In der glänzend ausgeſtatteten Vorhalle des neuen ‚Marshotels‘ an der Straße ‚Unter den Linden‘ in Berlin ſtanden zwei elegant gekleidete Damen. In ihren gemeſſenen Bewegungen, mit denen ſie die Einrichtungen des Hotels aufmerkſam muſterten, machten ſie einen ebenſo vornehmen Eindruck, als er dem Reichtum ihrer Toilette entſprach. Ihr Geſicht war von einem dichten Schleier bedeckt, ſo daß es ſchwer war, über ihr Alter ein Urteil zu gewinnen.
Als ſie im Begriff waren, auf die Straße zu treten, näherte ſich ihnen ein Kellner und fragte ehrerbietig: „Befehlen die Damen Plätze zur Table d’hôte?“
Se trat, entſetzt über dieſe Zumutung, einen Schritt zurück. Schnell gefaßt ſagte La:
„Wir können darüber noch nicht entſcheiden.“
„Wagen gefällig?“ fragte der Portier.
La ſchüttelte nur den Kopf und ging vorüber.
Der Kellner und der Portier tauſchten einen Blick, aus dem wenig Hochachtung für die beiden Gäſte ſprach.
Die Damen ſchritten die Straße entlang nach dem Opernplatz zu. Sie ſpannten ihre Sonnenſchirme auf, und ihre Bewegungen wurden ſichtlich freier und lebhafter.
„Du haſt doch nicht etwa die Abſicht“, ſagte Se leiſe, „wirklich mit dieſen Baten eſſen zu wollen? Das iſt doch unmöglich.“
„Mit dem Hut und dem Schleier wird es nicht gehen, ſonſt aber — man muß ſich an alles gewöhnen.“
„Aber das iſt doch zu unanſtändig.“
„Wir ſind auf der Erde. In irgendeine der Reſtaurationen, die hier, wie es ſcheint, in jedem Hauſe ſind, wollen wir jedenfalls einmal eintreten. Sieh nur, wo man hinblickt, ſitzen Leute und trinken Bier. Das nennen ſie Frühſchoppen.“
Sie ſchritten weiter durch das Gewühl der Menſchen, über breite Plätze, dann in engere, noch dichter belebte Straßen hinein. Ihre Blicke ſchweiften über Gebäude und Denkmäler, über die begegnenden Perſonen und Wagen oder verweilten auf den glänzenden Auslagen in den Schaufenſtern.
„Es gefällt mir gar nicht“, ſagte Se. „Alles iſt nüchtern, klein und eng. Man ſieht förmlich, wie die Schwere die Gebäude zuſammendrückt, die Dächer herabklappt. Die Wände, die Erker, alles iſt vertikal gezogen, eine horizontale Schwingung ins Freie ſcheint es gar nicht zu geben. Sieh nur, wie dieſer Balkon mühſam von unten geſtützt iſt! Und wie ärmlich und geſchmacklos all dies Zeug in den Läden! Und das iſt nun die Hauptſtadt! Wie mag es auf dem Lande ausſehen? Denn dieſe ganze Herrlichkeit reicht nicht weit, ſelbſt wenn man zu Fuß geht, iſt ſie in ein paar Stunden zu Ende.“
„Du mußt doch nicht immer unſre Verhältniſſe zum Vergleich heranziehen“, entgegnete La. „Im ganzen iſt es ſtaunenswert, was die Leute für ihre Kulturſtufe leiſten. Sie haben doch eine Induſtrie. Natürlich müſſen ſie ſich nach der Schwere richten und können nicht wie wir in die Luft hinausbauen. Aber wie angenehm kann man dafür hier im warmen Sonnenſchein gehen, ohne verbrannt zu werden. Und ſieh nur, dieſe entzückenden weißen Wölkchen, wie ſie über den blauen Grund ziehen. Das gefällt mir beſſer als unſer ewiger grüner Baumſchimmer oder der faſt ſchwarze Himmel darüber.“
„Mir ſcheint, du willſt dich zur Erdſchwärmerin ausbilden. Mich ſtößt ſchon dieſer entſetzliche Lärm ab. Die Leute unterhalten ſich ja ſo laut, daß man es auf mehrere Schritte hört. Und dort zanken ſich gar zwei auf offener Straße. Auch die Wagen ſind unausſtehlich geräuſchvoll, man hört das Rollen der Räder auf weithin. Wie muß das erſt geweſen ſein, als noch Pferde vor die Wagen geſpannt waren. Höre nur das unanſtändige Rufen der Wagenführer: He! He! Das Klingeln und Pfeifen! Ich möchte mir die Ohren verſtopfen.“
