„Unmöglich, Herr Kultor, unmöglich“, ſagte der Juſtizminiſter Kreuther, indem er ſeine hohe Stirn mit dem Taſchentuch tupfte. „In dieſer Form, welche der Reichstag dem Geſetzentwurf zum Schutz der individuellen Freiheit gegeben hat, iſt er für uns unannehmbar. Sie müſſen das ſelbſt zugeben. Es würden die Paragraphen 95 bis 101 des Strafgeſetzbuches hinfällig werden.“
„Und was ſchadet dies?“ fragte der Kultor kühl. Er lehnte ſich bequem in ſeinen Stuhl zurück und ließ ſeine großen Augen ruhig von einem der beiden ihm gegenüberſitzenden Herrn zum andern wandern.
Der Juſtizminiſter blickte ihn faſſungslos an. Sein Begleiter, der Miniſter des Innern, von Huhnſchlott, richtete ſich gerade auf und zerrte an ſeinem grauen Backenbart.
„Was das ſchadet?“ ſagte er mit mühſam zurückgehaltener Empörung. „Das heißt, die Majeſtät ſchutzlos machen, das heißt, jeder pöbelhaften Gemeinheit einen Freibrief ausſtellen, das heißt, unſre heiligſten, angeſtammten Gefühle angreifen und die Autorität untergraben.“
„Sie irren, Exzellenz“, antwortete der Kultor mit einem überlegenen Lächeln. „Es heißt nur, die Wahrheit feſtlegen, daß die Majeſtät ebenſowenig durch Äußerungen anderer beleidigt werden kann, wie die Vernunft überhaupt, daß die ſittliche Perſönlichkeit dadurch nicht berührt wird. Die Verleumdung bleibt ſtrafbar wie jede Schädigung, und die Autorität iſt genügend geſchätzt durch die Unverletzlichkeit der Perſon der Fürſten. Wir können es aber als keine Schädigung der Perſon erachten, wenn jemand ohne ſeine Schuld lediglich beſchimpft wird. Das iſt eben die Grundanſchauung, die wir durchführen wollen, daß es keine ſolche Beleidigung gibt, daß die Injurie nicht denjenigen verächtlich macht und in der öffentlichen Meinung herabſetzt, den ſie treffen ſoll, ſondern denjenigen, der ſie ausſpricht. Wir erſtreben mit dieſem Geſetz, einen Teil unſres allgemeinen Erziehungsplanes durchzuführen. Die Menſchen ſollen lernen, ihre Ehre allein zu finden in dem Bewußtſein ihres reinen ſittlichen Willens, und ſie ſollen verachten lernen den äußern Schein, der dem Schlechten ebenſo zugute kommt wie dem Ehrenmann. Wir wollen die Erziehung zur innern Wahrheit, indem wir den Schutz des Geſetzes dem entziehen, was dazu verleitet, die Ehre im Urteil oder Vorurteil der Menge zu ſehen. Alle unſre Maßregeln, die volkswirtſchaftlichen wie die ethiſchen, haben nur das eine Ziel, den Menſchen das höchſte aller Güter zu verſchaffen, die innere Freiheit.“
Der Juſtizminiſter ſchüttelte den Kopf. „Das iſt ein kindlicher Idealismus“, dachte er, aber er wußte nicht gleich, wie er dies, was er für beleidigend hielt, höflich ausdrücken ſolle.
„Herr Kultor“, ſagte von Huhnſchlott, „das bedeutet eine gänzlich von der unſrigen abweichende Weltanſchauung, das kann nur die Umſturzideen fördern. Wir bitten Sie inſtändig —“
„Das iſt keine neue Weltanſchauung“, unterbrach ihn der Kultor ſtreng, „es iſt nur der Kern der Religion, zu deren äußeren Formen Sie ſich ſo eifrig bekennen. Es iſt die innere Freiheit im Sinne des Chriſtentums, nur daß ſein Begründer, im Zuſammenſturz der antiken Welt, machtlos im römiſchen Weltreich, ſie allein finden konnte in der Verachtung und Flucht der Welt und daß ſeine angeblichen Nachfolger ſie bloß verſtanden als den Verzicht des Armſeligen zugunſten des Mächtigen. Wir aber ſind die Herren der Natur und der Welt und wollen nun der Pflicht nicht vergeſſen, für jeden dieſe innere Freiheit zu ermöglichen, ohne daß er auf die Güter dieſes Lebens zu verzichten braucht. Und darum, meine Herren, iſt es ganz vergeblich, daß Sie ſich weiter bemühen. Sie werden dem Geſetz die Zuſtimmung der Regierung geben.“
Der Kultor erhob ſich.
Die Miniſter ſtanden ſogleich auf und ſahen ſich verlegen an.
