Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 36. Saltners Reiſe Saltner lenkte ſeinen Radſchlitten, deſſen er ſich ſehr bald zu bedienen gelernt hatte, Frus Haus zu. Wie oft hatte er in dieſen zwei Monaten, die er ſchon auf dem Mars weilte, den Weg zurückgelegt und die kürzeſte Verbindung ausprobiert! Heute hatte er weite Umwege gemacht und im nächtlichen Park ſeinen Gedanken nachgehangen. Sonſt konnte es ihm immer nicht ſchnell genug gehen, wenn er über die ſchmalen Parkwege hinglitt, die nach Las Wohnung führten. Wenn ihm das Verhältnis des Mars zur Erde Sorge machte, bei La fand er Troſt und Ermunterung, von ihr wußte er ja, daß ſie ihn nicht für gering hielt, weil er nur ein Menſch war — —. Sie liebte ihn, die Nume, die herrliche. Sollte er nicht glücklich ſein? Und doch — das Wort: „Vergiß nicht, daß ich eine Nume bin“, das ſie zu ihm geſprochen, als ſie zuſammen auf die Erde hinabblickten, es ging ihm nicht aus dem Sinn, was er damals kaum beachtet, nicht verſtanden hatte. Das Wort hatte er nicht vergeſſen, aber vielleicht die Warnung, die es enthielt. Sollte er jetzt daran erinnert werden? Durfte er es wagen, die Bitte auszuſprechen, die ſie ihm verſagen mußte? Warum war er ſeit zwei Tagen nicht mehr bei La geweſen? Er hatte viel zu tun gehabt, gewiß; die Erdkommiſſion hatte von ihm verſchiedene Gutachten verlangt, auch Frau Torm hatte lange Unterredungen mit ihm, die Briefe nach der Erde nahmen ſeine Zeit in Anſpruch. Zweimal hatte er auch La durch das Telephon angeſprochen, doch beide Male war ſie nicht zu Hauſe geweſen. Er wußte nicht einmal, womit ſie ſo eifrig beſchäftigt war. Seit acht Tagen war ſie mit ihrer Mutter allein. Fru hatte ſich bereits nach dem Pol begeben, um die Ausrüſtung der Raumſchiffe zu leiten. Es hatten lange Erwägungen in der Erdkommiſſion ſtattgefunden, welche Kapitäne und Ingenieure bei der wichtigen und verantwortlichen Expedition nach dem Südpol der Erde zu verwenden ſeien. Schließlich wollte man, obgleich an tüchtigen Leuten kein Mangel war, doch des Rates Frus, als eines der bewährteſten Erdkenner, nicht entbehren, und er hatte ſich entſchloſſen, die techniſche Leitung der Expedition zu übernehmen. Es war auch davon die Rede geweſen, daß La ihn begleiten ſolle. Die Ausſicht, La ſo bald wieder zu verlieren, hatte Saltner ſchmerzlich erregt, und er hatte nun befreit aufgeatmet, als er hörte, daß La ihren Wunſch, auf dem Mars zu bleiben, durchgeſetzt habe. Er ſchmeichelte ſich, daß ihre Liebe zu ihm der Hauptbeweggrund geweſen ſei, der ſie hier zurückhielt — er hatte ſich deſſen geſchmeichelt. Aber warum war er in den letzten Tagen ſo zweifelhaft geworden? Warum hatte er nicht die Zeit gefunden, ſie aufzuſuchen? Er konnte es ſich nicht verhehlen, er war eiferſüchtig. Faſt jedesmal in der letzten Zeit hatte er Ell bei La getroffen, oder ſie war während ſeiner Anweſenheit von Ell aus der Ferne angeſprochen worden. Und wie begegnete ſie Ell! Jedes Wort, jeder Blick zwiſchen ihnen war ſofort verſtanden, ihren Geſprächen vermochte er nicht zu folgen, es waren zwei Nume, die ſich unterhielten, die ſich gefielen, die —. Es konnte ja gar kein Zweifel ſein, wer mußte nicht La lieben, der ſie näher kennenlernte? Und er, wie konnte er ſich mit dem Martierſohn vergleichen, der La ebenbürtig war und doch den eigentümlichen Reiz des Menſchentums beſaß! Er hätte dieſen