das ſein Geſchäft iſt. Eher können Sie einer Henne das Eierlegen abgewöhnen als einem geborenen Federfuchſer das Schreiben.“ Quandt atmete tief auf. „Schreiben, ſchön; ich laſſe ja vieles gelten,“ antwortete er, „aber das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie_—“ er packte das Heft, ſchlug das Titelblatt auf und las vor: „Caſpar Hauſer oder Beiſpiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menſchen. Das klingt ja nach etwas,“ ſagte er bitter; „es ſtreut den Leuten von vornherein Sand in die Augen. Aber das Ganze iſt ein Roman, und nicht einmal einer von der beſten Sorte.“ Er blätterte und deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die er gleichfalls höhniſch betont vorlas: „Caſpar Hauſer, das rare Exemplar der Gattung Menſch_—! Lieber Herr Polizeileutnant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende. Das kommt mir ſo vor, als ob man den notoriſch ſchlechteſten meiner Schüler vor verſammeltem Volk als einen großen Gelehrten erklärte. Rares Exemplar! In dem Punkt weiß ich beſſer Beſcheid, halten zu Gnaden, Exzellenz; da könnte ich einem verehrlichen Publiko ganz anders die Augen öffnen. Rares Exemplar, gewiß! Aber man muß nur auch das Alphabet von vorne und nicht von hinten leſen. Das iſt alſo der große Kriminaliſt, der beſtaunte Alleswiſſer! So ſieht der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet! Und nun erſt das ganze dynaſtiſche Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht ſo traurig wäre. Herrgott, iſt das eine Zeit, iſt das eine Welt!“ Der Polizeileutnant hörte mit kaum merklichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an. Als Quandt zu Ende war, ſagte er gleichmütig: „Was wollen Sie? Als getreue Diener ſind wir nun einmal dazu verurteilt, die dummen Streiche unſrer Herrſchaft mitanzuſehen. Übrigens kann ich Sie in einer Hinſicht beruhigen. Der Präſident hat ſelber keine rechte Freude an dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler, die ihm dabei paſſiert ſind, und daß es ihn mehr Mühe gekoſtet hat, die Geſchichte zu Papier zu bringen, denn ein ganzes Corpus juris. Und jetzt muß er’s erleben, daß man ihm draußen im Reich hart zuſetzt. Es geht die Rede, daß die Bundeskommiſſion zu Frankfurt die Schrift konfiszieren wird.“ „Recht ſo,“ rief Quandt. „Auch die Fürſten ſollten etwas dagegen unternehmen.“ „Das laſſen Sie nur die Sache der Fürſten ſein,“ verſetzte Hickel, deſſen Geſicht plötzlich böſe und ſorgenvoll wurde. „Potz Kreuz, lieber Quandt, Sie ereifern ſich ja da, als ob’s Ihnen an den Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern wiſſen, ob Sie auch ſo viel Mut zeigen würden, wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre.“ Quandt ſchaute ſich mißtrauiſch um. Dann zuckte er die Achſeln und erwiderte: „Sie belieben zu ſcherzen, Herr Polizeileutnant. Schlimm genug, daß man mit ſeiner wahren Meinung hinterm Berg halten muß. Wir haben alle vergeſſen, wie ein Mann den Kopf tragen ſoll. Kuſchen, das haben wir gelernt, das verſtehen wir von Grund aus. Aber ich will nicht mehr kuſchen.“ „Pſt!“ unterbrach ihn Hickel unwirſch; „laſſen wir das; es ſchmeckt nach Demagogentum. Sagen Sie mir lieber: Hat der Hauſer Kenntnis von der Broſchüre?“ „Nicht daß ich wüßte,“ entgegnete Quandt. „Aber es wird nicht zu vermeiden ſein, daß er davon erfährt, gibt es doch Unverſtändige genug, die ſich ein Vergnügen daraus machen werden. Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von der Schrift eines gewiſſen Garnier gehört?“ Bei der Nennung dieſes Namens zuckte Hickel zuſammen und ſah den Lehrer finſter an. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er ſich zu einer Antwort entſchloß. „Garnier? Ja, das iſt ein landesflüchtiges Subjekt. In ſeinem Pamphlet bringt er dieſelben ſinnloſen Dinge vor wie der Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigſten Hofklatſch. Das Machwerk iſt nicht der Rede wert.“ „Wie ſoll ich mich aber verhalten, wenn der Hauſer irgendwie in den Beſitz eines dieſer Produkte kommt?“ fragte Quandt. Hickel ſpazierte mit ſeinen langen Schritten herum und nagte mit den Zähnen nervös an der Unterlippe. „Treffen Sie Vorſorge,“ erwiderte er kalt. „Laſſen Sie ihn nicht aus den Augen. Mich kümmert das übrigens gar nicht; iſt mir völlig egal. Man wird den jungen Mann ſchon karwanzen.“ Quandt ſeufzte. „Herr Polizeileutnant,“ ſagte er bedrückt, „ich kann Ihnen nicht ſchildern, wie mir iſt. Meine halbe Seligkeit gäb’ ich drum, wenn es mir vergönnt wäre, den Menſchen zu einem offenen Geſtändnis zu bringen.“ „Man wird’s Ihnen billiger machen,“ verſetzte Hickel düſter. „Wiſſen Sie denn das Neueſte?“ fuhr Quandt fort. „Der Präſident will den Hauſer als Schreiber beim Appellgericht beſchäftigen. Morgen ſoll er ſchon anfangen.“ „Und was wird der Graf dazu ſagen?“ „Man hat es ihm ſchreiben wollen; weiß aber nicht, wo er ſich aufhält. Es iſt ſeit vier Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen, und den hat der Hauſer nicht einmal angeſehen. Meines Erachtens muß er ſich über die Maßregel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn iſt der Hauſer doch nicht zu brauchen, er hat leider den Verkehr mit den gebildeten und höheren Ständen zu lange genoſſen, als daß es ihn nicht rebelliſch machen müßte, wenn er ihn plötzlich mit der Umgebung in einer Werkſtätte vertauſchen müßte. Anderſeits iſt er auch zu einem Beruf ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert, denn zu einem ernſthaften Studium fehlt ihm Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat demnach die beſte Löſung getroffen, die auch mich von einem Teil meiner Verantwortlichkeit entlaſtet. Bei der Schreiberei kann ſich der Hauſer nicht nur zu einem Beamten des niederen Dienſtes, ſondern bei einigem Fleiß ſogar für eine Stelle beim Regiſtratur- oder Rechnungsweſen ausbilden.“ Hickel hörte der weitläufigen Auseinanderſetzung kaum zu. Sie gingen nun zuſammen fort; vor der Hofapotheke verabſchiedete ſich Hickel, um ſich, wie er ſagte, ein Pülverchen gegen Schlafloſigkeit verſchreiben zu laſſen. Auf dem Nachhauſeweg wurde Quandt vom Hofrat Hofmann ſehr freundlich gegrüßt, eine Tatſache, die hinreichend war, ſeine mürriſche Stimmung ungemein aufzuheitern. Beim Mittageſſen, es gab Kalbsbruſt und Ochſenmaulſalat, wurde er ſogar luſtig und trieb allerlei Scherze mit ſeiner Gattin. Aber wie es bei ſeriöſen Naturen der Fall zu ſein pflegt, geriet ſeine Aufgeräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm nahm er das Meſſer und fuchtelte der Lehrerin lachend damit vor der Naſe herum. Da erblaßte Caſpar, ſtand auf und ſagte: „Um Gottes willen, Herr Lehrer, legen Sie doch das Meſſer weg, ich kann’s nicht ſehen.“ Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte: „Na, hören Sie mal, Hauſer, ein ſolches Betragen ſchmeckt ſtark nach Affektation.“ „Sie ſind ein ſchöner Tappel,“ ſagte die Lehrerin, „ein Mann muß mutig ſein. Was wollen Sie denn tun, wenn’s mal Krieg gibt? Da heißt es mit Anſtand ſterben.“ „Sterben? Nein, da ſag’ ich Dank, ſterben mag ich nicht,“ erwiderte Caſpar haſtig. „Und doch haben Sie ſich damals vor dem Polizeileutnant in einer höchſt widerwärtigen Weiſe über denſelben Punkt geäußert,“ ließ ſich Quandt vernehmen. „Nein, ſo feig,“ fuhr die Lehrerin fort, „mit dem Kadetten Hugenpoet von den Dragonern haben Sie ſich letzten Sommer ja auch einmal ſo feig benommen.“ „Was iſt denn das für eine Geſchichte?“ erkundigte ſich Quandt, „davon weiß ich gar nichts.“ „Er war doch mit dem Kadetten oft beiſammen; der hat dem Hauſer immerzu vorgeſchwärmt, er ſoll Soldat werden, in ein paar Jahren brächt’ er es leicht zum Offizier. Wär’ ja nicht ſo übel, die Kadetten haben es gut und kommen ſchnell vorwärts. Unſer Hauſer war auch begeiſtert von der Idee, aber auf einmal war die Freundſchaft aus.“ „Ei, und aus welchem Grund?“ „Das war ſo. An einem Abend im September iſt er mit dem Kadetten am Rezatufer ſpazieren gegangen, und ſie ſind zu einer Stelle gekommen, wo viele Knaben und Burſchen ſich gebadet haben, denn es war furchtbar warm an dem Tag. Der Kadett ſagt, das wollen wir auch machen, zieht ſich aus und will den Hauſer überreden, gleichfalls zu baden. Der war aber zu Tod erſchrocken von dem Vorſchlag und ſagt, ins Waſſer geht er nicht. Das hören die andern, ſteigen heraus, ſtellen ſich um ihn herum, verſpotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins Waſſer bringen. Da reißt er ſich los, eh’ man ſich’s verſieht, iſt er in ſeiner Höllenangſt über die Felder davongelaufen, und die nackigten Kerle höhnen hinter ihm her. Dem Kadetten war’s zu bunt, und er ſieht ihn nicht mehr an ſeitdem. Iſt’s wahr, Hauſer, oder nicht?“ Caſpar nickte. Der Lehrer ſchüttelte ſich vor Lachen. Ein paar Tage ſpäter kamen Frau von Imhoff und das Fräulein von Stichaner, um Caſpar zu beſuchen. Die Lehrerin, ſtolz auf die vornehmen Gäſte, wich nicht vom Fleck. Der Unterhaltung zuliebe und weil ihr nichts Geſcheiteres einfiel, erzählte ſie im Beiſein Caſpars abermals die Geſchichte mit dem Kadetten und dem verweigerten Bad, doch hatte ſie nicht denſelben Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden Damen hörten ſchweigend zu. „Solche Feigheit iſt eigentlich nicht ſchön,“ bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf der Straße gegen Frau von Imhoff. „Man kann es nicht gut Feigheit nennen,“ antwortete dieſe; „er liebt das Leben zu ſehr, das iſt es. Er liebt das Leben wie ein Toller, wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals ſein Gold. Er hat mir ſelbſt geſtanden, daß er jedesmal vor dem Einſchlafen Angſt hat, ſein Schlaf könne ſich ihm unbewußt in Tod verwandeln, und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß am andern Morgen wieder aufwachen laſſen. Nein, es iſt nicht Feigheit; es iſt vielleicht die Ahnung einer großen Gefahr, auch der Trieb, viel Verſäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur manchmal ſehen, wie er ſich freuen kann, und über das Allergeringſte, woran jeder andre ſtumpf vorübergeht. Seine Freude hat etwas Großartiges, etwas Erdentrücktes, ſo wie ſeine Furcht und ſeine Traurigkeit etwas Schauerliches haben.“ Zu Hauſe wurde Frau von Imhoff durch einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kannawurf, überraſcht, doppelt angenehm überraſcht, da Frau von Kannawurf, ſie weilte gegenwärtig in Wien, ſchrieb, ſie wolle im März nach Ansbach kommen. In dem Brief war überdies viel von Caſpar die Rede. „Ich habe in den letzten Tagen die Feuerbachſche Schrift geleſen,“ hieß es unter anderm, „und muß dir geſtehen, daß mich noch niemals ein Buch dermaßen im Innerſten aufgewühlt hat. Ich kann ſeitdem nichts andres denken, und es flieht mich der Schlaf. Weiß Caſpar Hauſer ſelbſt von dieſer Schrift? Und wie ſtellt er ſich dazu? Was äußert er darüber?“ Frau von Imhoff verſäumte es, über den Punkt Beſcheid zu geben; es fiel ja auch ſchwer, Caſpar zu befragen. Hat er das Buch nicht geleſen, ſo iſt es peinlich und ſonderbar, ihn darüber in Unwiſſenheit zu ſehen, dachte ſie; noch peinlicher und ſonderbarer, wenn er es geleſen hat; peinlich und ſonderbar ſein Aufenthalt hier, ſein Kopiſtenamt auf dem Gericht, ſein ganzes Treiben; und wie iſt es möglich, eine Ausſprache herbeizuführen? Jedes offene Wort kann unheilvoll werden. Trotzdem unternahm es Frau von Imhoff, Caſpar vorſichtig auszuholen, ob er überhaupt von der Sache wiſſe oder davon reden gehört. Und er wußte davon. Nicht im entfernteſten aber hegte er den Wunſch, ſich Klarheit zu verſchaffen. Erſtens aus Furcht; die Furcht ließ ihn vor jedem Schritt zurückbeben, der auf eine Veränderung ſeiner Lage zielte, ſeine Gedanken von der krampfhaft umklammerten Gegenwart ablenken konnte; und dann, weil er wahrſcheinlich annahm, es handle ſich bei der Schrift des Präſidenten auch nur um das bodenloſe Gerede, das er in- und auswendig wußte und von dem ihm, wie er zu ſagen pflegte, bloß Kopf- und Herzweh und ein dummes Nachſchauen blieb. Er hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus lauter Überdruß daran war er am Ende ſo unneugierig geworden, daß eine einzige Andeutung, während eines Geſprächs etwa, hinreichte, um ſeinem Geſicht den Ausdruck ſchalſter Langweile zu geben. Wie er ſchließlich doch dazu gelangte, das für ihn und um ſeinetwillen geſchaffene Werk kennen zu lernen, das hatte eine eigentümliche Bewandtnis. Es war an einem unfreundlichen Vormittag im März, da verbreitete ſich plötzlich im Appellgerichtsgebäude und bald darauf in der ganzen Stadt die Nachricht, der Präſident ſei im großen Gerichtsſaal während einer Verhandlung, die er leitete, ohnmächtig vom Stuhl geſtürzt. Alle Beamten liefen ſofort aus ihren Zimmern und ſtanden alsbald auf den Treppen und Korridoren. Auch Caſpar hatte ſeinen Arbeitstiſch verlaſſen und geſellte ſich zu den übrigen. Er ſchlich aber abſichtlich wieder davon, um nicht Zeuge ſein zu müſſen, wie man den Präſidenten von oben heruntertrug. Als er ſich in das Zimmer zurückbegab, in welchem er an allen Vormittagen von acht bis zwölf Uhr ſchrieb, und zwar nur in Geſellſchaft eines alten Kanzliſten, eines gewiſſen Dillmann, war dieſer ſein Amtsgefährte noch nicht wieder da. Caſpar, ſehr traurig und erſchrocken, ſtellte ſich zum Fenſter und malte, ſchmerzlich verſonnen, wie er war, mit dem Finger den Namen Feuerbach in die beſchweißte Scheibe. Indes trat Dillmann ein und ging händeringend auf ſeinen Platz zu. Bis auf dieſen Tag hatte der alte Kanzliſt, und Caſpar befand ſich nun über neun Wochen auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüſſiger Worte mit dem neuen Kollegen gewechſelt; er hatte ſich im mindeſten nicht um ihn gekümmert und eine grämliche Gleichgültigkeit gegen ihn zur Schau getragen. Im Verlauf der dreißig Jahre, während welcher er Akten, Erläſſe, Verordnungen und Urteile kopierte, hatte er es zu einer beſonderen Geſchicklichkeit im Schlafen gebracht, und es war komiſch zu ſehen, wenn er, den Federkiel aufs Papier geſpießt, leiſe ſchnarchend ſeine Sieſta hielt und ſogleich die Hand ſchreibend weiterbewegte, wenn ſich draußen der Schritt eines Vorgeſetzten vernehmen ließ, da er die Gangart jedes einzelnen Herrn genau ſtudiert und ſozuſagen im Kopf hatte. Um ſo verwunderter war Caſpar, als Dillmann auf ihn zuſchritt und mit zitternder Stimme ſagte: „Der unvergleichliche Mann! Wenn ihm nur nichts zuſtößt! Wenn ihm nur nichts Menſchliches paſſiert!“ Caſpar drehte ſich um, entgegnete aber nichts. „Na, Hauſer, und für Sie wäre es gar ein unerſetzlicher Verluſt,“ fuhr der Alte ſeltſam keifend und zänkiſch fort; „wo gibt’s denn in dieſer lummerigen Welt einen Menſchen, der ſich ſo für einen andern Menſchen einſetzt? Sollte mich nicht erſtaunen, wenn das ein ſchlimmes Ende nähme. Ja, es wird ein ſchlimmes Ende nehmen, ein ſchlimmes Ende.“ Caſpar hörte ſchweigend zu; ſeine Augen blinzelten. „So ein Mann!“ rief Dillmann aus. „Ich hab’, ſeit ich hier ſitze, ſchon ſieben Präſidenten und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab geleitet, Hauſer, aber ſo einer war nicht dabei. Ein Titan, Hauſer, ein Titan! Die Sterne könnt’ er vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen. Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal genau betrachtet? Der Buckel über der Naſe! Das deutet, wie man ſagt, auf eine genialiſche Konzeption; dieſe Jupiterſtirn! Und das Buch, Hauſer, das er für Sie geſchrieben hat! Das iſt ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen iſt’s! Die Zähne muß man zuſammenbeißen und die Fäuſte ballen, wenn man’s lieſt.“ Caſpar machte ein mürriſches Geſicht. „Ich hab’s nicht geleſen,“ ſagte er kurz. Dem alten Kanzliſten gab es einen Ruck. Er riß den Mund auf und ſchnappte. „Nicht geleſen?“ ſtotterte er. „Sie — nicht geleſen? Ja wie iſt denn das möglich? Da ſoll mich doch gleich der Teufel holen!“ Eilig trippelte er zu ſeinem Tiſch, ſchob eine Lade auf, ſuchte herum und brachte das Büchlein zum Vorſchein. Er reichte es Caſpar hin, ſtieß es ihm förmlich in die Hand und knurrte: „Leſen, leſen! Sapperlot, leſen!“ Caſpar machte es beinahe wie Hickel dem Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch um und um und zeigte eine unſchlüſſige Miene. Dann erſt ſchlug er es auf und las, ſichtlich erbleichend, den Titel. Immerhin genügte auch dies noch nicht, um ihn neugierig oder ungeduldig werden zu laſſen. Er ſteckte das Buch in die Taſche und ſagte trocken: „Zu Hauſe will ich’s leſen.“ Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich, das Amt, ſetzte ſich zu Hauſe, als ob nichts geſchehen wäre, zu Tiſch und hörte ſtill den Geſprächen zu, die ſich ausſchließlich um das dem Präſidenten widerfahrene Unglück drehten. „Am letzten Sonntag vor dem Kirchgang,“ plauderte die Lehrerin, „da hab’ ich den Staatsrat geſehen, gerade wie ihm vier Totenweiber begegnet ſind. Der Staatsrat iſt ganz erſchrocken geweſen, iſt ſtehengeblieben und hat ihnen nachgeſchaut. Ich hab’ mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes bedeuten.“ „Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten zu gaffen,“ verſetzte Quandt unwirſch. „Da predigt man und predigt das liebe lange Jahr, glaubt wunders wie auf den Höhen der Aufklärung zu wandeln und ſchließlich ſpuckt einem die eigne Sippſchaft am kräftigſten in die Suppe.“ Caſpar belachte dieſe Worte, was ihm von der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug. Er begab ſich dann in ſein Zimmer. Um zwei Uhr ſollte er zum Unterricht kommen, erſt von vier Uhr an brauchte er im Amt zu ſein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen waren, trat Quandt in den Hausflur und rief. Es erfolgte keine Antwort. Er ging hinauf und überzeugte ſich, daß Caſpar nicht da war. Sein Unwillen verwandelte ſich in Schrecken, als er bei ſeiner ſpionierenden Umſchau die Feuerbachſche Schrift auf Caſpars Tiſch liegen ſah. „Alſo doch,“ murmelte er bitter. Er nahm das Buch an ſich, ſuchte unten ſeine Frau und ſagte mit tonloſer Stimme: „Jette, ich habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. Der Hauſer hat die Schrift des Staatsrats auf ſeinem Zimmer gehabt. O die gewiſſenloſen Menſchen! Wer doch das wieder eingefädelt hat!“ Die Lehrerin zeigte wenig Verſtändnis für den Vorfall. „Laß ihn gehen,“ oder „ſag’s ihm doch,“ oder „gib’s ihm nur ordentlich,“ war meiſt alles, was ſie zu entgegnen wußte, wenn Quandt ungehalten über Caſpar war. „Wann iſt denn der Hauſer fort?“ erkundigte ſich Quandt bei der Magd. Dieſe wußte von nichts. Da trat Caſpar ſelber ins Zimmer und entſchuldigte ſich höflich. „Wo waren Sie denn?“ forſchte der Lehrer. „Ich bin zu Feuerbachs gegangen und wollte fragen, wie es dem Staatsrat geht.“ Quandt ſchluckte ſeinen Verdruß hinunter und begnügte ſich, Caſpars Fortgehen als Eigenmächtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf und ab. Endlich begann er: „Ich war vorhin auf Ihrer Kammer, Hauſer. Ich habe bei dieſer Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde ausgedrückt, ſehr mit Bedenken erfüllt. Ich will mich nun über die Schrift des Herrn Staatsrats nicht weiter auslaſſen, obwohl alle vernünftigen Menſchen darüber einer Meinung ſind; ich halte mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen ſo verdienſtvollen Mann herunterzuſetzen. Auch will ich nicht weiter unterſuchen, wer Ihnen das Buch in die Hand geſpielt hat, da ich mich dabei doch nur der Gefahr ausſetzen würde, von Ihnen angelogen zu werden. Aber mein Bedenken hat es erregt, daß Sie ſogar bei einem ſolchen Anlaß heimlich verfahren zu müſſen glauben. Warum kommen Sie nicht, wie ſich’s gehört, zu mir und ſprechen ſich aus? Denken Sie denn, daß ich Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübſche Fabel zu leſen, die ein ehemals großer und berühmter, doch nun kranker und geiſtesmüder Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, wie Ihnen in Ihrem Innern zumute ſein muß, wenn man ein ſolches Märchen in Ihre Vergangenheit hineinſpinnt? Eine Vergangenheit, die Ihnen wahrlich beſſer bekannt iſt als dem armen Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen die ewige Verſteckenſpielerei? Hab’ ich das um Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu Ihnen geweſen? Sie leben in meinem Haus, Sie eſſen an meinem Tiſch, Sie genießen mein Vertrauen, Sie nehmen teil an unſerm Wohl und Wehe, kann Sie denn nichts in der Welt bewegen, Sie heimlicher Menſch, einmal offen und rückhaltlos zu ſein?“ O wunderſam! Dem Lehrer ſtanden die Augen voller Tränen. Er zog die Schrift des Präſidenten aus der Taſche, ging zum Tiſch und legte das Büchlein mit Affekt vor Caſpar hin. Caſpar blickte den Lehrer an, als ob dieſer in einer weiten Entfernung ſtehe. Es war etwas Stieres in ſeinem Blick und eine vollkommene Abweſenheit der Gedanken. Auf der Stirn lag es wie geiſterhaftes Gewölk, die Lippen waren geöffnet und zuckten. Wie böſe er ausſieht, dachte Quandt und fing an, ſich zu ängſtigen. „Sprechen Sie doch!“ ſchrie er heiſer. Caſpar ſchüttelte langſam den Kopf. „Man muß Geduld haben,“ ſagte er wie im Traum. „Es wird ſich was ereignen, Herr Lehrer, paſſen Sie nur auf. Es wird ſich bald was ereignen, glauben Sie mir.“ Unwillkürlich ſtreckte er die Hand nach dem Lehrer aus. Quandt kehrte ſich angewidert ab. „Verſchonen Sie mich mit Ihren Redensarten,“ ſagte er kalt. „Sie ſind ein abſcheulicher Komödiant.“ Damit war das Geſpräch beendet und Quandt verließ das Zimmer. Durch den Archivdirektor Wurm erfuhr Quandt, daß Caſpar allerdings zu Mittag im Feuerbachſchen Haus geweſen war, daß er aber nicht bloß nach dem Befinden des Präſidenten gefragt, ſondern auch mit auffallender Dringlichkeit den Staatsrat zu ſprechen verlangt habe. Natürlich habe man ihm durchaus nicht willfahren können. Er war noch eine halbe Stunde lang unbeweglich am Tor ſtehengeblieben, und bevor er ſich entfernt, war er um das ganze Haus herumgegangen und hatte zu den Fenſtern hinaufgeſchaut, wobei ſein Geſicht anders als je, wild und verſtört, ausgeſehen. Nun kam er aber den nächſten Tag wieder, und ebenſo am dritten und vierten Tag, jedesmal mit demſelben dringenden Begehren, und jedesmal wurde er abgewieſen. Der Präſident bedürfe der Ruhe, wurde ihm geſagt; ſein Zuſtand, der anfangs zu Beſorgniſſen Grund gegeben, beſſere ſich jedoch ſtetig. Direktor Wurm erzählte endlich dem Präſidenten davon. Feuerbach befahl, daß man Caſpar zu ihm führen ſolle, wenn er das nächſte Mal käme, und beſtand trotz dem Abreden Henriettes auf ſeinem Willen. Es verging aber die ganze Woche, ehe ſich Caſpar wieder ſehen ließ. Eines Nachmittags, ſchon ziemlich ſpät, erſchien er und wurde von Henriette, nicht eben freundlich empfangen, in das Zimmer ihres Vaters geleitet. Der Präſident ſaß im Lehnſtuhl und hatte einen kleinen Berg von Akten vor ſich aufgeſchichtet. Er ſah ſehr gealtert aus, weiße Bartſtoppeln umſtanden Kinn und Wangen, ſein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängſtlichen Schimmer, wie bei einem, dem der äußerſt gefürchtete Tod näher geweſen iſt als er denken will. „Nun, was wünſchen Sie von mir, Hauſer?“ wandte er ſich an Caſpar, der neben der Tür ſtehengeblieben war. Caſpar trat heran, ſtolperte vor dem Schemel, fiel plötzlich auf die Knie und beugte in pagenhafter Demut das Haupt. Auch ſeine Arme ſanken ſchlaff herunter, und er verharrte mit ergebener und düſterer Miene in derſelben Stellung. Feuerbach verfärbte ſich. Er packte Caſpar bei den Haaren und bog den Kopf zurück, aber die Augen Caſpars blieben geſchloſſen. „Was gibt’s, junger Mann?“ rief der Präſident hart. Jetzt erhob Caſpar den ſprechenden Blick. „Ich hab’ es geleſen,“ ſagte er. Der Präſident ballte die Lippen aufeinander, und ſeine Augen verſchwanden unter den Brauen. Ein langes Schweigen trat ein. „Stehen Sie auf,“ herrſchte endlich der Präſident Caſpar an. Dieſer gehorchte. Feuerbach packte ihn beim Handgelenk und ſagte halb drohend, halb beſchwörend: „Nicht muckſen, Hauſer, nicht muckſen! Stille halten! Stille ſein! Abwarten! Iſt vorläufig nichts weiter zu tun.“ Caſpars Geſicht, ſtumm erregt wie das eines Fiebernden, wurde ſtarrer. „Es graut Ihnen, jawohl,“ fuhr der Präſident fort, „auch mir graut, und dabei muß es ſein Bewenden haben. Unſerm Arm ſind nicht alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben nicht Joſuas Schlachttrompeten und Oberons Horn. Die hochgewaltigen Koloſſe ſind mit Flegeln bewehrt und dreſchen ſo hageldicht, daß zwiſchen Schlag und Schlag ſich unzerknickt kein Lichtſtrahl zwängen kann. Geduld, Hauſer, und nicht muckſen, nicht muckſen. Zu verſprechen iſt nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu brauch’ ich Geſundheit. Genug für jetzt!