Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 45. Das Unglück des Vaterlands Torm ging unruhig in ſeinem Zimmer auf und ab. Seine Liebe zu Isma, das alte, feſte Vertrauen, das ſich wieder hervordrängte, die Mitteilungen Grunthes über Ells freundſchaftliches Verhalten, das alles kämpfte in ſeinem Innern mit dem feindlichen Argwohn, in den er ſich in der Einſamkeit ſeiner Verbannung immer feſter hineingelebt hatte. Die ſtets erneute Verzögerung der Heimkehr Ismas und das gleichzeitige Zurückbleiben Ells, wofür er keinen Grund einzuſehen vermochte, hatten allmählich in ihm den Verdacht erweckt, daß es Ell doch nicht ehrlich mit ihm meine. Von nun ab glaubte er überall die Hand Ells im Spiele zu ſehen. Die Verhinderung ſeiner Heimreiſe vom Pol ſchob er ebenfalls auf einen Einfluß Ells. Wer konnte wiſſen, welche Lichtdepeſchen zwiſchen den Planeten, zwiſchen Neffe und Oheim, gewechſelt wurden? Zu ſeiner verzweifelten Flucht hatte er ſich in einem Moment der Erregung entſchloſſen, der noch einen andern Grund hatte, als er Grunthe gegenüber ausſprechen wollte. Bei ſeinen Disputen mit den Martiern am Pol hatte er aus der hingeworfenen Bemerkung eines der martiſchen Offiziere entnommen, daß man nach den Geſetzen der Nume ihm überhaupt keinerlei Recht zuerkannte, die Rückkehr ſeiner Frau zu verlangen. Die formale Gültigkeit ſeiner Ehe war auf dem Mars nicht anerkannt. Niemand hätte es unter den vorliegenden Umſtänden Isma verdacht, wenn ſie ſich als frei erklärt hätte. Dies hatte Torm in die höchſte Aufregung verſetzt, und ein nagendes Gefühl der Eiferſucht hatte ihm einen Teil ſeiner ruhigen Beſinnung geraubt. Jetzt freilich mußte ihm Isma in anderm Licht erſcheinen. Hatte er denn irgendeinen beſtimmten Vorwurf gegen ſie zu erheben? Sie war ja zurückgekehrt, und ſie hatte ſich damit offenbar zu ihm bekannt. Sollte er nun zu Ell rückſichtslos vordringen und ſich vielleicht rettungslos der Gewalt der Martier ausliefern? War Ell unſchuldig, ſo war dieſes Opfer ganz unnötig gebracht. War Ell aber ſchlecht, ſo gab er ſich in ſeine Hand. Als er ſeinen Entſchluß gefaßt hatte, zuerſt zu Ell zu gehen, wußte er ja noch nicht, daß ſich dieſer in einer ſo unerreichbaren Machtſtellung befand. So ſchien es ihm jetzt doch als das richtige, ſich mit Isma in Verbindung zu ſetzen. Aber wie konnte das ohne Gefahr geſchehen? Und vor ſeinem Geiſt ſtieg die furchtbare Anklage auf, einen Nume bei der Ausübung ſeiner Pflicht verletzt, vielleicht getötet zu haben — —. Was ihm das Mittel werden ſollte, Isma wiederzugewinnen, die rückſichtsloſe Flucht, nun erſchien es ihm als ein verhängnisvolles Schickſal, das ihn für immer von ihr trennen ſollte. Unter dem Druck der ſchweren Anklage, die auf ihm laſtete, durfte er vor ihre Augen treten? Was ſollte er tun? Mechaniſch griff er nach einer der Broſchüren, an die er nicht mehr gedacht hatte. Sein Auge fiel auf die Überſchrift: „Das Unglück vom 30. Mai.