„Verzeihen Sie, Herr Kultor“, begann der Juſtizminiſter nach einer Pauſe, „wir haben dieſe Unterredung als eine private nachgeſucht; ich ſehe, daß ſie leider erfolglos war. Was werden Sie tun, wenn das Geſamtminiſterium Ihnen eine offizielle Vorſtellung macht?“
„Ich werde auf der Sanktionierung des Geſetzes beſtehen.“
„Und wenn der Bundesrat dennoch ablehnt?“
„Er wird es nicht.“
„Ich würde eher meine Demiſſion einreichen, als die Annahme empfehlen“, ſagte Kreuther mit Haltung.
„Das Miniſterium iſt darin einig“, fügte Huhnſchlott hinzu.
„Das täte mir leid, meine Herren, aber es würden ſich andere Miniſter finden.“
„Und wenn nicht?“ rief Huhnſchlott auffahrend.
„Dann wird Ihnen der Herr Reſident die Antwort erteilen. Bemühen Sie ſich nur zu ihm, ich weiß, was er Ihnen antworten wird. Hätten Sie ſich der Protektoratserklärung vom 12. Mai vorigen Jahres unterworfen, ſo wäre eine Einmiſchung in innere Angelegenheiten ausgeſchloſſen. So aber wird er ſie auf Artikel 7 des nordpolaren Friedensvertrages vom 21. Juni verweiſen. Die Garantien für den Rechtsbeſtand der Verfaſſung ſind aufgehoben, wenn ſich die Regierung weigert, diejenigen Maßregeln zu unterſtützen, welche die Marsſtaaten für notwendig zur wirtſchaftlichen, intellektuellen oder ethiſchen Erziehung der Menſchheit hält.“
„Die Entſcheidung des Kultors und des Reſidenten iſt noch nicht maßgebend“, erwiderte Huhnſchlott finſter. „Es ſteht uns der Appell an den Protektor der Erde offen.“
„Appellieren Sie“, ſagte der Kultor.
Die Miniſter verbeugten ſich förmlich und verließen das Zimmer. Langſam ſtiegen ſie die breite Treppe hinab. In der Vorhalle ſtanden zwei rieſenhafte Beds unter ihren diabariſchen Glockenhelmen Poſten und ſenkten ſalutierend ihre Telelytrevolver. Die Miniſter grüßten mechaniſch und ſtiegen in den vor der Tür haltenden elektriſchen Wagen. Er rollte aus der bedeckten Auffahrt auf den regennaſſen Aſphalt der breiten Straße. Huhnſchlott warf einen Blick rückwärts auf das flache Dach des Gebäudes, wo die glatten Rücken dreier Marsſchiffe durch den grauen Schleier des herabrieſelnden Regens glänzten und ihre Repulſitrohre nach drei Richtungen drohend der Hauptſtadt entgegenſtreckten. Kreuther war dem Blick gefolgt und ſeufzte tief.
„Zum Kanzlerpalais“, rief Huhnſchlott dem Wagenführer zu und murmelte einen Fluch zwiſchen den Zähnen.
Der Kultor war an eines der hohen Fenſter des Gemaches getreten und blickte hinüber auf den Verkehr der Straße. Seine Stirn zog ſich finſter zuſammen. Das tut’s freilich nicht, ſo gingen ſeine Gedanken, aber die Gängelbänder müſſen fort, wenn die Kinder allein und aufrecht zu gehen lernen ſollen. Und dieſe Huhnſchlotts ſind die gefährlichſten Feinde der Selbſtzucht; doch ihre Macht iſt gebrochen. Sie werden nicht wagen, ſich zu widerſetzen.
In ſeinen Augen leuchtete es triumphierend auf. Es muß gelingen! Er wandte ſich nach ſeinem Arbeitszimmer.
„Die Berichte der Herren Inſtruktoren!“ ſprach er ins Telephon.
Der Aufzug beförderte ein dickes Aktenbündel herauf. Er begann darin zu blättern und ſich Notizen zu machen. Sein Auge verfinſterte ſich wieder. Die Beſtrafungen wegen Verſäumnis der Fortbildungsſchulen vermehrten ſich von Monat zu Monat. Auf dem Land hatte man jetzt während der Erntezeit die Einrichtung überhaupt pauſieren laſſen müſſen. Und wie oft waren die Lehrpläne falſch aufgeſtellt! Nicht wenige Inſtruktoren ließen Dinge lehren, zu denen die Vorkenntniſſe fehlten. Aber es fanden ſich doch auch erfreuliche Erfolge. In manchen Landesteilen, beſonders bei der induſtriellen Bevölkerung, drängte man ſich nach den Bildungsſtätten. Merkwürdigerweiſe zeigte ſich auch in Süddeutſchland, ſogar in Tirol, ein Fortſchritt in der Popularität der Schulen. Hier ſtand den Beſtrebungen der Nume die feſte Organiſation der kirchlichen Macht feindlich gegenüber; es ſchien zuerſt, als würde es unmöglich ſein, gegen den Fanatismus der von der Geiſtlichkeit gelenkten Bevölkerung aufzukommen. Aber gerade in dieſen Gegenden wurde der Beſuch, trotz der lokalen Schwierigkeiten in den Gebirgen, immer lebhafter, es gründeten ſich ſelbſtändige Vereine, zahlreich wurden Lehrer verlangt.