“ Er machte eine verabſchiedende Geſte. Caſpar ſah den alten Mann zum erſtenmal klar und ruhig an. Der feſte Blick wunderte den Präſidenten. Ei der Tauſend, dachte er, der Burſche hat Blut in ſich und kein Zuckerwaſſer. Schon im Fortgehen begriffen, drehte ſich Caſpar noch einmal um und ſagte: „Exzellenz, ich hätte eine große Bitte.“ „Eine Bitte? Heraus damit!“ „Es iſt mir ſo läſtig, daß ich bei jedem Ausgehen immer auf den Invaliden warten ſoll. Er kommt oft ſo ſpät, daß es ſich gar nicht mehr ums Weggehen lohnt. Ins Appellgericht kann ich doch alleine gehen und zu meinen Bekannten auch.“ „Hm,“ machte Feuerbach, „will’s überlegen, werd’ es richten.“ Als Caſpar das Zimmer verließ, huſchte eine weibliche Geſtalt längs des Korridors davon, einer ertappten Lauſcherin gleich. Es war Henriette, die, in beſtändiger Angſt um den Vater nichts ſo ſehr fürchtete wie die Gefahr, die aus deſſen leidenſchaftlichem Anteil an dem Schickſal Caſpars drohte. Es mag dafür ein Brief Zeugnis geben, den ſie an ihren in der Pfalz wohnenden Bruder Anſelm ſchrieb und der die unheilſchwere Luft, die in der Umgebung des Präſidenten laſtete, mit jeder Zeile ſpüren ließ. „Der Zuſtand unſers Vaters,“ ſo begann das Schreiben, „hat ſich, Gott ſei Dank, zum Beſſern gewandt. Er vermag ſchon, auf einen Stock geſtützt, durchs Zimmer zu gehen und hat auch wieder Freude an einem guten Braten, wenngleich ſein Appetit nicht mehr der frühere iſt und er hin und wieder über Magenſchmerzen klagt. Was aber ſeine Stimmung im allgemeinen anbelangt, ſo iſt ſie ſchlechter denn je, und zwar hängt dies vornehmlich mit der unglückſeligen Caſpar-Hauſer-Schrift zuſammen. Du weißt, welch rieſiges Aufſehen die Broſchüre im ganzen Land hervorgerufen hat. Tauſende von Stimmen haben ſich dafür und dawider erhoben, aber es ſcheint, daß das Dawider allmählich die Oberhand behalten hat. Die geleſenſten Zeitungen brachten Artikel, die einander auffallend ähnlich waren und worin das Werk als Produkt eines überſpannten Kopfes höhniſch abgetan wurde. Nachdem zwei Auflagen in raſcher Folge verkauft waren, weigerte der Verleger plötzlich unter allerlei Ausflüchten den Druck, und als man ſich an zwei andre wandte, kamen ebenfalls Abſagen. Daß dahinter die tückiſcheſten Umtriebe ſtecken, ſamt und ſonders aus ein und derſelben Quelle, kann man ſich nicht verhehlen, und ich möchte mir die Lippen wund beißen, wenn ich daran denke, in was für Zuſtänden wir zu leben gezwungen ſind, daß ſelbſt ein Mann wie unſer Vater für eine Sache, die ſo, wie ſie iſt, zum Himmel ſchreit, kein williges Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu ſchweigen. Wahrhaftig, die Menſchen ſind träge, ſtumpfe, dumme Tiere, ſonſt wäre mehr Empörung in der Welt. Nun magſt du dir aber erſt unſern Vater vorſtellen: ſeine bittere Verſtimmung, ſeinen Schmerz, ſeine Verachtung, und alles zurückgehalten, in ſeiner Bruſt zugeſchloſſen. Was mußte er fühlen, da ſogar aus dem nächſten Freundeskreis kein Zeichen des Beifalls, des Dankes, der Liebe mehr zu ihm flog! Gewiſſe hochgeſtellte Perſonen hielten mit ihrem Ärger nicht zurück, und hier, in dem abſcheulichen Krähwinkel, hatte man ohnehin wenig Aufhebens von der ganzen Geſchichte gemacht, begreiflicherweiſe, denn Chriſtus mag Rom erobern, zu Jeruſalem iſt er nur ein ſchäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge für unſern Vater. Ich kenne ihn genug, um zu wiſſen, daß ſeine jetzige äußerliche Ruhe nur den inneren Sturm verbirgt. Manchmal ſitzt er ſtundenlang und ſtarrt auf eine einzige Stelle an der Wand, und wenn man ihn dann ſtört, ſchaut er einen mit großen Augen an und lacht lautlos und weh. Neulich ſagte er ganz plötzlich und mit finſterer Miene zu mir: das Rechte ſei, wenn aus ſolcher Urſache heraus wie in früheren Zeiten der ganze Mann ſich ſtelle, mit Haut und Haar müſſe man ſich opfern und dürfe ſich nicht hinter einem Wall bedruckten Papiers verſchanzen. Er wälzt Pläne in ſeinem Hirn, die Nachricht, daß im Badiſchen eine Revolution ausgebrochen iſt, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat ſcheint dieſe Kataſtrophe mit der Caſpar-Hauſer-Sache in innigem Zuſammenhange zu ſtehen. Er glaubt in einem verabſchiedeten und irgendwo am Main lebenden Miniſter einen der Hauptanſtifter der an dem Findling begangenen Greuel vermuten zu dürfen, und — kaum will mir der Satz in die Feder! — er hat die Abſicht, den Mann aufzuſuchen, ihn zu einem Geſtändnis zu zwingen. Der Polizeileutnant Hickel, der unheimliche Geſelle, dem ich nicht über den Weg traue, kommt nun faſt täglich ins Haus und hat lange Konferenzen mit Vater, und ſoviel ich bis jetzt den Andeutungen des Vaters entnommen habe, ſoll ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reiſe begleiten. Könnt’ ich doch das, nur das verhindern! Er wird um dieſer unſeligen Geſchichte willen den letzten Frieden ſeines Alters hingeben und er wird nichts ausrichten, nichts, nichts und wäre er ein Jeſajas an Beredſamkeit, ein Simſon an Kraft und ein Makkabäus an Mut. Ach, wir Feuerbachs ſind ein gezeichnetes Geſchlecht! Das Kainsmal der Ruheloſigkeit bedeckt unſre Stirnen. Sinnlos wirtſchaften wir mit unſern Kräften und unſern Vermögen, und wenn die Überbleibſel noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, iſt es ſchon ein Glück. Es iſt uns nicht gegeben, einen harmloſen Spaziergang zu machen, wir müſſen immer gleich ein Ziel haben, wir können nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu gedenken, und in der Erwartung des nächſten Tages entgleitet uns jede holde Gegenwart. So iſt er, ſo biſt du, ſo bin ich, ſo ſind wir alle. Ich habe noch nie an einer Roſe gerochen, ohne darüber zu trauern, daß ſie morgen verwelkt ſein wird, noch nie ein ſchönes Bettelkind erblickt, ohne über die Ungleichheit der Loſe zu ſpintiſieren. Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine ſchlimmen Ahnungen unwirklich.“ So der Brief. Das darin zum Ausdruck gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant wuchs ſchließlich dermaßen, daß Henriette alle möglichen Anſtrengungen machte, um den Vater mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts, aber Hickel roch Lunte und zeigte in ſeinem Benehmen gegen die Tochter des Präſidenten alsbald eine undurchdringliche, ſüßliche Liebenswürdigkeit. Als ihn Quandt aufſuchte und ſich lebhaft darüber beklagte, daß der Präſident ſich von Hauſer habe beſchwatzen laſſen und deſſen unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in der Stadt bewilligt habe, ſagte Hickel, das paſſe ihm nicht, er werde dem Staatsrat ſchon den Kopf zurechtſetzen. Er ließ ſich bei Feuerbach melden und trug ihm ſeine Bedenken gegen die unerwünſchte Maßregel vor. „Eure Exzellenz dürften nicht überlegt haben, welche Verantwortung Sie mir damit aufbürden,“ ſagte er. „Wenn ich keine Kontrolle habe, wo der Menſch ſeine Zeit hinbringt, wie ſoll ich dann für ſeine Sicherheit Garantie bieten?“ „Larifari,“ knurrte Feuerbach; „ich kann einen erwachſenen Menſchen nicht einſperren, damit Sie Ihre Nachmittagsſtunden mit Gemütsruhe im Kaſino verſitzen können.“ Hickel heftete einen böſen Blick auf ſeine Hände, antwortete aber mit einer nicht übel geſpielten Treuherzigkeit: „Ich bin mir ja eines Laſters bewußt, das Eure Exzellenz ſo ſtreng verurteilen. Immerhin, ein Plätzchen muß der Menſch doch haben, wo er ſich wärmen kann, ſonderlich wenn er ein Hageſtolz iſt. Wenn Sie in meiner Haut ſteckten, Exzellenz, und ich in der Ihren, würde ich milder über einen geplagten Beamten denken.“ Feuerbach lachte. „Was iſt Ihnen denn über die Leber gekrochen?“ fragte er gutmütig. „Haben Sie Liebeskummer?“ Er hielt den Polizeileutnant für einen großen Suitier. „In dieſem Punkt, Exzellenz, bin ich leider zu hartgeſotten,“ entgegnete Hickel, „obgleich ein Anlaß dafür vorhanden wäre; ſeit einigen Tagen hat unſre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeichnete Schönheit zu beherbergen.“ „So?“ fragte der Präſident neugierig. „Erzählen Sie mal.“ Er hatte, nicht zu leugnen, eine kleine naive Schwäche für die Frauen. „Die Dame iſt bei Frau von Imhoff zu Beſuch_—“ „Jawohl, richtig, die Baronin ſprach davon,“ unterbrach Feuerbach. „Sie wohnte zuerſt im ‚Stern‘,“ fuhr Hickel fort, „ich ging ein paarmal vorüber und ſah ſie gedankenvoll am Fenſter weilen, den Blick zum Himmel aufgeſchlagen wie eine Heilige; ich blieb dann immer ſtehen und ſchaute hinauf, aber kaum daß ſie mich bemerkte, trat ſie erſchrocken zurück.“ „Na, das laſs’ ich mir gefallen, das heißt gut beobachten,“ neckte der Präſident, „es iſt alſo ſchon eine Art Einverſtändnis geſchaffen.“ „Leider nein, Exzellenz; offen geſtanden, für galante Abenteuer iſt die Zeit zu ernſt.“ „Das ſollt’ ich meinen,“ beſtätigte Feuerbach, und das Lächeln erloſch auf ſeinen Zügen. Er erhob ſich und ſagte energiſch: „Aber ſie iſt auch reif, die Zeit. Ich gedenke am 28. April aufzubrechen. Sie nehmen vorher Diſpens vom Amt und ſtellen ſich mir zur Verfügung.“ Hickel verbeugte ſich. Er ſchaute den Präſidenten erwartungsvoll an, und dieſer verſtand den Blick. „Ach ſo,“ ſagte er. „Ich muß Ihnen allerdings zugeben, daß es ſein Untunliches hat, den Hauſer ſich ſelbſt zu überlaſſen. Anderſeits iſt es nicht billig, ihm die Welt vor der Naſe zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch Einbuße an freiwilliger Betätigung wird ein zum Leben gewandter Wille ebenſo empfindlich getroffen wie durch Ketten und Handfeſſel.“ Er konnte nicht einig mit ſich werden; wie immer dem Polizeileutnant gegenüber fand er ſich in ſeinen Entſchlüſſen beengt; es war ein Anprall von Kraft, Jugend, Kälte und Gewiſſenloſigkeit, dem er dabei unterlag. „Aber Eure Exzellenz kennen doch die Gefahren_—“ wandte Hickel ein. „Solange ich in dieſer Stadt die Augen offen habe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu krümmen, deſſen ſeien Sie ganz gewiß.“ Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete wieder die geſtreckten Finger ſeiner Hand. „Und wenn er uns eines Tages über alle Berge rennt?“ fragte er finſter. „Dem iſt manches zuzutrauen. Ich ſchlage vor, daß man ihn wenigſtens des Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt. Bei Beſorgungen in der Stadt mag er im Notfall allein bleiben. Dem alten Invaliden können wir den Laufpaß geben, und ich will ſtatt deſſen meinen Burſchen abrichten. Er ſoll ſich täglich um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus melden.“ „Das wäre eine Löſung,“ ſagte Feuerbach. „Iſt der Mann verläßlich?“ „Treu wie Gold.“ „Wie heißt er?“ „Schildknecht; iſt ein Bäckersſohn aus dem Badiſchen.“ „Erledigt; ſei es ſo.“ Als Hickel ſchon unter der Tür war, rief ihn der Präſident noch einmal zurück und ſchärfte ihm wegen der bevorſtehenden gemeinſamen Reiſe unbedingtes Stillſchweigen ein. Hickel verſetzte, einer ſolchen Mahnung bedürfe es nicht. „Ich könnte die Reiſe keinesfalls allein unternehmen,“ ſagte der Präſident, „ich brauche die Hilfe eines umſichtigen Mannes. Die Gelegenheit muß ſorgfältig ausgekundſchaftet werden. Vorſicht iſt geboten. Vergeſſen Sie niemals, daß ich Ihnen in dieſer Sache einen großen Beweis von Vertrauen gebe.“ Er ſchaute den Polizeileutnant durchbohrend an. Hickel nickte mechaniſch. Über Feuerbachs Stirn ſenkte ſich plötzlich eine Wolke ahnungsvoller Sorge. „Gehen Sie,“ befahl er kurz. 23. Die Reiſe wird angetreten Am ſelben Abend ſuchte Hickel den Lehrer auf und teilte ihm mit, daß der Soldat Schildknecht von nun an den Hauſer überwachen werde. Caſpar war nicht daheim, und auf die Frage nach ihm antwortete Quandt, er ſei ins Theater. „Schon wieder ins Theater!“ rief Hickel. „Das dritte Mal ſeit vierzehn Tagen, wenn ich recht zähle.“ „Er hat eine große Vorliebe dafür gefaßt,“ erwiderte Quandt; „beinahe ſein ganzes Taſchengeld verwendet er dazu, um Billette zu kaufen.“ „Mit dem Taſchengeld wird es, nebenbei bemerkt, nächſtens hapern,“ ſagte der Polizeileutnant, „der Graf hat mir diesmal nur die Hälfte des vereinbarten Monatswechſels geſchickt. Offenbar wird ihm die Sache zu koſtſpielig.“ Stanhope hatte von Anfang an die für Caſpar zu verwendenden Gelder an Hickel geſandt. „Koſtſpielig? Dem Lord? Einem Pair der Krone Großbritannien? Dieſe Lappalie koſtſpielig!“ Quandt riß vor Erſtaunen die Augen auf. „Das erzählen Sie nur keinem andern, ſonſt denkt man, Sie machen ſich luſtig über den Grafen,“ ſagte die Lehrerin. Neugierig prüfend ſchaute ſie den Polizeileutnant an. Dieſer aalglatte und geſchniegelte Mann war ihr ſtets merkwürdig und reizvoll erſchienen. Er brachte das bißchen Phantaſie, das ſie hatte, in Bewegung. „Kann nicht helfen,“ ſchloß Hickel unwirſch das Geſpräch, „es iſt ſo. Der Poſtzettel liegt bei mir zur Einſicht vor. Der Graf wird ſchon wiſſen, was er tut.“ Als Caſpar nach Hauſe kam, fragte ihn Quandt, wie er ſich unterhalten habe. „Gar nicht, es war ſoviel von Liebe in dem Stück,“ antwortete er ärgerlich. „Ich kann das Zeug nun einmal nicht ausſtehen. Da ſchwätzen ſie und jammern, daß einem ganz dumm wird, und was iſt das Ende? Es wird geheiratet. Da will ich lieber mein Geld einem Bettler ſchenken.“ „Vorhin war der Herr Polizeileutnant hier und hat uns eröffnet, daß der Graf Ihre Bezüge erheblich gemindert hat,“ ſagte Quandt. „Sie werden alſo alle Ausgaben überhaupt beſchränken und den Theaterbeſuch, fürchte ich, ganz aufgeben müſſen.“ Caſpar ſetzte ſich zum Tiſch, aß ſein Abendbrot und ſagte lange nichts. „Schade,“ ließ er ſich endlich vernehmen, „übernächſte Woche iſt der ‚Don Carlos‘ von Schiller. Das ſoll ein herrliches Stück ſein, das möcht’ ich noch ſehen.“ „Wer hat Ihnen denn mitgeteilt, daß es ein herrliches Stück iſt?“ fragte Quandt mit der nachſichtig überlegenen Miene des Fachmannes. „Ich hab’ Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf im Theater getroffen,“ erklärte Caſpar, „beide haben es geſagt.“ Die Lehrerin hob den Kopf: „Frau von Kannawurf? Wer iſt denn das nun wieder?“ „Eine Freundin von der Imhoff,“ erwiderte Caſpar. Quandt beſprach ſich mit ſeiner Frau noch bis Mitternacht darüber, wie man ſich in die vom Grafen getroffene Veränderung zu ſchicken habe. Es wurde vereinbart, daß Caſpar von jetzt ab den Mittagstiſch für zehn und den Abendtiſch für acht Kreuzer haben ſolle. „Wenn das ſo iſt, wie der Polizeileutnant ſagt, muß ich in jedem Fall draufzahlen,“ meinte die Lehrerin. „Wir dürfen nicht vergeſſen, daß der Hauſer im Eſſen und Trinken wirklich beiſpiellos mäßig iſt,“ verſetzte Quandt, deſſen Redlichkeit ſich gegen eine unrechtmäßige Beſchränkung ſträubte. „Macht nichts,“ beharrte die Frau, „ich muß doch immer um ſo viel mehr in der Küche haben, daß ein Hungriger ſatt wird. Das krieg’ ich nicht geſchenkt.“ Am andern Nachmittag brachte Hickel das Monatsgeld. Er und Quandt traten gerade in den Flur, als Caſpar, zum Ausgehen fertig, aus ſeinem Zimmer herunterkam. Vom Lehrer gefragt, wohin er gehe, antwortete er verlegen, er wolle zum Uhrmacher, ſeine Uhr ſei nicht in Ordnung, und er müſſe ſie richten laſſen. Quandt verlangte die Uhr zu ſehen, Caſpar reichte ſie ihm, der Lehrer hielt ſie ans Ohr, beklopfte das Gehäuſe, probierte, ob ſie aufzuziehen ſei, und ſagte ſchließlich: „Der Uhr fehlt ja nicht das mindeſte.“ Caſpar errötete und ſagte nun, er habe ſich bloß ſeinen Namen auf den Deckel gravieren laſſen wollen; doch er hätte ein viel geſchickterer Heuchler ſein müſſen, um ſeinen Worten den Stempel der Ausflucht zu nehmen. Quandt und Hickel ſahen einander an. „Wenn Sie einen Funken Ehrgefühl im Leib haben, ſo geſtehen Sie jetzt offen, wohin Sie gehen wollten,“ ſagte Quandt ernſt. Caſpar beſann ſich und erwiderte zögernd, er habe die Abſicht gehabt, in die Orangerie zu gehen. „In die Orangerie? Warum? Zu welchem Zweck?“ „Der Blumen wegen. Es ſind dort im Frühjahr immer ſo ſchöne Blumen.“ Hickel räuſperte ſich bedeutſam. Er blickte Caſpar ſcharf an und ſagte ironiſch: „Ein Poet. Unter Blumen — laß mich ſeufzen_...“ Dann nahm er ſeine militäriſche Miene an und erklärte bündig, er habe den Präſidenten beſtimmt, die unbedacht gewährte Erlaubnis zu freiem Ausgehen wieder zu kaſſieren. Täglich um fünf Uhr werde ſein Burſche antreten, und in deſſen Geſellſchaft möge Caſpar tun, was ihm beliebe. Caſpar blickte ſtill auf die Gaſſe hinaus, wo die Frühlingsſonne lag. „Es ſcheint_—“ murmelte er, ſtockte aber und ſah ergeben vor ſich hin. „{Was} ſcheint?“ fragte der Lehrer. „Nur heraus damit. Halbgeſagtes verbrennt die Zunge.“ Caſpar richtete die Augen forſchend auf ihn. „Es ſcheint,“ beendete er den Satz, „daß beim Präſidenten doch recht behält, wer zuletzt kommt.“ Als er der Wirkung dieſer bitteren Worte inne ward, hätte er ſie gern wieder ungeſprochen gemacht. Der Lehrer ſchüttelte entſetzt den Kopf, Hickel pfiff leiſe durch die geſpitzten Lippen. Dann nahm er ſein Notizbuch, das zwiſchen zwei Knöpfen ſeines Rockes ſtak, und ſchrieb etwas auf. Caſpar beobachtete ihn mit ſcheuen Blicken, es flackerte wie ein Blitz über ſeine Stirn. „Natürlich werde ich den Staatsrat von dieſer unziemlichen Bemerkung unterrichten,“ ſagte Hickel in amtlichem Ton. Als der Polizeileutnant gegangen war, bat Caſpar den Lehrer, er möge ihn doch ausnahmsweiſe heute fortlaſſen, weil ſo ſchönes Wetter ſei. „Es tut mir leid,“ entgegnete Quandt, „ich muß nach meiner Inſtruktion handeln.“ Der Burſche Hickels erſchien erſt gegen halb ſechs. Caſpar begab ſich mit ihm auf den Weg nach dem Hofgarten, aber als ſie hinkamen, war die Orangerie ſchon geſchloſſen. Schildknecht ſchlug vor, am Onolzbach entlang ſpazierenzugehen; Caſpar ſchüttelte den Kopf. Er ſtellte ſich an eines der offenen Fenſter des Gewächshauſes und blickte hinein. „Suchen Sie wen?“ fragte Schildknecht. „Ja, eine Frau wollte mich hier treffen,“ erwiderte Caſpar. „Macht nichts, gehen wir wieder heim.“ Sie kehrten um; als ſie auf den Schloßplatz gelangten, ſah Caſpar Frau von Kannawurf, die in der Mitte des Platzes ſtand und einer großen Menge von Spatzen Broſamen hinſtreute. Caſpar blieb außerhalb der Sperlingsverſammlung ſtehen; er ſchaute zu und vergaß ganz zu grüßen. Die Fütterung war bald beendet, Frau von Kannawurf ſetzte den Hut wieder auf, den ſie am Band über den Arm gehängt hatte, und ſagte, ſie ſei anderthalb Stunden lang im Gewächshaus geweſen. „Ich bin kein freier Menſch, kann nicht halten, was ich verſpreche,“ antwortete Caſpar. Sie gingen die Promenade hinunter, dann links gegen die Vorſtadtgärten. Schildknecht marſchierte hinterdrein; der rotbackige kleine Menſch in der grünen Uniform ſah drollig aus. Der größte von den dreien war überhaupt Caſpar, denn auch Frau von Kannawurf hatte eine kindliche Geſtalt. Nachdem ſie lange Zeit ſchweigend nebeneinander her gewandert waren, ſagte die junge Frau: „Ich bin eigentlich Ihretwegen in dieſe Stadt gekommen, Hauſer.“ Die ein wenig ſingende Stimme hatte einen fremden Akzent, und während ſie ſprach, pflegte ſie hie und da mit den Lidern zu blinzeln, wie Leute tun, die ermüdete Augen haben. „Ja, und was wollen Sie von mir?“ verſetzte Caſpar mehr unbeholfen als ſchroff. „Das haben Sie mir ſchon geſtern im Theater geſagt, daß Sie meinetwegen gekommen ſind.“ „Das iſt Ihnen nichts Neues, denken Sie. Aber ich will nichts von Ihnen haben, im Gegenteil. Es iſt ſehr ſchwer, im Gehen darüber zu reden. Setzen wir uns dort oben ins Gras.“ Sie ſtiegen den Abhang des Nußbaumberges hinan und ließen ſich vor einer Hecke auf den Raſen nieder. Ihnen gegenüber ſank die Sonne gegen die Waldkuppen der ſchwäbiſchen Berge. Caſpar ſchaute andächtig hin, Frau von Kannawurf ſtützte den Ellbogen aufs Gras und ſah in die violette Luft. Schildknecht, als verſtehe er, daß ſeine Gegenwart nicht erwünſcht ſei, hatte ſich weit unterhalb auf einen umgeſtürzten Baum geſetzt. „Ich beſitze ein kleines Gut in der Schweiz,“ begann Frau von Kannawurf, „ich habe es vor zwei Jahren gekauft, um mir in einem freien Land einen Zufluchts- und Ruheplatz zu ſchaffen. Ich mache Ihnen den Vorſchlag, mit mir dorthin zu reiſen. Sie können dort ganz nach Ihrem Wunſch leben, ohne Beläſtigung und ohne Gefahr. Nicht einmal ich ſelbſt werde Sie ſtören, denn ich kann nirgends bleiben, es treibt mich immer woanders hin. Das Haus liegt vollſtändig einſam zwiſchen hohen Bergen im Tal und an einem See. Nichts Großartigeres läßt ſich denken als der Anblick des ewigen Schnees, wenn man dort im Garten unter den Apfelbäumen ſitzt. Da es viel Schwierigkeiten und viel Zeit koſten würde, wenn ich es durchſetzen wollte, Sie vor aller Welt hinzubringen, bin ich dafür, daß Sie mit mir fliehen. Sie brauchen nur ja zu ſagen und alles iſt bereit.“ Sie hatte Caſpar jetzt das Geſicht voll zugewandt, und dieſer kehrte den etwas geblendeten Blick von dem roten Sonnenball weg und ſchaute ſie an. Er hätte von Holz ſein müſſen, um dieſem wunderſchönen Antlitz gegenüber unempfindlich zu bleiben, und ganz von ſelbſt, und als ob er ihr gar nicht zugehört hätte, fielen die verwunderten Worte von ſeinen Lippen: „Sie ſind aber ſehr ſchön.“ Frau von Kannawurf errötete. Es gelang ihr nicht, hinter ihrem ſpöttiſchen Lächeln ein ſchmerzliches Gefühl zu verbergen. Ihr Mund, der etwas Kindlich-Süßes hatte, zuckte beſtändig, wenn ſie ſchwieg. Caſpar geriet in Verwirrung unter ihrem erſtaunten Blick und ſah wieder in die Sonne. „Sie antworten mir nicht?“ fragte Frau von Kannawurf leiſe und enttäuſcht. Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Es iſt unmöglich zu tun, was Sie von mir wollen,“ ſagte er. „Unmöglich? warum?“ Frau von Kannawurf richtete ſich jäh auf. „Weil ich dort nicht hingehöre,“ ſagte Caſpar feſt. Das junge Weib ſah ihn an. Ihr Geſicht hatte den Ausdruck eines aufmerkſamen Kindes und wurde nach und nach ſo blaß wie der Himmel über ihnen. „Wollen Sie ſich denn opfern?“ fragte ſie ſtarr. „Weil ich dorthin muß, wo ich hingehöre,“ fuhr Caſpar unbeirrt fort und blickte immer noch gegen die Stelle, wo die Sonne jetzt verſchwunden war. Ihn zu meinem Plan zu bekehren, iſt vergeblich, dachte Frau von Kannawurf ſogleich; großer Gott, wie wahr, wie einfach alles vor ihm liegt: ja — nein, ſchön — häßlich; er betrachtet die Dinge nur von oben. Und wie ſein Geſicht grenzenloſe Güte mit einer naiven und zärtlichen Traurigkeit vereint; man iſt benommen und erſtaunt, wenn man ihn anſchaut. „Was aber wollen Sie tun?“ fragte ſie zaudernd. „Ich weiß es noch nicht,“ entgegnete er wie im Traum und verfolgte mit den Augen eine Wolke, welche die Geſtalt eines laufenden Hundes hatte. Alſo was man mir berichtet hat, iſt falſch; er fürchtet ſich ja gar nicht, dachte das junge Weib. Sie erhob ſich und ging ungeſtüm voraus, den Hügel hinunter an Schildknecht vorbei, der zu ſchlafen ſchien. Man muß ihn ſchützen, dachte ſie weiter, er iſt imſtande und rennt in ſein Verderben; was er tun wird, weiß er nicht, natürlich, er iſt wahrſcheinlich nicht fähig, einen Plan zu machen, aber er wird handeln, er trägt eine Tat mit ſich herum und wird vor nichts mehr zurückſchrecken; es iſt nicht ſchwer, ihn zu erraten, obwohl er ausſieht wie das Schweigen ſelbſt. Sie blieb ſtehen und wartete auf Caſpar. „Ei, Sie können ordentlich laufen,“ ſagte er bewundernd, als er wieder an ihrer Seite war. „Die friſche Luft macht mich ein bißchen wild,“ antwortete ſie und holte tief Atem. Als Frau von Kannawurf und Caſpar durch den Torbogen des Herrieder Turmes gingen, ſahen ſie plötzlich neben einem leeren Schilderhäuschen den Polizeileutnant. Und beide blieben unwillkürlich ſtehen, denn der Anblick hatte etwas Erſchreckendes. Hickel lehnte nämlich mit der Schulter gegen das Häuschen und ſah aus wie zur Bildſäule erſtarrt. Trotz der Dunkelheit konnte man wahrnehmen, daß ſein Geſicht aſchfahl war, und es lag über ſeinen Zügen eine bleierne Düſterkeit. Hinter ihm ſtand ſein Hund, eine große graue Dogge; das Tier war genau ſo regungslos wie ſein Herr und blickte unverwandt an ihm empor. Caſpar zog grüßend den Hut; Hickel bemerkte es nicht. Frau von Kannawurf ſah noch einmal zurück und flüſterte fröſtelnd: „Wie furchtbar! Was für ein Mann! Was mag ihn peinigen!