Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 9. Die Gäſte der Marsbewohner Als Saltner zum zweiten Mal auf der Inſel erwachte, war er nicht wenig erſtaunt, ſich wieder in einer völlig veränderten Situation zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch ſchimmerte die Decke desſelben in einem matten Grau, ſo daß er einigermaßen ſeine Umgebung erkennen konnte. Er ſah ſofort, daß er in einen anderen Raum gebracht worden war. Fenſter waren nicht vorhanden, und das Rauſchen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen ſah er in der Nähe ſeines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgeſtapelt, in denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller geweſen wäre! Aber wie konnte man Licht erhalten? Er erhob erſt vorſichtig ſeinen Arm, um nicht etwa wieder einen unfreiwilligen Luftſprung zu machen, und als er merkte, daß er ſich unter den gewöhnlichen Umſtänden der Erdſchwere befand, ſetzte er ſich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand ſeines Lagers. Und ſiehe da, in dem Augenblick, in welchem ſeine Füße den Boden berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte ſich eine weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen leichten Schirm gedämpft, ſchien fröhlich herein. Er erkannte nun, daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor ſich hatte, auch ſeine ſorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei. Und am Boden lag ſogar ſein Eispickel, den er zu etwaigen Gletſcherbeſteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob er ſich, und ſchon bei den erſten Schritten, die er auf dem weichen Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er ſich wieder völlig wohl und bei Kräften befand. Er ſchob einen Vorhang zu ſeiner Linken beiſeite und ſah dahinter verſchiedene Geräte, die ihm höchſt fremdartig vorkamen, aber doch ſoviel erraten ließen, daß ſie einen Bade-Apparat vorſtellten und was ſonſt zur Toilette eines Martiers gehören mochte. Ehe er ſich jedoch getraute, von dieſen ihm unbekannten Gegenſtänden Gebrauch zu machen, unterſuchte er erſt die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand ſich eine große Tür, die er indeſſen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte ſich nun nach rechts und bemerkte, daß die Täfelung dieſer Seitenwand ebenfalls eine Tür enthielt, die aber nicht ganz geſchloſſen war. Sie führte in ein verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus herumtaſtete, rollte ſich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein Bett genau wie das ſeinige und erkannte zu ſeiner unausſprechlichen Freude — Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag. „Guten Morgen, Doktor“, rief Saltner ohne weiteres. „Wie geht’s?“ Grunthe ſchlug verwundert die Augen auf. „Saltner?“ ſagte er. „Hier ſind wir, munter und geſund, wer hätte das gedacht! Aber der arme Torm — niemand weiß etwas von ihm!“ „Und wiſſen Sie denn“, fragte Grunthe, ſogleich ermuntert, „wo wir uns befinden?“ „Ich weiß es, aber Sie werden’s freilich nicht glauben wollen. Oder haben Sie etwa ſchon mit dem biedern Hil oder der ſchönen Se geſprochen?“ „Wir ſind in der Gewalt der Nume“, antwortete Grunthe finſter. „Sind wir allein?“ „Soviel ich weiß, aber der Teufel traue dieſen Maſchinerien — wer kann wiſſen, ob man nicht von irgendwo alles hört und ſieht, was hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes Wort protokolliert. Na, deutſch verſtehen ſie vorläufig noch nicht.“ „Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?“ „Ja, wenn Sie das nicht wiſſen! Ich denke, hier gibt es überhaupt keine Zeit.“ „Nun, das wird ſich alles beſtimmen laſſen, wenn wir erſt einmal den freien Himmel wiederſehen“, ſagte Grunthe. „Aber wie kann man hier Licht machen?“ „Treten Sie gefälligſt mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem Bett, dann wird es Tag. Wir ſind hier im Lande der automatiſchen Bedienung.“ „Das kann ich nicht, beſter Saltner, mein Fuß iſt verwundet—“ „I — das wäre — laſſen Sie ſehen —“ „Es iſt nichts, ich bin ſchon verbunden, aber ich muß vorläufig noch liegen bleiben.“ Saltner war inzwiſchen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment, in welchem er den Teppich vor demſelben betrat, öffnete ſich das Oberlicht. „Sehen Sie“, rief Saltner, „allmählich lernt man dieſe Marskniffe. Ich kann übrigens ſchon etwas martiſch und werde Ihnen gleich ein Frühſtück beſtellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig Toilette mache.“ Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen ſollte, und ſtellte ſich überlegend vor die Apparate. „Das da ſcheint mir eine Badewanne“, ſagte er, während Grunthe durch die Tür ſein halblautes Selbſtgeſpräch vernahm, „aber Waſſer iſt nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waſchtiſch vorſtellen. Aber hier ſind drei verſchiedene Griffe, und jeder hat eine Aufſchrift — nur daß ich ſie nicht leſen kann. Ich kenn mich halt nicht aus. Na, ich werde mal ein biſſel drehen. Vielleicht kommt ein Waſſer heraus.“ Er drehte vorſichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das darunter befindliche flache Becken werde ſich auf irgendeine Weiſe mit Waſſer füllen. Aber ehe er ſich’s verſah, ſprang das Becken, ſich fächerförmig zu einem Tiſch ausbreitend, hervor und verſetzte ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo ſprang er zurück, fand ſich aber ſofort wieder ſtolpernd nach vorn geſchnellt, denn gleichzeitig hatte ſich in ſeinem Rücken ein Seſſel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er ſich von ſeinem erſten Schreck erholt, betrachtete er ſich die Sache eingehend, probierte an dem Tiſch und Seſſel, und da er ſie ſtandfeſt fand, ließ er ſich gemütlich auf dem Seſſel nieder. „Was gibt’s denn?“ fragte Grunthe von ſeinem Bett aus. „Ein Waſſer war’s nicht“, ſagte Saltner, „aber es ſitzt ſich ganz gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.“ Doch ſchnell ſprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne vielleicht dazu dienen Tiſch und Seſſel wieder verſchwinden zu laſſen, und bei dieſer Gelegenheit wollte er ſich erſt in Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer aufſpringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade enthielt eine Anzahl jener Mundſtücke, deren ſich die Martier, wie Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß oberhalb des Tiſches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche die Mundſtücke hineinpaßten. „Halt“, ſagte Saltner, „hier gibt’s was zu trinken. Aber damit wollen wir doch noch warten.“ Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde ſichtbar, und in dieſelbe fielen aus einer darüber befindlichen Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenſtände, welche etwa die Geſtalt von kleinen Würſten hatten. „Das iſt alſo ein Frühſtück und keine Toilette“, rief Saltner lachend und probierte die ſehr einladend ausſehenden und würzig duftenden Stangen. Sie ſchmeckten vorzüglich und erwieſen ſich als ein knuſpriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleiſchfarce gefüllt war. Wenigſtens hielt Saltner ſie dafür. Aber während er die erſte Stange verzehrte, ſetzte der Apparat ſeine Tätigkeit fort, und Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt war. Das iſt zuviel des Segens, dachte Saltner und ſuchte umher, wie ſich wohl der geheimnisvolle Speiſequell abſtellen ließe. Doch vergebens, der Wirbel ſelbſt ließ ſich nicht zurückdrehen — Saltner wußte nicht, daß man zu dieſem Zweck erſt durch Drehen der Schale den automatiſchen Spender des Gebäcks abſtellen mußte. Einen weiteren Handgriff aber verſtand er nicht zu finden, und ſo quoll ein unſtillbarer Strom von Fleiſchrollen auf die Schale, fiel von dort auf Tiſch und Fußboden und begann ſich zu einem ſtattlichen Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber er fand kein Mittel — er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt verſtopfen. — Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf laſſen. Er wollte nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale ſich drehen ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf. Er ſammelte die umherliegenden Maſſen der Delikateſſe bis auf einen kleinen Reſt und trug ſie in Grunthes Zimmer, der bei dieſem Anblick und Saltners tragikomiſcher Miene ſich eines Lächelns nicht erwehren konnte. Dort verbarg er ſie in einem der leeren Körbe der Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der aus der Gondel geretteten Gegenſtände geſchafft. „Warum laſſen Sie das Zeug nicht einfach liegen?