„Man gewöhnt ſich daran.“
„Was kommt denn dort? Hoch oben ſitzen Menſchen, und unten iſt ein Tier mit vier Beinen. So was habe ich noch nie geſehen, das müſſen wir uns betrachten.“
„Es ſind Reiter“, ſagte La. „Sie ſitzen auf Pferden. Es ſieht gut aus.“
„O nein, abſcheulich! Dieſe Tiere, wie häßlich. Und wie das riecht! O pfui! Komm, komm, das halte ich nicht aus.“
Aus der Tür eines Hauſes trat ein Nume, mit dem großen, glänzenden Glockenhelm über dem Kopf. Er ſchritt bis in die Mitte der Straße, um ſich nach ſeinem Wagen umzuſehen. Ein Teil der Vorübergehenden wich ihm in einem Bogen aus, andre, die gelbe Marken an der Kopfbedeckung trugen, gingen zwar dicht an ihm vorüber, blickten aber finſter nach der andern Seite. Gerade jetzt waren die Reiter bis hierher gelangt. Das Pferd des erſten ſcheute vor dem Helm des Martiers, der, ohne an ein Ausweichen zu denken, in der Mitte der Straße ſtand. Kerzengerade ſtieg es in die Höhe. Der gewandte Reiter behauptete ſich im Sattel, er wollte das Pferd an dem Martier vorüberbringen. In unregelmäßigen Sätzen ſprang es hin und her und ſchlug aus. So drängte es in die Zuſchauermenge hinein, die ſich ſchnell angeſammelt hatte. Dieſe ſtob erſchrocken auseinander, auch La und Se wurden geſtoßen, allgemeines Geſchrei entſtand. Schreckensbleich ſahen ſie, in die Ecke einer Haustür gedrückt, der Szene zu. Von den Sporen des Reiters getroffen, machte jetzt das Pferd einen gewaltigen Satz nach vorn. Es ſtreifte den Helm des Martiers und riß dieſen zu Boden. Die Reiter galoppierten davon, und ein Hohngeſchrei der angeſammelten Straßenjugend begleitete die Niederlage des Numen.
Wütend ſprang der Nume in die Höhe, das Publikum beeilte ſich, aus ſeiner Nähe zu kommen. Ein Schutzmann hatte ſich inzwiſchen eingefunden und war dem Numen behilflich, in ſeinen Wagen zu ſteigen.
„Wer waren die Reiter?“ fragte der Martier.
„Es waren Herren vom Rennklub.“
„Gut, dieſem Unfug muß geſteuert werden.“
Der Nume fuhr davon.
„Das geht ja hier entſetzlich zu“, ſagte Se ſchaudernd. „Man iſt ſeines Lebens nicht ſicher. Ich gehe nicht weiter.“
„Nur noch bis an jene Ecke. Dort in der Reſtauration hinter den großen Scheiben ſehe ich Damen in Hüten ſitzen, da wollen wir uns ein wenig erholen. Und dann fahren wir direkt zu Isma.“
Sie traten in das reich ausgeſtattete Lokal ein und ſchritten zwiſchen den Tiſchen, die Gäſte muſternd, hindurch, bis ſie neben einem der Fenſter an einem noch unbeſetzten kleinen Tiſch Platz fanden. Obwohl ihnen alle Verhältniſſe fremd und ungewohnt waren, ſo machte ſie das doch in keiner Weiſe befangen; es waren ja nur ‚Bate‘, die hier ihren barbariſchen Sitten huldigten, und ſie wollten ſich das nur einmal anſehen. So dachte wenigſtens Se. Sie rümpfte das Näſchen und ſagte:
„Eine furchtbare Luft! Dieſe Gerüche und dieſer Lärm — wie kannſt du es nur hier aushalten.“
Das Gemiſch von Düften nach Bier, Tabak und geräucherten Würſtchen, in Verbindung mit dem Geräuſch der Stimmen, war für martiſche Sinne betäubend.
„Wir können hier ein wenig das Fenſter öffnen“, ſagte La.
