Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 48. Der Inſtruktor von Bozen Durch die engen Felsſchluchten des Eiſacktales brauſte der von Wien kommende Schnellzug nach Süden und überholte die ſchäumenden Fluten des wild dahinſtürmenden Baches. Der größere Teil der Fahrgäſte drängte ſich an den Fenſtern, um das von der klaren Septemberſonne vergoldete Naturſchauſpiel zu genießen. Einer jedoch, offenbar kein Fremder in dieſer Gegend, kümmerte ſich wenig darum. Er ſaß in eine Ecke gelehnt, mit geſchloſſenen Augen in ſeine Gedanken verſunken, unter denen ſeine Stirn ſich von Zeit zu Zeit zu ſorgenvollen Falten zuſammenzog. Dann blickte er nach ſeiner Uhr, als ob der Zug ihn nicht ſchnell genug ſeinem Ziel zuführe. „Noch zehn Minuten“, murmelte er. Aus der Bruſttaſche ſeiner Joppe zog er einige Papiere, ein Telegramm und eine Zeitung. Er hatte ſie ſchon oft geleſen, dennoch blickte er wieder hinein, als könnten ſie ihm noch etwas Neues ſagen. Das Telegramm war von einem ſeiner Freunde und enthielt nur die Worte: „Komme ſofort zu Deiner Mutter, ſie bedarf Deiner.“ Die Zeitung war, wie das Telegramm, ſchon einige Tage alt. Aber er hatte ſie erſt zu Geſicht bekommen, als er geſtern von einer vierzehntägigen Studienreiſe in einſamen Gebirgsgegenden nach Lienz zurückgekehrt war. Sie enthielt die neuen Verordnungen, welche das Kultoramt in Berlin mit Ermächtigung der Reſidenten in Berlin, Wien und Bern und unter Beſtätigung der Regierungen in der vorigen Woche erlaſſen hatte. Die Schwierigkeiten, auf welche die Martier bei der deutſchen Regierung in bezug auf das Geſetz zum Schutz der individuellen Freiheit geſtoßen waren, hatten den Protektor der Erde darauf geführt, ſie in künftigen Fällen auf eine ſehr einfache Weiſe zu umgehen. Er hatte gefunden, daß Beſtimmungen über Beziehungen der Menſchen zu den Numen und Einrichtungen der Nume gar keiner Geſetzgebung durch die Erdſtaaten bedürfen, ſondern auf dem Verordnungsweg durch die Reſidenten erlaſſen werden können. Die Regierungen aber mußten, wie gern ſie es auch abgelehnt hätten, ſich der Macht beugen und ihr Ja dazu geben. Sie taten es immerhin lieber, als ſich einem Beſchluß der Oppoſition in den Parlamenten zu fügen. Die Verordnung hatte im allgemeinen Mißſtimmung hervorgerufen. Sie beſtimmte nämlich, daß jeder Menſch, ohne Unterſchied des Alters, ſich einer von den Bezirksinſtruktoren zu beaufſichtigenden Impfung unter Leitung martiſcher Ärzte zu unterziehen habe. Bis dieſe vollzogen ſei, dürfe kein Ungeimpfter ſich einem Numen bis zu einer gewiſſen Diſtanz nähern, keine von Numen bewohnte Räume betreten und die Luftſchiffe und Fahrzeuge der Martier nicht benutzen. Zuwiderhandlungen waren mit ſtrengen Strafen bedroht. Die Beſtimmungen waren lediglich in Rückſicht auf die Menſchen getroffen, um ſie vor den drohenden Verwüſtungen der Gragra zu ſchützen. Aber man hatte ſich geſcheut, dieſen Grund anzugeben, weil man fürchtete, dadurch eine größere Beunruhigung und Unzufriedenheit zu erregen als durch die Maßregel ſelbſt; man hatte die Impfung nur durch einen allgemeinen Hinweis auf Beſſerung des Geſundheitszuſtandes begründet. Der Beſchluß war von den europäiſchen Reſidenten gegen Ells Stimme gefaßt worden, der eindringlich vor einem derartigen deſpotiſchen Eingriff gewarnt hatte. Doch hatte ſich bei den maßgebenden Numen auf der Erde mehr und mehr die Anſicht herausgebildet, daß man die Menſchen nur durch Anwendung von Zwang zu ihrem Beſten leiten könne. Ell fühlte ſich