“ fragte Grunthe. „Das geht nicht, ich bin ja ſonſt unſterblich vor den Damen als dummer Bat blamiert. Übrigens ſehne ich mich nach dem Frühſtück; aber erſt muß ich doch ſehen, wo ich ein Waſchwaſſer finde.“ Er drehte der Reihe nach an verſchiedenen Griffen, ohne daß er das Gewünſchte antraf. Bald ſprang ein Schrank auf, der ihm unverſtändliche Geräte enthielt, bald entzündeten ſich Lampen an verſchiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte ſich eine Schüſſel, und ſchon hoffte er am Ziel zu ſein, aber erſchrocken fuhr er zurück, denn die Schüſſel begann ſich zu erhitzen. Endlich erweiterte ſich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem flachen Baſſin, und ein Springbrunnen ſprühte einen Strahl hervor. Vorſichtig überzeugte ſich Saltner, ob er es auch wirklich mit Waſſer zu tun habe, und war ſehr erfreut, als ſich ſeine Vermutung beſtätigte. Nun vervollſtändigte er mit Hilfe ſeiner wiedergefundenen Reiſeeffekten ſeine Toilette und ſetzte ſich mit Behagen an den Frühſtückstiſch. Es war ihm ungewohnt und ſeltſam, daß das Tiſchchen ſo leer war und weder Gläſer noch Taſſen oder Löffel und Meſſer enthielt. Das Gebäck wenigſtens wollte er auf einen Teller legen und ſah ſich deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß ſich auch ein großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Geſtell mit mehreren glänzenden runden Scheiben ſtand, die er für ſilberne Teller hielt. Er holte ſich einen ſolchen Teller und legte ſein Frühſtücksgebäck darauf. Dann ließ er ſich das Getränk munden, das die Öffnungen über dem Tiſchchen bereitwillig ſpendeten, nachdem er die Mundſtücke daran befeſtigt hatte. Es war eine warme und zwei kalte Flüſſigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und Selterswaſſer bezeichnete, da ſie mit dieſen Getränken am meiſten Ähnlichkeit hatten, obwohl er ſich ſagte, daß ſie ſich doch in vieler Hinſicht von den auf der Erde üblichen Genüſſen dieſer Art unterſchieden. Insbeſondere die Schokolade war ſehr fettreich. Neu geſtärkt trat er in ſeinem kleidſamen Reiſeanzug zu Grunthe ins Zimmer und ſagte: „Ich bin nun bereit, unſere Polarforſchung fortzuſetzen. Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns beraten, was wir zu tun haben, will ich doch ſehen, ob ich Ihnen nicht ein Getränk verſchaffen kann. Sie müſſen ja einen grauſigen Durſt haben.“ „Danke ſchön“, erwiderte Grunthe lachend, „ſehen Sie, was ich habe.“ Und er wies auf das Mundſtück eines Schlauches hin, das neben ſeinem Kopf über dem Bett herabhing. „Und hier“, fuhr er fort, „koſten Sie einmal dieſe Paſtete oder was es ſonſt iſt. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich ſchmeckt, aber ich fühle mich dadurch wunderbar geſtärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte, ſtünde ich ſogleich auf.“ „Sakra auch, das laſſe ich mir gefallen! Wie haben Sie das entdeckt? Ich habe mich inzwiſchen abgeſchunden, verſchiedene Stöße bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden Sie das, es war doch vorhin nicht hier?“ „Einfach durch Nachdenken. Ich ſagte mir, die Martier ſind viel klüger als wir und jedenfalls viel umſichtiger. Wenn wir nun einen Patienten haben, der nicht gehen kann, ſo werden wir ihm doch ein Frühſtück ans Bett bringen, und wenn wir ſelbſt aus irgendeinem Grund nicht kommen wollen, ſo werden wir es ihm hinſtellen. Ich ſah mich alſo um. Nun betrachten Sie einmal dieſe beiden kleinen Zettel an dieſen Ringen.“ „Das ſind ja lateiniſche Buchſtaben!“ „Allerdings. Es ſind zwei Wörter der Eskimoſprache. ‚Miſalukpok‘ und ‚Imerpok‘. Das eine bezeichnet ‚Eſſen‘ und das andere ‚Trinken‘.“ „Warum hat man mir aber nicht auch ſolche Aufſchrift angeklebt? Bei mir ſind alle Schilder in einer Zeichenſchrift, die jedenfalls martiſch iſt.“ „Sie verſtehen ja nicht Grönländiſch.“ „Woher wiſſen aber die Nume, daß Sie es verſtehen?“ „Weil ich mich geſtern mit einer — mit jemand darin unterhalten habe.“ „Potztauſend, Grunthe, Sie ſind mir über! Aber eins begreif ich nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wiſſen, wie man dieſe Worte in unſern Buchſtaben ſchreibt?“ „Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie ſehen, es iſt Antiqua, der lateiniſchen Druckſchrift genau nachgemalt. Und mein kleines Wörterbuch iſt nicht mehr da, daraus haben ſie die Zeichen entnommen. Aber wie ſie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden haben, das iſt mir ein völliges Rätſel. Denn ſie kennen doch nur den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.