Sie befanden ſich in dem großen Ausſchank einer ſüddeutſchen Brauerei. Ein Kellner ſetzte unaufgefordert zwei Glas Bier vor ſie hin, und eine Kellnerin brachte ihnen die Speiſekarte.
Se amüſierte ſich. „Dieſen Topf ſoll man auſtrinken?“ ſagte ſie. „Aber wie macht man denn das, es iſt ja kein Saugrohr dabei?“
La warf einen etwas verzweifelten Blick umher, dann hob ſie das Glas und ſagte: „Wir müſſen eben trinken wie die Menſchen.“ Und ſie nahm einen tüchtigen Zug.
Se verſuchte es gleichfalls, aber ſie kam nicht recht damit zu Rande. „Woher kannſt du das nur?“ fragte ſie lachend. „Ich glaube, du haſt dich auf deine Erd-Expedition vorbereitet!“
„Ich habe es wirklich eingeübt“, antwortete La. „ich habe mir nun einmal vorgenommen, unter den Menſchen ſo wenig wie möglich aufzufallen.“
„Und das ſagſt du ſo ernſthaft — man möchte es wirklich glauben. Nun, was ſteht denn auf dieſer wunderbaren Speiſekarte, die man mit beiden Händen halten muß?“
„Ich werde nicht klug daraus. Doch, da —“ ſie hielt inne, „— ich werde mir — dies da —“
Ein wehmütiges Lächeln ging flüchtig über ihre Züge, dann wandte ſie den Kopf ab und blickte ſinnend zum Fenſter hinaus.
Se las die Stelle, die La mit dem Finger bezeichnet hatte, und warf dann einen verwunderten Blick auf die Freundin. Sie ſuchte in ihrem Gedächtnis, und nun hatte ſie es gefunden. Ihre Augen blitzten ſchelmiſch auf, und plötzlich ſagte ſie, ganz mit Saltners Akzent:
„Ein Paar Geſelchte mit Kraut, die wenn i’ hätt’, ’s wär’ ſchon recht.“
La zuckte zuſammen. Sie ſah Se mit einem flehenden Blick an. Dieſe ergriff ihre Hand und ſagte, ihr Lachen unterdrückend: „Sei nicht böſe, liebe La, aber eine Nume, der bei der Erinnerung an ‚ein Paar Geſelchte‘, die ſie noch dazu nie mit ihren Augen geſehen hat, die Tränen in dieſe ſchönen Augen treten, das iſt doch ein Anblick, um Götter zum Lachen zu bringen. Aber es iſt wahr, dieſen würdigen Gegenſtand müſſen wir kennenlernen, aus Dankbarkeit an die luſtigen Zeiten. Und heute habe ich ſchon viel daraus gelernt“, ſetzte ſie im ſtillen für ſich dazu.
Se beſtellte. Und wieder mußte ſie leiſe lachen. Sie ſah ſich mit La und Saltner auf der Ausſichtsbrücke des Raumſchiffs ſtehen, als ſich die leuchtenden Flächen des Mars zum erſtenmal vor den Ankommenden im Sonnenſchein ausbreiteten, und der Kapitän Oß, der zu Saltners Ärger La nicht von der Seite wich, ſagte: „Morgen werden wir landen. Es iſt ein hübſcher Raumſchifferglaube, daß der Wunſch in Erfüllung geht, den man bei der Landung ausſpricht; es muß aber etwas Praktiſches und etwas Kleines ſein. Was werden Sie denn ſagen?“ Er blickte La ſchmachtend an, die aber nicht antwortete. Da tat Saltner in ſeinem trockenen Ton den klaſſiſchen Ausſpruch von den Würſtchen. La und Se hatten lange gefragt, was denn dies ſei, und er hatte ſie immer mit dieſem Geheimnis geneckt, bis er es ihnen einmal erklärte, und dann war es eine ſcherzhafte Redensart geworden.
„Das ſind ein paar patente Frauenzimmer“, ſagte ein Herr am Nebentiſch zu ſeinem Nachbar.
„Es ſind Tirolerinnen, ich hab’ vorhin die eine ſprechen hören“, ſagte der andre. „Sie ſind gewiß von der Stürzerſchen Sängergeſellſchaft.“
Das Eſſen war gebracht worden. Die Würſtchen dampften verlockend auf den Tellern, nur nicht für die Freundinnen. Sie tauſchten verzweifelte Blicke miteinander.