durch den Beſchluß ſehr bedrückt, hatte ſich aber der Majorität fügen müſſen. Saltner ſteckte das Blatt kopfſchüttelnd wieder ein. „Es muß da noch etwas im Hintergrund liegen, worüber ſie nicht mit der Sprache herauswollen“, dachte er bei ſich. „Aber eine ſakriſche Dummheit bleibt’s doch, die ich dem Ell nicht zugetraut hätte. Oder vielleicht doch. Wie er ſich damals ausſprach —“ Er dachte an jene Stunde bei La, in der er ſich gegen Ells Pläne zur gewaltſamen Erziehung der Menſchen aufgelehnt hatte. Und er ſah die Geliebte wieder vor ſich mit der feinen Stirn unter dem ſchimmernden Haar, er ſah den tiefen Blick der dunklen Augen in zärtlicher Achtung auf ſich gerichtet und fühlte die unvergeßlichen Küſſe auf ſeinen Lippen. Wo mochte ſie weilen? Ob ſie ſeiner gedachte? Ob ſie wußte von dem Leid, das über die Menſchen gekommen war, ob ſie es mit ihm fühlte? Verloren! Verloren! Aus ſeinen Träumen weckte ihn der Pfiff der Maſchine. Die Berge waren zurückgewichen, grüne Hügel, auf denen Trauben und Kaſtanien reiften, zogen ſich zur Seite. Die Paſſagiere ſuchten ihr Handgepäck zuſammen, und der Zug hielt auf dem Bahnhof in Bozen. Saltner ſtieg aus und drängte ſich eilig durch die Menge. Am Ausgang fiel ihm ein Plakat auf, das durch ſeine gelbrote Farbe ſchon weithin als eine amtliche Bekanntmachung des martiſchen Bezirksinſtruktors kenntlich war. Er blieb ſtehen und las. Zuerſt war die allgemeine Verordnung über die Impfung mitgeteilt, die er ſchon kannte. Daran aber ſchloſſen ſich ſpezielle Beſtimmungen über den hieſigen Bezirk, Er traute ſeinen Augen nicht. Nach Angabe von Einzelheiten über die Ausführung der Impfung, die in den und den näher bezeichneten Lokalen ſtattfinde, ſtand da: Die als Beſcheinigung der vollzogenen Impfung erteilte Marke iſt ſichtbar an der Kopfbedeckung zu tragen. Wer ſich ohne dieſelbe einem Numen auf mehr als ſechs Schritt annähert, wird mit fünfhundert Gulden Geldbuße oder entſprechendem Aufenthalt im pſychologiſchen Laboratorium beſtraft. Unterredungen mit dem Inſtruktor finden nur noch telephoniſch ſtatt. Jeder Anordnung eines Numen gleichviel, worauf ſie ſich beziehe, iſt ohne Widerſpruch Folge zu leiſten. Den Numen ſteht das Recht zu, Menſchen, welche ſich ihnen ohne Erlaubnis nähern, mit der Telelytwaffe zurückzuweiſen. Das Halten von Haustieren in menſchlichen Wohnungen wird nochmals aufs ſtrengſte unterſagt. Saltner ballte die Fauſt. Er wandte ſich an einen neben ihm ſtehenden Herrn und ſagte: „Der hieſige Inſtruktor iſt wohl verrückt geworden?“ „Das iſt ſchon recht“, antwortete der ernſthaft. „Und das laſſen Sie ſich gefallen? Wie heißt denn der Kerl?“ „Der heißt Oß.“ „Der Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie ſich denn noch nicht in Berlin beim deutſchen Kultor beſchwert?“ „Das wird geſchehn. Aber es dauert halt eine Weile, und die Verordnung iſt erſt von geſtern.“ „Aber wenn Sie telegraphieren oder telephonieren?“ „Das wird nicht zugelaſſen. Es iſt ſchon einer nach Innsbruck gereiſt, aber ſie haben’s auch dort nicht zugelaſſen. Sie meinen, die Nume ſtecken halt alle unter einer Decke, und wenn es auch der Kultor erfährt, ſo wird es doch nichts nutzen.“ „Es wird nutzen, das können Sie mir glauben. So etwas hat ſich keiner herauszunehmen und nimmt ſich auch keiner woanders heraus. Das iſt nur eine Verrücktheit von dieſem Oß, und der wird ſehr bald abgeſetzt ſein.