“ „Es iſt eine unheimliche Geſchichte“, ſagte Saltner. „Aber ein gutes Weiberl iſt ſie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich nur wüßt, warum ſich kein Menſch bei uns ſehen läßt, kein Nume, wollt ich ſagen, denn darauf ſcheinen ſie ſich was Großes einzubilden, daß ſie keine Menſchen ſind.“ „Das kann ich Ihnen auch ſagen, Saltner. Würden Sie ihren Gäſten nachts zwiſchen drei und vier Uhr einen Beſuch machen?“ „Iſt das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie’s ja nicht, und ich denke, am Pol gibt’s überhaupt keine Zeit.“ „Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müſſen doch feſtſetzen, wann ſie ſchlafen und wann ſie zu Mittag eſſen ſollen. Wir alſo haben zum Beiſpiel unſere mitteleuropäiſche Einheitszeit auf unſeren Taſchenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon ſcheiterte, war es nach mitteleuropäiſcher Zeit gegen ſechs Uhr abends. Nun weiß ich bloß nicht, ob ſeitdem ein oder zwei Nächte vergangen ſind, denn das hängt von der Länge unſerer Ohnmacht und unſeres Schlafes ab.“ „Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann unſer erſtes Erwachen ſtattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald nach dem meinigen.“ „Nun, das läßt ſich nachher aus der Deklination der Sonne feſtſtellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt erſt wieder entdeckt — beide Uhren, und da ſie übereinſtimmen, ſind ſie auch nicht ſtehengeblieben —“ „Nein, ich habe dieſelbe Zeit —“ „Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das haben ſie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für ſie jetzt Schlafenszeit iſt und daß ſie erſt in vielleicht zwei Stunden aufſtehen werden. Deswegen ſagte ich, es ſei zwiſchen drei und vier bei unſern Wirten; wie ſie die Stunden zählen und benennen, weiß ich allerdings auch nicht.“ „Aber Doktor, woher wiſſen Sie denn, was bei den Martiern für eine Tageseinteilung Mode iſt und was die Glocke bei ihnen geſchlagen hat?“ „Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem Komfort der Martier ausgeſtattet iſt, werde eine Uhr fehlen?“ „Ich habe keine geſehen und Sie vorhin auch nicht.“ „Seitdem aber habe ich ſie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einſchließt? Sie iſt in zwölf mal zwölf gleiche Abſchnitte geteilt. Und jene ſchmalen hellen Streifen, die Sie dazwiſchen ſehen, liegen nicht feſt, ſondern bewegen ſich auf dem Ring. Das iſt mir erſt allmählich klar geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die Höhe ſtarrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.“ „Ich ſchau ſie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.“ „Entziffern kann ich ſie auch nicht. Aber ſehen Sie, es ſind zwei Zettel angeſteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, ſondern nur für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein geſchloſſenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung iſt klar: Schlafen und Wachen.“ „Es iſt richtig, und dieſer helle Strich —“ „Das iſt der Stundenzeiger —“ „Dachte ich mir. Er ſteht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen Kreiſes von dem geöffneten Auge ab.“ „Daher eben ſchließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum Beginn des Erwachens der Martier ſind.“ „Aber finden Sie es nicht ſeltſam, daß die Martier den Tag ebenfalls in zwölf Stunden teilen?“ „Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig —“ „Nun, das ſind zweimal zwölf.“ „Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht — ich würde mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Weſen der Zahl, das heißt im Weſen des Bewußtſeins überhaupt. Die Geſetze der Mathematik ſind die Geſetze der Welt. 12 iſt 3 mal 4, die kleinſte aller Zahlen, welche die drei erſten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern beſitzt. Alle intelligenten Weſen, welche Mathematik treiben, werden die 12, nächſtdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen machen.“ „Aber wir haben ja doch die Zehn —“ „Die alte Aſtronomie wählte die Zwölf — zwölf Zeichen bilden den Tierkreis — die Zehn iſt nur ein unwiſſenſchaftlicher Rückfall in die ſinnliche Anſchauung der zehn Finger — Krämerpolitik —, doch laſſen wir das.