“ Er begann zu leſen. Und der Schmerz um das Vaterland drängte die eigene Sorge zurück. „Ihr ſollt es einſt wiſſen, Kinder und Enkel“, ſo hieß es, „was uns geſchehen iſt, damit ihr weinen könnt und zürnen wie wir. Darum ſchreiben wir das Traurige auf, obwohl die Hand unwillig ſich ſträubt. Es war der Tag der großen Parade, an dem der oberſte Kriegsherr ſein herrliches Heer muſterte, das um die Hauptſtadt zuſammengezogen war. Von der zahlloſen, begeiſterten Menge der Zuſchauer umgeben, waren die glänzenden Regimenter vorübermarſchiert an der ‚einſamen Pappel‘. So hieß die Stelle nach einem Baum, der ſich einſtmals hier befunden hatte, wo der Monarch, umringt von der Mehrzahl der deutſchen Fürſten und ſeinen Generälen, die Heerſchau hielt. Nun hatten ſich die Truppen weiter auseinandergezogen und die Gewehre zuſammengeſtellt, während der Kriegsherr den Führern ſeine Anerkennung ausſprach. Und da geſchah es. Vor der Hauptſtadt des Reiches, an deſſen Grenzen man nirgends die Spur eines Feindes hatte beobachten können. Im Augenblick der größten Machtentfaltung des ſtärkſten Landheeres. Wie ein Schwarm von Raubvögeln ſchoß es vom Himmel hernieder, geräuſchlos, glänzende, glatte Ungetüme. Und im Moment, da man ſie bemerkte, waren ſie auch ſchon da und hatten die Schar der Anführer umringt. ‚Zu den Truppen!‘ hieß es. Die Kommandierenden ſtoben auseinander. ‚Zurück! Ergebt euch! Der Weg iſt geſperrt!‘ tönte es ihnen aus den feindlichen Luftſchiffen entgegen. Die Offiziere kümmerten ſich nicht darum, ſie ſprengten weiter. Aber nicht lange. Keiner paſſierte den Kreis, den die Schiffe abſperrten. Von einer unſichtbaren Macht zurückgeworfen, ſtürzten Roß und Reiter zuſammen. Enger ſchloß ſich der Ring der Schiffe, die nur wenige Meter über dem Boden ſchwebten, um die Fürſten und ihre Begleitung, ſo daß die geſtürzten Offiziere jetzt außerhalb des geſperrten Kreiſes lagen. Die Truppen, ſoweit ſie nahe genug waren, um den Vorgang zu beobachten, waren ſofort unter das Gewehr getreten. Als die Bataillonsführer bemerkten, daß ihre Kommandierenden nicht zu ihnen gelangen konnten, als ſie ſahen, daß die plötzlich erſchienenen Schiffe einen feindlichen Angriff bedeuteten, dem der oberſte Kriegsherr ſelbſt mit allen Fürſten und Generälen ausgeliefert war, da bebte ihnen wohl das Herz in der Bruſt unter der Verantwortung, die ſie auf ſich gelegt fühlten. Aber nun bewährte ſich der Geiſt unſeres Heeres in erhebender Weiſe. Nicht ein Augenblick der Verwirrung, nicht ein Moment des Schreckens trat ein. Die Truppen einer andern Nation, falls ſie ſich nicht in zuchtloſe Flucht aufgelöſt hätten, wären vielleicht in wahnſinnigem Todesmut zur Befreiung ihres Feldherrn vorgeſtürzt, um in den Repulſitſtrahlen und Nihilitſphären der Marsſchiffe ihren Untergang zu finden, ohne daß ſie auch das Geringſte hätten ausrichten können. Die deutſchen Offiziere indeſſen verloren ihre Inſtruktion auch in dieſem ſchrecklichen Moment nicht aus den Augen. Nach den Erfahrungen, die man in England gemacht hatte, war es von der deutſchen Heeresleitung als erſter Grundſatz ausgeſprochen worden, unter keinen Umſtänden Munition und Menſchenleben gegen ein mit Nihilitſphäre verſehenes Marsſchiff zu verſchwenden, da man wußte, daß dies ein völlig fruchtloſes Beginnen ſei. Die Truppen waren überhaupt nicht zuſammengezogen worden, um ſich irgendwo in offenem Kampf mit den Martiern zu verſuchen. Man hatte vielmehr ein ganz anderes Syſtem der Verteidigung aufgeſtellt, und von dieſem auch im Moment der äußerſten Überraſchung nicht abzuweichen, das war die höchſte Aufgabe, welche die Disziplin zu leiſten hatte. Man ſagte ſich, daß den Machtmitteln der Martier gegenüber eine Armee im freien Feld wie in den Forts der Feſtungen ohnmächtig und dem Untergang geweiht war, daß aber ihrerſeits die Martier machtlos ſein würden, wenn ſie verhindert würden, ſich der Organe der Regierung