“ „Das mag ſchon ſein, ſo lange halten wir’s wohl aus. Aber die Hauptverordnung bleibt doch beſtehen, und dagegen iſt nichts zu machen. Ich mein’ ſo, den Oß werden ſie ſchon wegjagen, vielleicht gar bald, denn der Herr Bezirkshauptmann reiſt heute nach Wien und wenn nötig nach Berlin. Aber inzwiſchen müſſen wir folgen. Denn wenn ſich einer was gegen den Oß herausnähme und es ginge auch nachher dem Oß ſchlecht, ſo ginge es uns doch noch ſchlechter. Wir würden wegen Aufruhr nach Afrika oder ſonſtwohin geſchickt. Alſo laſſen wir’s lieber. Habe die Ehre!“ Damit lüftete er den Hut und wollte ſich entfernen. Gleich darauf wandte er ſich jedoch zurück und ſagte mit einem fragenden Blick: „Verzeihen Sie, ich irre mich doch wohl nicht, ſind Sie nicht der Herr von Saltner?“ „Mein Name iſt Saltner.“ „Dann nehmen Sie’s nicht übel, wenn ich mir einen Rat erlaube — Sie ſind ja doch auf dem Mars geweſen, und da muß wohl irgend etwas paſſiert ſein —, nehmen Sie ſich nur vor dem Oß in acht, ich weiß, daß der ſich ſchon mehrfach erkundigt hat, ob Sie nicht hier ſind — der muß irgend etwas gegen Sie haben. Laſſen Sie ſich lieber nicht hier ſehen, es kann ja nur ein paar Tage dauern, bis der Mann abgeſetzt iſt.“ Und vertraulicher fuhr er fort: „Sie haben ja vollſtändig recht, ich weiß, daß dieſe Bekanntmachung zu Unrecht beſteht und der Oß den Erdkoller hat — ich bin nämlich der Doktor Schauthaler.“ „Ach, jawohl“, ſagte Saltner, „ich erinnere mich jetzt ſehr wohl, entſchuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte.“ „Bitte ſehr. Nun alſo, ſolche Ausſchreitung wird ja rektifiziert werden. Aber laſſen wir uns dadurch zu irgendeiner eigenmächtigen Handlung hinreißen, ſo würde uns das trotzdem ſehr ſchlecht bekommen. Deswegen verſuch ich mein Möglichſtes, unſre Mitbürger zu beruhigen. Wenn Sie indeſſen etwas tun wollen, ſo bringen Sie ſich ſelbſt in Sicherheit, bis der Mann hier keine Gewalt mehr hat; vorläufig hat er ſie nun einmal, und Sie ſind dagegen ohnmächtig. Sie ſind ja doch mit dem Herrn Kultor befreundet, reiſen Sie ſofort zu ihm — in zehn Minuten kommt der Blitzzug von Venedig —, das Luftſchiff dürfen Sie jetzt nicht benutzen — aber auch ſo ſind Sie morgen in Berlin —“ „Ich danke Ihnen ſehr für den Rat, Herr Doktor, nur kann ich ihn leider nicht ſogleich befolgen. Ich habe hier zunächſt unaufſchiebbare Geſchäfte —. Aber ich werde dann —“ „Dann, Herr von Saltner, dann? Sie wiſſen nicht, ob Sie dann noch ein freier Mann ſind —“ „Das wollen wir doch ſehen! Da können Sie ganz unbeſorgt ſein!“ „Was nützt es Ihnen, wenn der Oß in ein paar Tagen vor das Disziplinargericht geſtellt wird, und Sie ſind inzwiſchen irgendwie verunglückt?“ „Ich verunglücke nicht ſo leicht. Aber was will denn der Mann von mir?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur privatim durch den Bezirkshauptmann, daß Sie geſucht werden, aber amtlich iſt es nicht. Es muß irgend etwas ſein, worüber der Oß vorläufig nicht reden will.“ Saltner runzelte die Stirn. „Nun, wie geſagt, ich danke Ihnen und will mich vorſehen. Jetzt entſchuldigen Sie mich, ich darf nicht länger zögern.