“ „Meinetwegen“, ſagte Saltner. „Aber was tun wir nun? Erſt müſſen Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.“ „Ich fürchte“, erwiderte Grunthe, „wir werden auch dann nichts anderes tun können, als was die Martier über uns beſchließen. Mit der Expedition wird es wohl ſo ziemlich aus ſein. Suchen wir uns inzwiſchen möglichſt mit den Verhältniſſen vertraut zu machen. Rekognoszieren Sie ein wenig!“ „Im Zimmer habe ich mich ſchon umgeſehen, und ich möchte nicht noch mehr von den rätſelhaften Inſtrumenten probieren — man kann ſich zu leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem phyſikaliſchen Inſtitut, bloß daß unſereiner nicht die nötige Naivität beſitzt.“ „Was haben wir denn für Ausgänge?“ „Nur einen aus jedem unſerer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu öffnen. ich glaube, es iſt auch ſchicklicher, wir warten hier, bis man uns aufſucht, als daß ich aufs Ungewiſſe herumſtöbere.“ „Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unſere Sachen ein wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, ſo bitte ich Sie darum. Zunächſt müſſen wir ſehen, daß wir ſowohl Torms Eigentum als die offiziellen Aktenſtücke der Expedition in Sicherheit bringen.“ „Ich habe ſchon einiges hier beiſeite gelegt“, ſagte Saltner, indem er unter den Gegenſtänden aufräumte, welche die Martier aus der Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das Meerwaſſer beſchädigt. „Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm“, fuhr Saltner fort, „wenn noch einiges von unſerm Proviant brauchbar wäre. Denn ich traue nicht recht, wie einem dieſer Würſtchen-Automat hier bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles aufgehoben haben! Da haben ſie uns ja das Futteral mit den beiden Flaſchen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballaſt auf die Inſel warfen. ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe zerſchlagen und dabei in tauſend Trümmer gehen. Aber es ſcheint ganz unverſehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem Kaſten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude anſehn. Arme Frau Isma!“ Er nahm die Flaſchen heraus. „Halt“, ſagte er, „da in dem Futter ſteckt noch ein Paketchen. — Was haben wir denn da?“ Der Verſchluß hatte ſich gelöſt. Ein Buch in der Größe eines Notizkalenders kam zum Vorſchein. „Na“, ſagte Saltner, „Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das iſt.“ „Was geht das mich an?“ ſagte Grunthe unwirſch. Saltner ſchlug das Buch auf. Er ſtutzte ſichtlich, blätterte darin und ſah lange hinein. „Das iſt —“, ſagte er dann kopfſchüttelnd, „das iſt ja — Aber wie iſt das möglich?“ Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateiniſchen Alphabets transkribiert, daneben befand ſich eine deutſche Überſetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der ſtenographiſchen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt. „Sagen Sie mir das eine“, fuhr er fort, „mir ſteht der Verſtand ſtill — wie kann ein deutſch-martiſches Wörterbuch hierherkommen — wie kann es überhaupt exiſtieren?“ Grunthe ſtreckte ſprachlos die Hand aus und ergriff das Buch. Er warf nur einen Blick hinein. Dann ſagte er leiſe: „Das iſt die Handſchrift von Ell.“ Grübelnd ſchloß er die Augen. Das unlösbare Rätſel trat ihm wieder entgegen — wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner? Und wenn er ſie kannte, warum hatte er ſich nicht offen ausgeſprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam ſie verſteckt in das Futteral, unter die Flaſchen? Er wußte keine Antwort. Saltner hatte inzwiſchen das Buch ergriffen und ſuchte ſich daraus einige Worte zuſammen. Da hörte er im Nebenzimmer leiſes Lachen und Stimmen der Martier. Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis an die Tür begleitet und amüſierte ſich köſtlich über die Unordnung, welche Saltner angeſtiftet hatte, am meiſten aber darüber, daß er bei ſeinem Frühſtück als Teller die — Kämme benutzt hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; ſie wurden elektriſch geladen und ſtreckten dann die Haare geradlinig vom Kopf ab. „Es iſt zu luſtig“, lachte Se. „Aber wir wollen ihm jetzt nichts ſagen, dem armen ‚deutſch Saltner‘.“ Darauf zog ſie ſich wieder zurück. Denn es war ihr zu ‚ſchwer‘ in den Zimmern der Bate. Hil trat bei Grunthe und Saltner ein. 10. La und Saltner