Ell haſſen mögen, er nannte ihn einen Verräter an der Menſchheit und einen Räuber ſeines Glücks. Und doch, konnte man den einen Verräter nennen, der nur zu ſeinem eigentlichen Vaterland zurückkehrte, das ihm durch ein unverſchuldetes Geſchick geraubt war? Und welches Recht hatte er ſelbſt an La? Was entbehrte er überhaupt? Sie entzog ſich ihm nicht um Ells willen, ſie war ebenſo lieb und gut wie früher, ja vielleicht ſorgſamer und zärtlicher wie je, ſie zeigte ihm in jedem Augenblick, wie wert er ihr war. Aber ſie zeigte es auch Ell. Das ſtörte ihn, das empörte ihn, ſie aber fand es offenbar ganz in Ordnung. Sie war eine Martierin. Sie hatte ihn ja gewarnt; wenn er ſie liebte, mußte er mit der Sitte der Martier rechnen. Er aber war ein Menſch — — Saltner näherte ſich der breiteren Straße, wo La wohnte. In ſeine Gedanken verſunken hatte er nicht bemerkt, daß ein Transport der Umzugsgeſellſchaft ihm entgegenkam. Er hatte nur gerade noch Zeit, zur Seite auszuweichen und den Zug an ſich vorüberzulaſſen. Ein Haus, auf breiten Gleitkufen ſtehend, wurde von einer Reaktionsmaſchine vorwärtsgeſchoben. Die Fenſter waren geſchloſſen, es war alles dunkel im Hauſe. Die Bewohner ſchliefen offenbar. Wenn ſie am Morgen aufwachten, ſtand ihr Haus viele Hunderte von Kilometern entfernt. Nun war die Bahn wieder frei. Die Straße lag, von den breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes an beiden Seiten erleuchtet, hell vor ihm. Noch eine Minute, und ſein Schlitten war vor ihrem Haus. Ob er ſie heute noch würde ſprechen können? Es war ſchon ziemlich ſpät geworden. Ob er nicht ſeinen Beſuch auf morgen aufſchieben ſollte? Er hatte eine dringende Bitte an ſie, aber wie, wenn ſie ſich dadurch beleidigt fühlte? Er mochte gar nicht daran denken, daß auch La ihn abweiſen könnte. Da war das Nachbarhaus, an ſeinen tulpenartig aufragenden Erkern kenntlich, und hier —. Er hielt den Schlitten an. Frus Haus war verſchwunden, die Stelle war leer. Saltner traute ſeinen Augen kaum. La war wirklich fortgezogen, ohne ihn zu benachrichtigen? Auf dem Raſenplatz, wo das Haus geſtanden hatte, zeigte ſich eine Tafel. Sie enthielt nur die Worte: „Verzogen 29,36 nach Mari, Sei 614.“ Saltner ſtand ratlos. 29,36 — das war die Zeit der Abreiſe. Er verglich den Kalender, den er ſich zur Umrechnung der martiſchen Zeit angelegt hatte, da ihm das duodezimale Zahlenſyſtem und die Angabe der Stunden und Minuten in Bruchteilen immer noch Schwierigkeiten machte. Seine Uhr zeigte 29,37 — das war ein Unterſchied von zehn Minuten —, vor zehn Minuten erſt hatte der Transport des Hauſes begonnen. So war es gewiß Las Wohnung geweſen, die er an ſich hatte vorüberſchieben ſehen. Sie konnte noch nicht weit fort ſein. Wenn er ſeinen leichten Schlitten in volle Eile verſetzte, konnte er den Transport vielleicht noch einholen, ehe er die Gleitbahn erreichte, die ihn dann mit größter Geſchwindigkeit davontrug. Schon wandte Saltner ſein Fahrzeug — doch — was hätte dies genutzt? Er konnte doch La nicht in der Nacht aus dem Schlaf ſtören. Nachreiſen konnte er auch morgen noch. Er notierte ſich die Adreſſe. Mari — er wußte freilich nicht, wo dieſer Staat oder Bezirk lag, ob die Entfernung groß ſei — doch das läßt ſich ermitteln. Alſo nach ſeiner Wohnung! Er war ſeit Mittag nicht zu Hauſe geweſen. Gewiß, zu Hauſe würde er auch Aufklärung finden, warum La ſo plötzlich verzogen war. Saltners Wohnung war ganz in der Nähe. Als er die Tür öffnete, flammten die Lampen im Haus auf, und das erſte, was er beim Eintritt ins Zimmer erblickte, war ein Zettel mit den deutſchen Worten: ‚Ich ſprach ins Grammophon. La.