zu bemächtigen. Man hatte deswegen die Truppen lediglich zum Schutz der Hauptſtädte als der Zentralpunkte der Staatsverwaltung zuſammengezogen. Hier ſollten ſie verhindern, daß die öffentlichen Gebäude von den Martiern beſetzt und in Beſchlag genommen würden. Man nahm mit Recht an, daß in den Städten, mitten zwiſchen den Häuſern der friedlichen Bürger, die Martier von gewaltſamen Zerſtörungen abſehen würden; daß ſie, wenn ſie einen Einfluß auf die Regierung gewinnen wollten, gezwungen ſein würden, ihre ſchützenden Schiffe zu verlaſſen und den feſten Boden zu betreten. Und hier ſollte dann die ſtarke militäriſche Beſatzung es unmöglich machen, daß die Kaſſen, die Büros, die Archive und die leitenden Amtsperſonen ſelbſt in feindliche Gewalt gerieten. Deswegen hatte jedes einzelne Bataillon bereits ſeine beſtimmte Inſtruktion, wohin es ſich beim erſten Erſcheinen der Feinde ſofort zu begeben habe. Dies allein war auszuführen. Die große Parade war zum Verderben ausgeſchlagen. Aber in Erinnerung an hergebrachte und liebgewordene Gewohnheiten hatte der oberſte Kriegsherr geglaubt, dieſelbe ohne Gefahr anordnen zu können, weil trotz des ſorgfältigſten Nachrichtendienſtes noch keinerlei Spur einer feindlichen Annäherung gefunden worden war. Nun war der Feind dennoch da. Jeder ſah ein, daß man nichts tun konnte, als der urſprünglichen Anordnung zu folgen. Auf die feindlichen Luftſchiffe ſchießen oder gegen ſie anſtürmen wäre Unſinn geweſen. Das ganze große Feld war noch von Zuſchauern überflutet, die ſich jetzt in eiliger Flucht nach der Stadt zurückwälzten. Auf den Chauſſeen drängten ſich die Wagen, darunter die Equipagen, welche die fürſtlichen Gemahlinnen und Prinzeſſinnen vom Paradefeld fortführten. So taten die Truppen ihre einfache Pflicht. Sie marſchierten, ſo ſchnell ſie konnten, auf den im voraus feſtgeſetzten Wegen nach ihren Beſtimmungsorten. Nur das erſte Gardegrenadierregiment und das Gardeküraſſierregiment blieben zur perſönlichen Bedeckung des Kriegsherrn zurück. Der Monarch blickte mit finſterem Ernſt auf ſeine Umgebung, auf die feindlichen Schiffe und die betäubt oder tot am Boden liegenden Offiziere, um welche jetzt Ärzte und Krankenträger bemüht waren. Dann riß er den Degen aus der Scheide und rief: ‚Meine Herren! Hier gibt es nur einen Weg hindurch!‘ Er ſpornte ſein Pferd an. Seine Begleitung warf ſich ihm entgegen und beſchwor ihn, ſich dem ſichern Verderben nicht auszuſetzen. Er wollte nicht hören. ‚Nun denn‘, rief da der greiſe General von Dollig, ‚zuerſt wir!‘ Und einen Teil der Offiziere mit ſich fortreißend, jagte er im Galopp gegen die unſichtbare Schranke, die ſich nur durch eine Staubſchicht über dem Boden verriet. Sobald man bei den außerhalb des Ringes der Marsſchiffe haltenden Schwadronen der Gardeküraſſiere die Bewegung in der Begleitung des Feldherrn wahrgenommen hatte, ließen ſie ſich nicht länger zurückhalten. Unter brauſendem Hurraruf ſprengten die glänzenden Reitermaſſen heran, um ihren Feldherrn aufzunehmen oder mit ihm unterzugehen. Es war ein furchtbarer Moment. Starres Entſetzen faßte alle, die den Vorgang zu bemerken vermochten. Und als ob die Kühnheit des Entſchluſſes den übermächtigen Feind bezwänge, ſo kam jetzt neue Bewegung in ſeine Schiffe. Sie erhoben ſich, als wollten ſie den Weg freigeben. Gleichzeitig aber ſenkte es ſich von oben herab wie eine dunkle, langgeſtreckte Maſſe, die eben erſt auf dem