“ War es denkbar, daß der Polizeileutnant, etwa durch neue Spielverluſte in Verzweiflung gebracht, ſich ſo weit vergeſſen konnte, daß er, wennſchon durch die Dunkelheit und einen Mauerwinkel geſchützt, auf offener Gaſſe das Schauſpiel eines vom Krampf Befallenen darbot? Das iſt den Spielern ſonſt nicht eigen; ſie überſchlafen ihren Unglücksrauſch und geben ſich kaltblütig dem tückiſchen Zufall von neuem in die Hände. Aber Spieler pflegen ſkrupellos zu ſein; ſetzen ſie nicht Geld auf Karten, ſo ſetzen ſie auf Seelen, und dabei kann es ſich wohl ereignen, daß ihnen der Teufel eine gräßliche Schuldverſchreibung vorhält, die ſie mit ihrem Blut unterzeichnen müſſen. Als Hickel am Nachmittag nach Hauſe gekommen war, trat ihm vor der Tür ſeiner Wohnung ein unbekannter Mann entgegen, übergab ihm ein verſiegeltes Schreiben und verſchwand wieder, ohne geſprochen zu haben. Der erfahrene Blick des Polizeileutnants konnte nicht im unklaren darüber bleiben, daß der Menſch falſches Haar und falſchen Bart getragen hatte. Der Brief, den Hickel ſogleich öffnete, war chiffriert; ſeine Entzifferung koſtete, trotzdem der Schlüſſel bekannt war, den Reſt des Nachmittags. Der Inhalt des Schreibens bezog ſich auf die mit dem Präſidenten gemeinſchaftlich anzutretende Reiſe. Hickel las, las und las wieder. Er hatte ſchon beim erſten Male verſtanden, aber er las, um nicht denken zu müſſen. Punkt ſieben Uhr erhob er ſich vom Schreibtiſch und ging zehn Minuten lang pfeifend im Zimmer auf und ab. Sodann öffnete er ein Glasſchränkchen, nahm eine Flaſche mit Whisky heraus, die er vom Grafen Stanhope geſchenkt erhalten hatte, füllte ein nettes ſilbernes Becherchen damit und trank es in einem Zuge leer. Hierauf griff er zur Bürſte, reinigte den Rock, danach hing er den Säbel um und um halb acht verließ er mit dem Hund ſeine Wohnung. Er ſchien gutgelaunt, denn er pfiff und ſummte noch immer vor ſich hin und knipſte hier und da mit den Fingern. Doch unter dem Bogen des Herrieder Turmes blieb er auf einmal ſtehen und ſah angelegentlich zur Erde nieder. Ein durchfahrender Handwagen ſtieß ihn an der Hüfte an, deshalb ging er ein paar Schritte weiter bis zum Schilderhauſe um die Ecke. Dort gewahrte ihn das heimkehrende Paar. Es würde einen ungenügenden Einblick in den Charakter des Polizeileutnants beweiſen, wenn man annehmen wollte, daß dieſe Sinnesverdunklung länger gedauert habe, als gemeinhin eine vorübergehende Blutleere im Kopf dauert. Um acht Uhr ſaß er ſchon mit einigen Kollegen beim Fiſcheſſen in der „Goldenen Gabel“ und um neun Uhr war er im Kaſino; ſollte dieſe genaue Stundenangabe etwas Verdrießliches haben, ſo ſei hinzugefügt, daß er in der Zeit von neun bis vier Uhr überhaupt keinen Glockenſchlag mehr, ſondern nur noch das eintönige Kniſtern der Spielkarten vernahm. Er gewann. Auf dem Heimweg durch die grauende Frühe paſſierte dann das Auffällige, daß er vor dem Sterngaſthof in der Mitte der Straße Halt machte, den Säbel an das Bein preßte und einen langen, ſaugenden Blick gegen dasſelbe Fenſter hinaufſchickte, hinter dem er einſt die ſchöne Fremde geſehen hatte. Am Morgen ſchlief er lange, und als der Burſche mit dem Rapport kam, hörte er kaum zu. Schildknecht war verpflichtet, jeden Morgen Bericht zu erſtatten, wo er den Nachmittag oder Abend vorher mit Caſpar geweſen. Faſt jedesmal hieß es von nun ab: wir haben die Frau von Kannawurf abgeholt, oder: die Frau von Kannawurf iſt uns begegnet und wir ſind ſpazierengegangen, oder bei Regenwetter: wir ſind im Imhoffſchen Garten in der Laube geſeſſen. Dieſes „Wir“ hatte aber in Schildknechts Mund einen ſehr beſcheidenen Klang; er ſprach von Caſpar ſtets mit achtungsvoller Zurückhaltung. Da er die Wahrnehmung machte, daß ſein Herr die Berichte über das regelmäßige Beiſammenſein der beiden mit Unruhe aufnahm, wußte er in ſeinen Ton etwas wie eine Verſicherung von Harmloſigkeit zu legen, fügte zum Beiſpiel hinzu: „ſie haben viel über das Wetter geſprochen,“ oder: „ſie haben ſich über gebildete Sachen unterhalten.“ Solche Einzelheiten erfand er, denn in Wirklichkeit hielt er ſich jedesmal in einer taktvollen Entfernung hinter den beiden. Hickel begann dem jungen Menſchen zu mißtrauen. Eines Abends erwiſchte er ihn, wie er in einem Winkel der Küche hockte, eine Kerze vor ſich, und mit dem Zeigefinger buchſtabierend über die Zeilen eines Buches glitt. Als er ſich geſtört fand, war er wie entgeiſtert, ſeine roten Backen hatten die Farbe verloren. Hickel nahm das Buch, und ſein Geſicht wurde finſter wie die Nacht, als er ſah, daß es die Feuerbachſche Schrift war. „Woher hat Er das?“ ſchrie er Schildknecht an. Der Burſche erwiderte, er habe es auf dem Bücherſchrank des Herrn Leutnant gefunden. „Das iſt eine widerrechtliche Aneignung, ich werde Ihn davonjagen und disziplinieren laſſen, wenn ſo etwas nochmal vorkommt, merk’ Er ſich das!“ donnerte Hickel. Wahrſcheinlich hätte die erſtbeſte Seeräubergeſchichte die Neugier des Tölpels ebenſo gereizt, ſagte ſich Hickel ſpäter und erklärte ſein Aufbrauſen für eine Unbeſonnenheit. Gleichwohl witterte er Gefahr, der Burſche war nicht nach ſeinem Sinn, und er beſchloß, ſich ſeiner zu entledigen. Ein Anlaß ergab ſich bald. Als Schildknecht tags darauf Caſpar abholte, merkte er, daß dieſer verſtimmt war. Er ſuchte ihn aufzuheitern, indem er ein paar luſtige Schnurren aus dem Kaſernenleben vorbrachte. Caſpar ging auf die Unterhaltung ein, er fragte den zutraulichen Menſchen nach ſeiner Heimat, nach ſeinen Eltern, und Schildknecht bemühte ſich, auch davon möglichſt gutgelaunt zu erzählen, obſchon es ein trauriges Kapitel für ihn war. Er hatte eine Stiefmutter gehabt, der Vater hatte ihn in früher Jugend unter fremde Leute gegeben, kaum war er von Hauſe fort, ſo hatte ein Liebhaber der Frau den Vater im Raufhandel erſchlagen. Jetzt ſaß der Liebhaber ſamt der Frau im Zuchthaus, und die Brüder hatten das Vermögen durchgebracht. Schildknecht wagte zu fragen, weshalb Caſpar heute ſeine Freundin nicht treffe. „Sie geht ins Theater,“ antwortete Caſpar. Warum denn er nicht gehe, fragte Schildknecht weiter. Er habe kein Geld. „Kein Geld? Wieviel braucht man denn dazu?“ „Sechs Groſchen.“ „Soviel hab’ ich grad’ bei mir,“ meinte Schildknecht, „ich leih’s Ihnen.“ Caſpar nahm das Anerbieten mit Vergnügen an. Es wurde nämlich der „Don Carlos“ gegeben, auf den er ſich ſchon lange gefreut hatte. Das Stück erregte mit Ausnahme des verrückten Frauenzimmers, das den Prinzen verführen will, ſein Entzücken. Und wie ward ihm, als der Marquis zum König ſprach: Sie haben umſonſt // Den harten Kampf mit der Natur gerungen, // Umſonſt ein großes königliches Leben // Zerſtörenden Entwürfen hingeopfert. // Der Menſch iſt mehr, als Sie von ihm gehalten. // Des langen Schlummers Bande wird er brechen // Und wiederfordern ſein geheiligt Recht. Er erhob ſich von ſeinem Platz, ſtarrte gierig, mit funkelnden Augen auf die Bühne und enthielt ſich nur mit Mühe eines lauten Ausrufs. Zum Glück wurde die Störung in der herrſchenden Dunkelheit nicht weiter beachtet; ſein Nachbar, ein böſer alter Kanzleirat, zerrte ihn grob auf den Sitz zurück. Das Ausbleiben über den Abend hatte zunächſt ein Verhör durch den Lehrer zur Folge. Er geſtand, im Schloßtheater geweſen zu ſein. „Woher haben Sie Geld?“ fragte Quandt. Caſpar erwiderte, er habe das Billett geſchenkt bekommen. „Von wem?“ Gedankenlos, noch ganz gefangen von der Dichtung, nannte Caſpar irgendeinen Namen. Quandt erkundigte ſich am andern Tag, erfuhr ſelbſtverſtändlich, daß ihn Caſpar belogen hatte, und ſtellte ihn zur Rede. In die Enge getrieben, bekannte Caſpar die Wahrheit, und Quandt machte dem Polizeileutnant Mitteilung. Um fünf Uhr nachmittags ertönte im Hof vor Caſpars Fenſter der wohlbekannte Pfiff, zwei melodiſche Triolen, mit denen ſich Schildknecht zu melden pflegte. Caſpar ging hinunter. „Es iſt aus mit uns beiden,“ ſagte Schildknecht zu ihm, „der Polizeileutnant hat mich entlaſſen, weil ich Ihnen das Geld geliehen hab’. Ich muß jetzt wieder Kaſernendienſt tun.“ Caſpar nickte trübſelig. „So geht mir’s eben,“ murmelte er, „ſie wollen’s nicht leiden, wenn einer zu mir hält.“ Er reichte Schildknecht die Hand zum Abſchied. „Hören Sie mal zu, Hauſer,“ ſagte Schildknecht eifrig, „ich will jede Woche zwei- oder dreimal, überhaupt wenn ich frei bin, dahier in den Hof kommen und meinen Pfiff pfeifen. Vielleicht brauchen Sie mich mal. Warum nicht, kann ja möglich ſein.“ Es lag in den Worten eine über alle Maßen tiefe Herzlichkeit. Caſpar richtete den aufmerkſamen Blick in Schildknechts freundlich lächelndes Geſicht und erwiderte langſam und bedächtig: „Es kann möglich ſein, das iſt wahr.“ „Topp! Abgemacht!“ rief Schildknecht. Sie gingen durch den Flur nach der Straße. Vor dem Tor ſtand ein Amtsdiener, und da er Caſpars anſichtig wurde, ſagte er, er habe ihn geſucht, der Herr Staatsrat ſchicke ihn her, Caſpar ſolle gleich hinkommen. Caſpar fragte, was es gäbe. „Der Herr Staatsrat reiſt um ſechs Uhr mit dem Herrn Polizeileutnant ab und will noch mit Ihnen ſprechen,“ antwortete der Mann. Caſpar machte ſich auf den Weg. Ein paar hundert Schritte vom Lehrerhaus entfernt konnte er nicht weiter. Ein Ziegelwagen war vor dem Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachſe umgeſtürzt und verſperrte die Gaſſe. Caſpar wartete eine Weile, kehrte dann um und mußte nun durch die Würzburger Straße und über die Felder. Infolgedeſſen kam er zu ſpät. Als er vor dem Feuerbachſchen Garten anlangte, war der Präſident ſchon weggefahren. Henriette und der Hofrat Hofmann ſtanden am Gartentor und nahmen Caſpars triftige Entſchuldigung ſchweigend auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blickte lange die Gaſſe hinunter, wo der Wagen verſchwunden war, dann drehte ſie ſich wortlos um und ſchritt gegen das Haus. 24. Schildknecht Der Mai brachte viel Regen. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caſpar und Frau von Kannawurf ganze Nachmittage lang durch die Umgegend. Caſpar vernachläſſigte plötzlich ſein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: „Ich bin der dummen Schreiberei überdrüſſig.“ Was ihm von den maßgebenden Perſonen höchlichſt verübelt wurde. Der von Hickel neuaufgenommene und für die Dauer ſeiner Abweſenheit ſtreng unterwieſene Burſche ward gleich zu Anfang ſo läſtig, daß ſich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann darüber beſchwerte. Weniger aus Einſicht als um der ſchönen Frau gefällig zu ſein, geſtattete der Hofrat, daß Caſpar ſeine Spaziergänge mit ihr allein unternehme. „Hoffentlich entführen Sie mir den Hauſer nicht,“ ſagte er mit ſeinem fiskaliſch-ſchlauen Lächeln zu der Sprachloſen. Nun aber machte wieder Quandt Schwierigkeiten. „Ich beſtehe auf meiner Inſtruktion,“ war ſein eiſernes Sprüchlein. Eines Morgens erſchien daher Frau von Kannawurf in der Studierſtube des Lehrers und ſtellte ihn kühn zur Rede. Quandt konnte ihr nicht ins Geſicht ſehen; er war vollkommen verdattert und wurde abwechſelnd rot und blaß. „Ich bin ganz zu Ihren Dienſten, Madame,“ ſagte er mit dem Ausdruck eines Menſchen, der ſich auf der Folter zu allem entſchließt, was man von ihm haben will. Frau von Kannawurf ſchaute ſich mit gelaſſener Neugier im Zimmer um. „Wie verhalten Sie ſich eigentlich innerlich zu Caſpar?“ fragte ſie auf einmal. „Lieben Sie ihn?“ Quandt ſeufzte. „Ich wollte, ich könnte ihn ſo lieben, wie ſeine achtungswerten Freunde glauben, daß er es verdient,“ antwortete er meiſterhaft verſchnörkelt. Frau von Kannawurf erhob ſich. „Wie ſoll ich das verſtehen?“ brach ſie leidenſchaftlich aus, „wie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf Händen tragen?“ Ihr Geſicht glühte, ſie trat dicht vor den erſchrockenen Lehrer hin und ſah ihn drohend und traurig an. Doch ſie beſänftigte ſich ſchnell und ſprach nun von andern Dingen, um den ihr erſtaunlichen Mann beſſer kennen zu lernen. Ihr war jeder Menſch ein Wunder und faſt alles, was Menſchen taten, etwas Wunderbares. Deshalb erreichte ſie ſelten ein vorgeſetztes Ziel. Sie vergaß ſich und überſchritt die Grenze, die ein oberflächlicher Verkehr bedingt. Quandt ärgerte ſich nachher gründlich über ſeine nachgiebige Haltung. Was mag denn da wieder dahinter ſtecken? grübelte er. So oft die kleinen Briefchen von Frau von Kannawurf an Caſpar kamen, öffnete er und las ſie, ehe er ſie dem Jüngling gab. Er brachte nichts heraus; der Inhalt war zu unverfänglich. Wahrſcheinlich verſtändigen ſie ſich in irgendeiner Geheimſprache, dachte Quandt und ſtellte gewiſſe wiederkehrende Phraſen zuſammen in der Hoffnung, damit den Schlüſſel zu finden. Caſpar wehrte ſich gegen dieſe Eingriffe, worauf Quandt ihm mit ungewöhnlicher Beredſamkeit das Recht der Erzieher auf die Korrespondenz ihrer Pfleglinge bewies. Schließlich bat Caſpar ſeine Freundin, ihm nicht mehr zu ſchreiben. So unverfänglich wie die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er unſichtbar die beiden hätte belauſchen können, ihre Geſpräche gefunden. Es kam vor, daß ſie ſtundenlang ohne zu reden nebeneinander her gingen. „Iſt es nicht ſchön im Wald?“ fragte dann die junge Frau mit dem innigſten Klang ihrer ſüßen Stimme und einem kleinen, vogelhaft zwitſchernden Lachen. Oder ſie pflückte eine Blume vom Wieſenrain und fragte: „Iſt das nicht ſchön?“ „Es iſt ſchön,“ antwortete Caſpar. „So trocken, ſo ernſthaft?“ „Daß es ſchön iſt, weiß ich noch nicht gar lange,“ bemerkte Caſpar tief, „das Schöne kommt zuletzt.“ Ihn machte der Frühling diesmal glücklich. Mit jedem Atemzug fühlte er ſich eigentümlich bevorzugt. Wahrhaftig, daß es ſchön war, hatte er bis jetzt noch nie bedacht. Die ſeiende Welt ſchlang ſich wie ein Kranz um ihn. Solang die Sonne am blauen Himmel ſtand, leuchteten ſeine Augen in verwundertem Glück. Er iſt wie ein Kind, das man nach langer Krankheit zum erſtenmal in den Garten führt, ſagte ſich Frau von Kannawurf. Ihr gütiges Herz klopfte höher bei dem Gedanken, daß ſie vielleicht nicht ohne Einfluß auf dieſe Stimmung war. Bisweilen wand ſie junges Waldlaub um ſeinen Hut, und dann ſah er ſtolz aus. Aber er war doch immer in ſich gekehrt und immer ſo verhalten, als ringe er mit einem großen Entſchluß. Eines Tages kamen ſie überein, daß er ſie einfach Clara und ſie ihn Caſpar nennen ſolle. Sie amüſierte ſich über die geſchäftsmäßige Geſetztheit, mit der er ſeinerſeits dieſen Vertrag einhielt. Er beluſtigte ſie überhaupt oft, beſonders wenn er ihr kleine Moralpredigten hielt oder etwas, was er frauenzimmerlich nannte, geärgert tadelte. Er ermahnte ſie auch, nicht gar ſo viel herumzulaufen und ihre Geſundheit zu ſchonen. Nun ſah es ja manchmal wirklich aus, als habe ſie die Abſicht, ſich zu ermüden und zu erſchöpfen. Eine ihrer Leidenſchaften beſtand darin, auf Türme zu ſteigen; auf dem Turm der Johanniskirche wohnte ein alter Glöckner, ein weiſer Mann in ſeiner Art, durch lange Einſamkeit beſchaulich und ſanft geworden; ſie ſcheute nicht die Anſtrengung der vielen hundert Stufen und lief oft zweimal täglich zu dem Alten hinauf, plauderte mit ihm wie mit einem Freund oder lehnte über die eiſerne Brüſtung der ſchmalen Galerie und ſchaute über das Land in die Fernen. Der Glöckner hatte ſie auch ſo ins Herz geſchloſſen, daß er zu gewiſſen Abendſtunden nach der Richtung des Imhoffſchlößchens verabredete Zeichen mit ſeiner Laterne gab. Jeden Tag machte ſie neue Reiſepläne, denn ſie gefiel ſich nicht in der kleinen Stadt. Caſpar fragte, warum ſie denn ſo fortdränge, aber darüber wußte ſie im Grund keinen Aufſchluß zu geben. „Ich darf nicht wurzeln,“ ſagte ſie, „ich werde unglücklich, wenn ich zufrieden bin, ich muß immer auf Entdeckungsfahrten gehen, ich muß Menſchen ſuchen.“ Sie blickte Caſpar zärtlich an, indes ihr kleiner Mund unaufhörlich zuckte. Einmal, und das war das einzige Mal überhaupt, daß davon geſprochen wurde, erwähnte ſie der Feuerbachſchen Schrift. Caſpar griff nach ihrer Hand, die er mit ſonderbarer Kraft ſo ſtark preßte, als wolle er damit das Wort zerquetſchen, das er vernommen. Frau von Kannawurf ſtieß einen leiſen Schrei aus. Es war ſchon Abend; ſie gingen noch bis zu der Straßenkreuzung, an der ſie ſich gewöhnlich voneinander trennten. Da ſagte Frau von Kannawurf raſch und eindringlich, indem ſie ſich nah zu ihm ſtellte und auf ſeine Stirn ſtarrte: „Alſo wollen Sie es auf ſich nehmen?“ „Was?“ entgegnete er mit ſichtlichem Unbehagen. „Alles_—?“ „Ja, alles,“ ſagte er dumpf, „aber ich weiß nicht, ich bin ja ganz allein.“ „Natürlich allein, aber etwas andres wünſchen Sie doch gar nicht. Allein wie im Kerker, das iſt es eben, nur nicht mehr drunten, ſondern droben_—“ Sie konnte nicht weiterreden, er legte die eine Hand auf ihren Mund und die andre auf den ſeinen. Dabei glänzten ſeine Augen beinahe voll Haß. Plötzlich dachte er mit einer Art freudiger Beſtürzung: ob meine Mutter ſo ähnlich iſt wie dieſe da? Er hatte ein durſtiges und brennendes Gefühl auf den Lippen, und es war zugleich etwas in ihm, wovor ihn widerte. „Ich geh’ jetzt heim,“ ſtieß er mit wunderlichem Unwillen hervor und entfernte ſich voll Eile. Frau von Kannawurf ſah ihm nach, und als die Dunkelheit ſchon längſt ſeine Geſtalt verſchlungen hatte, heftete ſie noch die großen Kinderaugen in die Richtung ſeines Weges. Es war ihr furchtbar bang ums Herz. Er iſt ſicher der mutigſte aller Menſchen, dachte ſie, er ahnt nicht einmal, wieviel Mut er beſitzt; was bewegt mich doch ſo ſehr, wenn ich mit ihm rede oder ſchweige? Warum ängſtigt’s mich ſo, wenn ich ihn ſich ſelbſt überlaſſen weiß? Sie ging heimwärts und brauchte zu einem Weg von wenig mehr als tauſend Schritten über eine halbe Stunde. Im Weſten leuchteten Blitze wie feurige Adern. Caſpar hatte ſich frühzeitig zu Bett begeben. Es mochte ungefähr vier Uhr morgens ſein, da wurde er durch einen lauten Ruf aufgeweckt. Es war auf der Straße außerhalb des Hofs, und die Stimme rief: „Quandt! Quandt!“ Caſpar, noch im Halbſchlaf, glaubte die Stimme Hickels zu erkennen. Es wurde irgendwo ein Fenſter geöffnet, der von der Straße ſagte etwas, was Caſpar nicht verſtehen konnte, bald hernach ging eine Tür im Haus. Es blieb dann eine Weile ruhig. Caſpar legte ſich auf die Seite, um weiterzuſchlafen, da pochte es an ſeine Zimmertür. „Was gibt’s?“ fragte Caſpar. „Machen Sie auf, Hauſer!“ antwortete Quandts Stimme. Caſpar ſprang aus dem Bett und ſchob den Riegel zurück. Quandt, vollſtändig angekleidet, trat auf die Schwelle. Sein Geſicht ſah im Morgengrauen grünlich fahl aus. „Der Präſident iſt tot,“ ſagte er. In einem ſchwindelnden Gefühl ſetzte ſich Caſpar auf den Bettrand. „Ich bin im Begriff hinzugehen, wenn Sie ſich anſchließen wollen, machen Sie raſch,“ fuhr Quandt murmelnd fort. Caſpar ſchlüpfte in die Kleider; er war wie betrunken. Zehn Minuten darauf ſchritt er neben Quandt auf dem Weg zur Heiligenkreuzgaſſe. Im Garten vor dem Feuerbachſchen Haus ſtanden Leute, die halb verſchlafen, halb beſtürzt ausſahen. Ein Bäckerjunge ſaß auf der Treppe und heulte in ſeine weiße Schürze hinein. „Glauben Sie, daß man nach oben darf?“ fragte Quandt den Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Geſicht und tief in die Stirn gedrücktem Hut auf und ab ging. „Die Leiche iſt ja noch gar nicht in der Stadt,“ ſagte ein alter Artilleriehauptmann, an deſſen Schnurrbart kleine Regentropfen hingen. „Das weiß ich,“ entgegnete Quandt, und er folgte etwas beklommen Caſpar, der ins Haus eingetreten war. Im unteren Stock ſtanden alle Türen offen. In der Küche ſaßen zwei Mägde vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten geſchlagen war. Sie ſchienen angſtvoll zu horchen. Caſpar und Quandt vernahmen eine durchdringende Stimme, die ſich näherte. Sie ſahen alsbald eine weibliche Geſtalt mit hochgehobenen Armen durch eines der Zimmer laufen. Sie ſchrie vor ſich hin wie raſend. „Die Unglückliche,“ ſagte Quandt verſtört. Es war Henriette. Ihr Geſchrei dauerte ununterbrochen fort, bis einige Damen erſchienen, darunter Frau von Stichaner. Quandt begab ſich mit Caſpar an die Schwelle des Staatsgemachs. Die Frauen bemühten ſich um Henriette, ſie aber ſtieß jede mit den Fäuſten von ſich. „Ich hab’s gewußt,“ ſchrie ſie, „ich hab’s gewußt, ſie haben ihn mir vergiftet, haben ihn vergiftet!“ Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihr Blick war rot. Sie ſtürmte in ein andres Zimmer, das loſe Nachtgewand flatterte hinter ihr, und immer gellender ſchallte ihr Geſchrei: „Sie haben ihn vergiftet! vergiftet! vergiftet!“ Caſpar hatte keinen andern Ruhepunkt für ſein Auge als das Napoleonbild, dem er gegenüberſtand. Es kam ihm vor, als müſſe der gemalte Kaiſer ſchon müde ſein von der unabläſſigen majeſtätiſchen Drehung, die ſein Hals machte. „Laſſen Sie uns gehen, Hauſer,“ ſagte Quandt, „es iſt zuviel des Jammers.“ Im Flur ſtand der Regierungspräſident Mieg im Geſpräch mit Hickel. Der Polizeileutnant berichtete alle Einzelheiten der Kataſtrophe. In Ochſenfurt am Main habe Seine Exzellenz über Unwohlſein geklagt und ſei zu Bett gegangen; in der Nacht habe er gefiebert, der gerufene Arzt habe ihm zur Ader gelaſſen und habe behauptet, die Krankheit ſei bedeutungslos. Am Morgen darauf ſei plötzlich das Ende eingetreten. „Und welcher Urſache ſchrieb der Arzt ſeinen Tod zu?“ erkundigte ſich Herr von Mieg und verbeugte ſich gleichzeitig, da Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf an ſeine Seite traten. Frau von Imhoff weinte. Hickel zuckte die Achſeln. „Er glaubte an Herzſchwäche,“ erwiderte er. Ungeachtet des frühen Morgens war ſchon die ganze Stadt auf den Beinen. Über dem Dach des Appellgerichts wehten zwei ſchwarze Fahnen. Caſpar blieb den Tag über in ſeinem Zimmer. Niemand ſtörte ihn. Er lag auf dem Sofa, die Hände unterm Kopf, und ſtarrte in die Luft. Spät nachmittags bekam er Hunger und ging in die Wohnſtube. Quandt war nicht da. Die Lehrerin ſagte: „Um vier Uhr iſt die Leiche angekommen; Sie ſollten eigentlich hingehen, Hauſer, und ihn nochmal ſehen, bevor er begraben wird.“ Caſpar würgte an einem Stück Brot und nickte. „Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit den Totenweibern,“ fuhr die Lehrerin geſchwätzig fort, „aber die Männer denken immer, alles geht ſo, wie ſie’s ausrechnen.“ Der Flur des Feuerbachſchen Hauſes war angefüllt von Menſchen. Caſpar drückte ſich in einen Winkel und ſtand eine Weile unbeachtet. Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche Geruch, der im Hauſe herrſchte, benahm ihm die Sinne. Da ſpürte er ſich bei der Hand gepackt. Aufſchauend, erkannte er Frau von Imhoff. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, in deſſen Mitte der Tote aufgebahrt war. Drei Söhne Feuerbachs ſaßen zu Häupten des Vaters, Henriette lag regungslos über die Leiche hingeworfen. Am Fenſter ſtanden der Hofrat Hofmann und der Archivdirektor Wurm. Sonſt war niemand im Zimmer. Das Geſicht des Toten war gelb wie eine Zitrone. Um die Winkel des ſcharfen, verbiſſenen Mundes hatten ſich große Muskelknoten gebildet. Das ſchiefergraue Kopfhaar glich einem kurzgeſchorenen Tierfell. Es war nichts mehr von Größe in dieſen Zügen, nur zähneknirſchender Schmerz und eine unmenſchliche, eiſige Angſt. Caſpar hatte noch nie einen Toten geſehen. Sein Geſicht bekam einen qualvoll-wißbegierigen Ausdruck, die Augäpfel drehten ſich in die Winkel, und mit allen zehn Fingern umkrampfte er Kinn und Mund. Sein ganzes Herz löſte ſich in Tränen auf. Henriette Feuerbach erhob den Kopf von der Bahre, und als ſie den Jüngling ſah, verzerrten ſich ihre Züge gräßlich. „Deinetwegen hat er ſterben müſſen!“ ſchrie ſie mit einer Stimme, vor der alle erbebten. Caſpar öffnete die Lippen. Weit nach vorn gebeugt, ſtarrte er das halbwahnſinnige Weib an. Zweimal klopfte er ſich mit der Hand gegen die Bruſt — er ſchien zu lachen_—, plötzlich gab er einen dumpfen Laut von ſich und ſtürzte ohnmächtig zu Boden. Alle waren erſtarrt. Die Söhne des Präſidenten waren aufgeſtanden und ſchauten bekümmert auf den am Boden liegenden Jüngling. Direktor Wurm eilte, als er ſich gefaßt hatte, zur Tür, wahrſcheinlich um einen Arzt zu rufen. Der beſonnene Hofrat hielt ihn zurück und meinte, man ſolle kein unnötiges Aufſehen machen. Frau von Imhoff kniete neben Caſpar und befeuchtete ſeine Schläfe mit ihrem Riechwaſſer. Er kam langſam zu ſich, doch dauerte es eine Viertelſtunde, bis er ſich erheben und gehen konnte. Frau von Imhoff begleitete ihn hinaus. Damit ſie ſich nicht durch die Menge der Beſucher im Korridor zu drängen brauchten, führte ſie ihn über eine Hintertreppe in den Garten und anerbot ſich, ihn nach Haus zu bringen. „Nein,“ ſagte er unnatürlich leiſe, „ich will allein gehen.