‘ Saltner eilte an das Inſtrument und löſte den Verſchluß. Das leichte Klopfen ertönte, womit der Beginn der Rede angezeigt wird. Dann vernahm er Las melodiſche, tiefe Stimme, er glaubte ſie vor ſich zu ſehen, wie ſie mit zärtlichem Vorwurf ſagte: „Wo ſteckteſt du denn, mein geliebter Sal, dreimal habe ich dich angerufen, bei Frau Torm habe ich dich geſucht — du warſt aber fortgegangen und ſie gleichfalls, da bin ich in deine Wohnung geeilt, wo du auch nicht biſt, und jetzt habe ich nur noch Zeit, dir ſchnell ein paar Worte ins Grammophon zu ſagen, damit du nicht denkſt, deine La wäre dir ohne Abſchied davongegangen. Denn höre nur! Wir ziehen in einer halben Stunde nach Mari, Sei 614. Mari liegt ziemlich weit von hier nach Südweſten, am öſtlichen Rand der Wüſte Gol. Gern tu ich’s nicht, wie gern wäre ich bei dir geblieben in unſerm ſchönen Kla! In Mari iſt es kühler, und das lockt meine Mutter. Aber der Hauptgrund iſt ein anderer. Ihr böſen Menſchen ſeid an allem ſchuld! Auf Gol werden die Verſuche zum Schutz der Luftſchiffe gegen die Geſchütze der Menſchen abgehalten, und dort kommt der Vater noch einmal hin, ſo daß wir vor ſeiner Erdreiſe noch Abſchied nehmen können. Bis hierhin würde es zu weit ſein für ihn. Dort werden wir auch Se noch einmal ſehen. Leb alſo wohl, mein lieber Freund! Wir können alle Tage miteinander ſprechen. Morgen zwiſchen drei und vier werde ich dich anſprechen, ſei alſo zu Hauſe. Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine Reiſe dahin nicht gern ſehen. Aber wenn erſt die Raumſchiffe fort ſind und mehr Ruhe bei uns herrſcht, dann wirſt du uns hoffentlich beſuchen. Alſo auf Wiederhören morgen! Deine La.“ Saltner hatte mit angehaltenem Atem gelauſcht. Nun ſtellte er den Apparat zurück und ließ ſich die Abſchiedsworte Las noch einmal ſagen. Dann dachte er lange darüber nach. Allerlei Fragen drängten ſich ihm auf. An die Wüſte Gol erinnerte ſich Saltner; La hatte ſie ihm gezeigt, als das Raumſchiff, das ihn nach dem Mars brachte, ſich der Außenſtation näherte. Sie war der große helle Fleck, nicht ſehr weit vom Südpol, den die Aſtronomen der Erde die Inſel Thyle I nannten. Sein Weg vom Pol nach Kla führte nicht weit davon vorüber, weil der direkte Weg damals im erſten Sommer noch durch Schnee unbequem gemacht war. Er erinnerte ſich, daß er auf ſeiner Fahrt aus dem Fenſter des Eilzugs zu ſeinem Erſtaunen im erſten Morgengrauen wolkenähnliche Gebilde geſehen hatte, fern im Weſten am Horizont, und daß man ihm geſagt hatte, daß dies die Morgennebel auf dem Hochplateau der Wüſte Gol ſeien. Auch daß die Verſuche mit den weittragenden Geſchützen der Erdbewohner dort vorgenommen wurden, hatte er gehört. Die Martier hatten für derartige Schießplätze nur auf ihren Wüſten Raum, und Gol lag dem Südpol am nächſten. Aber warum mußte La ihre Abreiſe ſo beſchleunigen? Sie ſagte, um ihren Vater noch einmal zu ſehen. Alſo mußte Fru ſehr bald, wohl morgen ſchon, dort erwartet werden, und daraus war zu ſchließen, daß auch das Raumſchiff bald abgehen werde. Er hatte ſomit keine Zeit zu verlieren, wenn er La noch perſönlich vor Abgang des