„Es iſt keine Waage unter dem Teller“, ſagte La, „man weiß nicht, wieviel man eigentlich zu ſich nimmt. Willſt du dir vielleicht lieber etwas Chemiſches geben laſſen?“
„Ich bringe es überhaupt nicht fertig, vor allen dieſen Leuten zu eſſen. Ich ſchäme mich halbtot.“
„Es kommt ja kein Nume herein, und niemand kennt uns. Ich will dir etwas ſagen — entweder, oder! In dem Schleier können wir überhaupt nicht eſſen. Wir drehen dem Publikum den Rücken zu und nehmen die Schleier ab. Ich ſtelle mir jetzt vor, ein Menſch zu ſein!“
Und mit einem kühnen Entſchluß löſte La den Schleier von ihrem Geſicht und begann zu eſſen.
„Es iſt wirklich gut“, ſagte ſie. „Es iſt fett und ſchmeckt wie Al-Keht. Verſuch es nur!“
Se ſah ihr geſpannt zu. Sie bewunderte die Seelengröße der Freundin, aber ſie konnte ſich nicht zu dem gleichen Opfer für die Menſchheit entſchließen.
„Es iſt zu viel“, ſagte La.
„So wollen wir gehen. Die Leute ſehen uns zu. Himmel, da draußen geht ein Nume vorüber.“
Se drehte ſich ſchnell um, indem ſie den Schleier zu befeſtigen ſuchte. Indeſſen bezahlte La, und ſie verließen das Lokal.
Die beiden Herren waren ihnen gefolgt. Als Se und La auf der Straße ſtehen blieben, um ſich nach einer Droſchke umzublicken, trat einer der Herren an ſie heran.
„Die Damen ſind fremd und wiſſen den Weg nicht“, ſagte er, den Hut lüftend, „dürfte ich vielleicht die Ehre haben —“
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendeten ſie ihm den Rücken zu und ſetzten ihren Weg fort. Sie bemerkten alsbald, daß die beiden ihnen unter anzüglichen Bemerkungen folgten.
„Das iſt ja eine unverſchämte Geſellſchaft“, ſagte Se, „es iſt wirklich recht nett hier unter den Baten, man kann ſich nicht einmal frei bewegen.“
„Du mußt bedenken“, bemerkte La entſchuldigend, „das ſind ungebildete Leute, die nichts zu tun haben, ſonſt würden ſie um dieſe Zeit nicht im Gaſthaus ſitzen. Dort drüben ſtehen übrigens Wagen.“
„Ich werde ihnen aber erſt eine kleine Ermahnung geben. Paß auf, wie ſie verſchwinden werden.“
Sie neſtelte an ihrem Schleier und blieb dann ſtehen. Als ſich die beiden Herren dicht hinter ihr befanden, drehte ſie ſich plötzlich um und riß den Schleier herab. Der Glanz ihrer mächtigen Augen und das Gebietende ihres Blickes zeigte den Abenteuerluſtigen ſofort, daß ſie vor einer Nume ſtanden. Erſchrocken prallten ſie zurück.
„Macht, daß ihr in die Schule kommt!“ rief ſie ihnen zu.
Beide entfernten ſich aufs ſchleunigſte.
Se lachte. „Aber nun habe ich wirklich Hunger“, ſagte ſie. „Isma muß mir etwas zum Frühſtück verſchaffen.“
Eine Droſchke brachte ſie vor das Haus, wo Isma wohnte. Enttäuſcht ſahen ſie ſich um, nachdem ſie den Hof überſchritten hatten. Kein Aufzug im Haus, und drei Treppen! Es war eine mühſame Partie. Se ſeufzte wiederholt.
„Man braucht ja nicht in einem ſolchen Haus zu wohnen oder nicht ſo hoch“, ſagte La begütigend.
„Man braucht glücklicherweiſe überhaupt nicht auf der Erde zu wohnen, ſollte ich denken.“
„Nun ja, ich meinte nur, wenn man — zum Beiſpiel amtlich —“
„Ach ſo.“
Endlich ſtanden ſie vor der Tür, welche die Aufſchrift ‚Isma Torm‘ trug. Sie hatten nun ihre Schleier abgenommen. Auf ihr Klingeln öffnete ſich die gegenüberliegende Tür, und eine ältere, freundliche Dame ſagte, Frau Torm ſei nicht zu Hauſe. Jetzt erkannte ſie, daß ſie zwei Damen vom Mars vor ſich habe und erſchöpfte ſich in Entſchuldigungen. Frau Torm werde ſogleich nach Hauſe kommen, es ſei jetzt ihre Zeit, und die Damen möchten nur einen Augenblick warten, es ſei alles geimpft im Haus, und ſie werde ſie ſogleich in Frau Torms Zimmer führen. Das geſchah denn, und die unterhaltende Dame ließ ſie nun allein.