“ Er ſteckte ſeine Naſe in die Luft und ſchnüffelte unbewußt. Sein Puls ging ſo ſchnell, daß die Adern am Hals förmlich flogen. Er entwand ſich dem liebreichen Zuſpruch der jungen Frau und ging mit trägen Schritten gegen die Hauptallee des Gartens. Vor dem Portal ſtieß er auf den Polizeileutnant. „Nun, Hauſer!“ redete ihn Hickel an. Caſpar blieb ſtehen. „Zur Trauer haben Sie gegründeten Anlaß,“ ſagte Hickel mit unheilvoller Betonung, „denn wer wird eines Feuerbach gewichtiges Fürwort erſetzen?“ Caſpar antwortete nichts und ſchaute gleichſam durch den Polizeileutnant hindurch, als ob er aus Glas wäre. „Guten Abend,“ ertönte da eine glockenhelle Stimme, die Caſpar wunderſam berührte. Frau von Kannawurf trat an ſeine Seite. Hickels Geſicht wurde um eine Schattierung bleicher. „Gnädigſte Frau,“ ſagte er mit einer Galanterie, die ſich krampfhaft ausnahm, „darf ich die Gelegenheit benutzen, Ihnen meine ungemeſſene Verehrung zu Füßen zu legen?“ Frau von Kannawurf trat unwillkürlich einen Schritt zurück und ſah erſchrocken aus. Der Polizeileutnant hatte die Miene eines Menſchen, der ſich in ein tiefes Waſſer ſtürzt. Er beugte ſich nieder, und ehe Frau von Kannawurf es hindern konnte, packte er ihre Hand und drückte einen Kuß darauf, und zwar mit den nackten Zähnen; als er ſich aufrichtete, waren ſeine Lippen noch getrennt. Ohne eine Silbe weiter zu ſprechen, eilte er davon. Mit weiten Augen blickte ihm Frau von Kannawurf nach. „Grauenhaft iſt mir der Menſch,“ flüſterte ſie. Caſpar blieb völlig teilnahmlos. Frau von Kannawurf begleitete ihn ſchweigend nach Hauſe. Als er in ſeinem Zimmer war, bekamen ſeine Augen einen geiſterhaften Glanz und flammten in der Dämmerung wie zwei Glühwürmer. Er ſtellte ſich in die Mitte des Raumes, und vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, ſagte er in beſchwörendem Ton folgendes: „Kenn’ ich dich, ſo nenn’ ich dich. Biſt du die Mutter, ſo höre mich. Ich geh’ zu dir. Ich muß zu dir. Einen Boten ſchick’ ich dir. Biſt du die Mutter, ſo frag’ ich dich: warum das lange Warten? Keine Furcht hab’ ich mehr, und die Not iſt groß. Caſpar Hauſer heißen ſie mich, aber du nennſt mich anders. Zu dir muß ich gehn ins Schloß. Der Bote iſt treu, Gott wird ihn führen und die Sonne ihm leuchten. Sprich zu ihm, gib mir Kunde durch ihn.“ Plötzlich ergriff ihn eine ſonderbare Ruhe. Er ſetzte ſich an den Tiſch, nahm einen Bogen Papier und ſchrieb, ohne daß ihn die Dunkelheit hinderte, dieſelben Worte nieder. Darauf faltete er den Bogen zuſammen, und da er kein Wachs beſaß, zündete er die Kerze an, ließ das Unſchlitt aufs Papier träufeln und drückte das Siegel darauf, das ein Pferd vorſtellte mit der Legende: Stolz, doch ſanft. Es verging eine halbe Stunde; er ſaß regungslos da und lächelte mit geſchloſſenen Augen. Bisweilen ſchien es, als bete er, denn ſeine Lippen bewegten ſich ſuchend. Er dachte an Schildknecht. Er wünſchte ihn herbei mit aller Kraft ſeiner Seele. Und als ob dieſem Wünſchen die Macht innegewohnt hätte, Wirklichkeit zu erzeugen, ſchallte auf einmal vom Hof herauf der wohllautende Triolenpfiff. Caſpar ging zum Fenſter und öffnete; es war Schildknecht. „Ich komm’ hinunter,“ rief ihm Caſpar zu. Unten angelangt, packte er Schildknecht beim Rockärmel und zog ihn durch das Pförtchen auf die einſame Gaſſe. Dort forderte er ihn ſtumm auf, ihm weiter zu folgen. Bisweilen hielt er zögernd inne und ſpähte umher. Sie kamen beim Häuschen des Zolleinnehmers vorüber und auf einen Wieſenplan. Auf dem Rain ſtand ein Bauernwagen. Caſpar ſetzte ſich auf die Deichſel und zog Schildknecht neben ſich. Er näherte ſeinen Mund dem Ohr des Soldaten und ſagte: „Jetzt brauch’ ich Sie.“ Schildknecht nickte. „Es geht um alles,“ fuhr Caſpar fort. Schildknecht nickte. „Da iſt ein Brief,“ ſagte Caſpar, „den ſoll meine Mutter bekommen.“ Schildknecht nickte wieder, diesmal voll Andacht. „Weiß ſchon,“ antwortete er, „die Fürſtin Stephanie_—“ „Woher wiſſen Sie’s?“ hauchte Caſpar betroffen. „Hab’s geleſen. Hab’s in dem Buch vom Staatsrat geleſen.“ „Und weißt auch, wo du hingehen mußt, Schildknecht?“ „Weiß es. Iſt ja unſer Land.“ „Und willſt ihr den Brief geben?“ „Will es.“ „Und ſchwörſt bei deiner Seligkeit, daß du ihr ſelber den Brief gibſt? Aufs Schloß gehſt? In die Kirche, wenn ſie dort iſt? Ihren Wagen aufhältſt, wenn ſie auf der Straße fährt?“ „Iſt kein Schwören nötig. Ich tu’s, und wenn’s Knollen regnet.“ „Wenn ich’s tun wollte, Schildknecht, ich käm’ nicht bis ins nächſte Dorf. Sie würden mich abfangen und einſperren.“ „Weiß es.“ „Wie willſt du’s anſtellen?“ „Bauernkleider anziehen, bei Tag im Wald ſchlafen, bei Nacht laufen.“ „Und wo den Brief verſtecken?“ „Unter der Sohle, im Strumpf.“ „Und wann kannſt du fort?“ „Wann’s beliebt. Morgen, heute, gleich, wenn’s beliebt. Iſt zwar Fahnenflucht, macht aber nichts.“ „Wenn’s gelingt, macht es nichts. Haſt du Geld?“ „Nicht einen Taler. Macht aber nichts.“ „Nein. Geld iſt nötig. Brauchſt viel Geld. Geh mit mir, ich hole Geld.“ Caſpar ſprang empor und ſchritt in der Richtung des Imhoffſchlößchens voran. Am Tor gebot Caſpar dem Soldaten zu warten. Er ging hinein und ſagte zum Pförtner, er müſſe Frau von Kannawurf ſprechen. Es war etwas in ſeinem Ausſehen, was dem alten Hausmeiſter Beine machte. Frau von Kannawurf kam ihm alsbald entgegen. Sie führte ihn über eine Stiege in einen kleinen Saal, der nicht erleuchtet war. Ein wandhoher Spiegel glitzerte im Mondſchein. Der Pförtner machte Licht und entfernte ſich zögernd. „Fragen Sie mich nichts,“ ſagte Caſpar mit fliegendem Atem zu der Freundin, die keines Wortes mächtig war, „ich brauche zehn Dukaten. Geben Sie mir zehn Dukaten.“ Sie blickte ihn ängſtlich an. „Warten Sie,“ antwortete ſie leiſe und ging hinaus. Es dünkte Caſpar eine Ewigkeit, bis ſie wiederkam. Er ſtand am Fenſter und ſtrich beſtändig mit der einen Hand über ſeine Wange. Still, wie ſie gegangen, kehrte Frau von Kannawurf zurück und reichte ihm eine kleine Rolle. Er nahm ihre Hand und ſtammelte etwas. Ihr Geſicht zuckte über und über, ihre Augen ſchwammen wie im Nebel. Verſtand ſie ihn? Sie mußte wohl ahnen; doch ſie fragte nicht. Ein trübes Lächeln irrte um ihre Lippen, als ſie Caſpar hinausbegleitete. Sie war ergreifend ſchön in dieſem Augenblick. Schildknecht lehnte am Mauerpfeiler des Tors und guckte ernſthaft in den Mond. Sie gingen zuſammen ſtadtwärts; nach ein paar hundert Schritten blieb Caſpar ſtehen und gab Schildknecht den Brief und die Geldrolle. Schildknecht ſagte keine Silbe. Er blies ein wenig die Backen auf und ſah harmlos aus. Vor dem Kronacher Buck meinte Schildknecht, es ſei beſſer, wenn man ſie nicht mehr beieinander ſähe. Ein Händedruck, und ſie ſchieden. Dann drehte ſich Schildknecht noch einmal um und rief anſcheinend fröhlich: „Auf Wiederſehen!“ Caſpar blieb noch lange wie verhext an demſelben Fleck ſtehen. Er hatte Luſt, ſich ins Gras zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, für die er plötzlich Dankbarkeit empfand. Spät kam er heim, blieb aber glücklicherweiſe ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen Beſprechung halber zum Hofrat Hofmann befohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. „Höre nur, Jette,“ ſagte er, „der Staatsrat hat ſich während der letzten Tage, die er mit dem Polizeileutnant beiſammen war, von der Sache des Hauſer gänzlich losgeſagt. Er ſoll ſogar mit dem Plan umgegangen ſein, die Denkſchrift für den Hauſer öffentlich als einen Irrtum zu erklären.“ „Wer hat’s geſagt?“ fragte die Lehrerin. „Der Polizeileutnant; es heißt auch allgemein ſo. Der Hofrat iſt derſelben Anſicht.“ „Es heißt aber auch, daß der Staatsrat vergiftet worden iſt.“ „Ach was, dummes Geſchwätz,“ fuhr Quandt auf. „Hüte dich nur, daß du dergleichen verlauten läßt. Der Polizeileutnant hat gedroht, daß er die Verbreiter von ſo gefährlichen Redensarten verhaften laſſen und unerbittlich zur Rechenſchaft ziehen werde. Was macht der Hauſer?“ „Ich glaube, er iſt ſchon ſchlafen gegangen. Nachmittags war er bei mir in der Küche und beklagte ſich über die vielen Fliegen in ſeinem Zimmer.“ „Weiter hat er jetzt keine Sorgen? Das ſieht ihm ähnlich.“ „Ja. Ich ſagte ihm, er ſoll ſie doch hinausjagen. Das tu’ ich ja, antwortete er, aber dann kommen immer gleich zwanzig wieder herein.“ „Zwanzig?“ ſagte Quandt mißbilligend. „Wieſo zwanzig? Das iſt doch nur eine willkürliche Zahl?“ Man begab ſich zur Ruhe. Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg ein und ſtiegen im „Stern“ ab. Daumer ſuchte alsbald Caſpar auf. Caſpar war gegen ſeinen erſten Beſchützer frei und offen, und doch hatte Daumer den quälenden Eindruck, als ſehe und höre ihn Caſpar gar nicht. Er fand ihn blaß, größer geworden, ſchweigſam wie ſtets und von einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugeſchloſſen, ganz eingeſponnen in dieſe Heiterkeit, die, ſeltſam wirkend, dunkle Schatten um ihn warf. In einem Brief an ſeine Schweſter ſchrieb Daumer unter anderm: „Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den Jüngling zu ſehen. Nein, es iſt mir ſchmerzlich, ihn zu ſehen, und fragſt du mich nach dem Grund, ſo muß ich wie ein dummer Schüler antworten: Ich weiß nicht. Übrigens lebt er hier ganz in Frieden und wird wohl, trübſelig zu melden, all ſeine Tage hindurch als ein obskurer Gerichtsſchreiber oder dergleichen figurieren.“ Während Herr von Tucher am ſelben Nachmittag wieder abreiſte, und zwar ohne ſich um Caſpar zu kümmern, blieb Daumer noch drei Tage in der Stadt, da er Geſchäfte bei der Regierung hatte. Beim Begräbnis des Präſidenten ſah er Caſpar nicht; er erfuhr ſpäter, daß Frau von Imhoff ſeine Anweſenheit zu verhindern gewußt hatte. Er machte bald die kränkende Entdeckung, daß Caſpar ihm gefliſſentlich auswich. Eine Stunde vor ſeiner Abreiſe ſprach er mit dem Lehrer Quandt darüber. „Kann ein Mann von Ihrer Einſicht um eine Erklärung dieſes Betragens verlegen ſein?“ ſagte Quandt erſtaunt. „Es iſt doch ganz klar, daß er jetzt, wo er eine immer größer werdende Gleichgültigkeit um ſich entſtehen ſieht und die Folgen davon täglich empfinden muß, daß er jetzt durch den Anblick ſeiner Nürnberger Freunde in Verlegenheit gerät und ſie nach Kräften zu meiden ſucht. Denn dort ſtand er ja [in floribus] und glaubte wunder was für Roſinen in ſeinem Kuchen ſteckten. Wir aber, verehrter Herr Profeſſor, ſind ihm dicht auf der Spur; es wird nicht mehr lange dauern und Sie werden merkwürdige Nachrichten hören.“ Quandt ſah bekümmert aus, und ſeine Worte klangen fanatiſch. Ob danach Daumer gerade mit hoffnungsvoller Bruſt die Fahrt zum heimatlichen Bezirk angetreten habe, ſteht zu bezweifeln. Faſt hätte er wie in jener ſtillen Nacht, als er Caſpar im Geiſt und leibhaftig an ſich gedrückt, klagend über die ſommerlichen Felder gerufen: Menſch, o Menſch! Aber dabei hatte es ſein Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln bemächtigte ſich des verwirrten Mannes; in ſeinem Hirn gährte es wie ſchlechtes Gewiſſen, und langſam, den Entſchluß zur Tat und Sühne weckend, zur viel zu ſpäten Tat und Sühne, entſtand eine erſte Ahnung der Wahrheit. 25. Ein unterbrochenes Spiel Im Verlauf der folgenden Wochen gab es in den Salons und Bürgerſtuben der Stadt allerlei ſonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß das Gerede beſtimmte Formen annahm, wollte man doch in dem plötzlichen Tod des Präſidenten Feuerbach auch weiterhin nichts ſehen als die Frucht einer myſteriöſen Verſchwörung. Eine greifbare Äußerung fiel natürlich nicht; die Flüſterer nahmen ſich in acht. Sehr insgeheim raunten ſie ſich zu, auch Lord Stanhope ſei an dieſer Verſchwörung beteiligt, und nach und nach tauchte das beſtimmte Gerücht auf, der Lord gehe damit um, einen Kriminalprozeß gegen Caſpar Hauſer anzuſtrengen, und habe ſich zu dem Ende ſchon der Hilfe eines bedeutenden Rechtsgelehrten verſichert. Auf einmal bekannte ſich kein Menſch mehr zu dem früheren Enthuſiasmus für den Grafen, das großartige Andenken, das er hinterlaſſen, war verwiſcht, und in einigen maßgebenden Familien, wo er der Abgott geweſen, ſprach man bereits mit ängſtlicher Vorſicht ſeinen Namen aus. Caſpars Freunde wurden beſorgt. Frau von Imhoff ſuchte eines Tages den Polizeileutnant auf und erkundigte ſich, was von dem Gemunkel zu halten ſei. Mit kühlem Bedauern erwiderte Hickel, daß die öffentliche Meinung in dieſem Punkt nicht fehlgehe. „Das Blatt hat ſich eben gewendet,“ ſagte er; „Seine Lordſchaft ſieht in Caſpar Hauſer jetzt nur einen gewöhnlichen Schwindler.“ Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizeileutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne Gruß. Ei, die ſanften Seelen, höhnte Hickel für ſich, das Grauſen faßt ſie an. Hickel hatte eine neue Wohnung auf der Promenade gemietet und lebte wie ein großer Herr. Woher mag er die Mittel haben? fragten die Leute. Er hat Glück am Kartentiſch, ſagten einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er fortwährend große Summen verliere. Auch damit war der Geſprächsſtoff nicht erſchöpft. Eine andre Seltſamkeit: Im Sommer war aus der Infanteriekaſerne ein Soldat auf unaufgeklärte Weiſe verſchwunden. Zu andrer Zeit wäre ein ſolches Ereignis vielleicht unbeachtet geblieben. Jetzt hefteten ſich auch daran allerlei Fabeleien. Es wurde geſagt, jener Soldat, der den Hauſer beaufſichtigt, habe von gewiſſen Geheimniſſen Kenntnis erhalten und ſei beiſeitegeſchafft worden. Man wurde furchtſam; man verſchloß bei Nacht ſorgfältig die Haustüren. Es war nicht mehr geheuer in der guten, ſtillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde beargwöhnt. Selbſt Frau von Kannawurf erfuhr ſolchen Argwohn, wenngleich um ſie etwas Unantaſtbares war, das den verleumderiſchen Worten die Kraft raubte. Dennoch fiel es auf, daß ſie ſich des Umgangs mit ihresgleichen entzog und ſich anſtatt deſſen häufig unter Menſchen der niederſten Volksklaſſe herumtrieb. Sie verbrachte viele Stunden in geiſtloſem Geſpräch mit Bauernweibern und Arbeiterfrauen, ſtieg zu ihrem Türmer hinauf oder geſellte ſich zu den Kindern, die von der Schule heimkehrten. Da geſchah es denn oft, daß ſie zum maßloſen Staunen der begegnenden Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben und Mädchen um ſich verſammelt hatte und in ihrer Mitte lächelnd durch die Gaſſen zog. Wahrſcheinlich iſt ſie eine Demagogin, hieß es. Geſinnungstüchtige Eltern verboten ihren Sprößlingen, ſich an den ſkandalöſen Aufzügen zu beteiligen. Kein Zweifel, auch die Behörde fand das Treiben anſtößig, denn einmal am Abend hatte man beobachtet, daß der Polizeileutnant vor dem Imhoffſchlößchen Poſten faßte; zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit unbeweglich unter einem Baum geſtanden. Es iſt wahr, Frau von Kannawurf war eine auffallende Perſon und benahm ſich auffallend. Aber ihre kurioſen Handlungen hatten einen Anſchein von Leichtigkeit, ja Läſſigkeit. Sie hatte eine Art von Lächeln, in welchem ſich ſelbſtvergeſſene Hingebung an irgendein Gedachtes, Gefühltes mit der Verzweiflung über die eigne Unzulänglichkeit aufs rührendſte miſchten. Sie lebte an allem und in allem, ſtarb mit jedem Seufzer gleichſam dahin, flog mit jeder Freude in eine entrückte Region. Eines Abends im Auguſt trat ſie ins Zimmer ihrer Freundin, warf ſich wie atemlos vom Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu ſprechen fähig. „Was haſt du nur wieder getrieben, Clara?“ ſagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; „das heißt nicht leben, das heißt ſich verbrennen.“ „Es hilft nichts,“ murmelte das junge Weib erſchlafft, „ich muß reiſen.“ Frau von Imhoff ſchüttelte liebenswürdig tadelnd den Kopf. Dieſe Worte hatte ſie ſeit drei Monaten des öfteren vernommen. „Bis zu unſerm Familienfeſt wirſt du doch noch bleiben, Clara,“ erwiderte ſie herzlich. Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal dazu, einen Entſchluß nicht auszuführen, ſagte Clara von Kannawurf zu ſich ſelbſt; und nach einer Pauſe des Schweigens wandte ſie das Geſicht der Freundin entgegen und fragte: „Warum, Bettine, kannſt du Caſpar nicht zu dir ins Haus nehmen? Er ſoll und darf nicht länger beim Lehrer Quandt bleiben. Dieſes Haus zu betreten iſt mir unmöglich. Seine Lage iſt ſchauderhaft, Bettine. Wozu ſage ich dir das! Du weißt es, ihr wißt es ja alle; ihr bedauert es alle, aber keiner rührt nur den Finger. Keiner, keiner hat den Mut zu tun, was er getan zu haben wünſcht, wenn das geſchehen iſt, was er im ſtillen fürchtet.“ Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre Handarbeit. „Ich bin nicht glücklich und nicht unglücklich genug, um mit Aufopferung des eignen einem fremden Schickſal mich hinzugeben,“ verſetzte ſie endlich. Clara ſtützte den Kopf in die Hand. „Ihr leſt ein ſchönes Buch, ihr ſeht ein ergreifendes Theaterſtück und ſeid erſchüttert von dieſen nur eingebildeten Leiden,“ fuhr ſie bewegt und eindringlich fort. „Ein trauriges Lied kann dir Tränen entlocken, Bettine; erinnere dich nur, wie du weinteſt, als Fräulein von Stichaner neulich den ‚Wanderer‘ von Schubert ſang. Bei den Worten: Dort, wo du nicht biſt, iſt das Glück, haſt du geweint. Du konnteſt eine Nacht lang nicht ſchlafen, als man uns erzählte, drüben in Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind verhungern laſſen. Warum iſt es immer nur das Unwirkliche oder das Ferne, woran ihr eure Teilnahme verſchwendet? Warum immer nur dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und nicht dem lebendigen Menſchen, deſſen Not handgreiflich iſt? Ich verſteh’ es nicht, verſteh’ es nicht, das quält mich, daran, ja daran verbrenn’ ich.“ Das leiſe, melodiſche Stimmchen verging in einem Hauchen. Frau von Imhoff ſtützte den Kopf in die Hand und ſchwieg lange. Dann erhob ſie ſich, ſetzte ſich neben Clara, ſtreichelte die Stirn der Freundin und ſagte: „Sprich mal mit ihm. Er ſoll zu uns kommen. Ich will es durchſetzen.“ Clara umſchlang ſie mit beiden Armen und küßte ſie dankbar. Aber nicht mit freiem Herzen hatte Frau von Imhoff dieſen Entſchluß gefaßt, und ſie atmete ſeltſam erleichtert auf, als ihr am andern Tag Frau von Kannawurf die Eröffnung machte, Caſpar habe ſich unbegreiflicherweiſe hartnäckig gegen den Vorſchlag geſträubt, das Haus des Lehrers zu verlaſſen. Zuerſt habe er keinen Grund für ſeine Weigerung nennen wollen, als er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe er geſagt: „Dort hat man mich hingebracht, und dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es heißt, beim Lehrer Quandt hat er’s nicht gut genug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die Imhoffs genommen. Ich hab’ ja mein Brot und mein Bett, mehr brauch’ ich nicht, und das Bett iſt das Allerbeſte, was ich auf der Welt kennen gelernt habe, alles andre iſt ſchlecht.“ Da fruchtete keine Einrede mehr. „Schließlich könnt ihr ja mit mir anſtellen, was ihr wollt,“ fügte er hinzu, „aber daß ich freiwillig hingehen ſoll, das wird nicht geſchehen. Wozu auch? Lang kann’s nimmer dauern.“ So war ihm denn das Wort entſchlüpft. War deshalb der tiefe Glanz in ſeinen Augen? Blickte er deshalb mit ſtummer Spannung die Straßen entlang, wenn er morgens zum Appellgericht ging? War’s deswegen, daß er ſtundenlang am Fenſter lehnte und hinüberſpähte gegen die Chauſſee? Daß er gierig aufhorchte, wenn er irgendwo zwei Menſchen leiſe miteinander reden ſah? Daß er täglich dabei ſein mußte, wenn der Poſtwagen ankam, und daß er den Briefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe? Dem rätſelhaften Weſen tat die Zeit keinen Abbruch. Es lag Frau von Kannawurf daran, ihn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem innigen Verhältnis zur umgebenden Welt entziehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen mußte. Sie ſann immer auf Ablenkung, und jenes Familienfeſt, von dem ihre Freundin Bettine geſprochen, gab Gelegenheit, damit Caſpar wieder einmal aus ſich heraus und einer anteilvollen Welt gegenübertrete. Die Feier wurde von Herrn von Imhoff zu Ehren der Goldenen Hochzeit ſeiner Eltern veranſtaltet und ſollte am zwölften September ſtattfinden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des Hauſes, hatte zu der Gelegenheit ein ſinnreiches Bühnenſpiel in Verſen verfaßt, welches von einigen Damen und Herren der Geſellſchaft ausgeführt werden ſollte. Bei den Proben, die im oberen Saal des Schloſſes abgehalten wurden, zeigte es ſich, daß einer der jungen Leute, der die Rolle eines ſtummen Schäfers darſtellte, ſeines plumpen Benehmens halber unfähig war, den Part zu gewünſchter Wirkung zu bringen. Da hatte Frau von Kannawurf, die ſelbſt mitſpielte, den Einfall, dieſe Rolle Caſpar zu übertragen. Die Anregung fand Beifall. Caſpar willigte ein. Da er eine Perſon vorzuſtellen hatte, die nichts zu ſprechen brauchte, glaubte er ſich der Aufgabe leichterdings gewachſen, die ſeiner alten Neigung für das Theater entgegenkam. Er ging fleißig zu den Proben, und wenngleich das phraſenhafte Weſen des Stücks nicht eben ſein Gefallen erweckte, ſo erfreute er ſich doch an der wechſelvollen Bewegung innerhalb eines abgemeſſenen Vorgangs. Das harmloſe Spiel hatte einen berechneten und für das Publikum unſchwer durchſchaubaren Bezug auf ein ſchon weit zurückliegendes Ereignis in der Familie der Imhoffs. Einer der Brüder des Barons hatte ſich zu Anfang der zwanziger Jahre an burſchenſchaftlichen Umtrieben beteiligt und war, von dem feierlichen Bannfluch des Vaters und nebenbei von den politiſchen Behörden verfolgt, nach Amerika entflohen. Nach erlaſſener Amneſtie war er zurückgekehrt, hatte vor dem Familienhaupt alle freiheitlichen Ideen abgeſchworen, und von da ab hatte ihm die väterliche Gnade wieder geleuchtet. Dieſe etwas philiſtröſe Begebenheit hatte den Hauspoeten zu ſeiner Dichtung begeiſtert. Ein König gibt einem ihn beſuchenden Freund und Waffengenoſſen ein Gaſtmahl. Ein zweiter Polykrates, brüſtet er ſich bei dieſem Anlaß mit ſeiner Macht, dem Frieden ſeiner Länder, den Tugenden ſeiner Untertanen. Die Höflinge an der Tafel beſtärken ihn voll ſchmeichleriſchen Eifers in ſeinem Glückswahn, nur der Gaſtfreund wagt das kühne Wort, daß er auf dem Purpur des Herrſchers doch einen Makel bemerke. Der König fühlt ſich getroffen und läßt jenen hart an, auch weiß er zu verhindern, daß der Freund weiterſpreche, da ſeine Gemahlin Zeichen eines großen Seelenſchmerzes von ſich gibt. Unterdeſſen ziehen im Burghof Schnitter und Schnitterinnen mit Lachen und munteren Zwiegeſprächen auf, und Muſik begleitet die Erntefeier. Plötzlich entſteht ein Stillſchweigen; die Geigen, die Rufe, das Gelächter verſtummen, und auf die Frage des Königs wird mitgeteilt, der ſchwarze Schäfer, der ſich ſchon ſeit Menſchengedenken nicht im Land habe ſehen laſſen, ſei unter das Volk getreten. Der Gaſtfreund begehrt zu wiſſen, was für eine Bewandtnis es mit dieſem Schäfer habe, und man antwortet ihm, der Wunderbare beſitze die Gabe, durch ſeinen bloßen Anblick bei jedem Menſchen die Erinnerung an deſſen ſtärkſte Schuld wachzurufen, Schuldloſe aber den Gegenſtand langgehegter Sehnſucht ſchauen zu laſſen. Zur Beſtätigung deſſen hört man auch aus der Mitte des Volkes Weinen und allerlei klagende Töne. Der König befiehlt, daß ſich der Fremdling entferne, doch die Königin, unterſtützt von den Bitten des Gaſtfreunds und der Höflinge, fleht den Gemahl an, ihn heraufkommen zu laſſen. Der König fügt ſich, und alsbald betritt der ſtumme Schäfer die Szene. Er ſchaut den König an; der verhüllt ſein Geſicht; er ſchaut die Königin an, und dieſe, dunkel ergriffen, ergeht ſich in einem längeren Selbſtgeſpräch, aus welchem deutlich wird, daß ihr erſtgeborener Sohn wegen einer unbeſonnen angeſtifteten Verſchwörung vom Vater verſtoßen wurde und ſeitdem verſchollen iſt. Mit ausgebreiteten Armen, unwiderſtehlich gezogen, geht ſie auf den Schäfer zu, und ſiehe, es iſt der reuig zurückgekehrte Prinz. Man erkennt, man umarmt ihn, das Eis des königlichen Herzens ſchmilzt, und alles löſt ſich in Wonne auf. Caſpar benahm ſich nicht ungeſchickt. Im Lauf der Vorbereitungen fand er von ſich ſelbſt aus einen heftigen Antrieb zu der Rolle und fühlte ſich ſo hinein, als ob ſein alltägliches Leben von ihm abgelöſt wäre. Ähnlich verhielt es ſich mit Frau von Kannawurf, die die Königin machte; auch ſie gab ſich ihrer Aufgabe mit einem Ernſt hin, der das Spielhafte des Vorgangs undienlich vertiefte und daher die Rollen ihrer Partner ſchattenhaft werden ließ. So webten die beiden gleichſam in einer eignen Welt für ſich. Es war ein ſehr warmer Septembertag, als gegen ſechs Uhr abends die geladenen Gäſte erſchienen, im ganzen etwa fünfzig Perſonen, die Frauen in großer Pracht, unmäßig aufgedonnert, die Männer in Fräcken und geſtickten Uniformen. Das Podium für die Komödie nahm die Schmalwand des Saales völlig ein, Kuliſſen und Requiſiten, auch eine Anzahl Statiſten waren vom Direktor des Schloßtheaters zur Verfügung geſtellt worden. Die Tafel befand ſich in einem Nebenſaal; dort hatte ſich auch die Muſikkapelle eingefunden, denn nach dem Eſſen ſollte getanzt werden. Um ſieben Uhr ertönte ein Glockenzeichen, alles begab ſich auf die Plätze. Der Vorhang rollte auf, und der König begann ſeine überhebliche Tirade. Der Gaſtfreund, vom Verfaſſer ſelbſt gemimt, hielt reſpektvollen Widerpart, dann kam das heitere Zwiſchenſpiel auf dem Hof, und das Folgende nahm ſeinen ruhigen Fortgang. Nun trat Caſpar auf. Das ſchwarze Gewand kleidete ihn trefflich und hob die Bläſſe ſeines Geſichts. Sein Erſcheinen auf der Bühne hatte eine unmittelbare Wirkung. Das Huſten und Räuſpern hörte auf; Totenſtille entſtand. Wie er den König und die Königin anblickte, wie er auf ſie zuſchritt und traumhaft lächelte, das war ergreifend. Einige ſahen ihn ſogar zittern und beobachteten, daß ſich ſeine Finger wie im Krampf in die Hand ſchloſſen. Nun der Monolog der Königin; auch dies klang anders, als Schauſpieler ſonſt ſich geben, ſie tritt an den Jüngling heran, ſie legt die Arme um ſeinen Hals_... In dieſem Augenblick eilte ein Mann aus dem Hintergrund des Saales bis vor die Rampe und rief ein gellendes: „Halt!