Schiffes ſprechen wollte. Warum aber, wenn es ſich bloß um ein Zuſammentreffen mit dem Vater handelte, war ſie mit dem ganzen Haus übergeſiedelt? Es war doch noch ziemlich früh, um eine ſo ſüdlich gelegene Sommerfriſche aufzuſuchen. Und warum ſollte er ihr nicht nachkommen? Und was bedeutete dieſe hingeworfene Bemerkung über Se? Doch über dieſe Fragen nachzudenken, war noch Zeit auf der Reiſe; denn La nachzueilen, um ſie zu ſprechen, dazu war Saltner ſofort entſchloſſen. Was er mit ihr zu beraten, von ihr zu erbitten hatte, das konnte er nicht telephoniſch erledigen, dazu mußte er ihr Aug’ in Auge ſehen; fürchtete er doch mit gutem Grund, daß auch ſie ſich weigern würde. Aber dieſem Schritt, der ihm ſchwer genug wurde, konnte und durfte er ſich nicht entziehen, und er mußte ſofort geſchehen, ſolange noch das Raumſchiff den Mars nicht verlaſſen hatte. Er hatte Isma das Verſprechen gegeben, La um Hilfe anzugehen, das mußte er halten. Wichtigeres jedoch lag ihm ſelbſt am Herzen. Er hielt es für ſeine Pflicht, die Staaten der Erde von den Maßnahmen der Martier zu unterrichten. Er erinnerte ſich jenes Wortes von Grunthe, daß ſie Kundſchafter ſeien, an deren getreuen Dienſten vielleicht das Wohl und Wehe der ziviliſierten Erde hinge. Nicht von den Erklärungen allein, welche die Regierung der Martier abzugeben belieben würde, ſollten die Menſchen erfahren, ſondern auch von den Anſichten, die hier auf dem Mars in der großen Antibatenpartei herrſchten, und von dem Urteil, das er, als Menſch, über das Vorgehen der Martier ſich gebildet hatte. Er mußte verſuchen, ſeine von den Martiern nicht kontrollierten Briefe nach der Erde zu befördern, ſelbſt in der ſchmerzlichen Ausſicht, ſich La zu entfremden. Sie hatte geſagt: „Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine Reiſe hierher nicht gern ſehen.“ Er ließ ſich die Worte noch einmal wiederholen. Das war alſo eine Meinungsäußerung Las, ein Rat vielleicht, kein direktes Verbot. Warum hatte ſie ſich ſo unbeſtimmt ausgedrückt, nicht mit der gewohnten Klarheit? Folgte ſie vielleicht einem fremden Wunſch, der mit dem eigenen nicht übereinſtimmte, oder war ſie mit ſich ſelbſt im Zwieſpalt? „Man würde deine Reiſe nicht gern ſehen.“ Wer iſt das ‚man‘? Sie hat alſo nicht geſagt, daß ſie ſelbſt ſie nicht gern ſehen würde. Das ‚man‘ aber, die andern, alſo wohl die Regierung, die Martier, Ill, Ell und wer ſonſt, was ging ihn das an? Sie ſollten nicht eher davon erfahren, als bis er dort wäre; hatte er erſt mit La geſprochen, ſo war ihm alles übrige gleichgültig. Alſo vor allen Dingen ſofort nach Mari! Saltner war müde, er hätte ſich gern niedergelegt. Aber zum Schlafen hatte er unterwegs Zeit. Er wußte, daß die Perſonenbeförderung auf große Entfernungen mit den ſchnellen Radbahnen alle Stunden ſtattfand, er konnte alſo jede Stunde abreiſen. Seine Vorbereitungen waren ſchnell erledigt, eine kleine Handtaſche, der Reiſepelz, den er noch von der Erde mitgebracht, und ſein ‚Energieſchwamm‘, das iſt ſein Kapital, aus welchem er die im Geldverkehr übliche Münze abzapfen mußte. Es war dies eine Büchſe mit einem äußerſt feinen und dichten Metallpulver, das in ſeinen Poren den höchſt kondenſierten Äther enthielt und dadurch eine beſtimmte Arbeitsmenge repräſentierte. Ein Gramm dieſes Pulvers hatte einen Wert von etwa fünftauſend Mark, denn eine gleichwertige Arbeitskraft