Der Kultor ſann lange über die Urſache dieſer Erſcheinung nach. War es die natürliche Oppoſition gegen die Macht, die bisher das Nachdenken gefliſſentlich vom Volk ferngehalten hatte? Brauchte man dem menſchlichen Geiſt nur die Freiheit und die Gelegenheit des Denkens zu geben, um ſicher zu ſein, daß er ſeinen Aufflug gewinnen werde? Oder waren die Inſtruktoren hier geſchickter? Der Kultor las einige der Einzelberichte, und er ſah mit Vergnügen, wie gut es die Sendboten der Numenheit verſtanden hatten, ſich vollſtändig nach den kirchlichen Gewohnheiten der Bevölkerung zu richten. Nirgends ſuchten ſie Zweifel zu erwecken, nirgends gegen die traditionelle Form zu verſtoßen. Sie beſchränkten ſich zunächſt auf rein praktiſche Kenntniſſe, deren Wirkung ſich ſofort in der Hebung des wirtſchaftlichen Lebens zeigte. So gewannen ſie Vertrauen. Der Weg iſt lang, dachte der Kultor, aber er iſt der einzig mögliche.
Der Kultor blickte auf ſeine Notizen und ſprach eifrig in den vom Mars eingeführten Phonographen, der ihm zum Feſthalten ſeiner Gedanken diente. Er entwarf eine Erläuterung zur Inſtruktion der einzelnen Bezirkskultoren. Die ſüddeutſchen Erfolge ſollten zum Vorbild genommen werden. Als er einiges aus der Statiſtik anführen wollte, ſtutzte er bei einer Zahl, die von den übrigen auffallend abwich. Wie kam es, daß in dem Bezirk von Bozen die Reſultate ſo ungünſtig waren? Er ſuchte in den Akten den Bericht des Inſtruktors. Es war die erſte Arbeit eines neu hingekommenen Beamten. Die Inſtruktoren mußten ſehr häufig wechſeln, das war ein großer Übelſtand; ſie vertrugen das Erdklima nicht.
Eben begann der Kultor den Bericht zu leſen, als ihm gemeldet wurde, daß der Vorſteher des Geſundheitsamtes von ſeiner Inſpektionsreiſe zurückgekehrt ſei und anfrage, ob er ihn ſprechen könne.
„Ich bitte, ſogleich“, war die Antwort.
Die Tür öffnete ſich, und ein älterer Herr trat ein. Trotz der diabariſchen Glocke, die über ſeinem Haupt ſchwebte, ging er gebückt und mühſam.
Der Kultor ſprang auf und eilte ihm entgegen.
„Mein lieber, teurer Freund“, ſagte er, ſeine Hände faſſend, „was iſt Ihnen? Sie ſehen angegriffen aus, ſind Sie nicht wohl? Machen Sie es ſich bequem. Legen Sie den Helm ab, und ſetzen Sie ſich hier auf das Sofa unter dem Baldachin, dieſes Eckchen iſt auf Marsſchwere eingerichtet. Ihre Reiſe hat Sie gewiß ſehr angeſtrengt?“
„Es muß meine letzte ſein. Sobald ich meinen offiziellen Bericht abgegeben habe, ſpäteſtens in zwei bis drei Wochen, komme ich um Urlaub ein. Ich hoffe, Sie werden mir keine Schwierigkeiten machen.“
„Sie erſchrecken mich, Hil! Selbſtverſtändlich können Sie reiſen, ſobald Sie wollen, ſollen Sie reiſen, wenn es Ihre Geſundheit erfordert. Aber mir tut es von Herzen leid. Und wie ſollen Sie erſetzt werden? In dieſem unausgeſetzten Wechſel der Beamten — wir haben nun ſchon den vierten Reſidenten — waren Sie mir die feſteſte Stütze. Indeſſen, ich hoffe, es handelt ſich nur um eine vorübergehende Indispoſition. Das feuchte Wetter —“