“ Die Spieler auf der Szene fuhren erſchrocken zuſammen, die Zuſchauer erhoben ſich, und eine allgemeine Unruhe entſtand. „Wer iſt das? Wer wagt das? Was gibt’s?“ wurde durcheinander gerufen; man drängte nach vorn, die Frauen ſchrien ängſtlich, Stühle wurden umgeworfen, und nur mit Mühe gelang es dem Hausherrn, eine gefährliche Panik zu verhüten. Indes ſtand der Urheber der Verwirrung noch immer unbeweglich vor dem Podium. Es war Hickel. Bleich und feindſelig ſtierte er auf die Szene und ſchien nichts zu gewahren außer Caſpar und Frau von Kannawurf, die, aneinander gedrängt, furchtſam in den verdunkelten Saal ſchauten. Der erſte, der ſich an Hickel wandte, war der junge Doktor Lang. In ſeinem Phantaſiekoſtüm des „Gaſtfreundes“ trat er an den Rand der Eſtrade und fragte wütend nach dem Grund einer ſo unverantwortlichen Handlungsweiſe. Der Polizeileutnant holte tief Atem und ſagte laut mit einer gläſernen Stimme: „Ich muß die hochgeehrte Verſammlung tauſendmal um Entſchuldigung bitten, und da ich ſelbſt zu den hier Geladenen gehöre, wird meine Verſicherung vielleicht Glauben finden, daß mir ein ſolcher Schritt nicht leicht geworden iſt. Aber ich kann nicht dulden, daß der Hauſer ein frivoles Amüſement zu einer Stunde fortſetzt, wo ich die Nachricht von einem ſchrecklichen Unglück erfahren habe, das ihn wie keinen andern trifft und für ſein ferneres Leben von folgenſchwerer Bedeutung ſein wird.“ Finſtere, neugierige und unwillige Augen blickten auf den Polizeileutnant. Der Doktor Lang entgegnete zornig: „Unſinn! Eine Teufelei iſt es, weiter nichts. Was auch immer vorgefallen iſt, ſo kann weder ich noch irgend jemand von den Anweſenden Ihnen das Recht zu einer ſo groben Eigenmächtigkeit zugeſtehen. Iſt es ſchlimm, was Sie zu melden haben, ſo war um ſo mehr Grund zu warten, unſer Spiel war ja am Ende. Es iſt ein Wahnſinn, ein Mißbrauch der Gaſtfreundſchaft.“ „Jawohl, der Doktor hat recht,“ riefen einige Stimmen. Hickel ſenkte den Kopf und legte die Hand vor die Stirn. „Darf ich wiſſen, worum es ſich handelt?“ trat nun Herr von Imhoff dazwiſchen. Hickel raffte ſich empor und erwiderte dumpf: „Graf Stanhope hat ſeinem Leben freiwillig ein Ende gemacht.“ Es entſtand eine lange Stille. Faſt alle blickten auf Caſpar, der gegen eine Soffitte lehnte und langſam die Augen ſchloß. „Er hat ſich erſchoſſen?“ fragte Herr von Imhoff. „Nein,“ antwortete Hickel, „er hat ſich erhängt.“ Raſchelnde Laute des Schreckens ließen ſich vernehmen. Herr von Imhoff biß ſich auf die Lippen. „Weiß man Näheres?“ fuhr er fort zu fragen. „Nein. Das heißt, ich habe nur eine allgemein gehaltene Nachricht von ſeinem Jäger. Er war bei einem Freund, dem Grafen von Belgarde, an der normanniſchen Küſte zu Beſuch. Am Morgen des vierten September fand man ihn im Turmzimmer des Schloſſes an einer Seidenſchnur hängend als Leiche.“ Herr von Imhoff ſah zu Boden. Als er wieder aufblickte, fixierte er den Polizeileutnant fremd und ſagte: „Es tut uns allen von Herzen leid. Ich glaube, daß niemand in dieſem Saal iſt, der dem unglücklichen Mann nicht ein lebendiges Andenken bewahren wird. Nichtsdeſtoweniger, Herr Leutnant, bleiben Sie mir Ihres ſonderbaren Vorgehens halber Rechenſchaft ſchuldig.“ Hickel verbeugte ſich ſtumm. Die Hausfrau und mit ihr einige andre Damen waren bemüht, die Gäſte zu beruhigen, aber während die Diener die Kerzen des großen Kronleuchters anzündeten, meldete man Frau von Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, infolge der ausgeſtandenen Aufregung unwohl geworden ſei und ſich auf ihr Zimmer begeben habe. Sie folgte ſogleich nach. Dies war ein Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierungspräſident und der Generalkommiſſär mit ihren Frauen verließen zuerſt den Saal, und ſchließlich blieben nur ein paar intime Freunde des Barons um dieſen verſammelt und nahmen in gedrückter Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz. „Ich hab’ es immer geahnt, daß uns der gute Lord noch einmal eine grimmige Überraſchung bereiten würde,“ ſagte Herr von Imhoff. „Was wird aber nun mit dem armen Hauſer geſchehen?“ meinte einer aus der Geſellſchaft. Man ſprach allerlei Vermutungen darüber aus; die Unterhaltung kam in Fluß, und wie oft ein unglückliches Ereignis dazu dient, die Phantaſie der entfernt Beteiligten wohltätig anzuregen, ſo auch hier. Man gab ſich bis über Mitternacht lebhaften Geſprächen hin. Caſpar hatte ſich während des raſchen Aufbruchs der Gäſte in dem kleinen Ankleidezimmer für die Schauſpieler verſteckt. Die jungen Leute entledigten ſich eilfertig ihres Koſtüms und verſchwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, um die Lichter auszulöſchen, und dieſer entdeckte Caſpar. Als Caſpar gegen die Treppe zu ging, hörte er Schritte hinter ſich, und Frau von Kannawurf trat an ſeine Seite. Sie fragte ihn, ob er nach Hauſe wolle, und er bejahte. „Es regnet,“ ſagte ſie unten beim Tor und ſtreckte die Hand hinaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen vorübergehen zu laſſen, aber es wurde ein heftiger Guß daraus, und das Waſſer knatterte lärmend auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. Ein kaltfeuchter Luftſtrom ſchlug ihnen entgegen, und Frau von Kannawurf forderte Caſpar auf, mit ihr ins Zimmer zu gehen, es könne allzulang dauern. Er folgte ſtill. Oben machte ſie Licht, dann ſtand ſie und ſah verſonnen in die Flamme. Ihre Schultern bebten fröſtlich. Caſpar hatte ſich auf das Sofa geſetzt. Allgemach ſpürte er eine ſo große Müdigkeit, daß es ihn förmlich hintüberzog, und er mußte ſich auf den Rücken legen. Da trat Clara zu ihm und ergriff ſeine Hand, die er ihr jedoch haſtig wieder entriß. Er machte die Augen zu, und einen Moment lang war ſein Geſicht vollkommen leblos. Frau von Kannawurf ſtieß einen matten Angſtruf aus und fiel neben ihm auf die Knie. Dann rief ſie ihre Kammerzofe und bat um Waſſer; ſie ſchenkte ein Glas voll und reichte es ihm zu trinken. Er trank ein paar Schlücke. „Was iſt dir, Caſpar?“ flüſterte ſie, und zum erſtenmal duzte ſie ihn. Er lächelte dankbar. „Du biſt wie eine Schweſter,“ ſagte er ſcheu und berührte mit den Fingern das Haar ihres über ihn gebeugten Kopfes. Dieſes Wort Schweſter hatte in ſeinem Mund einen eignen Klang; es tönte wie ein nie zuvor geſprochenes Wort. Clara ſchmiegte ſich an ſeine Seite; ihr war, als müßte ſie ihn wärmen, er aber rückte ängſtlich fort, da wollte ſie ſich wieder erheben, doch betaſtete er mit der Hand ihren Arm und ſah ſie an mit einem bittenden Ausdruck von Schmerz und Liebe. „Clara,“ ſagte er, und ſie glaubte vergehen zu ſollen oder zu einem andern Leben erwachen zu müſſen, denn die ſchüchtern-flehentliche Art, wie er dieſen Namen ausſprach, hatte etwas Überirdiſches. Es kam nun ſo, daß Stunde auf Stunde verging und ſie immer nebeneinander lagen, ſtumm, ſtumm, regungslos und über und über zitternd beide. Sie ſtreckte die Hand nach ihm aus, und der Atem ſeines Mundes floß in die Luft gleich dem ihren. Als es von der Schloßuhr zwölf ſchlug, ſchauerte Clara zuſammen. Sie erhob ſich und ſagte mit tiefer Beteuerung vor ſich hin: „Nie, nie, nie, nie.“ Dann ſchritt ſie zum Fenſter und öffnete es. Der Regen hatte längſt aufgehört, das Firmament war klar, der ganze Sternenhimmel lag funkelnd vor ihr da. Ihre volle Bruſt drängte den unbekannten Welten entgegen, denn von dieſer, auf der ſie lebte, war ſie ſatt. Sie ſagte zu Caſpar, er könne die Nacht im Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu ſehen, ob Frau von Imhoff noch wach ſei. Sie ſchritt am Speiſeſaal vorbei, wo die Herren noch beim Wein ſaßen und laut redeten. Die Baronin hatte ſich gleichfalls noch nicht zur Ruhe begeben. Clara teilte ihr mit, daß Caſpar bis jetzt bei ihr geweſen ſei. Frau von Imhoff nickte, ſah aber die Freundin etwas verlegen und verwundert an. „Ich werde morgen früh meinen Koffer packen und reiſen,“ ſagte Clara leiſe und mit einem Ausdruck unwiderruflicher Beſtimmtheit, der ihr bisweilen eigen war und ihre kindlichen Züge ſeltſam hart und leidend machte. Frau von Imhoff erhob ſich überraſcht und trat nahe an die Freundin heran. Plötzlich fielen ſie einander in die Arme, und Clara ſchluchzte. Sie verſtanden ſich; es war nicht nötig zu ſprechen. Als ſich Clara losriß, ſagte ſie, ſie werde Caſpar noch in die Stadt begleiten. „Das kannſt du unmöglich tun,“ wandte Frau von Imhoff ein, „oder ich werde dir wenigſtens den Diener mitgeben.“ „Bitte, nicht,“ antwortete Clara lächelnd, „du weißt doch, daß ich keine Furcht habe. Es beirrt mich auch, wenn man meinethalben ängſtlich iſt. Die Nacht tut mir gut, und ich freue mich auf den einſamen Rückweg.“ Eine Viertelſtunde ſpäter wanderte ſie mit Caſpar über die noch feuchte Straße gegen die Stadt. Sie redeten auch jetzt nichts, und vor dem Lehrerhaus reichten ſie einander die Hände. „Jetzt gehſt du wahrſcheinlich fort von mir, Clara,“ ſagte da plötzlich Caſpar und ſchaute ſie mit einem verſchleierten Blick an. Sie war ebenſo erſtaunt wie bewegt über dieſe Worte, die ein tiefes Vorgefühl verrieten. Wie ſchön ſind ſeine Augen, dachte ſie, ſie ſind hellbraun wie die eines Rehs; gleicht er doch auch ſonſt einem Reh, das traurig-verwundert im dunkeln Wald ſteht. „Ja, ich gehe,“ erwiderte ſie endlich. „Und warum denn? Bei dir war mir wohl.“ „Ich komme wieder,“ verſicherte ſie mit einer gezwungenen Herzlichkeit, hinter der ein Aufſchrei erſtarb. „Ich komme wieder. Wir werden uns ſchreiben. Zu Weihnachten komm’ ich wieder.“ „Ich komme wieder; das hab’ ich ſchon einmal gehört,“ ſagte Caſpar bitter. „Bis Weihnachten iſt lang. Und ſchreiben tu’ ich nicht. Was hat man vom Schreiben, iſt ja doch nur Papier. Geh nur, leb wohl.“ „Es kann nicht anders ſein,“ flüſterte Clara, und ihr Blick ſuchte die Sterne. „Sieh, Caſpar, dort oben iſt das Ewige. Wir wollen es nicht vergeſſen wie alle andern. Wir wollen nichts vergeſſen. Ach, vergeſſen, vergeſſen, darin liegt alle Bosheit der Welt. Uns gehören die Sterne, Caſpar, und wenn du hinaufſchauſt, bin ich bei dir.“ Caſpar ſchüttelte den Kopf. „Leb wohl,“ ſagte er matt. Im Erdgeſchoß wurde ein Fenſter geöffnet, und das mit einer Bettmütze gekrönte Haupt des Lehrers wurde ſichtbar, um gleich darauf wieder zu verſchwinden. Es war eine ſchweigende Mahnung. Ich will Bettine bitten, daß ſie ihn täglich beſucht, überlegte Clara, während ſie allein durch die öden Gaſſen ging; ich bring’ ihm Unheil, wenn ich bleibe, ein Abgrund gähnt mir entgegen, wie er fürchterlicher nicht zu denken iſt. Schweſter! Wie war mir doch, als er mich Schweſter nannte! Die himmliſche Seligkeit pochte mir an die Bruſt. So hätt’ ich einen verlorenen Bruder gefunden, und mehr noch; aber, gerechter Gott, mehr darf es nicht ſein. Ihn anzutaſten! Seinen Schlummer ſtören! O verbrecheriſche Lippen, denen ein Kuß nichts bedeutet! Hätt’ ich’s getan, ich müßte ſeine Mörderin heißen, was kann ich Beſſeres tun als fliehen? Ein guter Genius wird ihn ſchützen; vermeſſen, wollt’ ich durch meine armſelige Gegenwart ihn behütet glauben; ein ſo edles Ding kann nicht zugrunde gehen, weil ſich zwei Augen von ihm wenden. Dieſe wirre und aufgeregte Gedankenfolge entſchleiert ein rettungslos verſtricktes Gemüt, das in ſeiner Schwärmerei den Entſchluß eines Opfers faßt, verzagt, geblendet durch den Anblick von ſo viel Schickſal und in ſeiner Betrübnis irregehend an den Kreuzwegen der Liebe. Den Blick beſtändig zum Himmel gerichtet, und zwar auf das ſchöne Sternbild des Wagens, das wie ein erſtarrter Zackenblitz im Dunkelblauen ſchwamm, bemerkte Clara nicht, daß am Portal des Schloſſes eine Geſtalt lehnte. Sie prallte erſt zurück, als ihr die nächtige Perſon den Weg verſtellte. O Gott, der Grauenvolle, dachte ſie. Hickel, denn dieſer war es, verneigte ſich gegen die beſtürzte Frau. „Vergebung, Madame, Vergebung,“ murmelte er. „Und nicht nur für dieſen Überfall, auch für das andre. Sie ſind zu ſchön, Madame. Wenn Sie die Gnade hätten, zu erwägen, daß Ihre ſublime Schönheit mit meinem Kopf umſpringt wie ein mutwilliger Knabe mit ſeinem Kreiſel, wenn Sie in Betracht ziehen wollten, daß es ſelbſt beim Komödieſpiel einen Punkt gibt, wo die verrückt gewordene Phantaſie den Gegenſtand ihrer Wünſche beſudelt und das Bildliche eiferſüchtig für ein Wirkliches hält, ſo würden Sie vielleicht Ihren zerknirſchten Diener durch ein tröſtliches Wort beglücken.“ Alles dies klang einfältig, formlos, geziert, höhniſch und verzweifelt. Er ſchien die Worte zwiſchen den Zähnen zu zerquetſchen, und man konnte ihm anſehen, daß er ſich nur mit Anſtrengung ſteif und ruhig hielt. Clara trat einen Schritt zurück, verſchränkte die Arme, drückte ſie feſt gegen die Bruſt und ſagte befehlend: „Laſſen Sie mich vorbei!“ „Madame, von Ihrem Mund hängt zur Stunde manches ab,“ fuhr Hickel fort und hob den Arm mit der ſtarren Bewegung einer Wachsfigur. „Ich bin nie ein Bettler geweſen. Hier ſteh’ ich und bettle. Verleugnen Sie nicht Ihr Geſicht, das einen Engel glauben läßt!“ Er trat zur Seite, wortlos ging Clara an ihm vorüber. Sie läutete, und der Pförtner, der auf ſie gewartet, öffnete ſogleich. Als ſie drinnen war, ſpürte ſie eine entſetzliche Übelkeit. In ihrem Hirn war etwas wie zerriſſen. Auf der Treppe ſtockte ſie; ihr war, als müſſe ſie umkehren und den furchtbaren Mann noch einmal anreden. Als Caſpar am nächſten Nachmittag zu Imhoffs kam, wurde ihm mitgeteilt, daß Frau von Kannawurf ſchon abgereiſt ſei. Er bat Frau von Imhoff, ſie möchte ihm Claras Bild zeigen, das er ſeit dem erſten Geſellſchaftſabend, dem er im Schloſſe beigewohnt, nicht mehr geſehen. Die Baronin führte ihn in ein Erkergemach, wo das Porträt zwiſchen zwei Ahnenbildniſſen an der Wand hing. Er ſetzte ſich davor und betrachtete es lange mit ſtummer Aufmerkſamkeit. Als er ging, verſprach Frau von Imhoff, ihm eine Zeichnung von dem Bild anfertigen zu laſſen. Er war ſo zerſtreut, daß er nicht einmal dankte. 26. Quandt unternimmt den letzten Sturm auf das Geheimnis Obwohl eine Zeitlang von einer Strafverſetzung Hickels die Rede war, verlautete darüber nichts Näheres, und die Sache ſchien allmählich in Vergeſſenheit zu geraten. Ohne Zweifel waren da allerlei verborgene Einflüſſe im Spiel, die den Polizeileutnant ſicherſtellten. „Dem Mann iſt nicht beizukommen,“ ſagten die Eingeweihten; „er iſt zu gefährlich und weiß zuviel.“ Freilich war Hickel brauchbar im Dienſt und von ſeinen Untergebenen äußerſt gefürchtet. Dabei wurde ſein Lebenswandel immer undurchdringlicher; außer im Kaſino und im Amt ſprach er mit keinem Menſchen. Auf der Polizeiwache ſaß er halbe Nächte, aber nur deswegen, um ſeine Leute zu drangſalieren. Sogar Quandt hatte ihn fürchten gelernt. Eines Nachmittags im Oktober, der Lehrer ſaß mit ſeiner Frau und Caſpar beim Kaffee, trat plötzlich ſäbelraſſelnd Hickel ins Zimmer, ſchritt ohne Gruß auf Caſpar zu und fragte herriſch: „Sagen Sie mal, Hauſer, wiſſen Sie vielleicht etwas über den Verbleib des Soldaten Schildknecht?“ Caſpar wurde aſchfahl. Der Polizeileutnant fixierte ihn mit glitzernden Augen und donnerte, ungeduldig über das lange Schweigen: „Wiſſen Sie etwas oder wiſſen Sie nichts? Reden Sie, Menſch, oder, ſo wahr mir Gott helfe, ich laſſe Sie auf der Stelle ins Gefängnis bringen!“ Caſpar erhob ſich. Ein Knopf ſeiner Joppe verwickelte ſich in die Franſen des Tiſchtuchs, und während er zurückwich, fiel die Kaffeekanne um und das ſchwarze Gebräu ergoß ſich über das Linnen. Die Lehrerin tat einen Schrei; Quandt aber machte ein ärgerliches Geſicht, denn das großſpurige Auftreten des Polizeileutnants verdroß ihn, auch war es ihm um ſo verwunderlicher, als Hickel gerade Caſpar gegenüber ſich ſeit Monaten einer ſteifen und finſteren Zurückhaltung befliſſen hatte. „Was ſoll er denn mit dem Deſerteur zu ſchaffen haben?“ ſagte er unwillig. „Das laſſen Sie nur meine Sorge ſein!“ brauſte Hickel auf. „Oho, Herr Polizeileutnant, in meinem Hauſe bitte ich mir ein höflicheres Benehmen aus,“ verſetzte Quandt. „Ach was! Sie ſind ein Schwachmatikus, Herr Lehrer. Was nicht auf Ihrem Miſt wächſt, das äſtimieren Sie nicht. Überhaupt, was iſt’s denn? Zwei Jahre ſind’s her, ſeit der Menſch bei Ihnen wohnt, und wir ſind genau ſo klug wie zuvor. Wenn das Ihre ganze Kunſt war, dann laſſen Sie ſich nur heimgeigen.“ Der Hieb ſaß. Quandt verbiß ſeinen Groll und ſchwieg. „Aber es hat ein Ende jetzt,“ fuhr Hickel fort; „ich werde mit dem Hofrat reden, und der Hauſer kommt zu mir in die Pflege.“ „Damit werden Sie mir bloß einen Gefallen erweiſen,“ erwiderte Quandt und verließ hochaufgerichtet das Zimmer. Die Lehrerin blieb mit geſenkten Augen ſitzen. Hickel marſchierte haſtig auf und ab und trocknete mit dem Ärmel ſeine Stirn. „Wie mir nur iſt, wie mir nur iſt,“ murmelte er faſt verſtört. Dann wandte er ſich wieder ſchimpfend an Caſpar. „Unglückſeliger, verdammt Unglückſeliger! Was für ein Teufel hat Sie geritten! Übrigens,“ fügte er leiſe hinzu und ſtellte ſich neben Caſpar, „der Burſche iſt verhaftet und wird ausgeliefert. Kommt auf die Plaſſenburg, der Kerl.“ „Das iſt nicht wahr,“ ſagte Caſpar, ebenfalls leiſe, gedehnt und etwas ſingend. Er lächelte, dann lachte er, ja, er lachte, wobei ſein Geſicht ſtark erbleichte. Hickel wurde ſtutzig. Er kaute an ſeiner Lippe und ſah düſter ins Leere. Plötzlich griff er nach ſeiner Kappe, und mit einem böſen, eiligen Blick auf Caſpar entfernte er ſich. Quandt war nicht geſonnen, den Schimpf, den ihm der Polizeileutnant angetan, auf ſich ſitzen zu laſſen. Er beſchwerte ſich beim Hofrat Hofmann, doch dieſer ſchien nicht ſehr bereit, ſich einzumiſchen. Der Lehrer nahm die Gelegenheit wahr, noch eine andre Sache zum Austrag zu bringen. Seit Feuerbachs Tod hatte der Hofrat die Oberaufſicht über Caſpars Pflege. Auf eine Hilfe wie die vom Grafen Stanhope war nicht mehr zu rechnen, man hatte den Bürgermeiſter Enders und die Gemeinde um Unterſtützung angegangen, aber ein Beſchluß war noch in der Schwebe. Einſtweilen erhielt Caſpar vom Gericht eine kleine Lohnerhöhung für ſeine Schreiberei; das Geld lieferte er pünktlich dem Lehrer ab. Die beſchränkten Verhältniſſe erlaubten ihm nicht die geringſte Freiheit in ſeinen Ausgaben. Anfangs Oktober war er konfirmiert worden, und mit Sehnſucht erwartete er das ſogenannte Taggeld, das ihm von der Stadt dafür ausgeſetzt war. Ungehalten über die Verſchleppung, wandte er ſich an den Pfarrer Fuhrmann; dieſer riet ihm, er ſolle den Lehrer erſuchen, aufs Gemeindeamt zu gehen, um die Auszahlung zu betreiben. „So etwas tu’ ich nicht, Herr Hofrat, ich mache nicht den Bittſteller, mein Stolz erlaubt das nicht,“ ſagte Quandt. Der Hofrat zuckte die Achſeln. „Geben Sie ihm doch die paar Taler einſtweilen aus Ihrer Taſche,“ ſagte er, „man wird’s Ihnen gewiß bald erſetzen.“ „In Hinſicht auf den Hauſer gibt es keine Gewißheiten,“ verſetzte Quandt; „ich habe ohnehin Auslagen genug und weiß nicht, ob ich noch lange ſo zuſehen kann.“ Der Hofrat überlegte. „Er hat doch wohlhabende und reiche Freunde,“ ſagte er dann, „die können doch helfen.“ „Ach du lieber Gott,“ ſeufzte der Lehrer, „denen iſt er viel zu intereſſant, als daß ſie an ſeine kleine Notdurft denken.“ „Ich will einmal morgen zu Ihnen kommen und den Hauſer fragen, wozu er denn eigentlich ſo dringend Geld braucht,“ ſchloß der Hofrat das Geſpräch. Des Abends kam Caſpar noch ſpät in Quandts Zimmer und flehte ihn mit aufgehobenen Händen an, ihn doch nicht aus dem Haus zu geben, er wolle ja alles tun, was man von ihm verlange; „nur nicht zum Polizeileutnant, alles, nur das nicht,“ ſagte er. Der Lehrer beruhigte ihn nach Kräften und ſagte, davon könne vorläufig keine Rede ſein, der Polizeileutnant habe ihn bloß ſchrecken wollen. „Nein,“ antwortete Caſpar, „auch der Offiziant Maier hat heute auf dem Gericht davon geſprochen.“ „Nun, Hauſer, jetzt gebärden Sie ſich aber wie ein kleiner Knabe und ſind doch ſchließlich ein erwachſener Mann,“ ſagte Quandt tadelnd. „Ich kann das nicht ganz ernſt nehmen, Sie lieben es zu übertreiben und ſich kindiſch zu ſtellen. Der Polizeileutnant würde Ihnen auch nicht den Kopf abbeißen, wennſchon ich zugebe, daß er bisweilen etwas derbe Manieren hat. Aber Sie ſind ja jetzt auch ein Chriſt in des Wortes voller Bedeutung, und ohne Zweifel haben Sie den Spruch ſchon gehört: Tue deinen Feinden Gutes, damit du feurige Kohlen auf ihrem Haupt ſammelſt.“ Caſpar nickte. „Es ſteht ein Geſätzlein darüber in Dittmars ‚Weizenkörnern‘,“ erwiderte er. „Ganz recht; wir haben es ja zuſammen durchgenommen,“ fuhr Quandt lebhaft fort. „Wiſſen Sie was! Damit Sie das ſchöne Merkwort genau im Gedächtnis behalten, ſchlage ich Ihnen vor, mir Ihre eignen Gedanken darüber niederzuſchreiben. Ich will es meinetwegen als ein Penſum für ſich betrachten und Sie können den ganzen morgigen Nachmittag dazu verwenden.“ Caſpar ſchien einverſtanden. Der Hofrat kam nicht, wie er verſprochen, am nächſten, ſondern erſt am zweitfolgenden Tag. Als er ins Zimmer trat, redete der Lehrer gerade mit zornigen Gebärden auf Caſpar ein. Auf die Frage des Hofrats, was Caſpar verbrochen habe, ſagte Quandt: „Ich muß mich doch gar zu viel mit ihm herumärgern. Vorgeſtern ſtellte ich ihm ein Thema für den deutſchen Aufſatz, er verſprach mir, es auszuarbeiten, und er hatte den ganzen geſtrigen Nachmittag dazu Zeit. Soeben verlang’ ich nun ſein Heft, und hier, überzeugen Sie ſich ſelbſt, Herr Hofrat, auch nicht eine Zeile hat er geſchrieben. Eine ſolche Trägheit iſt himmelſchreiend.“ Quandt reichte dem Hofrat das aufgeſchlagene Heft: oben auf einer Seite ſtand der Titel des Aufſatzes: Tue deinen Feinden Gutes, damit du feurige Kohlen auf ihrem Haupt ſammelſt; danach kam aber nichts und die Seite war leer. „Warum haben Sie’s denn nicht gemacht?“ fragte der Hofrat kühl. Caſpar antwortete: „Ich kann nicht.“ „Das müſſen Sie können!“ rief Quandt. „Vorgeſtern haben Sie mir ja erzählt, daß der Gegenſtand in Ihrem Leſebuch behandelt iſt, eine Gedankenfolge zu finden, hätte Ihnen alſo nicht ſchwerfallen können, wenn Sie dort angeknüpft hätten.“ „Probieren Sie’s doch einmal, Hauſer,“ fiel der Hofrat beſänftigend ein. „Schreiben Sie meinetwegen nur ein paar Sätze nieder. Ich werde mich mit dem Herrn Lehrer ins Nebenzimmer begeben, und wenn wir zurückkommen, ſollen Sie uns irgend etwas vorzeigen und den Beweis liefern, daß Sie wenigſtens den guten Willen haben.“ Quandt nickte und ging mit dem Hofrat hinaus. Als ſie im Wohnzimmer waren, übergab der Hofrat dem Lehrer zwei Golddukaten und ſagte, die ſeien von Frau von Imhoff, der er Caſpars Verlegenheit geſchildert habe; die gütige Dame habe ſich noch hoch entſchuldigt, daß es nur ſo wenig ſei, aber ſie habe über das Geld keine freie Verfügung. „Übrigens war der Hauſer geſtern bei mir,“ fuhr der Hofrat fort, „und zwar kam er, um mich zu bitten, ich möchte es doch verhindern, daß er dem Polizeileutnant in Pflege gegeben werde.