Die beiden Martierinnen ſahen ſich ſorgfältig in dem freundlichen und geräumigen Zimmer um. In dem lebensgroßen Porträt an der Wand erkannte Se ſogleich Ismas Gatten, deſſen Bild ihr in allen Schriften über die Erde begegnet war. Mit beſonderem Intereſſe betrachtete La die Einrichtung im einzelnen, nur irrte ſie ſich, wenn ſie glaubte, etwa hier den Typus des Wohnzimmers einer deutſchen Hausfrau vor ſich zu haben. Denn wenn auch die Tätigkeit der weiblichen Hand unverkennbar war, ſo enthielt doch die Einrichtung nicht nur viele Züge des Studierzimmers eines Mannes, ſondern auch allerlei, was von den landesüblichen Gewohnheiten abwich und an den Einfluß des Mars erinnerte. Da waren zahlreiche Kleinigkeiten, die von Ismas Planetenreiſe erzählten, eine Fluoreszenzlampe über dem Schreibtiſch hing an einem Lisfaden, ſo daß ſie in der Luft zu ſchweben ſchien, ein Bücherbrett war ganz nach martiſchem Muſter eingerichtet, und es fehlte ſogar nicht der Phonograph, ein Geſchenk Ells.
Unter den Druckſachen, die auf dem Tiſch lagen, fiel La ein Flugblatt auf, das in mehreren Exemplaren vorhanden war. Es trug die Überſchrift: ‚An die Menſchheit!‘ und begann mit den Worten: „Numenheit ohne Nume! Das ſei der Wahlſpruch des allgemeinen Menſchenbundes, den wir aufrichten wollen unter allen Kulturvölkern der Erde.“
La las weiter. Der Inhalt feſſelte ſie. In feurigen Worten war die ideale Kultur der Martier geprieſen, aber ebenſo entſchieden eifriger Proteſt erhoben gegen die Form, welche ihre Herrſchaft auf der Erde angenommen hatte. „Ergreifen wir“, ſo hieß es, „was ſie uns bieten, mit klarer Einſicht und offenem Herzen, ſo werden wir ihrer ſelbſt nicht mehr bedürfen. Zeigen wir, daß wir das große Beiſpiel ihres Planeten begriffen haben, eine Gemeinſchaft freier Vernunftweſen zu bilden, in der die Ordnung herrſcht nicht durch die egoiſtiſche Gewalt einzelner Klaſſen, ſondern durch das lebendige Gemeinſchaftsgefühl aller. Das neue Zeitalter iſt vorbereitet. Der Mars hat uns den gewaltigen Dienſt geleiſtet, uns zu zeigen, wie die Not des Daſeins bezwungen werden kann durch eine reichere Ausbeutung der Natur und eine größere Selbſtbeherrſchung der Menſchen. Er hat die hiſtoriſchen Feſſeln gebrochen, die uns verhinderten, die neuen Ideen in der Menſchheit lebendig zu machen. Er hat die Völker geeint in dem gemeinſamen Bewußtſein, daß ſie als Kinder der Erde zuſammengehören und ihre häuslichen Streitigkeiten zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zuſammenzufaſſen; er hat uns gezeigt, daß es gilt, dem überlegenen und geeinten Planeten zu begegnen, nicht um ihn zu bekämpfen als einen Feind, ſondern um ſeiner Freundſchaft würdig zu werden und ihn als Bundesgenoſſen zu begreifen. Menſchliche Wiſſenſchaft und menſchliche Arbeit möge unſer Leben mit dem Bewußtſein durchdringen, daß es nur nötig iſt, dem Geſetz der Vernunft zu folgen, um auch unſern Willen auf der Höhe des ſittlichen Ideals zu halten. Wagen wir es zu denken und an uns ſelbſt zu glauben! Fahren wir fort zu lehren und zu lernen, damit wir verſtehen, was menſchliche Freiheit erfordert! Und aus der Vertiefung des befreiten Menſchengefühls heraus einigen wir uns in einem großen geiſtigen Bund, daß wir von uns ſagen können: Hier iſt die Menſchheit, hier iſt die Gemeinſchaft des Willens, uns frei unterzuordnen dem Geſetz der Vernunft, hier iſt die Erde, um dem Mars die Bruderhand zu reichen! Und dann, das laßt uns mit Gewißheit glauben, wird der ältere Bruder uns ebenſo frei die Hand entgegenſtrecken und ſprechen: Ihr ſeid würdig der Freiheit, die Ihr Euch gewonnen habt, nehmt ſie hin, wir verzichten freiwillig auf unſre Herrſchaft. Unſer Ziel iſt erreicht, wenn Ihr Menſchen ſeid.“ — Daran waren Mitteilungen über die Organiſation des Bundes geknüpft.