„Ja das Wetter! Sehen Sie, Ell — ich ſpreche im Vertrauen —, an dem Wetter wird unſre Kunſt zuſchanden. Der Winter läßt ſich allenfalls ertragen, aber gegen dieſe feuchte Wärme kommen wir nicht auf. Oft habe ich geglaubt, wenn unſre Beamten ſchon nach wenigen Wochen um Urlaub einkamen, es liege an ihrer Willensſchwäche. Ich habe jetzt auf meiner Reiſe durch die Tiefebene und durch die feuchten Waldtäler der Gebirge geſehen, daß dieſes Klima für den Numen, der ſich wenigſtens einen Teil des Tages im Freien aufhalten muß, wie es doch auf Reiſen unvermeidlich iſt, in gefährlichſter Weiſe wirkt. Der Regen, der Regen! Wer dieſe Himmelsplage erfunden hat! Bald prickelt es von allen Seiten in mikroskopiſchen Waſſertröpfchen, bald brauſt es in Sturzgüſſen hernieder, bald fällt es mit jener eintönigen, hypnotiſierenden, tödlichen Langeweile herab wie heute. Die Luft, mit Dampf geſättigt, lähmt die Tätigkeit der Haut und läßt uns erſticken. Ich war manchmal wie verzweifelt. Wir dürfen niemand länger als ein halbes Jahr im Winter oder ein Vierteljahr im Sommer hier laſſen, oder wir bringen Lungen und Herz nicht wieder geſund nach dem Nu. Was nutzen uns die trefflichen antibariſchen Apparate, wenn das infame Waſſer uns im wahren Sinne des Wortes erſäuft? Da oben am Pol war das nicht ſo merklich, wir lebten ja auch mehr nach unſrer eignen Weiſe. Aber hier in Deutſchland —. Warum mußten Sie ſich auch gerade dieſes Volk zu Ihrem Experiment auserſehen? Es gibt doch Gegenden, in denen wir einigermaßen beſſer fortkommen würden, zum Beiſpiel die großen Steppen im Oſten, und überall, wo es trocken iſt —“
„Aber mein verehrter Hil! Unſre Kulturbeſtrebungen können wir doch nur dort betreiben, wo wir die Bevölkerung am beſten vorbereitet finden, alſo wo die Volksbildung die vorgeſchrittenſte iſt. Deswegen mußte ich Deutſchland wählen, und vornehmlich darum, weil ich es am beſten kenne. Höchſtens an England hätte ich, aus andern Gründen, denken können, aber dort iſt es noch viel feuchter. Und aus allen andern Staaten klagen die Kultoren und Reſidenten ebenſo. Hier liegt ein ganzer Stoß von Urlaubs- und Entlaſſungsgeſuchen von Leuten, die noch keine drei Monate im Lande ſind. Doch Sie ſetzten ja ſo viele Hoffnung auf das Anthygrin. Hat ſich denn dieſes Heilmittel nicht bewährt?“
„Das Anthygrin iſt in der Tat ein ausgezeichnetes Spezifikum gegen das Erdfieber, und mit dem Chinin zuſammen hält es uns einige Zeit aufrecht. Aber es wird nicht lange vertragen, andere Organe werden ruiniert. Ich habe es jetzt ſehr ſtark anwenden müſſen, und nun bin ich hauptſächlich deswegen ſo ſchwach, weil ich nichts mehr eſſen kann.“
„Sie ſollten ſich an Menſchenkoſt gewöhnen. Man muß ſich eben nach dem Land richten. Im übrigen müſſen wir uns damit abfinden, daß unſre Beamten ſchnell wechſeln. Wir wollen verſuchen, ihnen öfter einen kürzeren Urlaub in günſtigere klimatiſche Verhältniſſe, etwa nach Tibet, zu geben. Dort hat ſich ja jetzt eine vollſtändige Marskolonie entwickelt. Und wiſſen Sie, Sie brauchen Ihren Bericht nicht hier abzufaſſen, Sie können das tun, wo Sie ſich wohler fühlen, vielleicht in den Alpen, oder auch weiter fort. Ich ſtelle Ihnen ein Regierungsſchiff zur Verfügung.“
„Ja, wenn wir in der Lage wären, jedem ein Luftſchiff mitzugeben — das wäre freilich das beſte Mittel. Zehntauſend Meter in die Höhe, das kuriert beſſer als Anthygrin und alle Mittel.“
„Das können wir freilich uns vorläufig nicht leiſten, aber in einigen Jahren, wenn wir die Energieſtrahlung auf der Erde beſſer ausnutzen können, wird es hoffentlich möglich ſein. Etwas ließe ſich inzwiſchen ſchon tun. Man könnte einige Schiffe zu einer Höhen-Luftſtation einrichten und ſo doch abwechſelnd den einzelnen Erleichterung ſchaffen.“
„Tun Sie darin bald, was Sie tun können.“
„Ich kann jetzt nicht größere Geldmittel verlangen. Der Etat für dieſes Jahr iſt erſchöpft. Wir haben koloſſale Anlagekoſten gehabt.“
„Ganz gleich, mögen es die Menſchen bezahlen.“
Ell ſah den Arzt erſtaunt an.