“ „Es iſt doch des Teufels; er beläſtigt alle Leute mit ſeinen kindiſchen Miſeren,“ klagte Quandt, „auch mich hat er ſchon darum angegangen.“ „Vor dem Hickel ſcheint er ja eine Heidenangſt zu haben.“ „Ja, der Polizeileutnant iſt eben ſehr ſtreng mit ihm.“ „Ich ſagte ihm, daß von meiner Seite eine ſolche Abſicht nicht vorliege, und er möge nur ſeine Pflicht tun, dann werde ihm niemand zu nahe treten.“ „Sehr wahr.“ „Wir redeten noch über ſeine Geldkalamität, und da wollte er nicht mit der Farbe heraus. Ich verſprach, ihm zu ſeinem Geburtstag fünf Taler zu ſchenken, und fragte ihn, wann er Geburtstag habe. Darauf antwortete er traurig, das wiſſe er nicht, und ich muß geſtehen, es war da etwas in ſeinem Weſen, was mich rührte. Aber ſonſt ſchien er mir doch gar zu ſchmeichleriſch, und ſein freundlich Geblinzel und Getue mißfiel mir.“ „Leider, leider, ſchmeichleriſch iſt er, da haben Sie recht, Herr Hofrat; beſonders wo er ſeine Pläne durchſetzen will.“ Nach dieſem Meinungsauſtauſch kehrten ſie wieder zu Caſpar zurück. Er ſaß am Tiſch, den Kopf in die Hand geſtützt. „Na, was haben Sie fertiggebracht?“ rief der Hofrat jovial. Er nahm das Heft, ſtutzte, da er nur einen einzigen Satz geſchrieben fand, und las vor: „Wenn ſie dir Übles an deinem Körper zugefügt haben, tue ihnen Gutes dafür.“ — „Das iſt alles, Hauſer?“ „Sonderbar,“ murmelte Quandt. Der Hofrat ſtellte ſich vor Caſpar hin, drehte den Kopf gegen die Schulter und begann unvermittelt: „Sagen Sie mal, Hauſer, wen haben Sie denn eigentlich von allen Menſchen, die Sie bisher kennen gelernt haben, am meiſten liebgewonnen?“ Sein Geſicht ſah pfiffig aus; er hatte von ſeinem Amt als Gerichtsfunktionär die Manier behalten, auch das Harmloſe mit einem Ausdruck von ſäuerlichem Spott zu äußern. „Stehen Sie doch auf, wenn der Herr Hofrat mit Ihnen ſpricht,“ flüſterte der Lehrer Caſpar zu. Caſpar ſtand auf. Er blickte ratlos vor ſich hin. Er witterte eine Falle hinter der Frage. Er dachte plötzlich: Wahrſcheinlich iſt der Lehrer darum ſo böſe, daß ich den Aufſatz nicht gemacht habe, weil er glaubt, ich halte ihn für meinen Feind. Er ſchaute zu Quandt hinüber und ſagte verſonnen: „Den Herrn Lehrer hab’ ich am liebſten.“ Der Hofrat wechſelte mit Quandt einen Blick des Einverſtändniſſes und räuſperte ſich bedeutſam. Aha, ein Beſtechungsverſuch, dachte Quandt und war ſtolz darauf, nicht im mindeſten von der Antwort erbaut zu ſein. Caſpars Leben wurde nun immer einförmiger und zurückgezogener. Er hatte niemand, mit dem er eine vertrauliche Unterhaltung führen konnte. Frau von Kannawurf ließ auch nichts von ſich hören, und das wurmte ihn denn doch, trotzdem er behauptet hatte, an Briefen ſei ihm nichts gelegen. Wo war ſie überhaupt? Lebte ſie noch? Er mochte oft nicht ausgehen, alle Wege waren ihm verhaßt, jede Verrichtung fand ihn lau. Zudem war das Wetter immer ſchlecht, der November brachte gewaltige Stürme, und ſo ſaß er in der freien Zeit auf ſeinem Zimmer, glitt mit den Blicken über die Hügelränder oder ſtreifte bang den Himmel und ſinnierte unabläſſig. Er wartete, wartete. Einmal ging er insgeheim in die Kaſerne und erkundigte ſich vorſichtig, ob man dort etwas über Schildknecht wiſſe. Man konnte ihm keine Auskunft geben. Das nährte die verflackernde Hoffnungsflamme, aber in den darauffolgenden Tagen fühlte er ſich krank und wollte ſich des Morgens kaum zum Verlaſſen des Bettes entſchließen. Es kamen noch manchmal Fremde zu Beſuch; er verhielt ſich ſtörriſch und einſilbig. Wenn er aufgefordert wurde, in Geſellſchaft zu gehen, ſagte er bitter: „Was ſoll mir das Schwätzen?“ Als er eines Abends über den Schloßplatz ging und an der mächtigen Faſſade mit den hohen, immer geſchloſſenen Fenſtern emporſah, glaubte er in den leergedachten Sälen übergroße Geſtalten wahrzunehmen, die ihn feindſelig beobachteten. Sie ſchienen alle in Purpur gekleidet, mit goldenen Ketten um den Hals. Ein grenzenlos ermattender Schmerz drückte ihn nieder, und er war nahe daran, ſich auf das Pflaſter zu werfen und zu heulen gleich einem Hund. Er fühlte ſich ſo kalt, ſo trüb. In einer Nacht träumte er, er ſähe auf einem grünen Steinblock eine goldene Schale und darauf lagen fünf ſeltſam qualmende Herzen, doch nicht in natürlicher Form, ſondern ſo wie Lebküchner die Herzen backen; er ſtand davor und ſagte laut: „Das iſt meines Vaters Herz, das iſt meiner Mutter Herz, das iſt meines Bruders Herz, das iſt meiner Schweſter Herz, das iſt mein eignes Herz.“ Sein eignes lag oben und hatte zwei lebendige, traurige Augen. Nicht ſelten hatte er das beſtimmte Gefühl von der fernen Wirkung einer überaus teuern Perſon. Die Perſon handelte, ſprach und litt für ihn, aber eine Welt lag dazwiſchen, und was auch immer ſie unternahm, konnte die Weite zwiſchen ihm und ihr nicht verringern. Er ſpürte unheimliche Vorgänge ſo deutlich, daß er oft daſtand und lauſchte wie auf ein Geſpräch hinter einer dünnen Wand. Und er faltete die Hände unterm Kinn und lächelte ängſtlich. Blind hätte der Lehrer ſein müſſen, wenn er von alledem nichts bemerkt hätte. Seine Beobachtungen ſammelte er ſozuſagen unter einem Titel, und dieſer Titel lautete: Der Kampf mit dem ſchlechten Gewiſſen. „Ich habe kein Wohlwollen mehr für den Menſchen,“ erklärte Quandt, „ich habe kein Wohlwollen mehr für ihn, ſeit ich geſehen habe, wie gleichgültig ihn die Kataſtrophe mit dem Lord gelaſſen hat. War mir ſelbſt doch zumut, als hätte ich einen Bruder verloren, und er wollte ſich nicht einmal zu einer den Schein wahrenden Trauer verſtellen. Er hat ein Herz von Stein und eine ganz pöbelhafte Undankbarkeit.“ Wir ſehen den Lehrer gleichſam hinter einer Hecke, wir ſehen ihn lauern, wir ſehen, wie er mannigfaltige Nachrichten über Caſpar aus früheren Jahren zuſammenträgt, Fakten und Umſtände, die er mit dem Spürſinn eines Unterſuchungsrichters aufſtöbert, deutet, beleuchtet und ſtill zum Zweck bereithält. Wir ſehen ihn in Haß entbrennen gegen den ewig Verſtockten, immer Verſchloſſenen, und wir können nicht umhin, ihn einem Menſchen ähnlich zu finden, den ein Irrlicht ſo lange geneckt und gelockt hat, bis er endlich in eine Art von raſender Trunkenheit gerät. Zu Anfang Dezember, es war an einem Donnerstag, abends nach Tiſch, fragte Quandt Caſpar, ob er ſeine Überſetzung für morgen ſchon fertig habe. Caſpar erwiderte in ernſter Stimmung, doch mit unaufrichtiger Freundlichkeit, wie es Quandt vorkam, ja, er ſei damit fertig. Quandt nahm das Buch, zeigte ihm, wie groß die Aufgabe ſei, und fragte noch einmal, ob er denn wirklich ſo weit überſetzt habe. Caſpar bejahte. „Ich bin ſogar noch um einen Abſatz weitergekommen,“ ſagte er. Quandt glaubte es nicht; es war ihm unwahrſcheinlich; die Aufgabe enthielt ein paar Fälle, mit denen Caſpar nicht allein hätte fertig werden können und bei denen er ſeine Hilfe unbedingt hätte in Anſpruch nehmen müſſen. Indes fand er es für gut, im Beiſein ſeiner Frau nichts weiter zu bemerken, ſondern ihn ungeſtört auf ſein Zimmer gehen zu laſſen. Ungefähr fünf Minuten ſpäter ergriff Quandt das lateiniſche Elementarbuch und folgte Caſpar. Caſpar hatte die Tür ſchon zugeriegelt, und bevor er öffnete, fragte er, ob der Lehrer noch etwas wünſche. „Machen Sie auf!“ befahl Quandt kurz. Als er drinnen war, las er ihm einige willkürlich herausgeriſſene Sätze vor und erſuchte ihn zu ſagen, wie er es überſetzt habe. Caſpar ſchwieg eine Weile, dann entgegnete er, er habe bloß präpariert, er wolle erſt jetzt überſetzen. Quandt blickte ihn ruhig an, ſagte ausdrucksvoll: „So,“ wünſchte gute Nacht und entfernte ſich. Drunten erzählte er den Sachverhalt ſeiner Frau, und ſie kamen überein, daß dahinter ein bübiſcher Trotz ſtecke, weiter nichts. Am andern Morgen berichtete er auch dem Hofrat darüber, dieſer ſchrieb ein kurzes Briefchen an Caſpar und gab es dem Lehrer mit. Caſpar las das Schreiben in Quandts Gegenwart, und als er zu Ende war, reichte er es dem Lehrer, ſichtlich verſtimmt. In dem Brief warnte ihn der Hofrat ſchonend vor Eigenſchaften, denen nur gemeine Naturen ſich überließen, die jedoch, ſo war der Wortlaut, „unſerm Hauſer leider nicht fremd zu ſein ſcheinen“. Am ſelben Abend, wiederum nach dem Nachtmahl, brachte Quandt eines der Übungshefte Caſpars zum Vorſchein und ſagte: „Aus dieſem Heft iſt ein Blatt herausgeſchnitten, Hauſer. Sie wiſſen doch, daß ich Ihnen das ſchon zahlloſe Male verboten habe.“ „Ich hatte in das Blatt einen Flecken gemacht, und den wollte ich nicht in der Schrift haben,“ verſetzte Caſpar. Statt aller Antwort forderte Quandt den Jüngling auf, mit ihm in ſein Studierzimmer zu kommen. Seiner Frau ſagte er, ſie möge die Kerze anzünden, ergriff die Lampe und ſchritt voran. Im andern Zimmer angelangt, ſchloß er ſorgfältig beide Türen, hieß Caſpar Platz nehmen und begann: „Sie werden mir doch wohl nicht zumuten, daß ich Ihre Ausrede für bare Münze nehme?“ „Was für eine Ausrede?“ fragte Caſpar matt. „Nun, das mit dem Flecken. Ich glaube nicht an dieſen Flecken.“ „Warum wollen Sie es denn nicht glauben?“ „Sie kennen doch das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit ſpricht. Sie, lieber Freund, lügen öfter als einmal.“ „Ich lüge nicht,“ erwiderte Caſpar ebenſo matt und tonlos. „Das getrauen Sie ſich mir ins Geſicht zu behaupten?“ „Ich weiß nicht, daß ich lüge.“ „O, ſchelmiſcher Rabuliſt!“ rief Quandt bitter. „Wenn ich Ihre häufigen Unwahrheiten nicht jedesmal berede, ſo beſtimmt mich dazu die nach und nach gewonnene Einſicht, daß ich Sie von dem Übel doch nicht heilen kann. Wozu alſo ſoll ich mich vergeblich grämen? Sie ſind gewohnt, ſo lange nein zu ſagen, bis man Sie dermaßen überführt hat, daß Sie nicht mehr nein ſagen können, und dann ſprechen Sie dennoch kein Ja.“ „Soll ich ja ſagen, wenn nein iſt? Beweiſen Sie mir, daß ich gelogen habe.“ Caſpar ſah den Lehrer mit einem jener Blicke an, die dieſer als tückiſch zu bezeichnen pflegte. „Ach, Hauſer, wie ſchmerzt es mich, Sie mir gegenüber ſo zu ſehen,“ verſetzte Quandt. „Ich bin um Beweiſe nicht verlegen und habe ſo viele, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen ſoll. Erinnern Sie ſich nicht an die Geſchichte mit dem Leuchter? Sie behaupteten, die Handhabe ſei abgebrochen, und es iſt doch unwiderleglich nachgewieſen, daß ſie abgeſchmolzen war?“ „Es war ſo, wie ich geſagt habe.“ „Damit laſſe ich mich nicht abſpeiſen. Sie können übrigens verſichert ſein, daß ich mir den Vorfall mit allem Fleiß notiert habe, nämlich ſchriftlich, um nötigenfalls vollſtändige Rechenſchaft über Sie geben zu können.“ Caſpar machte ein ſehr betroffenes Geſicht; er ſchwieg. „Und weiter, betrachten wir einen Fall jüngſten Datums,“ fuhr Quandt fort; „es war doch einerlei, ob Sie vorgeſtern mit der Überſetzung fertig waren oder ob Sie ſie erſt im Zimmer machen wollten. Da Sie tagsüber beſchäftigt waren, ſo konnten und durften Sie die Arbeit abends machen. Warum ſagten Sie, Sie ſeien fertig, während Sie nicht das geringſte daran getan hatten?“ „Ich habe gemeint, Sie fragen, ob ich präpariert hätte.“ „Lächerlich. Sie hatten neulich ſchon die Frechheit, meine Worte einfach zu verdrehen. Ich habe deutlich gefragt: Haben Sie Ihre Überſetzung gemacht? Meine Frau war zugegen und iſt Zeuge.“ „Wenn Sie es geſagt haben, habe ich’s eben anders verſtanden.“ „Die gewohnten Ausflüchte. Sie hatten ja nicht einmal präpariert. Das können Sie jemand aufbinden, der Sie nicht ſo genau kennt wie ich. Ich wünſchte, ich hätte Sie nie kennen gelernt; am Ende kommt man durch Sie noch um den Ruf eines redlichen Mannes. Aber Sie werden durchſchaut, nicht nur von mir, ſondern auch von andern. Es gibt nur noch wenig Familien, bei denen Sie für liebenswürdig und aufrichtig gelten; die meiſten ſehen ein, daß Sie eine alltägliche Einbildung und einen niedrigen Hochmut beſitzen, daß Sie gleichgültig und anmaßend gegen weniger Vornehme ſind, ſobald Sie bei Vornehmeren Zutritt finden. Und was Ihre Verlogenheit betrifft, ſo bin ich erbötig, Ihnen in jedem einzelnen Fall auf den Kopf zuzuſagen, ob Sie bei der Wahrheit geblieben ſind, was in und außer Ihrem Horizont liegt, was Ihre Aufmerkſamkeit feſſeln kann und was nicht. Ich gebe Ihnen ein artiges Exempelchen aus der letzten Zeit. Es war beim Mittagstiſch die Rede vom Regierungsrat Fließen. Meine Frau meinte, es ſei dem guten alten Mann unangenehm, daß er nicht bei den Seinen in Worms ſein könne. Ich bemerkte hierauf, daß der Regierungsrat eine große Verwandtſchaft im Rheinkreis und ſo und ſo viele Enkel habe. Darauf ſagten Sie: Elf Enkel hat er, es wurde beim Generalkommiſſär davon geſprochen. Ich antwortete, daß ich von neunzehn Enkeln gehört, Sie verſicherten aber, es ſeien elf. Ich wußte dem nun allerdings nichts entgegenzuſetzen, aber das wußte ich beſtimmt, daß Sie die Zahl nur in der Geſchwindigkeit aufgegriffen hatten, um uns zu imponieren, um den Namen des Generalkommiſſärs in den Mund nehmen zu können und uns zu zeigen, daß Sie mit den Verhältniſſen der Perſonen vertraut ſeien, die jenes Haus beſuchten. Hand aufs Herz: iſt’s nicht ſo?“ „Jemand hat an der Tafel von elf Enkeln geſprochen. Ganz gewiß.“ „Das glaube ich nicht.“ „Doch.“ „Pfui, ſchämen Sie ſich, Hauſer, in einem ſo ernſten Augenblick auf der Lüge zu beharren. Dazu gehört ein hoher Grad von Erbärmlichkeit, um nicht zu ſagen Nichtswürdigkeit. An der Sache ſelbſt iſt ja wenig gelegen, aber Ihre fortgeſetzte dreiſte Behauptung läßt tief blicken. Sie zeigt, daß Sie nie einen Fehler auf eigne Rechnung nehmen, daß Sie nie eine Schwäche zugeſtehen wollen und es dabei aufs Äußerſte ankommen laſſen. In der erſten freien Stunde werde ich den Regierungsrat ſelbſt fragen, wie viele Enkel er hat. Sind es wirklich elf, ſo werde ich Ihnen gehörige Genugtuung geben, im andern Fall will ich Sie in einer Weiſe beſchämen, daß Sie an mich denken ſollen.“ Caſpar ſenkte ergeben den Kopf. „Aber das Eigentliche, was ich Ihnen vorzuhalten habe, kommt noch, lieber Freund,“ begann Quandt nach einer Pauſe, während welcher man den Sturmwind gegen die Fenſter donnern und im Kamin wimmern hörte. „Es iſt jetzt endlich an der Zeit, daß Sie einem Mann wie mir, der an Ihrem Schickſal ungeheuchelten Anteil nimmt, reinen Wein einſchenken. Sie ſcheinen immer noch der Meinung, die ganze Welt ſtehe Ihrem Märchen von der geheimnisvollen Einkerkerung oder gar von der hohen Abkunft gläubig gegenüber. Sie befinden ſich in einem ſchmählichen Irrtum, lieber Hauſer. Anfangs, ich gebe es zu, hat man ſich damit als einem rätſelhaften Vorgang beſchäftigt, aber nach und nach ſind doch alle vernünftigen Menſchen zu der Einſicht gelangt, daß ſie das Opfer — laſſen Sie mich die Eigenſchaft nicht nennen, deren Opfer ſie geworden waren. Ich kann mir wohl denken, Hauſer, daß Sie den Anſchlag urſprünglich nicht ſo weit treiben wollten. Im vorigen Winter, als die Schrift des Präſidenten erſchienen war, da zeigten Sie ſich ſelbſt erſchrocken von den Folgen Ihrer Tat, und Sie erinnerten mich an ein Kind, das ein bißchen mit dem Feuer geſpielt hat und unverſehens das ganze Haus in Flammen ſieht. Sie fürchteten, den Futterplatz zu verlieren, den Sie ſich durch Ihre Pfiffigkeit verſchafft hatten, Sie mußten gerade da eine Entdeckung und die wohlverdiente Strafe fürchten, wo Ihre verblendeten Freunde das Glück für Sie ſahen. Prüfen Sie ſich doch in Ihrem Innern, ob ich nicht recht habe.“ Caſpar ſah dem Lehrer mit einem lebloſen Blick ins Auge. „Schön; ich will Sie nicht zur Antwort zwingen,“ fuhr Quandt mit düſterer Befriedigung fort. „Es iſt nun wieder ſtill um Sie geworden, Hauſer. Eigentümlich ſtill iſt es geworden. Man will ſich nicht mehr recht um Sie kümmern. So ſtill war es auch damals um Sie geworden, bevor der angebliche Mordanfall im Hauſe des Profeſſors Daumer ſich ereignet hat. Kein Menſch unter all den vielen Tauſenden, welche die Stadt Nürnberg bewohnen, hat zur kritiſchen Zeit oder ſpäter eine Perſon beobachtet, die auch nur im entfernteſten im Zuſammenhang mit einer ſolchen Greueltat gedacht werden konnte. Ihre Freunde glaubten trotzdem an den vermummten Unhold, ſo wie ſie an den phantaſtiſchen Kerkermeiſter glaubten, der Sie das Leſen und Schreiben gelehrt haben ſoll. Nichtsdeſtoweniger hat Sie der Profeſſor Daumer alsbald vor die Tür geſetzt. Er wird wohl gewußt haben, warum. Und heute ſteht Ihre Sache ſo, daß Sie ſich entſchließen müſſen. Ihre mächtigſten Gönner, der Staatsrat, der Lord Stanhope, die Frau Behold, haben das Zeitliche verlaſſen. Erkennen Sie darin nicht einen Wink des Himmels? Es hat ja nun keinen Zweck mehr für Sie, die Fiktion aufrechtzuerhalten. Sie ſind doch jetzt ein Mann, Sie wollen doch ein nützliches Glied der menſchlichen Geſellſchaft werden. Sprechen Sie zu mir, Hauſer, eröffnen Sie ſich! Sprechen Sie mit Ihrem wahren Mund, aus wahrem Herzen!“ „Ja, was ſoll ich denn ſprechen?“ fragte Caſpar dumpf und langſam, indes ſeine Geſtalt verfiel wie die eines Greiſes und auch in ſeinem Geſicht lauter greiſenhafte Falten entſtanden. Der Lehrer trat zu ihm und ergriff ſeine ſchwere ſteinkalte Hand. „Die Wahrheit ſollen Sie ſprechen!“ rief er beſchwörend. „Ach, Hauſer, es iſt ja ein Jammer, Sie anzuſchauen, wie das ſchlechte Gewiſſen geſpenſterhaft aus jedem Ihrer Blicke lugt. Ihr Gemüt iſt bedrückt. Auf! die gequälte Bruſt, Hauſer! Laſſen Sie endlich einmal die Sonne hineinſcheinen! Mut, Mut, Vertrauen! Die Wahrheit! Die Wahrheit!“ Er packte Caſpar am Kragen des Rocks, als wolle er ihm mit ſeinen Händen das Geheimnis entreißen. Was denn? Was denn? dachte Caſpar, und ſein Blick flatterte wehevoll umher. „Ich will Ihnen entgegenkommen,“ ſagte Quandt. „Knüpfen wir an ein Greifbares an. Als Sie nach Nürnberg kamen, zeigten Sie einen Brief. Sie trugen in den Taſchen Ihres verſchnittenen Fracks mehrere Bücher, es waren alte Mönchsſchriften, darunter eine mit dem Titel: Kunſt, die verlorenen Jahre einzubringen. Wer hat den Brief geſchrieben? Wer hat Ihnen die Bücher gegeben?“ „Wer? Der, bei dem ich geweſen.“ „Das iſt ja klar,“ verſetzte Quandt mit erregtem Lächeln, „aber Sie ſollen mir ſagen, wie der hieß, bei dem Sie geweſen. Sie werden mich doch nicht für ſo närriſch halten, daß ich glaube, Sie wüßten das nicht. Ohne Zweifel war es doch Ihr Vater oder Ihr Oheim oder ein Bruder oder ein Spielgenoſſe, gleichviel. Hauſer! Stellen Sie ſich vor, Sie befänden ſich vor Gottes Angeſicht. Und Gott würde fragen: Woher kommſt du? Wo iſt deine Heimat, der Ort, wo du geboren biſt? Wer hat dir einen falſchen Namen angedichtet und wie heißt du mit dem Namen, den du in der Wiege empfangen haſt? Wer hat dich unterrichtet und angelernt, die Menſchen zu täuſchen? Was würden Sie in Ihrer Seelennot antworten, was antworten, wenn der erhabene Gott Sie zur Rechtfertigung aufforderte, zur Sühnung des verübten Trugs?“ Caſpar ſtarrte den Lehrer atemlos an. Das Blut ſtockte ihm. Die ganze Welt verkehrte ſich ihm. „Was würden Sie antworten?“ wiederholte Quandt mit einem Ton zwiſchen Angſt und Hoffnung; ihm ſchien es, als ſei er nahe daran, die verſchloſſene Pforte zu ſprengen. Caſpar ſtand ſchwerfällig auf und ſagte mit zuckendem Mund: „Ich würde antworten: Du biſt kein Gott, wenn du ſolches von mir verlangſt.“ Quandt prallte zurück und ſchlug die Hände zuſammen. „Läſterer!“ ſchrie er mit durchdringender Stimme. Dann ſtreckte er den rechten Arm aus und rief: „Hebe dich weg, du Unzucht, du verfluchter Lügengeiſt! Hinaus mit dir, Infamer! Beſudle meine Luft nicht länger!“ Caſpar kehrte ſich um, und während er nach der Türklinke taſtete, krächzte hinter ihm die Wanduhr zehn Schläge in das Sturmgebrodel. Seufzend, ſchlaflos wälzte ſich Quandt die ganze Nacht auf den Kiſſen. Seine Heftigkeit mochte ihn gereuen, denn im Lauf des folgenden Tages ſuchte er ſich Caſpar wieder zu nähern. Aber Caſpar blieb kalt und in ſich gekehrt. Abends brachte Quandt das Geſpräch auf den Regierungsrat Fließen; er ſagte, daß er ſich erkundigt habe, und rief Caſpar ſcherzend zu: „Achtzehn Enkel, Hauſer, achtzehn ſind es! Na, ſehen Sie, daß ich recht gehabt habe?“ Caſpar ſchwieg. „Aber Hauſer, Sie eſſen ja gar nichts mehr,“ ſagte die Lehrerin beſorgt. „Ich habe keinen Appetit,“ erwiderte Caſpar; „kaum daß ich angefangen habe zu eſſen, bin ich auch ſchon ſatt.“ Am Mittwoch, dem elften Dezember, kam Quandt verſpätet und ſehr erregt zu Tiſch. Er hatte auf dem Heimweg von der Schule einen heftigen Auftritt mit einem Fuhrknecht gehabt, der in der bergigen Pfarrgaſſe ſein Pferd zuſchanden geſchlagen hatte, weil es den ſchwerbeladenen Wagen nicht zum Hafenmarkt hinaufziehen konnte. Quandt hatte dem rohen Kumpan Vorſtellungen gemacht und einige hinzukommende Bürger zu Zeugen der unmenſchlichen Quälerei angerufen. Dafür war der Fuhrknecht mit erhobenem Peitſchenſtiel auf ihn losgegangen und hatte ihn angebrüllt, er ſolle ſich zum Teufel ſcheren und ſich nicht um Sachen kümmern, die ihn nichts angingen. „Gott ſei Dank iſt mir der Name des Kerls bekannt, und ich werde dem Polizeileutnant darüber Meldung erſtatten,“ ſchloß Quandt. Er wurde nicht müde zu beſchreiben, wie der armſelige Klepper vor dem Gefährt immer wieder vergeblich an den Strängen gezerrt habe und wie das ſchwarze Blut unter ſeinen Rippen hervorgequollen ſei. „Der Spitzbube,“ grollte er, „ich werde es ihm zeigen, ein Tier ſo zu rackern.“ Nachher, als Caſpar weggegangen war, fragte ihn ſeine Frau, ob es ihm denn nicht aufgefallen ſei, daß Caſpar gar kein Wort über die Geſchichte fallen gelaſſen habe. „Ja, er war ganz ſtumm, es iſt mir aufgefallen,“ beſtätigte Quandt. Eine halbe Stunde darauf ging er in Caſpars Zimmer und bat ihn, die ſchriftliche Anzeige gegen den Fuhrknecht, die er verfaßt hatte, in der Wohnung Hickels abzugeben. Um drei Uhr kehrte Caſpar mit der Nachricht zurück, der Polizeileutnant habe einen mehrtägigen Urlaub genommen und ſei verreiſt. 27. [Aenigma sui temporis] Es geſchah am übernächſten Tage, einem Freitag, als Caſpar kurz nach zwölf das Gerichtsgebäude verlaſſen wollte, daß er im Korridor vor der unteren Treppe von einem fremden Herrn angeſprochen wurde, einem anſcheinend ſehr vornehmen Mann, der groß und ſchlank war, einen ſchwarzen Backen- und Kinnbart trug, und der ihn aufforderte, ihm wenige Minuten Gehör zu ſchenken. Caſpar ſtutzte, denn in der Stimme des Mannes war etwas ſehr Dringliches und etwas ſehr Achtungsvolles. Sie gingen ein paar Schritte ſeitwärts von der Treppe, wo niemand vorüberkommen konnte. Der Fremde lächelte ermutigend, als er Caſpars ſcheues Weſen bemerkte, und begann ſogleich in derſelben dringlichen und achtungsvollen Weiſe: „Sie ſind Caſpar Hauſer? Bis heute ſind Sie es geweſen. Morgen werden Sie dieſen Namen abſtreifen. Wie mich ſchon der erſte Blick in Ihr Geſicht belehrt und erſchüttert hat! Prinz, mein Prinz! Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küſſen.“ Er bückte ſich raſch und küßte ehrfurchtsvoll Caſpars Hand. Caſpar hatte keine Worte. Er ſah aus wie einer, dem plötzlich das Herz ſtillſteht. „Ich komme vom Hof, ich komme als Abgeſandter Ihrer Mutter, ich komme, Sie zu holen,“ fuhr der Fremde fort, nicht weniger haſtig, nicht weniger reſpekterfüllt. „Ich vermute, daß Sie ſeit langem darauf vorbereitet ſind. Doch müſſen wir auf der Hut ſein. Wir haben große Hinderniſſe zu ſcheuen. Sie müſſen mit mir entfliehen. Alles iſt bereit. Die Frage iſt nur, ob Sie willens ſind, ſich ohne Rückhalt mir anzuvertrauen, und ob ich auf Ihre unbedingte Verſchwiegenheit rechnen darf?“ Wie ſollte Caſpar imſtande ſein, darauf zu antworten? Er ſchaute in das Geſicht des Mannes, das ihm in jeder Beziehung außergewöhnlich, ja märchenhaft erſchien, und mit ſtupider Aufmerkſamkeit haftete ſein Blick auf den zahlloſen kleinen Blatternarben, die auf der Naſe und den Wangen des Fremden ſichtbar waren. „Ihr Schweigen iſt für mich beredt,“ ſagte der Fremde mit einer ſchnellen Verbeugung. „Der Plan iſt der: Sie finden ſich morgen nachmittag um vier Uhr im Hofgarten ein, und zwar neben der Lindenallee, wenn man vom Freibergſchen Haus kommt. Man wird Sie von dort zu einem bereitſtehenden Wagen führen. Die einbrechende Dunkelheit wird unſre Flucht begünſtigen. Kommen Sie ohne Mantel, ſo wie Sie ſind; Sie werden ſtandesgemäße Kleider finden. Bei der erſten Raſtſtation an der Grenze, die wir in drei Stunden erreichen können, werden Sie ſich umkleiden. Ich bin Ihnen unbekannt. Sie ſollen ſich dem Unbekannten nicht auf Treu und Glauben übergeben. Bevor Sie in den Wagen ſteigen, werde ich Ihnen ein Zeichen behändigen, an dem Sie unzweifelhaft erkennen werden, daß ich zu meinem Auftrag von Ihrer Mutter bevollmächtigt bin.