“ Er ſchritt eilend durch die Straßen der Stadt, ohne auf die Umgebung zu achten. Was konnte dieſer Oß von ihm wollen? Wo hatte er ihn geſehen? Oß war ja der Name des Kapitäns geweſen, auf deſſen Raumſchiff ‚Meteor‘ Saltner die Reiſe nach dem Mars gemacht hatte, und dann war er ihm manchmal in Frus Haus begegnet. Sollte es derſelbe ſein? Er hatte ſich mit ihm ganz gut unterhalten, und der tüchtige, wenngleich etwas ſelbſtbewußte Mann war mit La und Se immer ſehr vertraut geweſen. Mit Se? Sein Gewiſſen ſchlug ihm. Das war das einzige, was er ſich hatte zuſchulden kommen laſſen, die Belauſchung der Schießverſuche und die Flucht aus dem als Ziel dienenden Schiff. Aber dann hätte ihn Se verraten müſſen, das war unmöglich, ganz unmöglich. Saltner hatte die Stadt durchſchritten und betrat die Brücke, welche über die Talfer führt. Drüben, jenſeits des Fluſſes, wohnte ſeine Mutter. Sie war diesmal ſchon früher als ſonſt von dem kleinen Häuschen, das ſie oben in den Bergen beſaß, in die Stadt herabgezogen, er ſelbſt hatte noch den Umzug mit ihr beſorgt und war dann auf eine Studienreiſe gegangen. Was war nun geſchehen? Es fiel ihm auf, wie leer die Brücke war, auf der ſonſt um dieſe Zeit, gegen Abend, ein reger Verkehr herrſchte. Als er die Mitte überſchritten hatte, blieb er ſtehen und wandte ſich nach alter Gewohnheit rückwärts, um einen Blick auf das entzückende Panorama zu werfen. Freudig hing ſein Auge, über die altertümlichen Giebel der Stadt wegſchweifend, an den rötlich ſchimmernden Zacken und Zinnen der Dolomiten, die der Roſengarten kühn in die Luft ſtreckte, und ſeine Seele ſchwebte über den freien Höhen. Aber er durfte nicht lange weilen. Die Sorge um die Mutter trieb ihn vorwärts. Wenige Schritte hatte er zurückgelegt, als ihm einige Leute entgegenkamen, die eilend an ihm vorüber der Stadt zuſchritten und ihn durch Winke zur Umkehr aufforderten. Er achtete nicht darauf, ſondern richtete ſeine Aufmerkſamkeit auf einen ſeltſamen Aufzug, der jetzt aus den Talfer-Anlagen herauskommend die Brücke betrat. Eine Anzahl Neugierige, halbwüchſige Jungen, liefen voran, hielten ſich aber immer in reſpektvoller Entfernung. Dann folgte auf einem Akkumulator-Dreirad ein Martier mit ſeinem diabariſchen Glockenhelm, ein rieſiger Bed oder Wüſtenbewohner, der hier ähnliche Dienſte verrichtete wie die Kawaſſen der Konſuln in der Türkei. Er ſchwang ein langes Rohr mit einem Fähnchen in der Hand, womit er die Begegnenden bedeutete, ſchleunigſt zur Seite zu weichen. Darauf folgte ein vierrädriger elektriſcher Wagen, auf deſſen Polſter in bequemer Stellung der Inſtruktor und zur Zeit Tyrann von Bozen, der Nume Oß, ruhte, ebenfalls von dem Glockenhelm gegen die Erdſchwere geſchützt. Den Beſchluß bildete wieder ein Bed auf ſeinem Dreirad. Saltner erkannte auf den erſten Blick, daß er wirklich ſeinen alten Bekannten, den ehemaligen Kapitän des Raumſchiffs ‚Meteor‘, vor ſich hatte. Er trat zur Seite in die halbkreisförmige Ausbuchtung eines Brückenpfeilers, um den Zug an ſich vorüberzulaſſen. Dem voranfahrenden Bed erſchien jedoch die Entfernung noch nicht genügend, er winkte mit ſeiner Fahne und rief ſein eintöniges: „Entfernt euch!“ Saltner blieb ruhig ſtehen. Er ſtreckte den linken Arm gegen den Bed aus und wandte ihm die Handfläche mit geſpreizten Fingern zu. Der Bed ſtutzte. Das war ein nur bei den Numen gebräuchliches Zeichen und bedeutete ungefähr ſoviel als: „Dein Auftrag geht mich nichts an, ich beſitze eine weitergehende Vollmacht.“ Dann rief er ihm auf martiſch in entſchiedenem Ton zu: „Fahr zu, ich bin ein alter Freund deines Herrn.“ Der Bed wußte nicht recht, was er davon denken ſollte, ließ ſich jedoch in der Meinung, es vielleicht mit einem Numen zu tun zu haben, einſchüchtern und fuhr weiter. Saltner, den ſein Stolz verhindert hatte, ſich fortweiſen zu laſſen, wollte doch lieber die Begegnung mit Oß vermeiden und blickte über das Geländer der Brücke in die Landſchaft, indem er dem Wagen den Rücken zukehrte. Oß dagegen hemmte den Wagen und herrſchte Saltner an: „Kann der Bat nicht grüßen!