„Nun ja“, lenkte Hil ein, „es klingt etwas roh. Schließlich wird es doch darauf hinauskommen. Doch entſchuldigen Sie meine — meine Ausdrucksweiſe. Ich fühle ſelbſt, daß ich jetzt ſo leicht heftig, nervös gereizt bin. Man lernt ja die Menſchen nicht gerade ſehr hoch ſchätzen — übrigens iſt das die allgemeine Anſicht bei unſern Beamten, daß es ganz gut wäre, lieber Steuern zu erheben als Entſchädigungsgelder zu zahlen.“
„Ich verſtehe Sie gar nicht mehr, lieber Freund. Das wäre die Anſicht bei unſern Beamten? Dagegen würde ich mich doch recht ernſtlich erklären.“
„Da es mir einmal ſo — wie man hier redet — herausgefahren iſt, ſo mag es denn auch geſagt ſein“, erwiderte Hil, „obwohl ich erſt in meinem Bericht davon ſprechen wollte, weil ich ihnen erſt darin die formellen Belege für meine Beobachtungen geben kann. Es iſt allerdings eine Gefahr da, eine moraliſche, die Ihnen in der Auswahl der Beamten ganz beſondere Vorſicht auferlegen wird. Es iſt mir im allgemeinen aufgefallen, daß die Inſtruktoren nach einigen Monaten nicht mehr die Ruhe und das heitere Gleichmaß der Geſinnung haben, die wir an den Numen gewohnt ſind. Der Umgang mit den Menſchen, wenigſtens in der autokratiſchen Stellung, die ſie einnehmen, wirkt — verzeihen Sie den Ausdruck — gewiſſermaßen verrohend, und das äußert ſich zunächſt in der Sprechweiſe, in einer Geringſchätzung der äſthetiſchen Form, weiterhin in einer Überſchätzung der eigenen Bedeutung, ſchließlich in einer ſchon das ethiſch Statthafte überſchreitenden Selbſtherrlichkeit. Ja, ich habe leider einzelne Fälle beobachtet, wo man direkt von einer Pſychoſe ſprechen kann, ich möchte ſie geradezu den ‚Erdkoller‘ nennen.“
„Aber ich bitte Sie, da muß ſofort eingeſchritten werden. Darüber werden Sie mir eingehend berichten.“
„Als Arzt, gewiß. Das andere wird Sache der revidierenden Unterkultoren ſein, wenn nicht gar des Reſidenten. Denn es können politiſche Verwicklungen entſtehen. Bis jetzt iſt die Sache noch verhältnismäßig harmlos, und ich werde die betreffenden Herren ſchon morgen zur Beurlaubung vorſchlagen. Da komme ich zum Beiſpiel — ich weiß den Namen nicht auswendig — auf eine Kreuzungsſtation, wo ich umſteigen muß. Aber der neue Zug kommt nicht und kommt nicht — er hat über eine halbe Stunde Verſpätung. Ich erkundige mich dann bei dem Zugführer und höre: Ja, der Herr Bezirksinſtruktor iſt ein Stück mitgefahren. Ich frage, warum das ſo lange aufgehalten habe. Der Herr Bezirksinſtruktor habe einen eigenen Wagen verlangt, der mußte erſt geholt werden. Dann könne er aber den Lärm und Dampf der Maſchine nicht vertragen, und ſo mußte man den Wagen erſt an das Ende des Zuges bringen und noch einige leere Wagen dazwiſchenſchalten. Und endlich mußte man mitten auf der Strecke an einem Dorf halten, weil es ihm beliebte, dort auszuſteigen.“
„Und ſagten Sie nicht, daß die Bahnbeamten ſolchem unberechtigten Verlangen nicht nachgeben durften?“
„Die zuckten die Achſeln und meinten, was will man tun? Man darf ſich den nicht zum Feind machen.“
„Die feigen Toren! Aber der Inſtruktor muß ſofort von ſeinem Amt ſuſpendiert und vor das Disziplinargericht geſtellt werden. Das iſt ja unerhört, wenn ſich dieſe Angaben beſtätigen, ich werde aufs genaueſte unterſuchen laſſen. Wie kann ein Nume ſeine Berechtigungen ſo überſchreiten!“
„Es würde ihm auf dem Nu nie einfallen. Hier achtet er niemand als ſeinesgleichen. Die Theorie, daß Bate keine Numenheit beſäßen, iſt ja ſehr verbreitet.“