“ Caſpar rührte ſich nicht. Nur ſein ganzer Körper ſchwankte ein wenig, als wäre er erſtarrt und der Wind drohe ihn umzublaſen. „Darf ich dies alles als abgemacht anſehen?“ fragte der Fremde. Er mußte die Frage wiederholen. Da nickte Caſpar — ernſthaft, ſchwer, und auf einmal war ihm die Kehle wie verbrannt. „Werden Sie ſich zur beſtimmten Stunde am beſtimmten Platze einfinden, mein Prinz?“ Mein Prinz! Caſpar wurde leichenblaß. Er ſchaute wieder die Blatternarben mit verzehrender Aufmerkſamkeit an. Dann nickte er abermals, mit einer Bewegung, die den Schein von Kälte oder von Verſchlafenheit hatte. Der Fremde lüpfte mit demutsvoller Höflichkeit den Hut; hierauf ging er und verſchwand in der Richtung gegen die Schwanengaſſe. Während des ganzen Auftrittes, der etwa acht bis zehn Minuten gedauert hatte, war alſo nicht ein einziges Wort aus Caſpars Lippen gekommen. War es Freude, die Caſpar empfand? War Freude ſo beſchaffen, daß einen dabei fror bis ins Mark? Daß beſtändig Schauder über den Rücken liefen wie kaltes Waſſer? Er machte immer nur ein halb Dutzend Schritte und hielt dann inne, weil er glaubte, der Erdboden ſinke unter ſeinen Füßen. Menſchen, geht mir aus dem Weg, dachte er; weh mich nicht an, Schnee; Wind, ſei nicht ſo wild. Er betrachtete ſeine Hand und berührte mit der Spitze ſeines Fingers ſtarr nachdenklich die Stelle, auf die der Fremde ihn geküßt. Warum arbeiten die Schuſtergeſellen noch, es iſt ja Mittagszeit, grübelte er, als er im Vorbeigehen in einen Laden blickte. Unaufhörlich rannen die Schauder über den Nacken herab. Es war ſchön, zu wiſſen, daß mit jedem Schritt, mit jedem Blick, mit jedem Gedanken Zeit verging. Denn darum handelte es ſich jetzt ganz allein: daß die Zeit verging. Als er nach Hauſe kam, ſagte er zur Magd, er wolle nichts eſſen, und ſperrte ſich in ſeinem Zimmer ein. Er ſtellte ſich ans Fenſter, und während ihm die Tränen über die Backen liefen, ſagte er: „Dukatus iſt gekommen.“ Seine Gedanken hatten etwas von einem nächtlichen Flug wilder Vögel. Bis heute war ich Caſpar Hauſer, dachte er, von morgen an bin ich der andre; und was bin ich jetzt? Geſtern war ich noch ein Schreiberlein, und morgen werd’ ich vielleicht einen blauen Mantel tragen, mit goldenen Borten verziert; auch einen Degen ſoll mir Dukatus bringen, lang und ſchmal und aufrecht wie ein Binſenhalm. Aber iſt denn alles wahr, kann es denn ſein? Freilich kann es ſein, weil es doch ſein muß. Erſt als es völlig finſter war, zündete Caſpar das Licht an. Die Lehrerin ſchickte herauf und ließ fragen, ob er nichts zu ſich nehmen wolle. Er bat um ein Stück Brot und ein Glas Milch. Dies wurde gebracht. Sodann fing er an, ſeine Laden auszuräumen; einen ganzen Stoß von Papieren und Briefen warf er ins Feuer, die Schreibhefte und Bücher ordnete er mit peinlicher Sorgfalt. Er öffnete eine Truhe und zog unter mancherlei Kram das Holzpferdchen hervor, das er noch von der Gefangenſchaft auf dem Veſtnerturm her beſaß. Er betrachtete es lange; es war weiß lackiert, mit ſchwarzen Flecken, und hatte einen Schweif, der bis auf das Brettchen fiel. O Rößlein, dachte er, haſt mich manches Jahr begleitet, was wird nun aus dir? Ich will wiederkommen und dich holen, und einen ſilbernen Stall werd’ ich dir bauen. Damit ſtellte er das Spielding behutſam auf ein Ecktiſchchen neben dem Fenſter. Es mag füglich wundernehmen, daß ein Gemüt wie das ſeine, ſo mit Ahnung begabt, ſo mit Erfahrungen vielerlei Art gefüllt, vom erſten Augenblick der vermeintlichen Wandlung ſeines Schickſals in eine dermaßen blinde Gläubigkeit verfiel, daß auch nicht ein Funke des Mißtrauens, der Furcht oder nur des zweifelnden Staunens in ihm erglomm. Ein Vorgang, ſo weit außerhalb des gebundenen Wirklichen, ſo abenteuerlich in ſeiner Plötzlichkeit, ſo zierdelos und ſimpel, daß ein Schüler, ein Kind, ein Verrückter daran Anſtoß genommen hätte, und er, dem ſo viele Menſchengeſichter unvermummt oder durch Schuld entmummt gegenübergetreten waren, er, dem die Welt nichts andres war, als was der Schwalbe, die vom Süden kommt, das durch Bubenhände zerſtörte Neſt, er ergriff mit unerſchütterlicher Zuverſicht die unbekannte Hand, die ſich aus unbekanntem Dunkel ihm entgegenſtreckte, die ſtarre, kalte, ſtumme Hand. Aber bei ihm war keine andre Hoffnung mehr. Oder es war überhaupt von Hoffnung keine Rede. Hier war das ſelbſtverſtändlich Endliche, das jenſeitig Sichere, das Ungefragte, dem kein Wort der menſchlichen Sprache, ja nicht einmal ein Gedanke, eine Vorſtellung, eine Viſion mehr nahekommen konnte und das ſich ſo vorbeſtimmt vollzieht wie der Aufgang der Sonne, wenn es Tag wird. O ihr müdgetriebenen Glieder, ihr Ketten an den Gliedern, ihr trägen Minuten, ihr ſchweigenden Stunden! Noch praſſelt der Kalk in der Mauer, noch bellt von fern ein Hund, noch bläſt der Sturm den Schnee ans Fenſter, noch kniſtert das Licht auf der Kerze, und alles dies iſt voll Bosheit, weil es ſo beſtändig ſcheint, ſo langſam vergeht. Um neun Uhr begab er ſich zur Ruhe. Er ſchlief feſt, ſpäter in der Nacht hörte er alle Viertelſtundenſchläge von den Kirchen. Bisweilen richtete er ſich auf und ſchaute beklommen in die Finſternis. Dann kam ein Traum, in dem Schlaf und Wachen unmerklich ineinander floſſen. Ihm träumte nämlich, er ſtehe vor dem Spiegel, und er dachte: Wie ſonderbar, ich habe ein ſo beſtimmtes Gefühl von der Glätte des Spiegelglaſes, und doch träume ich nur. Er erwachte oder glaubte zu erwachen, verließ das Bett oder glaubte es zu tun, machte ſich im Zimmer zu ſchaffen, legte ſich wieder hin, ſchlief ein, erwachte abermals und grübelte: Sollte ich das mit dem Spiegel nur geträumt haben? Jetzt trat er vor den Spiegel hin, gewahrte ſein umſchattetes Bild, fand etwas Fremdes daran, wovor ihm graute, und bedeckte den Spiegel mit einem Tuch, das blau war und goldene Borten hatte. Als er ſich nun hingelegt hatte und nach einer Weile wirklich erwachte, da erkannte er, daß alles nur ein Traum geweſen war, denn der Spiegel war keineswegs verhängt. Es war eine lange Nacht. Des Morgens ging er wie gewöhnlich aufs Gericht. Er verrichtete ſeine Schreibarbeit wie mit verſchleierten Augen. Um elf Uhr klappte er das Tintenfaß zu, räumte auch hier alles ſäuberlich zuſammen und entfernte ſich ſtill. Quandt war wegen einer Lehrerkonferenz über Mittag vom Hauſe fort. Caſpar ſaß mit der Frau allein bei Tiſch. Sie ſprach beſtändig vom Wetter. „Der Sturm hat den Schlot auf unſerm Dach umgeriſſen,“ erzählte ſie, „und der Schneider Wüſt von nebenan iſt durch die herunterfallenden Ziegel beinahe erſchlagen worden.“ Caſpar blickte ſchweigend hinaus: er konnte kaum das gegenüberliegende Gebäude ſehen; Regen und Schnee untermiſcht wirbelten durch die verdunkelte Gaſſe. Caſpar aß nur die Suppe; als das Fleiſch kam, ſtand er auf und ging in ſein Zimmer. Punkt drei Uhr kam er wieder herunter, nur mit ſeinem alten braunen Rock bekleidet und ohne Mantel. „Wo wollen Sie denn hin, Hauſer?“ rief ihn die Lehrerin von der Küche aus an. „Ich muß beim Generalkommiſſär etwas holen,“ entgegnete er ruhig. „Ohne Mantel? Bei der Kälte?“ fragte die Frau erſtaunt und trat auf die Schwelle. Er ſah zerſtreut an ſich herab, dann ſagte er: „Adieu, Frau Lehrerin,“ und ging. Bevor er die Haustür ſchloß, warf er noch einen Abſchiedsblick in den Flur, auf das geſchweifte Geländer der Treppe, auf den alten braunen Schrank mit den Meſſingſchnallen, der zwiſchen Küchen- und Wohnzimmertür ſtand, auf das Kehrichtfaß in der Ecke, das mit Kartoffelſchalen, Käſerinden, Knochen, Holzſpänen und Glasſplittern angefüllt war, und auf die Katze, die ſtets heimlich und genäſchig hier herumſchlich. Trotz des blitzhaft ſchnellen Anſchauens dieſer Dinge ſchien es Caſpar, als ob er ſie nie deutlicher und nie ſo abſonderlich geſehen hätte. Als die Klinke eingeſchnappt war, ließ der ſchier unerträgliche Druck, der ſeine Bruſt verſchnürte, ein wenig nach, und ſeine Lippen verzogen ſich zu einem ſchalen Lächeln. Dem Lehrer werd’ ich ſchreiben, dachte er; oder nein, beſſer iſt es, ſelber zu kommen; wenn der Winter vorbei iſt, werd’ ich kommen und mit dem Wagen vors Haus fahren; ich werd’ es einrichten, daß es Nachmittag ſein wird, da iſt er daheim. Wenn er vors Tor tritt, werd’ ich ihm nicht die Hand reichen, ich will mich ſtellen, als ob ich ein andrer wäre, in meinen ſchönen Kleidern wird er mich ja nicht erkennen. Er wird einen tiefen Bückling machen: „Wollen Euer Gnaden gnädigſt eintreten?“ wird er ſprechen. Wenn wir im Zimmer ſind, ſtell’ ich mich vor ihn hin und frage: „Erkennen Sie mich nun?“ Er wird auf die Knie fallen, aber ich reiche ihm die Hand und ſage: „Sehen Sie jetzt ein, daß Sie mir unrecht getan haben?“ Er wird es einſehen. „Ei,“ ſag’ ich, „zeigen Sie mir doch mal Ihre Kinder und ſchicken Sie nach dem Polizeileutnant.“ Den Kindern werd’ ich Geſchenke bringen, und wenn dann der Polizeileutnant kommt, zu dem werd’ ich nicht reden, den werd’ ich nur anſchauen, nur anſchauen_... Von der Gumbertuskirche ſchlug es halb vier. Es war noch viel zu früh. Auf dem unteren Markt ging Caſpar rings an den Häuſern herum. Vor dem Pfarrhaus blieb er eine Weile ſinnend ſtehen. Infolge ſeiner inneren Hitze ſpürte er die Kälte kaum. Er ſah nur wenige Leute, die, wie vom Wind gepeitſcht, ſchnell vorüberhuſchten. Als er ſich von der Hofapotheke rechts gegen den Schloßdurchlaß wandte, ſchlug es dreiviertel. Da rief jemand; er blickte empor, der Fremde von geſtern ſtand neben ihm. Er trug einen Mantel mit mehreren Kragen und darüber noch einen Pelzkragen. Er verbeugte ſich und ſagte ein paar höfliche Worte. Caſpar verſtand ihn nicht, denn der Wind war gerade ſo heftig, daß man hätte ſchreien müſſen, um einander zu hören. Daher machte der Fremde bloß eine Gebärde, durch die er Caſpar bat, mit ihm gehen zu dürfen. Offenbar war er ſelbſt eben im Begriff geweſen, den Ort des Stelldicheins aufzuſuchen. Bis zum Hofgarten waren es nur noch wenige Schritte. Der Fremde öffnete das Türchen und ließ Caſpar den Vortritt. Caſpar ging voran, als ob es ſo ſein müſſe. Eine Miſchung von einfältiger Ergebenheit und ruhigem Stolz zeigte ſich in ſeinem Geſicht, um mit ſonderbarer Raſchheit einem Ausdruck des Grauens Platz zu machen, denn der Augenblick war zu ſtark, er konnte ſeine Wucht nicht ertragen. In dem Zeitraum, den er brauchte, um von dem Pförtchen über den dichtbeſchneiten Orangerieplatz zu den Bäumen der erſten Allee zu gehen, durchlebte er in ſeinem Innern eine Reihe gänzlich unzuſammenhängender Szenen aus ferner Vergangenheit, eine Erſcheinung, die von Seelenforſchern auf dieſelbe Wurzel zurückgeführt werden kann wie etwa die, daß ein von einem Turm Fallender während der Zeit des Sturzes ſein ganzes Daſein an ſich vorübergleiten ſieht. Er erblickte zum Beiſpiel die Amſel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Tiſch lag; dann ſah er mit ungemeiner Deutlichkeit den Waſſerkrug, aus dem er in ſeinem Kerker getrunken; dann ſah er eine ſchöne goldene Kette, die ihm der Lord aus ſeinen Schätzen gezeigt, womit die angenehme Empfindung verbunden war, die ihm Stanhopes weiße, feine Hand erregte; ferner ſah er ſich im Saal der Nürnberger Burg, wohin Daumer ihn geführt, und ſein Auge weilte auf der ſanften Linie einer gotiſchen Fenſterwölbung mit einem Entzücken, das er damals ſicherlich nicht verſpürt hatte. Sie kamen zum Kreuzweg, da eilte der Fremde voraus und gab mit erhobenem Arm irgendein Zeichen. Caſpar gewahrte hinter dem Gebüſch noch zwei andre Perſonen, deren Geſichter durch die aufgeſtellten Mantelkragen völlig verhüllt waren. „Wer ſind dieſe?“ fragte er und zauderte, weil er annahm, hier ſei der verabredete Platz. Mit den Blicken ſuchte er den Wagen. Das Schneegeſtöber erlaubte jedoch nicht weiter als zehn Ellen zu ſehen. „Wo iſt der Wagen?“ fragte er. Da der Fremde auf beide Fragen nicht antwortete, ſchaute er ratlos gegen die zwei hinter dem Gebüſch. Dieſe näherten ſich oder es ſchien wenigſtens ſo. Sie riefen dem Blatternarbigen etwas zu, erſt der eine, dann der andre. Darauf entfernten ſie ſich wieder und ſtanden dann auf der andern Seite des Wegs. Der Fremde drehte ſich um, griff in die Taſche ſeines Mantels, brachte ein lilafarbenes Beutelchen zum Vorſchein und ſagte mit heiſerer Stimme: „Öffnen Sie es; Sie werden darin das Zeichen finden, das uns Ihre Mutter übergab.“ Caſpar nahm das Beutelchen entgegen. Während er ſich bemühte, die Schnur zu entknüpfen, durch die es zugebunden war, hob der Fremde einen langen, blitzenden Gegenſtand in der Fauſt und ſchnellte mit dem Arm gegen Caſpars Bruſt. Was iſt das? dachte Caſpar beſtürzt. Er fühlte etwas Eiskaltes tief in ſein Fleiſch glitſchen. Ach Gott, das ſticht ja, dachte er und wankte dabei. Den Beutel ließ er fallen. O ungeheurer, ungeheurer Schrecken! Er griff nach einem der Baumſtämmchen und verſuchte zu ſchreien, aber es ging nicht. Auf einmal brach er in die Knie. Vor ſeinen Augen wurde es ſchwarz. Er wollte den Fremden bitten, daß er ihm helfe, doch die Füße des Mannes, die er noch eine Sekunde zuvor geſehen, waren verſchwunden. Die Schwärze vor den Augen wich wieder; er ſah ſich um; niemand war mehr da; auch die beiden hinter dem Gebüſch waren nicht mehr da. Er kroch nun auf allen vieren ein wenig am Gebüſch entlang und ſenkte den Kopf herunter, um ſein Geſicht vor dem naſſen Schneeſtaub zu ſchützen, den ihm der Wind entgegenſpritzte. Er machte ein paar Bewegungen mit dem Körper, als ſuche er in der Erde eine Höhlung zum Hineinſchlüpfen, konnte dann nicht weiter und blieb ſitzen. Ihm ſchien, als riesle etwas im Innern ſeines Leibes. Es fror ihn jetzt erbärmlich. Möcht’ ſehen, was in dem Beutel iſt, dachte er, während ſeine Zähne klapperten. O ungeheurer Schrecken, der ihn abhielt, nach jener Stelle zu blicken, wo der Fremde geſtanden. Wenn ich nur ein Wort wüßte, durch das mir leichter würde, dachte er, wie einer, der ſich durch Zauberformeln zu ſchützen wähnt. Und er ſagte zweimal: „Dukatus“. Welches Wunder, plötzlich ward ihm leicht. Er glaubte aufſtehen und nach Hauſe gehen zu können. Er erhob ſich. Er ſah, daß er gehen konnte. Nachdem er einige taumelnde Schritte gemacht, fing er an zu laufen. Ihm war, als ob ſein Körper ohne Schwere ſei, ihm war, als fliege er. Er lief, lief, lief. Bis zum Tor des Gartens; über den Schloßplatz; über den Markt an der Kirche vorbei; bis zum Kronacher Buck, bis in den Flur des Quandtſchen Hauſes; lief, lief, lief. In Schweiß gebadet, ſtürzte er in den Flur. Weiter ging’s nicht mehr; keuchend lehnte er ſich an die Wand. Die Magd gewahrte ihn zuerſt. Über ſein Ausſehen entſetzt, gab ſie einen gellenden Schrei von ſich. Da kam Quandt aus der Stube; ſeine Frau folgte ihm. Caſpar ſtarrte ihnen entgegen, ſprach aber nichts, ſondern deutete bloß auf ſeine Bruſt. „Was iſt geſchehen?“ fragte Quandt rauh und kurz. „Hofgarten — geſtochen,“ ſtammelte Caſpar. Und Quandt? Wir ſehen ihn ſchmunzeln. Nichts andres: wir ſehen ihn ſchmunzeln. Und wenn Jahrhunderte, feierlich in Purpur angetan wie Gottes Engel, auf uns zutreten und uns beſchwören, die Tatſachen nicht zu verzerren, ſo iſt nichts andres zu erwidern, als daß Quandt ſchmunzelte, ſeltſam ſchmunzelte. „Wo ſind Sie denn geſtochen, mein Lieber?“ fragte er gedehnt. Wieder deutete Caſpar auf ſeine Bruſt. Quandt knöpfte ihm Rock, Weſte und Hemd auf, um die Wunde anzuſchauen. Richtig, da war ein Stich, nicht größer als eine Haſelnuß. Aber nicht die geringſte Spur von Blut war zu bemerken. Eine Wunde ohne Blut, das gibt es nicht; das iſt wie eine Behauptung ohne Beweis. „Alſo geſtochen,“ ſagte Quandt. „So laſſen Sie uns ſofort umkehren und zeigen Sie mir den Platz im Hofgarten, wo das paſſiert ſein ſoll,“ fügte er energiſch hinzu. „Was haben Sie denn zu dieſer Stunde und bei ſolchem Wetter im Hofgarten zu tun gehabt? Marſch, kommen Sie! Die Sache muß unverzüglich aufgeklärt werden.“ Caſpar widerſprach nicht. Er ſchleppte ſich an des Lehrers Seite wieder auf die Gaſſe. Quandt faßte ihn unter, wie ein Krüppel ſchlich Caſpar dahin. Nach langem Schweigen ſagte Quandt in verbiſſenem Ton: „Diesmal haben Sie Ihren dümmſten Streich gemacht, Hauſer. Diesmal wird es keinen ſo guten Ausgang nehmen wie beim Profeſſor Daumer, das kann ich Ihnen ſchriftlich geben.“ Caſpar blieb ſtehen, warf einen ſchnellen Blick gen Himmel und ſagte: „Gott — wiſſen.“ „Machen Sie nur keine Faxen,“ zeterte Quandt, „ich weiß, was ich weiß. Wenn Sie ſich auch noch ſo ſehr auf Gott berufen, damit haben Sie bei mir kein Glück, denn Sie ſind ein gottloſer Menſch von Grund auf. Ich kann Ihnen nur raten, ſpielen Sie nicht länger die Stumme von Portici und geſtehen Sie lieber gleich. Ein wenig bange machen wollen Sie uns, die Leute wollen Sie durcheinander hetzen. Geſtochen? Wer ſoll Sie denn geſtochen haben? Vielleicht um Ihnen Ihre jämmerlichen paar Moneten aus der Taſche zu ziehen? So ein Unſinn! Gehen Sie nicht ſo langſam, Hauſer, meine Zeit iſt knapp.“ „Den Beutel — will ich holen,“ ſtammelte Caſpar leiſe. „Was denn für einen Beutel?“ „Der Mann — mir gegeben.“ „Was für ein Mann?“ „Der mich geſtochen.“ „Aber Hauſer, Hauſer, es iſt ja himmelſchreiend! Bilden Sie ſich denn ein, daß ich an dieſen Mann nur im entfernteſten glaube? So wenig wie an den ſchwarzen Peter. Bilden Sie ſich denn ein, daß ich über den wahren Täter einen Augenblick im Zweifel bin? Geſtehen Sie’s doch! Geſtehen Sie, daß Sie ſich ſelber ein bißchen geſtochen haben. Ich will über die Sache noch einmal ſchweigen, ich will Gnade für Recht ergehen laſſen.“ Caſpar weinte. Dicht vor dem Hofgarten brach er plötzlich zuſammen. Quandt war verwirrt. Es kamen einige Männer des Weges, dieſe bat er, daß ſie den Jüngling nach Hauſe führen möchten, er ſelbſt wolle zur Polizei. Die Männer mußten erſt geraume Weile warten, bis ſich Caſpar ein wenig erholt hatte; auch dann hielt es ſchwer, ihn zum Gehen zu bewegen. Es wurde ſpäter von den Ärzten als eine Unbegreiflichkeit bezeichnet, daß Caſpar mit der furchtbaren Verletzung in der Bruſt imſtande geweſen war, den Weg vom Hofgarten zum Lehrerhaus, hernach vom Lehrerhaus zum Schloßplatz und endlich vom Schloßplatz wieder nach Hauſe zurückzulegen, das erſtemal laufend, das zweitemal am Arme Quandts, das drittemal von den Männern halb gezogen, im ganzen über ſechzehnhundert Schritte. Als Quandt den Weg nach dem Rathaus einſchlug, war es finſter geworden. Der dienſttuende Offiziant erklärte, daß ohne ſpeziellen Auftrag des Bürgermeiſters, der im Bade ſei, die Anzeige nicht protokolliert werden dürfe. Der Lehrer ſchwatzte noch eine Weile mit ihm, dann begab er ſich unwillig und verdroſſen in die eine Viertelſtunde vor der Stadt gelegene Kleinſchrottſche Badewirtſchaft, wo der Bürgermeiſter im Kreis ſeiner Vertrauten beim Bier ſaß. Quandt trug den Fall vor. Man ſtaunte, zweifelte, plädierte, beſtieg den Amtsſchimmel und geſtattete hierauf die förmliche Protokollaufnahme. Um ſechs Uhr wurde das intereſſante Aktenprodukt bei Laternen- und Kerzenſchein dem Stadtgericht zur weiteren Unterſuchung übergeben. Quandt kehrte nach Hauſe zurück. Auf der Gaſſe vor ſeiner Wohnung fand er viele Menſchen, und zwar waren es Perſonen jeglichen Standes, die dem Unwetter zum Trotz gekommen waren und in einem Schweigen verharrten, das den Lehrer ſtutzig machte. Er ging ſogleich in das Zimmer Caſpars, der zu Bett gebracht worden war. Der Doktor Horlacher war zugegen. Er hatte die Wunde ſchon unterſucht. „Wie ſteht’s?“ fragte Quandt. Der Doktor antwortete, es ſei kein Grund zu ernſter Beſorgnis vorhanden. „Das dacht’ ich mir,“ verſetzte Quandt. Jetzt erſchien der Hofrat Hofmann. Ein Polizeiſoldat hatte ihm unten den lilafarbenen Beutel übergeben, der an der Unglücksſtätte gefunden worden war. „Kennen Sie dieſen Beutel?“ fragte der Hofrat. Mit fieberglänzenden Augen blickte Caſpar auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es lag ein Zettel darin, der, ſo ſchien es zunächſt, mit Hieroglyphen bedeckt war. Die Lehrerin, die dabeiſtand, ſchüttelte den Kopf. Sie zog ihren Mann beiſeite und ſagte zu ihm: „Es iſt doch eigen; genau ſo legt der Hauſer immer ſeine Briefe zuſammen, wie das Papier im Beutel zuſammengefaltet war.“ Quandt nickte und trat an die Seite des Hofrats, der den Zettel erſt prüfend betrachtete und dann einen Handſpiegel verlangte. „Es iſt wohl Spiegelſchrift,“ ſagte Quandt lächelnd. „Ja,“ erwiderte der Hofrat; „eine ſonderbare Kinderei.“ Er ſtellte Schrift und Spiegel einander gegenüber und las vor: „Caſpar Hauſer wird Euch genau erzählen können, wie ich ausſehe und wer ich bin. Dem Hauſer die Mühe zu ſparen, denn er könnte ſchweigen müſſen, will ich aber ſelber ſagen, woher ich komme. Ich komme von der bayriſchen Grenze am Fluß. Ich will Euch ſogar meinen Namen verraten: M._L._O.“ „Das klingt ja geradezu höhniſch,“ ſagte der Hofrat nach einem verwunderten Schweigen. Quandt nickte erbittert vor ſich hin. Als Caſpar die vorgeleſenen Worte vernommen hatte, fiel ſein Kopf ſchwer in das Kiſſen und eine grenzenloſe Verzweiflung malte ſich in ſeinen Zügen. Es ſchloß ſich ſein Mund mit einem Ausdruck, als wolle er von nun an nie mehr reden. Und {daß} er hätte reden können, womit dieſer M._L._O. offenbar nicht gerechnet hatte, empfand er bis in das Fieber hinein als eine Art ſchmerzlichen Triumphes. Quandt, den Zettel, den ihm der Hofrat gegeben, zwiſchen den Händen, wanderte aufgeregt hin und her. „Das ſind ſchöne Streiche,“ rief er aus, „ſchöne Streiche! Sie halten das Mitleid Ihres Jahrhunderts zum beſten, Hauſer. Sie verdienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie.“ Der Hofrat runzelte die Stirn. „Gemach, Herr Lehrer; laſſen Sie das doch!“ ſagte er mit ungewöhnlich ernſtem Ton. Bevor er ſich verabſchiedete, verſprach er, am nächſten Morgen den Kreisphyſikus zu ſchicken, woraus erſichtlich war, daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte. Indes kam der Kreisphyſikus, von Frau von Imhoff dazu bewogen, noch am ſelben Abend. Es war der Medizinalrat Doktor Albert. Er unterſuchte Caſpar mit großer Sorgfalt; als er fertig war, machte er ein bedenkliches Geſicht. Quandt, ſeltſam gereizt dadurch, ſagte faſt herausfordernd: „Es fließt ja gar kein Blut aus der Wunde.“ „Das Blut ſickert nach innen,“ entgegnete der Medizinalrat mit einem den Lehrer nur ſtreifenden Blick. Er legte einen Umſchlag von Senfteig auf das Herz und empfahl die möglichſte Ruhe. Quandt griff ſich an die Stirn. „Wie,“ ſagte er zu ſeiner Frau, „ſollte ſich der Burſche in ſeinem Leichtſinn doch ernſtlichen Schaden zugefügt haben?“ Die Lehrerin ſchwieg. „Ich bezweifle es, ich muß es bezweifeln,“ fuhr Quandt fort. „Sieh doch ſelbſt, der ſonſt ſo wehleidige Menſch klagt ja mit keiner Silbe über Schmerzen.“ „Er antwortet auch nichts, wenn man ihn fragt,“ fügte die Frau hinzu. Um neun Uhr fing Caſpar an zu delirieren. Quandt war entſchloſſen, an das Delirium nicht zu glauben. Als Caſpar aus dem Bett ſpringen wollte, ſchrie er ihn an: „Machen Sie nicht ſolche widerlichen Umſtände, Hauſer! Gehen Sie ſchleunig in Ihr Bett zurück.“ Der Pfarrer Fuhrmann trat gerade in das Zimmer und hörte dies. „Aber Quandt! Quandt!“ ſagte er entſetzt. „Ein wenig Milde, Quandt, im Namen unſrer Religion.“ „O,“ verſetzte Quandt kopfſchüttelnd, „Milde iſt hier ſchlecht angebracht. In Nürnberg, wo er doch auch ſo eine verworfene Komödie aufgeführt hat, gebärdete er ſich genau ſo, und ich habe mir ſagen laſſen müſſen, daß er dabei von zwei Männern iſt gehalten worden. Was mich betrifft, ich laſſe mir ſo ein Schauſpiel nicht bieten.“ Frau von Imhoff hatte eine Pflegerin vom Krankenhaus geſchickt, die über Nacht an Caſpars Lager wachte. Er ſchlummerte zwei bis drei Stunden. Schon früh am Morgen erſchien eine Gerichtskommiſſion. Caſpar war bei klarem Bewußtſein. Vom Unterſuchungsrichter aufgefordert, erzählte er, ein fremder Herr habe ihn zum arteſiſchen Brunnen in den Hofgarten beſtellt. „Zu welchem Zweck beſtellt?“ „Das weiß ich nicht.“ „Er hat darüber gar nichts geſagt?“ „Doch; er hat geſagt, man könnte die Tonarten des Brunnens beſichtigen.“ „Und daraufhin ſind Sie ihm ſchon gefolgt? Wie ſah er aus?