“ Saltner trat jetzt ohne weiteres auf den Wagen von Oß zu, grüßte höflich nach martiſcher Sitte und ſagte, ebenfalls martiſch ſprechend, ganz unbefangen: „Es freut mich ſehr, einem alten Bekannten zu begegnen. Wie geht es Ihnen, Oß?“ Dabei ſah er ihn, die Augen ſoweit wie möglich aufreißend, unverwandt an. Oß hatte Saltner ſofort erkannt. In ſeinen Augen blitzte es unheimlich, indem er ſeinen Blick auf Saltner richtete, als ob er ihn niederſchmettern wolle. Aber Saltner kannte die Augen der Nume. Dieſes unruhige Funkeln war nicht der reine Blick des Numen, aus dem der ſittliche Wille ſprach, er war getrübt von etwas Krankhaftem, Selbſtiſchem und beſaß nicht mehr die Kraft, den des Rechts ſich bewußten Menſchenwillen zu beugen. Er hielt den Blick aus, während Oß in hochmütigen Worten ihn anherrſchte: „Was fällt dem Bat ein? Wer ſind Sie? Wiſſen Sie nicht, daß Sie ſich ſechs Schritt entfernt zu halten und überhaupt nicht mit mir zu reden haben? Entfernen Sie ſich ſofort, oder —“ Er griff nach dem Telelytrevolver in ſeiner Taſche. Saltner trat jede Bewegung von Oß genau im Auge behaltend, vorläufig einen Schritt zurück und ſagte laut, jetzt auf deutſch, von dem er wußte, daß Oß, wie jeder Inſtruktor im deutſchen Sprachgebiet, es verſtand, ſo laut, daß es bis zu den Neugierigen vor und hinter dem Zug ſchallte: „Sie ſcheinen mich nicht mehr kennen zu wollen. Geſtatten Sie, daß ich Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Mein Name iſt Joſef Saltner, Ehrengaſt der Marsſtaaten auf Beſchluß des Zentralrats mit allen Rechten des Numen, und hier iſt mein Paß, lautend auf zwei Marsjahre, unterzeichnet von Ill, zur Zeit Protektor der Erde. Bitte, mit dem gehörigen Reſpekt zu betrachten.“ Er zog aus ſeiner Taſche das nach Art der Marsbücher an einem Griff befindliche Täfelchen und ließ es aufklappen. „Der Paß iſt noch nicht abgelaufen“, ſagte er darauf leiſer, „ich denke, Sie laſſen jetzt das Ding ſtecken. Erkennen Sie mich nun wieder?“ Dabei trat er unmittelbar an den Wagen heran. Er ſah, welche Überwindung es Oß koſtete, ſich zu bezwingen, aber dieſem Dokument gegenüber blieb ihm kein anderer Ausweg. Oß verſuchte jetzt möglichſt unbefangen zu lächeln und ſagte: „Ach, Sie ſind Sal — entſchuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte. Das iſt etwas anderes. Es freut mich ſehr, Sie zu ſehen. Aber warum beehren Sie mich nicht in meinem Haus? Hier auf der Straße bin ich gezwungen, ſehr vorſichtig zu ſein, Sie werden ja wiſſen —“ „Die Begegnung überraſchte mich, entſchuldigen Sie daher dieſe formloſe Begrüßung auf der Straße. Ich konnte nicht annehmen, daß der Unterzeichner jener Verordnung identiſch ſei mit dem Oß, den ich —“ „Herr, Sie ſprechen in einem Ton, den ich zurückweiſe.“ „Das nützt Ihnen nichts. Sie wiſſen ſo gut wie ich, daß derartigen Befehlen niemand Folge zu leiſten braucht.“ „Ich verbitte mir alle Einmiſchung in meine Angelegenheiten. Ich bin hier der alleinige Befehlshaber und werde Ihren Widerſpruch bändigen. Wenn Sie auch durch Ihren Paß dagegen geſchützt ſind, von meiner bisherigen Verordnung getroffen zu werden, ſo hindert mich doch nichts, über Sie ſelbſt einen ſpeziellen Befehl auszuſprechen, ſo lange Sie ſich in dem mir unterſtellten Bezirk befinden. Merken Sie ſich das. Ich habe Sie im Verdacht, gegen amtliche Anordnungen aufzuwiegeln. Sie werden ſich deshalb noch heute zu verantworten haben.