„Ich werde dafür ſorgen, daß ſich meine Beamten ihrer Pflicht erinnern, die Geſetze dieſes Staates als die ihrigen zu betrachten, ſo lange ſie hier ſind, und ſich keine privaten Vorrechte anzumaßen. Wie ſollen die Menſchen lernen, ſich dem Geſetz zu fügen, wenn Nume ſolche Beiſpiele geben? Ich hätte das nicht geglaubt. Warum aber beſchwert ſich niemand? Sobald die Preſſe über einen derartigen Fall berichtete, würde ich ſofort unterſuchen laſſen.“
Hil zuckte mit den Achſeln. „Die Unterſuchung iſt nicht immer ſehr angenehm. Es iſt ſchwer, alle Einzelheiten zu beweiſen. Übrigens ſind ſolche Fälle glücklicherweiſe noch vereinzelt. Sollten ſie ſich wiederholen, ſo würde die Preſſe nicht ſchweigen. Das ſehen Sie ja an dem Fall Stuh.“
„Was meinen Sie da?“
„Haben Sie denn die heutigen Mittagsblätter nicht geleſen?“
„Es war mir bis jetzt unmöglich. Aber ich würde natürlich nachher —. Doch was iſt denn geſchehen? Sie meinen doch nicht Stuh in Frankfurt?“
„Die Sache ſpielt in der Nähe von Frankfurt. Der Bezirksinſtruktor iſt vier Stunden im Regen gefahren — beachten Sie das —, kommt in einen kleinen Ort und iſt ſehr hungrig. Er läßt vor dem Wirtshaus halten. Es iſt Sonntag, alle Zimmer ſind überfüllt, der Wirt hat ſelbſt Taufe im Hauſe. Stuh geht in das Gaſtzimmer und beſtellt ſich Eſſen. Die Bauern rücken auch zuſammen und machen ihm eine Ecke frei. Nun kommt das Eſſen. Stuh ſagt dem Wirt, die Leute möchten jetzt das Zimmer verlaſſen, er wolle eſſen. Der Wirt ſtellt ihm vor, das könne er nicht verlangen, es ſei kein Raum im ganzen Hauſe frei; ſelbſt der Hausflur war beſetzt, und draußen regnete es in Strömen. Da wird Stuh von Hunger und Regen wütend und herrſcht die Leute an, ſie möchten ſich hinausſcheren, wenn ein Nume eſſe, habe kein Bat zuzuſehen. Die Bauern haben keine Ahnung, daß es uns nicht möglich iſt, ſo öffentlich den Hunger zu ſtillen. Sie halten die Anforderung für eine Unverſchämtheit und lachen Stuh einfach aus. Ganz nüchtern waren ſie auch nicht mehr. Kurzum, es kommt zum Streit. Stuh will nun hinaus, jetzt aber verhöhnen ihn die Bauern und klopfen ihm mit ihren Stöcken auf den Glockenhelm. Unglücklicherweiſe hat Stuh an ſeiner Uhr ein kleines Telelytſtiftchen. Er nimmt die Uhr heraus, hält ſie den Umſtehenden entgegen und ſagt: ‚Wenn ihr jetzt nicht macht, daß ihr hinauskommt, ſo laſſe ich hier einen Feuerregen heraus, daß ihr alle verbrennen müßt.‘ Das war ja natürlich eine Aufſchneiderei, mit dem Stiftchen konnte er höchſtens einem die Kleider verſengen. Und da nun nicht gleich Platz wird, ſo läßt er die Funkengarbe aus dem Stiftchen ſprühen. Nun denken die Leute wirklich, das Haus muß anbrennen, und drängen ſich zur Tür. Es entſteht ein Gewühl, und eine Menge Verwundungen kommen vor. Das ganze Haus gerät in Aufruhr. Stuh verriegelt die Tür und ſetzt ſich ruhig zum Eſſen. Als nun die Bauern ſahen, daß weiter nichts geſchehen war und ſie ſich nur ſelbſt geſtoßen und getreten hatten, wurden ſie wütend und wollten die Tür einſchlagen, um Stuh zu verhauen. Zum Glück war inzwiſchen Polizei herbeigekommen und brachte Stuh unverſehrt zum Ort hinaus. Aber Sie können ſich denken, welche Empörung jetzt in dem Städtchen herrſcht.“
„Das iſt unangenehm, ſehr unangenehm“, ſagte Ell. „Und ich kenne doch Stuh als einen ruhigen, menſchenfreundlichen Mann.“
„Der Regen, Ell! Fahren Sie einmal vier Stunden im Regen — mit Pferden, entſetzlicher Gedanke! Schon der Geruch kann einen wahnſinnig machen. Aber freilich, das können Sie nicht ſo nachfühlen —“