Feld erſchien. Wie ein breites, ſchwebendes Band, von den Luftſchiffen begleitet, dehnte ſich dieſe Maſſe jetzt in den kurzen Sekunden aus, welche die heranſtürmende Kavallerie zur Annäherung brauchte. Und nun kam die erſte Reihe der Reiter in den Bereich ihrer Wirkung, und gleich darauf zog die ſeltſame Maſchine über das ganze Regiment hinweg. Die Wirkung war ſo ungeheuerlich, daß die Schar der anſprengenden Fürſten und Generale ſtockte und ein Schrei des Entſetzens vom weiten Feld her herüberhallte. Kein einziges Pferd mehr ſtand aufrecht. Roß und Reiter wälzten ſich in einem weiten, wirren Knäuel, eine Wolke von Lanzen, Säbeln, Karabinern erfüllte die Luft, flog donnernd gegen die Maſchine in der Höhe und blieb dort haften. Die Maſchine glitt eine Strecke weiter und ließ dann ihre eiſerne Ernte herabſtürzen, wo die Waffen von den Nihilitſtrömen der Luftſchiffe vernichtet wurden. Noch zweimal kehrte die Maſchine zurück und mähte gleichſam das Waffenfeld ab. Keine Hand vermochte Säbel oder Lanze feſtzuhalten, und wo die Befeſtigung an Roß und Reiter nicht nachgab, wurden beide eine Strecke fortgeſchleift. Die Hufeiſen wurden in die Höhe geriſſen, und dadurch waren ſämtliche Pferde zum Sturz gebracht worden. Jene Maſchine war die neue, gewaltige Erfindung der Martier, eine Entwaffnungsmaſchine von unwiderſtehlicher Kraft für jedes eiſerne Gerät — ein magnetiſches Feld von koloſſaler Stärke und weiter Ausdehnung. Mit Hilfe dieſes in der Luft ſchwebenden Magneten entriſſen die Martier ihren Gegnern die Waffen, ohne ſie in anderer Weiſe zu beſchädigen, als es durch das Umreißen unvermeidlich war. Während die Kavallerie aus ihrer Verwirrung ſich aufzuraffen verſuchte, war der Luftmagnet ſchon weitergezogen und hatte ſich der Infanterie genähert. Vergeblich umklammerten die Soldaten mit beiden Händen ihre Gewehre, eine unwiderſtehliche Gewalt zerrte ſie in die Höhe, und mancher, der nicht nachgeben wollte, wurde ein Stück in die Luft geſchleudert, um dann ſchwer zu Boden zu ſtürzen. In wenigen Minuten war das 1. Garderegiment entwaffnet. Die Maſchine flog weiter, um die auf dem Marſch befindlichen Regimenter einzuholen und dasſelbe Manöver an ihnen vorzunehmen. Binnen kurzem mußte ſo ſelbſt die ſtärkſte Armee kampfunfähig gemacht ſein. Auch die Geſchütze der Artillerie wurden fortgeriſſen. Während der Monarch und ſeine Begleitung in tiefer Erſchütterung auf das Unfaßliche ſtarrten, ſenkte ſich aus der Höhe dicht vor ihnen ein ſchlankes Schiff hernieder, das ein leuchtender Stern als das Admiralsſchiff bezeichnete. Demſelben entſtieg, während die übrigen die Abſperrung aufrecht erhielten, der Befehlshaber der Martier. Zwei Adjutanten begleiteten ihn. Über ihren Köpfen glänzten die diabariſchen Helme. So traten ſie langſam einige Schritte vor, die großen Augen ſcharf auf die Offiziere gerichtet. Unwillkürlich wichen alle zur Seite, eine Gaſſe öffnete ſich, und der Nume ſtand dem Monarchen gegenüber. Der Martier grüßte mit einer ehrfurchtsvollen Handbewegung und ſagte: ‚Mein Auftraggeber, der Protektor der Erde, lädt Ew. Majeſtät und Ihre hohen Verbündeten zu einer Beſprechung ein und bittet, zu dieſem Zwecke dieſes Schiff allergnädigſt beſteigen zu wollen. Ich bemerke, daß es unmöglich iſt, dieſen von unſerer Repulſitzone umgebenen Platz auf andere Weiſe zu verlaſſen.