“ Ohne Saltner Zeit zu einer Antwort zu laſſen, hatte Oß bereits ſeinen Wagen in Gang geſetzt und fuhr davon. Saltner blickte ihm ſpöttiſch nach und ſchritt dann eilig weiter. Wenige Minuten ſpäter ſtand er vor dem Haus ſeiner Mutter. Es war ein altes, nicht großes Haus. Im unteren Stockwerk wohnte Frau Saltner mit ihrer Bedienung, einer älteren Frau. Das obere wurde im Winter an Kurgäſte vermietet, war aber jetzt noch unbeſetzt. Saltner hatte den Hausflur ſchnell durchſchritten und die Tür des Wohnzimmers geöffnet. Es war leer. Der Platz an dem nach dem Garten ſich öffnenden Fenſter, an dem ſeine Mutter den größten Teil des Tages zu ſitzen pflegte, war unbeſetzt. Saltner erſchrak. Sollte ſie krank ſein und zu Bett liegen? Er ſchaute vorſichtig, um nicht zu ſtören, in das Schlafzimmer, aber auch hier war niemand. Beſorgt durchſuchte er nun das ganze Haus, weder ſeine Mutter noch ihre alte Magd und Gehilfin, die Kathrin, waren zu finden. Aber auch der Karo, der Hund, war nicht da, der ſonſt jeden Kommenden durch ſein Gebell anmeldete und ihm ſicher zuerſt entgegengeſprungen wäre. Wären die Frauen beide ausgegangen, ſo hätten ſie gewiß das Haus verſchloſſen. Doch vielleicht waren ſie nur auf einen Augenblick in den Garten gegangen. Eben wollte ſich Saltner Gewißheit holen, als ſich die Hintertür des Hauſes öffnete und die Kathrin hereintrat. Der Korb mit Obſt, den ſie trug, entfiel faſt ihren Händen, ſo ſchnell ſetzte ſie ihn zu Boden, als ſie Saltner erblickte. „Gelobt ſei die heilige Jungfrau!“ rief ſie aus. „Da iſt ja der Herr Joſef.“ „Grüß Gott, Kathrin“, ſagte Saltner. „Wo iſt denn die Mutter? Es fehlt ihr doch nichts?“ Die Dienerin brach ſogleich in einen Tränenſtrom aus. „Sie haben ſie ja, ſie haben ſie ja!“ rief ſie unter Schluchzen. „Was haben ſie denn? So reden Sie doch ſchon! Kommen Sie hier herein, Kathrin, und reden Sie vernünftig.“ Die Frau trat in das Zimmer, aber aus ihrem von Weinen unterbrochenen Redeſchwall konnte Saltner zunächſt nichts verſtehen als unzuſammenhängende Worte, wie „mit dem Karo hat’s angefangen“, „in den Arm wollen ſie ſtechen“, „den Hund haben’s genommen“, „mich wollen’s auch impfen“, „ſie haben ſie“, „im Laboratorium“ und „wenn ſie der Herr Joſef nicht ſchnell herausholt, ſo werden ſie ſie doch noch braten“ und „fünfhundert Gulden ſollt’ ſie zahlen“. Endlich beruhigte ſie ſich ſoweit, daß Saltner über den Zuſammenhang allmählich klar wurde. „Mit dem Karo hat’s angefangen.“ Die Hunde waren den Numen ein Greuel. War ihnen ſchon die Berührung mit Tieren überhaupt ein Zeichen der Barbarei, ſo waren ihnen die Hunde wegen ihres ekelhaften Treibens auf der Straße und ihres abſcheulichen Gekläffs ganz beſonders verhaßt. Sie machten ihnen den Aufenthalt auf der Erde um ſo unleidlicher, als ſie auch ihrerſeits gegen die Martier eine beſondere Abneigung zu haben ſchienen und ſie überall mit ihrem Gebell verfolgten. Es waren deswegen ſchon überall einſchränkende Beſtimmungen über das Herumtreiben der Hunde auf der Straße ergangen. Oß aber hatte kurzen Prozeß gemacht, nachdem er einmal von einem Hund angefallen worden war, und die Tötung aller Hunde befohlen. Dies war kurz nach Saltners Abreiſe geſchehen, und das erſte Zeichen der bei Oß im Ausbruch begriffenen nervöſen Überreizung geweſen. Die Polizeimannſchaften führten den Befehl möglichſt langſam und abſichtlich ungeſchickt aus und wußten es ſo einzurichten, daß viele ihre Lieblinge rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Das Haus von Frau Saltner hatte ſich