Indeſſen hatte Se in den Zeitungen geblättert, als ſie plötzlich ausrief: „Höre, La, hier ſteht etwas, das dich intereſſieren wird, von Oß und Saltner —“
La griff nach dem Blatt. Noch hatte ſie kaum die Stelle gefunden, als die Tür ſich öffnete und Isma eintrat.
Ihre Überraſchung war groß und die Begrüßung lebhaft. Und doch fühlte ſich Isma befangen. Warum hatte ihr Ell nichts von dem bevorſtehenden Beſuch geſagt? Sie fühlte ſich freier, als ſie im Lauf des Geſpräches vernahm, daß Ell gar nichts von dem Eintreffen Las wußte, und gewann bald die Überzeugung, daß es nicht der Wunſch war, Ell wiederzuſehen, der La nach der Erde geführt habe. La erzählte von ihren Eindrücken und Erlebniſſen auf dem Weg vom Hotel zu Isma, und Se erhielt die erſehnte Kräftigung. Dann brachte Se das Geſpräch auf den Zeitungsartikel über Oß und Saltner.
Es war darin geſagt, daß auf Veranlaſſung des Inſtruktors für Bozen, Oß, der bekannte Forſchungsreiſende Saltner ſteckbrieflich verfolgt werde wegen öffentlicher Anreizung zum Ungehorſam gegen die Geſetze, Widerſtands gegen den vorgeſetzten Numen, Bedrohung des Inſtruktors, Mißbrauchs amtlicher Papiere und Befreiung von Gefangenen. Es war noch hinzugefügt, daß hoffentlich die Schwere der Anklage ſich nicht beſtätigen werde, da es bekannt ſei, daß gegen den Inſtruktor Oß ſelbſt eine Unterſuchung wegen Überſchreitung der Amtsgewalt ſchwebe und ſeine Abberufung bevorſtehe. Saltners Aufenthalt ſei unbekannt, doch werde von allen Behörden aufs angelegentlichſte nach ihm geforſcht.
La ſagte kein Wort. Sie ſuchte ihre Erregung zu beherrſchen. Aber das Herz ſchlug ihr in Angſt und Sorge. Gewiß hatte Oß Saltner gereizt, um ſeine Rache an ihm nehmen zu können. Und ſie fühlte ſich ſchuldig als die geheime Urſache dieſer Gegnerſchaft. Sie horchte mit Bangigkeit auf die Erklärungen, die Isma jetzt auf Ses Frage gab.
Ell hatte Isma am Tag vorher beſucht, an demſelben Tag, an welchem er genauere Nachricht über die Vorgänge in Bozen erhalten hatte und auch die erſten Mitteilungen an die Zeitungen gelangt waren. Die Klagen über Oß waren zuerſt beim Unterkultor in Wien erhoben worden. Dieſer befand ſich in der ſchwierigen Stellung, daß er amtlich dem Kultor des geſamten deutſchen Sprachgebiets in Berlin verantwortlich, in der Durchführung ſeiner Anordnungen aber an die Zuſtimmung der politiſchen Oberbehörde, nämlich an das öſterreichiſche Miniſterium gebunden war. Infolgedeſſen konnte er nicht ohne weiteres die Suſpendierung des Oß von ſeinem Amt verfügen, ſondern es wurden Verhandlungen mit der Wiener Regierung notwendig. Von dort aus konnte erſt an Ell berichtet werden.