Ell war aufgeſtanden und auf und ab gegangen. Er blieb nun ſtehen und ſprach: „Aber das ſind Zwiſchenfälle, die ſich nicht vermeiden laſſen. Man muß ſie korrigieren, ihnen jedoch kein großes Gewicht beilegen. Unſere Aufgabe werden wir trotzdem erfüllen.“
„Ich zweifle nicht. Aber es ſind Symptome. Möchten ſie ſich nicht häufen! Indeſſen, ſie ſind nicht das Schlimmſte. Es gibt eine viel größere Gefahr. Deswegen kam ich her. Eine Gefahr für die Menſchen.“
„Sprechen Sie, Hil.“
„Wiſſen Sie, was bei uns Gragra iſt?“
„Das iſt, wenn ich mich recht erinnere, eine Kinderkrankheit auf dem Mars, die ohne jede Bedeutung iſt.“
„Ganz richtig, das iſt ſie jetzt, ſeit einigen tauſend Jahren. Die Kinder ſind ein paar Tage müde, bekommen einen leichten Ausſchlag, und dann iſt die Sache vorüber. Aber es war nicht immer ſo. Im agrariſchen Zeitalter war die Gragra eine furchtbare Plage, eine entſetzliche Peſt, welche ganze Landſtriche bei uns entvölkerte, nicht durch einen akuten Verlauf, ſondern durch eine langſame, chroniſche Vergiftung. Wir ſind ihrer Herr geworden, teils durch unſre Impfungen, teils durch die allmähliche Veränderung der Ernährung. Und nun — die erſten Spuren dieſer chroniſchen Form —, doch ſetzen Sie ſich her zu mir, ich muß leiſe ſprechen.“
Ell ließ ſich neben Hil nieder. Dieſer ſprach lange mit ihm. Ells Geſicht war tiefernſt geworden.
„Das iſt ja furchtbar“, ſagte er. „Und was können wir tun?“
„Noch weiß kein Menſch von der drohenden Gefahr. Die menſchlichen Ärzte ſind noch nicht einmal auf dieſe leichten, ihnen unbekannten erſten Symptome aufmerkſam geworden. Und wenn die Krankheit allmählich ſtärker unter den Menſchen auftreten ſollte, werden Jahre vergehen, ehe ſie erkennen werden, daß es ſich um eine für ſie ganz neue Form von Bakterien handelt. Denn dieſe ſind ſo klein, daß ſie nur durch unſere beſonderen Strahlungsmethoden nachweisbar ſind. Ich habe die Überzeugung, daß die Krankheit in ihrer milden Form vom Mars eingeſchleppt worden iſt und daß die Bazillen unter den auf der Erde, reſpektive im menſchlichen Körper herrſchenden Verhältniſſen ſo günſtige Bedingungen für ihre Vermehrung gefunden haben, daß die alte perniziöſe Form, die bei uns ausgeſtorben war, wieder auftritt. In einigen Jahren werden wir die Verheerungen ſehen.“
„So müſſen wir ſofort die Ärzte auf dieſe Krankheit aufmerkſam machen —“
„Überlegen Sie das ſehr ſorgfältig, Ell. Wie geſagt, von ſelbſt würde kein Menſch auf Jahre hinaus auf die Urſachen der Erſcheinungen kommen, die ſich zweifellos mit der Zeit zeigen werden. Und bisher ſind die Symptome ſelbſt erſt für uns wahrnehmbar. Wollen Sie jetzt den Menſchen ſagen, wir haben Euch ein furchtbares Übel auf die Erde gebracht, ſchlimmer vielleicht als die Tuberkuloſe? Wäre das nicht der ſichere Weg, unſern Einfluß aufzuheben? Würde das nicht zu einem allgemeinen Aufſtand führen, den wir nur mit neuen Greueln unterdrücken könnten? Nein, es darf kein Menſch ahnen, daß wir ihm nicht bloß Heilſames auf der Erde verbreiten.“
„Aber wir müſſen die Menſchen vor dem drohenden Unheil ſchützen.“
„Es iſt, wie ich überzeugt bin, möglich, aber es iſt ſehr ſchwierig. Zunächſt müſſen die Nume ſich jeder unmittelbaren Berührung mit dem Körper der Menſchen enthalten, es ſei denn unter den beſonderen Vorſichtsmaßregeln, wie ſie der Arzt bei einer Unterſuchung anwenden kann. Und es fragt ſich, ob alle der Unſeren in dieſer Hinſicht zuverläſſig ſein werden. Für die Menſchen aber iſt zweierlei notwendig: Ernährung durch chemiſche Nahrungsmittel und allgemein durchgeführte Impfung. Unter dieſen Umſtänden würde auch die Berührung mit den Numen nichts ſchaden können. Aber dieſe Mittel werden nicht anwendbar ſein.“