‘ Niemand wagte ſich zu bewegen. Lange blickte der Fürſt mit ſtrenger Miene in das Auge des Numen, der den Blick ruhig erwiderte; keiner zuckte mit einer Wimper. Dann ſteckte der Monarch mit einer entſchloſſenen Bewegung den Degen in die Scheide und ſprach nachdrücklich: ‚Sie haben einen General gefangengenommen, nichts weiter. Seine Majeſtät, mein Herr Sohn, befindet ſich nicht unter uns.‘ ‚Ew. Majeſtät werden ihn im Schiffe finden‘, ſagte der Nume mit einer Verbeugung. Der Feldherr ſchwang ſich vom Pferd. Hoch aufgerichtet, die Hand auf dem Griff des Degens, ſtieg er die herabgelaſſene Schiffstreppe hinan. Das Luftſchiff, das bereits vor einer Stunde die Kommandierenden der Armeekorps in Königsberg, Breslau und Poſen aufgehoben hatte, entfernte ſich nach Weſten — —“ Torm ließ die Blätter aus ſeiner Hand ſinken. Das alſo war das Unglück vom dreißigſten Mai! Er nahm die Broſchüre wieder auf, er blätterte weiter, er blickte auch in die übrigen Hefte. An demſelben Tag waren die Feſtungswerke von Spandau durch die Martier zerſtört, die Kriegsvorräte unbrauchbar gemacht worden. Man hatte die Fürſten nach Berlin geführt, die ganze Stadt wurde jetzt zerniert. Wo ſich Truppen im Freien zeigten, erſchienen alsbald die Elektromagnete der Martier und entriſſen ihnen die Waffen. Nach drei Tagen waren alle größeren Waffenplätze außer Funktion geſetzt. Jetzt liefen die Nachrichten aus Wien, Paris, Rom ein. Die Martier waren überall in ähnlicher Weiſe vorgegangen. Zuerſt hatten ſie ſich der Perſonen der Fürſten, Präſidenten und Miniſter bemächtigt. Man hatte den Kaiſer von Öſterreich auf der Jagd, den König von Indien während eines großen Empfanges aufgehoben, der Präſident der franzöſiſchen Republik ſpielte gerade mit dem Kriegsminiſter eine Partie Billard, als er in das Luftſchiff der Martier eingeladen wurde. Die Kammer wurde im Palais Bourbon eingeſchloſſen, bis der Friedensvertrag unterzeichnet war. Die gefangenen Fürſten dankten zugunſten ihrer Thronerben ab, und die jungen Nachfolger konnten zuletzt nichts anderes tun, als in die Friedensbedingungen der Martier willigen, da ihre Armeen machtlos waren und ein längerer Widerſtand nur zu einer Auflöſung der ſtaatlichen Ordnung geführt hätte. Rußland allein war vorläufig von einem Angriff der Martier verſchont geblieben. Die Gründe dafür wußte man nicht, doch nahm man allgemein an, daß die Martier nur eine günſtige Gelegenheit abwarteten, bis ihnen die Zuſtände in den weſtlichen Staaten mehr freie Hand ließen. Das Protektorat über die Erde blieb erklärt, war aber zunächſt nur für die weſtlichen Staaten Europas durchgeführt. Hier wartete in jeder Hauptſtadt ein Reſident der Marsſtaaten und ein Kultor ſeines Amtes. Zwar war die Freiheit der Verwaltung im Innern garantiert, doch tatſächlich war auch in bezug auf Geſetzgebung und Regierungsmaßregeln der Wille der Marsſtaaten im letzten Grunde ausſchlaggebend. Die allgemeine Entwaffnung bis auf eine Präſenzſtärke von ein halb Promille der Bevölkerung war eine der Friedensbedingungen geweſen. Trotz allen Sträubens mußten die Fürſten ſie annehmen, da es tatſächlich unmöglich geweſen wäre, den techniſchen Machtmitteln der Martier gegenüber ohne ihren Willen eine Truppe auszubilden. Eine Reihe von Vorteilen in volkswirtſchaftlicher Beziehung wurde nun angebahnt. Produkte des Mars wurden eingeführt, neue Betriebsformen von Fabriken, vor allem die Herſtellung künſtlicher Nahrungsmittel. Die Landwirte wurden vorläufig damit beruhigt, daß ihnen aus