So waren mehrere Tage ſeit der Flucht Saltners vergangen, ehe Ell von derſelben erfuhr. Nun wurde auf Grund der Klage der Behörden und der Einwohner des Bozener Inſtruktionsbezirks die Disziplinarunterſuchung gegen Oß erhoben und der Unterkultor in Wien angewieſen, ſich perſönlich nach Bozen zu begeben. Man konnte annehmen, daß er heute daſelbſt eintreffen würde. Aber für Saltner wurde der Stand der Sache dadurch nicht gebeſſert. Seine Selbſthilfe war vom Standpunkt der Martier aus eine Geſetzesverletzung, die eine eindringliche ſtrafrechtliche Verfolgung erforderte, weil man die Autorität der Nume unbedingt aufrechterhalten wollte. Ell konnte daher nicht anders handeln, als die Maßregeln zu beſtätigen, durch welche die Verhaftung Saltners erzielt werden ſollte. Isma berichtete ausführlicher über die Beſchuldigung, die von dem Inſtruktor gegen Saltner erhoben wurde. Danach erſchien es, als hätte Saltner den Inſtruktor auf offner Straße inſultiert, die Einwohner zum Widerſtand aufgefordert, ſeine Mutter und die Magd endlich durch einen raffinierten Betrug aus dem Laboratorium entführt.
Se dachte im ſtillen: Wie gut, daß man nicht weiß, was er ſchon auf dem Mars verbrochen hat! La jedoch ſagte mit künſtlicher Ruhe: „Man wird doch erſt hören müſſen, wie ſich die Sache von Saltners Seite aus anſieht.“
„Gewiß“, erwiderte Isma „und ich kann Ihnen auch darüber Auskunft geben. Ell hat nämlich geſtern einen Brief von Saltner ſelbſt erhalten, worin er ihm offen ſeine Handlungsweiſe darlegt und ihn um Hilfe gegen die ihm drohende Verfolgung angeht.“
„Einen Brief? So weiß man alſo, wo er ſich aufhält? So iſt er in Sicherheit?“
„Das kann man nicht ſagen. Der Brief iſt auf einer Station zwiſchen Bozen und Trient aufgegeben. Die dortigen Einwohner ſind natürlich alle auf Saltners Seite und werden ihn nicht verraten. Jedenfalls hat einer der Führer oder Träger, die ohne Zweifel bei Saltners Flucht beteiligt waren, den Brief zur Station gebracht. Saltner ſelbſt hält ſich wahrſcheinlich im Hochgebirge auf irgendeiner verſteckt liegenden Hütte auf.“
Isma erzählte nun, was Saltner getan hatte, nach ſeiner eigenen Schilderung in dem Brief, den Ell ihr geſtern vorgeleſen hatte.
Se ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Das ſieht alles Saltner ganz ähnlich. Aber die Sache ſteht doch recht ſchlimm. Wenn man ihn bekommt, wird es ihm ſehr übel ergehen.“
„Warum?“ fuhr La plötzlich auf. „Ich glaube jedes Wort, was Saltner ſchreibt, und dann hat er ſich gar nichts zuſchulden kommen laſſen. Er hat Oß nicht angegriffen und ſich ſeinen Befehlen nicht widerſetzt, denn es waren ihm noch keine zur Kenntnis gekommen; und die Befreiung ſeiner Mutter hat er auf einem Weg bewirkt, der rein formell nicht anzugreifen iſt.“
„Ell iſt doch anderer Anſicht“, erwiderte Isma. „Er entſchuldigt zwar Saltner, der in ſeiner Lage und nach ſeinem Charakter nicht wohl anders handeln konnte, aber er glaubt doch, daß man ihn verurteilen wird. Und jedenfalls muß er dem Geſetze freien Lauf geſtatten, und, ſo leid es ihm tut, Saltner aufheben laſſen.“
La erblaßte in heimlicher Angſt. „Und wie glaubt man ſeiner habhaft zu werden?“ fragte ſie.