aber Oß einmal zeigen laſſen und dabei den Hund bemerkt, ja, er hatte dann gefragt, ob denn das Vieh noch nicht totgeſchoſſen ſei. So mußte der arme Karo als ein Opfer zur Ziviliſation der Menſchheit fallen. Das hatte nun die Frauen, die innigſt an dem Hund hingen, in größte Aufregung verſetzt. Frau Saltner war ganz melancholiſch geworden und wurde von einer krankhaften Ängſtlichkeit ergriffen, ſobald jemand in das Haus trat. Nun war die Verordnung über das Impfen gekommen. Unglücklicherweiſe war ihr Straßenviertel das erſte geweſen, in welchem die Impfung vollzogen wurde. Sie ſtellte ſich dies als eine fürchterliche Operation vor und ſchickte zu einem Freund Saltners, um ſich Rat zu holen, was ſie tun ſolle. Alle ſeine Vorſtellungen waren vergebens, ſie ließ ſich nicht bereden, ebenſowenig wie Kathrin, zu dem Termin zu gehen, und der Freund wußte nichts Beſſeres zu tun, als an Saltner zu telegraphieren. Inzwiſchen war der Termin verfallen, und Frau Saltner wie ihre Dienerin wurden zu je fünfhundert Gulden Strafe verurteilt. Nun gab es erſt recht ein großes Wehklagen, das Geld war, zumal in Saltners Abweſenheit, nicht zur Stelle zu ſchaffen, und die beiden Frauen ſollten in das pſychophyſiſche Laboratorium zur Abbüßung der Strafe und zur Vollziehung der Impfung abgeholt werden. Die Beamten, welche die Anordnungen des Inſtruktors nur widerwillig vollzogen, hätten es gern geſehen, wenn die Frauen ſich auf irgendeine Weiſe unſichtbar gemacht hätten. Und als ſie endlich in das Haus traten, hatte ſich auch Kathrin verſteckt und war nicht zu finden. Frau Saltner aber ſaß auf ihrem Platz und ſagte nur: „Ich bin eine alte Frau und geh nicht eher hier fort, bis mein Sohn kommt. Ihr könnt machen, was ihr wollt.“ Da ſie keine andre Antwort erhielten und gegen die alte Frau, noch dazu die Mutter eines in der ganzen Umgegend gekannten und beliebten Mannes, keine Gewalt brauchen wollten, entfernten ſie ſich wieder und brachten irgendeine Entſchuldigung vor. Es war aber, als ob der Inſtruktor alles herausſuchte, womit er Saltner Kränkungen bereiten konnte, ſo daß er ſich perſönlich um die Einzelheiten kümmerte, wenn Saltner in Frage kam. Er ſchickte einen der Aſſiſtenten des Laboratoriums, einen jungen Nume, der hier ſeine Studien machte, mit ſeinen beiden Beds ab, und Frau Saltner wurde in einem Krankenſtuhl in das Laboratorium geſchafft. „Sie haben es gewagt, dieſe Schufte?“ rief Saltner wütend. „Eine faſt ſiebzigjährige Frau! Und das nennt ſich Nume! Und was hat denn die Mutter geſagt?“ „Gar nichts hat ſie geſagt“, antwortete Kathrin unter neuem Schluchzen, „als nur immer, mein Joſef, mein armer Joſef, und, ich überleb’s nimmer, und geweint hat ſie, aber geſagt hat ſie nichts mehr.“ Saltner ſtand ſtumm und überlegte, was zu tun ſei. Die Tränen traten ihm in die Augen, wenn er an die Angſt dachte, die ſeine Mutter ausſtand. Er wußte ja, daß ihr tatſächlich nichts geſchehe, daß man ſie als eine Kranke behandeln würde und ſie vielleicht ſicherer aufgehoben ſei als zu Hauſe. Denn wenn auch Oß unzurechnungsfähig war, der Leiter des Laboratoriums war ein Arzt, ein wohlwollender Mann, der ſeine Aufgabe ernſt im Sinn von Ell nahm, und die Strafanſtalt, als welche das Laboratorium diente, mit Rückſicht auf jeden individuellen Fall leitete. Aber die Angſt, die Furcht, die Vorſtellungen, die ſich ſeine Mutter machen mochte, und die Kränkung! Das konnte wirklich ihr Tod ſein. Nicht eine Stunde länger wollte er ſie in dieſer Beſorgnis allein laſſen, er mußte ſie herausholen. Kathrin begann aufs neue zu jammern. „Iſt es denn wahr, Herr Joſef, im Laboratorium, daß die Leute da gebraten werden —“ „Reden Sie nicht ſo dummes Zeug, Kathrin, gar nichts geſchieht ihnen, als daß ſie ein bißchen beobachtet werden, wie der Puls geht, wenn ſie ſo oder ſo liegen, oder wenn ſie kopfrechnen —“ „Kopfrechnen, Jeſus Maria, das könnt’ ich nun ſchon gar nicht.