„Die allgemeine Verbannung der agrariſchen Nahrungsmittel iſt jetzt noch nicht möglich, ſie wird ſich nur nach und nach einführen laſſen. Und bis dahin könnte ſchon viel Schaden geſchehen ſein. Die Impfung ließe ſich ja zwangsweiſe durchſetzen, aber man müßte doch den Grund mindeſtens andeuten, und wir würden jedenfalls auf Widerſtand ſtoßen und Unwillen erregen. Indeſſen, geſchehen muß etwas. Ich erwarte baldigſt die eingehenden Belege für die Richtigkeit Ihrer Anſicht und werde dann mit dem Reſidenten und dem Protektor konferieren. Es müßte wohl ſicher international vorgegangen werden. Ach Hil, was für eine neue große Sorge haben Sie mir da gemacht!“
„Es war meine Pflicht.“
„Gewiß, mein verehrter Freund. Und vergeſſen Sie nicht bei Ihren Beſprechungen mit den Kollegen, daß es ſich um ein Numengeheimnis handelt. Es iſt zu abſcheulich! Nichts iſt mir unangenehmer als der Zwang, mit der vollen Wahrheit zurückzuhalten. Und doch muß hier aufs ſorgfältigſte überlegt werden, ob wir reden dürfen. Darin haben Sie leider recht.“
Ell trat an das Fenſter und blickte, in Nachſinnen verloren, hinaus.
Hil erhob ſich, um ſich zu verabſchieden.
Plötzlich zuckte Ell, wie von einem innern Schreck ergriffen, zuſammen. Er drehte ſich ſchnell nach Hil um und ſagte:
„Noch eins, Hil, noch eine Frage. Schenken Sie mir noch einen Augenblick. Ich möchte wiſſen —: Was halten Sie von der Gefahr, die der Aufenthalt auf dem Mars für die Menſchen bietet? Glauben Sie, daß diejenigen, die dort waren, zum Beiſpiel unſre Freunde, den Keim der Krankheit in ſich aufgenommen haben könnten?“
Ein leichtes Lächeln ſpielte um Hils Züge, als er antwortete:
„Für Ihre Perſon können Sie ganz unbeſorgt ſein. Bei Ihrem Numenblut und Ihrer Bevorzugung der chemiſchen Nahrungsmittel —“
Ell winkte mit der Hand. „Nicht doch, ich dachte wirklich nicht an mich, ich dachte — zum Beiſpiel Saltner — und die Forſchungs- und Vergnügungsreiſenden. Wir können ja jetzt kaum Raumſchiffe genug ſtellen. Glauben Sie, daß wir den Verkehr beſchränken müßten?“
„In dieſer Frage haben wir noch keine Erfahrung. Indeſſen könnte es kein Bedenken erregen, wenn man die Impfung zum Beiſpiel für das Betreten der Raumſchiffe unter irgendeinem Vorwand zur Bedingung machte.“
„Aber diejenigen, die nun ſchon zurück ſind?“
„Saltner iſt auf der Reiſe nach dem Mars geimpft worden, weil ihm ſonſt das Ehrenrecht als Nume nicht hätte erteilt werden können. Und was — was Frau Torm betrifft, ſo kann ich Sie ebenfalls beruhigen. Ich habe es für gut gehalten, während ihrer Krankheit nach und nach die bei uns vorgeſchriebenen Impfungen zu vollziehen, und ich halte ſie jetzt überhaupt für vollſtändig wiederhergeſtellt.“
Ell, der Hil geſpannt angeblickt hatte, atmete auf. Er ſagte jetzt lächelnd: „Und halten Sie mich ſelbſt für einen Anſteckungsherd?“
„Nein, ich halte Sie in dieſer Hinſicht für ganz ungefährlich.“
„Ich danke Ihnen. Und wir wollen den Mut nicht verlieren. Ich will nachdenken, was wir tun können. Leben Sie wohl, und ſchonen Sie ſich. Beſtimmen Sie, wann Sie Höhenluft ſchöpfen wollen, das Luftſchiff ſoll zu Ihrer Verfügung ſtehen.“
Er begleitete Hil bis an die Tür und ſchüttelte ihm die Hand. Dann kehrte er zurück. Ein Seufzer entrang ſich ſeiner Bruſt. Lange ſchritt er im Zimmer auf und ab. „Nur den Mut nicht verlieren!“ ſagte er zu ſich ſelbſt. Dann glitt ein ſtilles Lächeln über ſeine Züge. „Ja, das wird mir gut tun“, dachte er.
„Den Wagen!“ rief er ins Telephon.