den Fonds der Marsſtaaten große unverzinsliche Darlehen gegeben wurden, um die Koſten der Umwandlung des Fruchtbetriebs in Maſchinenbetrieb durch Sonnenſtrahlung zu beſtreiten. Ingenieure der Martier leiteten die Einrichtung der Strahlungsfelder, zu denen vorläufig nur unfruchtbarer Boden benutzt wurde. Alles dies aber waren bloß vorbereitende Schritte, die eigentlich mehr erziehen als wirtſchaftlich nützen ſollten. Die Ausbeutung der Sonnenenergie ſuchten die Martier auf den großen Wüſten und Steppen Aſiens, Afrikas und Nordamerikas. Sie hatten deshalb mit Rußland und den Vereinigten Staaten neue Verhandlungen angeknüpft. Inzwiſchen erſtrebten ſie in Europa rein ideale Ziele. Kriegskoſtenentſchädigung verlangte man nicht, die großen Summen, die für das Militär erſpart wurden, kamen den Fortbildungsſchulen zugute. Die Martier wollten die Menſchheit für ihre höhere Auffaſſung der Kultur und Sittlichkeit erziehen, und dem ſollte die Einſetzung der Kultoren, die Einrichtung obligatoriſcher Fortbildungsſchulen dienen. Torm war zu abgeſpannt, um weiterzuleſen. Er legte die Papiere beiſeite. Ein einzelnes Blatt ſchob ſich vor. Er ſah alsbald, daß es ein Flugblatt ſei, zu irgendeinem beſtimmten Zweck verbreitet, und ſein Blick richtete ſich nur noch einmal darauf, weil er mit fetten Lettern die Worte gedruckt ſah: „Glaubt nicht an ihren Edelmut“, „Die Mörder von Podgoritza“, „Aber auch ſie ſind ſterblich“. Er las das Blatt jetzt durch, einmal, zweimal. Es handelte von der ſogenannten ‚Beſtrafung‘ von Podgoritza in Montenegro. Dieſe Stadt war tatſächlich von den Martiern dem Erdboden gleichgemacht worden. Allerdings hatte man den Einwohnern Zeit gelaſſen, ſie zu räumen, aber nicht alle hatten gehorcht; da waren die Nume zum erſtenmal auf der Erde ſchonungslos vorgegangen und hatten ohne Rückſicht auf Menſchenleben ihre Drohung ausgeführt. Es waren wohl einige hundert Perſonen dabei umgekommen, wütende Männer, die ſich den Luftſchiffen entgegengeworfen hatten. Aber warum war dieſes ungewöhnliche Strafgericht ergangen? Es war kurz nach der Unterwerfung der weſteuropäiſchen Staaten geweſen, als ein großes Luftſchiff der Martier, das von einer wiſſenſchaftlichen Expedition zurückkam und zum Zweck einer kleinen Ausbeſſerung in der Nähe von Podgoritza anlegte, in der Nacht unvermutet von bewaffneten Bewohnern der Stadt und Umgegend überfallen worden war. Die Martier waren überraſcht und bis auf den letzten Mann, zum großen Teil im Schlaf, niedergemacht worden. Es war der einzige Verluſt, den die Nume bisher auf der Erde erlitten hatten und die Empörung in den Marsſtaaten war ungeheuer. Man war nahe daran, die ganze Menſchheit für die Bluttat unziviliſierter Albaner verantwortlich zu machen. Etwas Derartiges war den Martiern bisher undenkbar geweſen; und ſo wurde beſtimmt, daß die Strafe ausnahmsweiſe nach menſchlicher Art, das heißt durch Vernichtung des Gegners, vollzogen werde, weil man glaubte, ſonſt bei der barbariſchen Bevölkerung keinen Eindruck zu erzielen. Dieſe Handlungsweiſe der Martier wurde nun in Europa ausgebeutet, um ſie in üblem Licht darzuſtellen. Aber warum machte die Tat auf Torm einen ſo tiefen Eindruck? Immer und immer wieder beſchäftigte ihn die Frage, welches Schiff es wohl geweſen ſei, von dem kein Lebender zu den Martiern zurückkehrte. Und eine Vermutung ſtieg in ihm auf, an die er kaum zu glauben wagte. 46. Der Kultor der Deutſchen