“ „Jedenfalls ſeien Sie ſtill, und hören Sie, was ich ſage, aber paſſen Sie genau auf. Ich werde jetzt gleich die Mutter holen.“ „Ach Herr Joſef, Sie werden ſich doch nicht dahin wagen!“ Aber Saltner ſprach nicht ſogleich weiter. Er ging im Zimmer auf und ab, während Kathrin lamentierte, und dachte ſeinen Entſchluß genau durch. Er dachte an die Warnung Schauthalers und an die Begegnung mit Oß und ſagte ſich, daß er ſelbſt keinen Augenblick ſicher ſei. Aber die Mutter durfte er nicht ohne die größte Gefahr für ihre Geſundheit länger in ihrer Angſt und Einſamkeit laſſen. Er mußte ſie und zugleich ſich in Sicherheit bringen. Er war in Sicherheit, ſobald er das Gebiet verlaſſen hatte, das Oß unterſtellt war. Die Inſtruktoren der Nachbargebiete würden ſolchen ungeſetzlichen Forderungen nicht nachgeben, außerdem konnte er ſich auch einige Zeit im verborgenen halten. Er mußte ſich nur hüten, etwas zu tun, was von der Oberbehörde der Nume aus verboten war, denn dadurch hätte er ſich auf der ganzen Erde der Verfolgung ausgeſetzt. Sonſt aber kam es allein darauf an, den Bezirk von Oß zu vermeiden, bis dieſer abgeſetzt war. Dieſer Bezirk erſtreckte ſich über das weſtliche Südtirol, fiel aber nicht mit der öſterreichiſchen Landesgrenze zuſammen, ſondern reichte nur bis an die Grenzen des deutſchen Sprachgebiets. Dieſe lief in wenigen Stunden Entfernung im Weſten, Süden und Oſten über die Berge. Dahinter war italieniſches Sprachgebiet, das einem Kultor in Rom unterſtand. Über dieſe Grenze mußte er zunächſt und auf der Stelle. Saltner ging an die Haustür, die er verſchloß, ebenſo verſchloß er, ſoweit dies Kathrin nicht ſchon getan hatte, die Fenſterläden. Aus einer Kaſſette in ſeinem Schreibtiſch nahm er Papiere, die er zu ſich ſteckte. Dann ging er in den Garten und rief die Dienerin zu ſich. „Kathrin“, ſagte er, „nun ſeien Sie ganz ſtill und tun Sie genau, was ich ſage. Ich werde die Mutter und Sie in Sicherheit bringen, aber wenn Sie nicht genau alles tun, kommen Sie doch noch ins Laboratorium. Schon gut! Jetzt gehen Sie — aber hier hinten zum Garten hinaus — zum Rieſer und ſagen ihm, er möchte ſogleich einſpannen und mit dem Wagen hinten am Tor, wo’s nach der Meraner Straße geht, warten. In einer halben Stunde iſt’s dunkel, dann komme ich. Es wäre aber eine wichtige und geheime Sache, er wird ſich’s ſchon denken. Dann laufen Sie ſchnell — iſt der Palaoro zu Haus, der Sohn, mein ich?“ „Er wird ſchon zu Haus ſein. Es gibt jetzt wenig Touren.“ „Er ſoll mit zwei zuverläſſigen Leuten und zwei Maultieren mit Frauenſätteln ſogleich nach Andrian aufbrechen, und wenn ich noch nicht da bin, mich dort erwarten. Er ſoll auch den Schlüſſel zur kleinen Hütte mitnehmen. Dann laufen Sie gleich wieder nach Hauſe, aber von hinten herein, und nehmen die Decken und etwas Zeug für die Mutter und für ſich, aber nur ein kleines Bündel — etwas zu eſſen ſoll der Rieſer beſorgen —, und kommen wieder zum Rieſer, wo der Wagen hält. Und das weitere wird ſich finden. Haben Sie alles verſtanden?“ „Ganz genau, Herr Joſef, ich laufe bald.“ 49. Die Flucht in die Berge