„Ganz leicht wird es ja nicht ſein, aber in einigen Tagen bekommt man ihn ſicher. Nur wenige der dortigen Führer kennen ſeinen Aufenthalt, und von ihnen verrät ihn keiner. Auch die Kenner der dortigen Berge werden ſich nicht dazu hergeben. Nume können überhaupt nicht auf dieſe Höhen ſteigen und die verborgenen Schluchten durchſuchen. Aber der Wiener Unterkultor hat ein Luftboot zur Verfügung, und auch Ell würde nicht anders können, als ein ſolches bereitzuſtellen. Dann laſſen ſich die Berge mit Leichtigkeit abſuchen, und es iſt nicht denkbar, wie Saltner entkommen ſollte.“
„Wenn er aber doch entkäme?“
„Wohin reichte die Macht der Nume nicht?“
„Es handelt ſich zuerſt nur um die Behörden des Mars auf der Erde. Auf dem Nu ſelbſt hört jede obrigkeitliche Gewalt der Kultoren oder Reſidenten auf. Dann müßte erſt der Zentralrat ſelbſt die Auslieferung beſchließen. Und ſelbſt dieſer könnte nicht in den Privatbeſitz, in das Haus eindringen, um den Beſitzer zu verhaften.“
„Ich weiß wohl, aber wie ſollte Saltner auf den Nu gelangen? Und wenngleich, die Frage iſt ja eben, ob man dem Paß, den Saltner beſitzt, die Bedeutung zuerkennt, daß ihm auch jetzt noch die Rechte eines Numen zukommen. Man könnte ihn für ungültig erklären.“
„Es gibt ein unverletzliches Aſyl“, ſagte La leiſe, den Blick wie in weite Ferne gerichtet.
Isma verſtand ſie nicht. Se ſah die Freundin an, als traute ſie ihren Ohren nicht. Dann legte ſie ihr liebkoſend die Hand auf die Schulter und ſagte lächelnd:
„Ich glaube, du ſiehſt nun wieder zu ſchwarz. Saltner kann überhaupt nur ſo weit verfolgt werden, als das martiſche Schutzgebiet auf der Erde effektiv iſt. Er wäre alſo in außereuropäiſchen Staaten ſchon ſicher, denn um von dort eine Auslieferung zu erzwingen, wären Maßregeln erforderlich, die man um einer ſolchen Kleinigkeit willen nicht ergreifen wird. Und was Ell nicht geradezu tun muß, das wird er auch nicht tun.“
„Das glaube ich ja“, ſagte Isma. „Unter uns geſagt, Ell äußerte ſich geſtern: ich wünſchte nichts mehr, als daß wir Saltner nicht fänden, dann wird der Prozeß in abſentia geführt, und in einem Jahr kann bei der Amneſtie die Sache eingeſchloſſen werden.“
„Nun denn, ſo wollen wir uns nicht weiter Sorge machen. Saltner wird ſich ſchon zu helfen wiſſen. Sagen Sie uns lieber, was wir bei dem ſchönen Wetter hier machen ſollen.“
„Ich möchte doch wiſſen“, ſagte La zögernd, „wann etwa die Verfolgung Saltners durch die Luftſchiffe aufgenommen werden könnte.“
„Heute und morgen ſicher noch nicht, das weiß ich“, entgegnete Isma. „Denn Ell ſagte, daß der Kultor erſt die Verhandlung gegen Oß zu führen hat, und ſolange behält er ſein Schiff bei ſich. Soll ich noch einmal bei Ell anfragen?“ Sie wies auf das Telephon.
„Ach nein“, ſagte La, „wir wollen uns noch gar nicht beim Herrn Kultor melden. Nun machen Sie Ihre Vorſchläge.“
„Das Wetter iſt eigentlich zu ſchön für Berlin.“
„Ach ja“, rief Se. „Wir wollen lieber hinaus. Haben Sie heute nachmittag für uns Zeit?“
„Bis heute abend, gewiß.“
„Was meinſt du, La, dann ſehen wir uns einmal Ihren deutſchen Wald dort in der Nähe von Friedau an, den Sie uns ſo ſchön geſchildert haben.“
La ſann nach. Dann nickte ſie und ſagte: „Das iſt mir ſehr recht.“
„Aber wohin denken Sie“, rief Isma. „Dazu brauchen wir ja allein fünf bis ſechs Stunden Eiſenbahnfahrt, um nur bis hin zu kommen.“
Jetzt lächelte La. „In zwanzig, in fünfzehn Minuten, wenn Sie wollen, ſind wir da. Machen Sie ſich nur zurecht, Sie ſollen ſogleich unſre Reiſegelegenheit ſehen.“
„Sie haben ein Luftſchiff?“
„Und was für eins!“ lächelte Se. „Wenn wir wollen, holt uns das größte Kriegsſchiff nicht ein.“