“ Caſpar gab eine kurze, abgeriſſen gelallte Beſchreibung und der Art, wie ihn der Fremde geſtochen. Sonſt war nichts aus ihm herauszubringen. * Es wurde nach Zeugen gefahndet. Es ſtellten ſich Zeugen. Zu ſpät für die Verfolgung des Täters. Schon die erſte Anzeige war, durch die Mitſchuld Quandts, unverantwortlich verzögert worden. Als man die am Ort des Verbrechens befindlichen Blutſpuren unterſuchen wollte, ergab es ſich, daß inzwiſchen ſchon zuviele Menſchen dageweſen waren und den Schnee zertreten hatten. Aus einem ſo wichtigen Umſtand Nutzen zu ziehen mußte alſo von vornherein verzichtet werden. Zeugen fanden ſich genug. Die Zirkelwirtin in der Roſengaſſe bekundete, gegen zwei Uhr ſei ein Mann in ihr Haus gekommen, den ſie nie zuvor geſehen, und habe gefragt, wann eine Retour nach Nördlingen gehe. Der Mann war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt geweſen, von mittlerer Größe, bräunlicher Hautfarbe und mit Blatternarben im Geſicht. Er habe einen blauen Mantel mit Pelzkragen, einen runden ſchwarzen Hut, grüne Pantalons und Stiefel mit gelben Schraubſporen getragen. In der Hand hielt er eine Reitgerte. Er habe nur fünf Minuten geweilt und ganz wenig geſprochen; auffallend ſei es geweſen, daß er nicht ſagen gewollt, wo er logierte. So beſchrieb auch der Aſſeſſor Donner einen Mann, den er um drei Uhr im Hofgarten neben der Lindenallee geſehen, und zwar in Geſellſchaft von zwei andern Männern, die der Aſſeſſor jedoch nicht betrachtet hatte. Ein Spiegelarbeiter namens Leich ging ein paar Minuten vor vier Uhr von ſeiner Wohnung auf dem neuen Weg durch die Poſtſtraße auf die Promenade und von da über den Schloßplatz. Er ſah vom Schloß her zwei Männer über die Gaſſe ſchreiten und, die Reitbahn zur Linken laſſend, zum Hofgarten gehen. Er erkannte in dem einen von ihnen Caſpar Hauſer. Als die beiden zum Laternenpfahl am Eck der Reitbahn kamen, wandte ſich Caſpar Hauſer um und blickte den Schloßplatz hinauf, ſo daß ihn der Beobachter noch einmal und genau hatte ſehen können. Bei den Schranken blieb der Fremde ſtehen, um Hauſer mit höflicher Gebärde den Vortritt zu laſſen. Der Arbeiter dachte für ſich: wie doch die Herren bei ſolchem Sturm und Schnee ſpazierengehen mögen. „Drei Viertelſtunden ſpäter,“ erzählte der Mann, „als ich von einer Beſorgung beim Büttner Pfaffenberger zurückkam, ſtanden auf dem Schloßplatz viele Leute, die jammerten und ſagten, der Hauſer ſei im Hofgarten erſtochen worden.“ Und weiter. Ein Gärtnergehilfe, der in der Orangerie beſchäftigt iſt, hört gegen vier Uhr Stimmen. Er blickt zum Fenſter hinaus und ſieht einen Mann im Mantel vorüberlaufen. Der Mann läuft einen guten Trab. Die Stimmen ſind etwa einen Büchſenſchuß weit vom Orangeriehaus entfernt geweſen, nicht ſo weit, wie das Uzſche Denkmal iſt. Es waren zweierlei Stimmen, eine Baß- und eine helle Stimme. Neben der Weidenmühle wohnt eine Näherin. Ihr Fenſter geht auf den Hofgarten; ſie ſieht bis in die zwei gegen den hölzernen Tempel zu führenden Alleen. Bei beginnender Dämmerung gewahrt ſie den Mann im Mantel; er tritt aus dem neuen Gittertor und ſteigt am Abhang der Rezatwieſe hinab. Er ſtutzt, als er vor dem hochgeſchwollenen Waſſer ſteht. Er kehrt um und wendet ſich gegen die Stäffelchen an der Mühle, geht über den Steg auf der Eiberſtraße und verſchwindet. Die Frau hat von ſeinem Geſicht nur einen ſchräglaufenden ſchwarzen Bart wahrnehmen können. Es meldet ſich auch der Schreiber Dillmann zu einer Ausſage. Die unverbrüchliche Gewohnheit des alten Kanzliſten iſt es, jeden Nachmittag, wie das Wetter auch beſchaffen iſt, zwei Stunden lang im Hofgarten zu promenieren. Er hat Caſpar und den Fremden geſehen. Er verſichert aber, nicht vorangegangen ſei Caſpar dem Fremden, ſondern hintennach ſei er gegangen. „Er iſt ihm gefolgt, wie das Lamm dem Metzger zur Schlachtbank folgt,“ ſagt er. Zu ſpät. Zu ſpät der Eifer. Zu ſpät die erlaſſenen Steckbriefe und Streifzüge der Gendarmerie. Es konnte nicht mehr fruchten, daß man ſogar den Rezatſtrom aus ſeinem Bett leitete, um vielleicht das Mordinſtrument zu entdecken, das der Unbekannte bei ſeiner Flucht von ſich geworfen haben mochte. Was lag an dieſem Dolch? Was lag an den Zeugen? Was lag an den Verhören? Was lag an den Indizien, womit eine ſaumſelige Juſtiz ihre Unfähigkeit prahleriſch verbrämte? Es wurde geſagt, daß die Nachforſchungen planlos und kopflos betrieben wurden. Es wurde geſagt, eine geheimnisvolle Hand ſei im Spiel, deren Machenſchaften darin gipfelten, die wahren Spuren allmählich und mit Abſicht zu verwiſchen und die Aufmerkſamkeit der Behörde irrezuleiten. {Wer} es ſagte, konnte natürlich nicht erkundet werden, denn die öffentliche Meinung, ein Ding, ebenſo feig wie ungreifbar, orakelt nur aus ſicheren Hinterhalten. Und ſie ſchwieg gar bald ſtille hier, wo Verleumdung, Bosheit, Lüge, Dummheit und Heuchelei ein ſchönes Menſchenbild wie zwiſchen Mühlrädern zermalmten, bis daß nichts mehr übrigblieb als ein ärmliches Märchen, wovon ſich das Volk dieſer Gegenden an rauhen Winterabenden vor dem Ofen unterhält. * Am Sonntag nachmittag traf Quandt den jungen Feuerbach, den Philoſophen, auf der Straße. „Wie geht’s dem Hauſer?“ fragte der den Lehrer. „Ei, er iſt ganz außer Gefahr; dank’ der Nachfrage, Herr Doktor,“ antwortete Quandt geſchwätzig; „die Gelbſucht iſt eingetreten, aber das ſoll ja die gewöhnliche Folge einer heftigen Erregung ſein. Ich bin überzeugt, daß er in ein paar Tagen das Bett wird verlaſſen können.“ Sie ſprachen noch eine Weile von andern Dingen, hauptſächlich von der neuerdings zwiſchen Nürnberg und Fürth geplanten Dampfſchienenbahn, ein Unternehmen, gegen das Quandt eine ganze Kanonade von Skepſis auffahren ließ, dann verabſchiedete er ſich von dem ſtillen jungen Mann mit der Dankbarkeit eines beklatſchten Redners und eilte, beſtändig vor ſich hinlächelnd, nach Hauſe. Er war in einer höchſt zuverſichtlichen Stimmung, einer Stimmung, in der man bereit iſt, ſeinen ärgſten Feinden Nachſicht angedeihen zu laſſen. Warum, das mochten die Götter wiſſen. War der ſchöne Tag daran ſchuld? Man darf nicht vergeſſen, daß in Quandt auch eine Art von Poet ſteckte; oder war es die Nähe des Weihnachtsfeſtes, das jedem guten Chriſtenmenſchen gleichſam eine Erneuerung ſeiner Seele verſpricht? Oder war es am Ende der Umſtand, daß gegenwärtig ſo viele vornehme und ausgezeichnete Perſonen ſein beſcheidenes Heim aufſuchten und daß er inmitten dieſes beſcheidenen Heims eine Stellung von ungeahnter Wichtigkeit innehatte? Genug, wie dem auch ſein mochte, er war mit ſich zufrieden, folglich ſtammte ſein Lächeln aus der lauterſten Quelle. Vor ſeiner Wohnung traf er auf den Polizeileutnant. „Ah, vom Urlaub zurück?“ begrüßte er ihn mit gedankenloſer Freundlichkeit. Gleich darauf ſagte er ſich: mit dem habe ich ja noch ein Hühnchen zu rupfen. Hickel drückte die Augen zuſammen und ſah aus, als ob er lachen wollte. Sie gingen miteinander hinauf. Caſpar ſaß mit nacktem Oberleib im Bette, gegen aufgetürmte Kiſſen gelehnt, ſtarr wie eine Figur aus Lehm, das Geſicht grau wie Bimsſtein, die Haut des Körpers ſtrahlend weiß wie eine Magneſiumflamme. Der Medizinalrat hatte ſoeben den Verband abgenommen und wuſch die Wunde. Außerdem war noch ein Kommiſſionſaktuar zugegen. Dieſer hatte am Tiſch Platz genommen; ein Protokollformular lag bei ihm, auf dem die lakoniſchen Worte ſtanden: „Der Damnifikat verbleibt bei ſeinen bisherigen Depoſitionen.“ Über einen eingefangenen Straßenräuber hätte man ſich nicht beſſer und niedlicher ausdrücken können. Kaum hatte Caſpar den eintretenden Hickel gewahrt, als er den wie einen gebrochenen Blumenkelch ſeitwärts geſenkten Kopf aufrichtete und mit weitgeöffneten Augen, in denen ein ganz unſäglicher Schrecken lag, dem Ankömmling ins Geſicht ſtarrte. Ohne zu ſprechen, erhob Hickel drohend den Zeigefinger. Dieſe Gebärde ſchien den Schrecken Caſpars aufs äußerſte zu treiben; er faltete die Hände und murmelte ächzend: „Nicht nahekommen! Ich hab’s ja doch nicht ſelber getan.“ „Aber Hauſer! Was fällt Ihnen denn ein!“ rief Hickel mit einer Luſtigkeit, die man etwa im Wirtshaus zur Schau trägt, und ſeine gelben Zähne blinkten zwiſchen den vollen Lippen; „ich hab’ Ihnen ja nur gedroht, weil Sie ohne Erlaubnis in den Hofgarten gegangen ſind. Wollen Sie das vielleicht auch leugnen?“ „Keine Auseinanderſetzungen, wenn ich bitten darf,“ mahnte der Medizinalrat unwillig. Er hatte den Verband erneuert, zog nun den Lehrer beiſeite und ſagte leiſe und ernſt: „Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Hauſer wahrſcheinlich die Nacht nicht überleben wird.“ Offenen Mundes ſtierte Quandt den Arzt an. Seine Knie wurden weich wie Butter. „Wie? Was?“ hauchte er, „iſt’s möglich?“ Er ſchaute alle Anweſenden der Reihe nach langſam an, wobei ſein Geſicht dem eines Menſchen glich, der ſich ſoeben behaglich zum Eſſen ſetzen wollte und dem plötzlich Schüſſel, Teller, Meſſer und Gabel, ja der ganze Tiſch weggezaubert wird. „Kommen Sie mit mir, Herr Lehrer,“ ſagte mit heiſerer Stimme Hickel, der am Ofen ſtand und mit ſinnloſer Geſchäftigkeit ſeine Hände an den Kacheln rieb. Quandt nickte und ſchritt mechaniſch voraus. „Iſt’s möglich!“ murmelte er wieder, als er auf der Stiege ſtand. „Iſt’s möglich!“ Hilfeſuchend blickte er den Polizeileutnant an. „Ach,“ fuhr er elegiſch fort, „wir haben doch unſer redlich Teil getan. An treuer Fürſorge haben wir’s wahrlich nicht fehlen laſſen.“ „Laſſen Sie doch die Flauſen, Quandt,“ antwortete der Polizeileutnant grob. „Sagen Sie mir lieber, was hat denn der Hauſer alles geredet in ſeinem Wahn?“ „Unſinn, lauter Unſinn,“ verſetzte Quandt bekümmert. „Achtung, Herr Lehrer, da ſehen Sie mal hinunter,“ rief Hickel, indem er ſich über das Geländer beugte. „Was denn?“ gab Quandt erſchrocken zurück, „ich ſehe nichts.“ „Sie ſehen nichts? Potz Kübel, ich auch nicht. Es ſcheint, wir ſehen beide nichts.“ Er lachte wunderlich, richtete ſich wieder kerzengerade auf und hüſtelte trocken. Dann ging er, indes Quandt ihm nicht wenig betroffen nachguckte. Wohin ſoll es auch kommen mit der Welt, wenn Leute wie Hickel unter die Geſpenſterſeher geraten? Auf ihren robuſten Schultern ruhen die Fundamente der Ordnung, des Gehorſams und aller ſtaatlich anerkannten Tugenden. Mag es auch in dieſem beſonderen Fall ſo beſchaffen geweſen ſein, daß die Ausgeburt rühmenswerter Untertaneneigenſchaften dennoch einer Regung böſen Gewiſſens anheimfiel, nun, dann muß erklärt werden, daß dieſes böſe Gewiſſen mit einem martialiſchen Ausſehen geſegnet war, daß es zu allen Mahlzeiten einen beneidenswerten Appetit entwickelte und daß es das ſanfteſte Ruhekiſſen für einen unvergleichlich geſunden Schlaf war, der durch keine Feuerglocke und kein Tedeum hätte geſtört werden können. Im Zimmer Caſpars hatte der Kommiſſionſaktuar neuerdings ein Verhör begonnen. Caſpar ſollte ſagen, ob noch ein Dritter zugegen geweſen ſei, während er im Appellgericht mit dem fremden Mann geſprochen. Caſpar antwortete matt, er habe niemand bemerkt, nur vor dem Tor ſeien Leute geweſen. „Arme Leute paſſen mir immer dort auf,“ ſagte er, „zum Beiſpiel eine gewiſſe Feigelein, der hab’ ich manchmal einen Kreuzer gegeben, auch die Tuchmacherswitwe Weigel.“ Der Aktuar wollte weiterfragen, doch Caſpar liſpelte: „Müde — recht müde.“ „Wie iſt Ihnen, Hauſer?“ erkundigte ſich die Wärterin. „Müde,“ wiederholte er; „werd’ jetzt bald weggehen von dieſer Laſterwelt.“ Eine Weile ſchrie und redete er für ſich hin, hernach wurde er wieder ganz ſtille. Er ſah ein Licht, das langſam erloſch. Er vernahm Töne, die aus dem Innern ſeines Ohrs zu dringen ſchienen; es klang, wie wenn man mit einem Hammer auf eine Metallglocke haut. Er erblickt eine weite, einſame, dämmernde Ebene. Eine menſchliche Geſtalt rennt ſchnell darüber hin. O Gott, es iſt Schildknecht. Was läufſt du ſo, Schildknecht? ruft er ihm zu. Hab’ Eile, große Eile, antwortet jener. Auf einmal ſchrumpft Schildknecht zuſammen, bis er eine Spinne iſt, die an einem glühenden Faden zum Aſt eines rieſengroßen Baumes emporklimmt. Tränen des Grauens fallen wie Regen aus Caſpars Augen. Er ſah ein ſeltſames Gebäude; es glich einer koloſſalen Kuppel; es hatte kein Tor, keine Tür, kein Fenſter. Aber Caſpar konnte fliegen, flog hinauf und ſchaute durch eine kreisrunde Öffnung in das Innere, das von himmelblauer Luft erfüllt war. Auf himmelblauen Marmorflieſen ſtand eine Frau. Vor dieſe trat ein Menſch, kaum deutlicher zu ſehen als ein Schatten, und er teilte ihr mit, daß Caſpar geſtorben ſei. Die Frau hob die Arme und ſchrie vor Schmerz, daß die Wölbung erzitterte. Da klaffte der Boden auseinander und es kam ein langer Zug von Menſchen, die alle weinten. Und Caſpar ſah, daß ihre Herzen zitterten und zuckten wie lebendige Fiſche in der Hand des Fiſchers. Und einer trat heraus, der gerüſtet war und ein Schwert trug, der ſprach ungeheure Worte, aus denen ſich das ganze Geheimnis enthüllte. Und alle, die zuhörten, preßten die Hände gegen die Ohren, ſchloſſen die Augen und ſtürzten vor Kummer zu Boden. Dann war alles verwandelt. Caſpar ſpürte ſich voll von wunderbaren Kräften. Er ſpürte die Metalle in der Erde, von tief unten zogen ſie ihn an, und die Steine ſpürte er, die Adern von Erz hatten. Dazwiſchen ruhte vielfältiger Samen, und er brach auf, und die Würzlein ſchoſſen und bebend hoben ſich die Gräſer. Aus dem Boden ſprangen Quellen hoch empor wie Fontänen und auf ihren Spitzen leuchtete die willkommene Sonne. Und inmitten des Weltalls ſtand ein Baum mit weitem Gipfel und unzähligen Veräſtelungen; rote Beeren wuchſen aus den Zweigen, und auf der Krone oben bildeten die Beeren die Form eines Herzens. Innen im Stamm floß Blut, und wo die Rinde zerriſſen war, ſickerten ſchwärzlichrote Tropfen hindurch. Mitten in dieſem Wogen verzweiflungsvoller Bilder und krankhafter Entzückungen war es Caſpar, als ob ihn jemand in einen Raum trüge, wo keine Luft zum Atmen mehr war. Da half kein Sträuben und Sichbäumen, es trug ihn hin und ein kühler Wind wehte über ſein Haar, ſeine Finger krümmten ſich, als ſuche er ſich irgendwo zu halten. Es war eine namenloſe Erſchöpfung, von welcher der vergebliche Kampf begleitet war. Auf der Straße fuhr der Nürnberger Poſtwagen vorbei, und der Poſtillon blies ins Horn. Es kamen bis zum Abend viele Leute, um nach ſeinem Befinden zu fragen. Frau von Imhoff blieb lange an ſeinem Bett ſitzen. Um acht Uhr ſchickte die Pflegerin zum Pfarrer Fuhrmann, der mit größter Schnelligkeit eintraf. Er legte Caſpar die Hand auf die Stirn. Mit angſtvoll großen Augen ſchaute ſich Caſpar um; ſeine Schultern zitterten. Er machte mit dem Zeigefinger auf dem Deckbett Bewegungen, als wolle er ſchreiben. Das dauerte jedoch nicht lange. „Sie haben mir einmal geſagt, lieber Hauſer, daß Sie auf Gott vertrauen und mit ſeiner Hilfe jeden Kampf kämpfen wollen,“ ſagte der Pfarrer. „Weiß es nicht,“ flüſterte Caſpar. „Haben Sie denn heute ſchon zu Gott gebetet und ihn um ſeinen Beiſtand angerufen?“ Caſpar nickte. „Und wie iſt Ihnen darauf geweſen? Haben Sie ſich nicht geſtärkt gefühlt?“ Caſpar ſchwieg. „Wollen Sie nicht wieder beten?“ „Bin zu ſchwach; vergehen mir gleich die Gedanken.“ Und nach einer Weile ſagte er wie für ſich, ſeltſam leiernd: „Das ermüdete Haupt bittet um Ruhe.“ „So will ich ein Gebet ſprechen,“ fuhr der Pfarrer fort, „beten Sie im ſtillen mit. Vater, nicht mein_—“ „Sondern dein Wille geſchehe,“ vollendete Caſpar hauchend. „Wer hat ſo gebetet?“ „Der Heiland.“ „Und wann?“ „Vor — ſeinem — Sterben.“ Bei dieſem Wort ſträubte ſich ſein Körper empor und über ſein Geſicht ging ein höchſt qualvolles Zucken. Er knirſchte mit den Zähnen und ſchrie dreimal gellend: „Wo bin ich denn?“ „Aber, Hauſer, in Ihrem Bett ſind Sie,“ beruhigte ihn Quandt. „Es kommt ja bei Kranken öfter vor, daß ſie ſich an einem andern Ort zu befinden wähnen,“ wandte er ſich erklärend an den Pfarrer Fuhrmann. „Geben Sie ihm zu trinken,“ ſagte dieſer. Die Lehrerin brachte ein Glas friſches Waſſer. Als Caſpar getrunken hatte, wiſchte ihm Quandt den kalten Schweiß von der Stirn. Er ſelber bebte an allen Gliedern. Er beugte ſich über den Jüngling und fragte dringend, feierlich beſchwörend: „Hauſer! Hauſer! Haben Sie mir nichts mehr zu ſagen? Sehen Sie mich einmal ſo recht aufrichtig an, Hauſer! Haben Sie mir nichts mehr zu beichten?“ Da packte Caſpar in höchſter Herzensnot die Hand des Lehrers. „Ach Gott, ach Gott, ſo abkratzen müſſen mit Schimpf und Schande!“ ſtieß er jammernd hervor. Das waren ſeine letzten Worte. Er kehrte ſich ein wenig auf die rechte Seite und drehte das Geſicht zur Wand. Jedes Glied ſeines Körpers ſtarb einzeln ab. Zwei Tage ſpäter wurde er begraben. Es war nachmittags und der Himmel von wolkenloſer Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung. Ein berühmter Zeitgenoſſe, der Caſpar Hauſer das Kind von Europa nennt, erzählt, es ſei zu der Stunde Mond und Sonne gleicher Zeit am Firmament geſtanden, jener im Oſten, dieſe im Weſten, und beide Geſtirne hätten im ſelben fahlen Glanz geleuchtet. * Etwa anderthalb Wochen ſpäter, drei Tage nach Weihnachten, es war Abend und Quandt und ſeine Frau wollten ſich eben zu Bett begeben, erſchallten ſtarke Schläge gegen das Haustor. Sehr erſchrocken, zögerte Quandt eine Weile; erſt als ſich die Schläge wiederholten, nahm er das Licht und ging, um zu öffnen. Draußen ſtand Frau von Kannawurf. „Führen Sie mich in Caſpars Zimmer,“ ſagte ſie zum Lehrer. „Jetzt noch? In der Nacht?“ wagte dieſer einzuwenden. „Jetzt, in der Nacht,“ beharrte die Frau. Ihr Weſen ſchüchterte Quandt dergeſtalt ein, daß er ſtumm zur Seite trat, ſie vorangehen ließ und mit dem Licht folgte. In Caſpars Zimmer erinnerte wenig an den Verſtorbenen. Es war alles umgeſtellt und verräumt. Nur das Holzpferdchen ſtand noch auf dem Ecktiſch neben dem Fenſter. „Laſſen Sie mich allein,“ gebot Frau von Kannawurf. Quandt ſtellte den Leuchter hin, entfernte ſich ſchweigend und wartete in Gemeinſchaft mit ſeiner Frau unten an der Stiege. „Es iſt ſehr gutmütig von mir, daß ich mir ſo etwas in meinem Hauſe gefallen laſſe,“ murrte er. Mit verſchränkten Armen ſchritt Clara von Kannawurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick fiel auf den Tiſch, wo eine Abſchrift des Sektionsprotokolles lag; es ging daraus hervor, daß man nach dem Tode Caſpars die Seitenwand ſeines Herzens ganz durchſtochen gefunden hatte. Clara nahm das Papier mit beiden Händen und zerknitterte es in ihren Fäuſten. Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man kann nicht die Geweſenen aus Luft zurückgeſtalten; man kann der Erde nicht ihre Beute abfordern. Tränen beruhigen; aber dieſe Trauernde hatte keine Tränen mehr; für ſie waren keine Sterne mehr, kein Glanz des Himmels; für ſie wuchs kein Gras mehr, duftete keine Blume mehr, ihr ſchmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht mehr, für ſie hatte ſich alles Menſchentreiben, ja ſelbſt das Schaffen der Elemente in eine einzige düſtere Wolke von nie wieder gutzumachender Schuld zuſammengeballt. Es mochte eine halbe Stunde verfloſſen ſein, als Clara wieder herabkam. Sie blieb ganz dicht vor dem Lehrer ſtehen, und während ſie ihn mit weitaufgeſchlagenen Augen anſah, ſagte ſie bebend und kalt: „Mörder.“ Dies war für Quandt etwa ſo, wie wenn man ihm einen Schwefelbrand unter die Naſe gehalten hätte. Es läßt ſich denken, der wackere Mann war vollkommen ahnungslos; im Schlafrock, geſticktem Hauskäppchen und mit Schlappſchuhen an den Füßen wartet er, daß der ungebetene Gaſt ſein Haus wieder verlaſſe, und da fällt ein Wort, wie es nicht einmal ein böſer Traum erzeugen kann. „Das Weib iſt wahnſinnig! Ich werde ſie zur Rechenſchaft ziehen,“ tobte er noch im Bette. Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die Freundin noch auf. Frau von Imhoff ſagte ihr, daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle, weil das Kreuz auf Caſpar Hauſers Grab errichtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras Schweigſamkeit wie einen Alpdruck und erzählte, erzählte. Vieles von Caſpar, vieles von denen, die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch ſchreiben, worin er haarklein nachzuweiſen gedenke, daß Caſpar ein Betrüger geweſen; daß Hickel den Dienſt quittiert habe und aus Ansbach wegziehe, wohin, wiſſe niemand, daß alle Bemühungen, dem furchtbaren Verbrechen auf den Grund zu kommen, vergeblich geweſen ſeien. Clara blieb wie aus Stein. Als ſie ſich für die Nacht trennten, ſagte ſie leiſe und mit unheimlicher Sanftmut: „Auch du biſt ſeine Mörderin.“ Frau von Imhoff prallte zurück. Doch Clara fuhr ebenſo leiſe und ſanft fort: „Weißt du es denn nicht? willſt du’s nicht wiſſen? Verſteckſt du dich vor der Wahrheit wie Kain vor Gottes Ruf? Weißt du denn nicht, wer er war? Glaubſt du denn, daß die Welt immer und ewig darüber ſchweigen wird, ſo wie ſie jetzt ſchweigt? Er wird auferſtehen, Bettine, er wird uns zur Rechenſchaft fordern und unſre Namen mit Schmach bedecken; er wird das Gewiſſen der Nachgebornen vergiften, er wird ſo mächtig im Tode ſein, als er ohnmächtig im Leben war. Die Sonne bringt es an den Tag.“ Darauf verließ Clara das Zimmer ruhig wie ein Schatten. Am andern Morgen ging ſie früh vom Hauſe fort. Sie beſuchte ihren Türmer auf der Johanniskirche, ſaß lange oben auf der Steinbank in der ſchmalen Galerie und blickte weit über die winterliche Ebene. Sie ſah aber nicht Schnee, ſie ſah nur vergoſſenes Blut. Sie ſah nicht das Land, ſie ſah nur ein durchſtochenes Herz. Dann ſchlug ſie den Weg nach dem Kirchhof ein. Der Totengräber führte ſie zum Grab. Eben kamen zwei Arbeiter und lehnten ein hölzernes Kreuz gegen den Stamm einer Trauerweide. Nach wenigen Minuten erſchien der Pfarrer Fuhrmann. Er erkannte Clara und grüßte ſie ernſt und höflich. Sie, ohne zu danken, ſchaute an ihm vorüber, ihr Blick ſtreifte den mit ſchmutzigem Schnee bedeckten Grabhügel und die Arbeiter, die jetzt das Kreuz zu Häupten des Grabes einrammten. Auf einem großen, herzförmigen Schild, das inmitten des Grabkreuzes befeſtigt war, ſtanden in weißen Lettern die Worte: [{HIC JACET // CASPARUS HAUSER // AENIGMA // SUI TEMPORIS // IGNOTA NATIVITAS // OCCULTA MORS.}] Sie las es, ſchlug die Hände vors Geſicht und brach in ein gellend wehes Gelächter aus. Jählings wurde ſie aber wieder ganz ſtill. Sie drehte ſich gegen den Pfarrer um und rief ihm zu: „Mörder!“ In dieſem Augenblick kamen vom Hauptpfad her einige Leute, die der Zeremonie der Kreuzaufſtellung hatten beiwohnen wollen: Herr und Frau von Imhoff, Herr von Stichaner, Medizinalrat Albert, der Hofrat Hofmann, Quandt und ſeine Frau. Sie ſahen den Pfarrer bleich und aufgeregt, und der Eindruck eines jeden war, daß etwas Schlimmes vor ſich gehe. Frau von Imhoff, voller Ahnung, eilte auf ihre Freundin zu und umſchlang ſie mit den Armen. Aber mit verwilderten Gebärden machte ſich Clara los, ſtürzte der Gruppe der Nahenden entgegen und ſchrie mit durchdringender Stimme: „Mörder ſeid ihr! Mörder! Mörder! Mörder!“ Nun rannte ſie an ihnen vorbei, auf die Straße hinaus, wo ſich alsbald viele Menſchen um ſie verſammelten, und ſchrie, ſchrie! Endlich wurde ſie von einigen Männern umringt und am Weiterlaufen verhindert. Quandt hatte wieder einmal recht behalten. Sie war wahnſinnig geworden. Noch am ſelben Tag wurde ſie in eine Anſtalt gebracht. Mit der Zeit verging die Raſerei, aber ihr Geiſt blieb umnachtet. Sehr zu Herzen war der Auftritt am Grabe dem Pfarrer Fuhrmann gegangen. Er wollte ſich nicht zufrieden geben, wenn man ihm vorhielt, daß es doch eine Irre geweſen, die ſo gehandelt. Noch vor ſeinem kurz darauf erfolgten Ableben ſagte er zu Frau von Imhoff, die ihn beſuchte: „Mich freut die Welt nicht mehr. Warum klagte ſie mich an? Mich, gerade mich? Ich hab’ ihn ja liebgehabt, den Hauſer.“ „Die Unglückliche,“ erwiderte Frau von Imhoff leiſe, „an Liebe allein hatte ſie nicht genug.“ „Ich trage keine Schuld,“ fuhr der alte Mann fort. „Oder doch nicht mehr, als dem ſterblichen Leib überhaupt zukommt. Schuldig ſind alle, die wir da wandeln. Aus Schuld keimt Leben, ſonſt hätte unſer Stammvater im Paradies nicht ſündigen dürfen. Auch unſern hingeſchiedenen Freund kann ich nicht freiſprechen. Was hat es ihm gefrommt, das Träumen über ſeine Herkunft? Wo Verrat von allen Lippen quillt, flieht der Tüchtige in den Kreis fruchtbarer Neigungen. Aber Schwärmer hören nur ſich ſelbſt. Unſchuldig, meine Beſte, unſchuldig iſt nur Gott. Er gnade meiner Seele und der des edeln Caſpar Hauſer.“ {Ende.}