konnte man in dem geeigneten Apparat daraus entwickeln. Dieſe Währungseinheit hieß ein ‚Eck‘ und war zugleich das Zehntauſendfache der Strahlungseinheit. Man pflegte ſich ein bis zwei Zentigramm, fünfzig bis hundert Mark, in die im Kleinverkehr gebräuchliche Münze einzuwechſeln, was in jedem offenen Geſchäft geſchehen konnte. Die Perſonenbeförderung auf den Radbahnen, die aber nur auf Strecken über dreihundert Kilometer ſtattfand, war ſehr bequem, und Saltner wußte damit Beſcheid. Um Fahrpläne, Anſchlüſſe und dergleichen brauchte man ſich nicht zu kümmern. Die Beförderung war ungefähr in derſelben Weiſe geordnet wie diejenige der Briefe auf der Erde. Die Überführung der Paſſagiere an den Kreuzungsſtrecken fand ohne Zutun derſelben auf dem kürzeſten Weg durch die Bahnverwaltung ſtatt. Saltner begab ſich nach der nächſten Station, die er mit Hilfe der Stufenbahn in einer Viertelſtunde erreichte. Hier ſtanden, in langen Reihen aufgeſtellt, die Reiſecoupés; Schalter, Billets, Schaffner, alles dies gab es nicht. Ein einziger Beamter achtete darauf, daß, ſobald eine Anzahl Coupés beſetzt war, ſofort neue herbeigeſchoben wurden. Jede Perſon nahm ein ſolches Coupé für ſich in Anſpruch. Sie waren etwa einundeinviertel Meter breit, zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch. Sie bildeten alſo eine Kammer von ausreichender Größe für eine Perſon und waren mit allen Reiſebequemlichkeiten verſehen. Ein Handgriff genügte, um den vorhandenen Seſſel und Tiſch in ein bequemes Bett zu verwandeln. Auch ein Automat, der gegen Einwurf der betreffenden Münzen Speiſe und Trank lieferte, fehlte nicht. Der Eingang zum Coupé war von der ſchmalen Seite aus. Sie ſtanden auf Gleitkufen und wurden vor Abgang der Züge geräuſchlos auf die Wagen der Radbahn geſchoben. Saltner trat vor ein unbeſetztes Coupé, zog einen Thekel, eine Goldmünze im Wert von etwa zehn Mark, aus der Taſche und ſteckte ſie in die hierzu angebrachte Öffnung an der Tür. Die bisher verſchloſſene Tür ſprang auf, und Saltner trat ein. Die Zeit des Eintritts markierte ſich ſelbſttätig an der Tür, und Saltner hatte nunmehr das Recht erhalten, ſich einen vollen Tag lang in dem Coupé aufzuhalten und hinfahren zu laſſen, wohin er Luſt hatte. Aus einem im Wagen befindlichen Käſtchen nahm er ein kleines Kärtchen, um die Adreſſe ſeines Coupés, ſein Reiſeziel, daraufzuſchreiben. Jetzt ſtutzte er einen Augenblick. Genügte auch die Angabe ‚Mari Sei‘? Wenn es vielleicht noch ein anderes Mari gab, und er, ſtatt in der Nähe des Südpols, ſich am Äquator oder am Nordpol wiederfand? Aber das Coupé war ſelbſtverſtändlich mit der erforderlichen Bibliothek verſehen. Es fand ſich da das Meiſterwerk ſtatiſtiſcher und tabellariſcher Kunſt, das Mars-Kursbuch, in welchem die Beförderungszeiten, Wege und Reiſedauer angegeben waren. Durch eine höchſt ſcharfſinnig konſtruierte, verſchiebbare Tabelle konnte man die Wegdauer zwiſchen je zwei beliebigen Stationen ſofort finden. Als Saltner ‚Mari‘ nachſchlug, fand er, daß es allerdings noch einen Bezirk gleichen Namens auf der nördlichen Halbkugel gab und daß er die Bezeichnung ‚Gol‘ beizufügen hatte. Er ſchrieb alſo die Adreſſe auf das kleine Kärtchen und ſteckte dies in einen hierzu beſtimmten Rahmen im Innern der Tür. Dadurch erſchien die Adreſſe ſtark vergrößert und hell beleuchtet außen an der Tür. Ein leiſes Summen begann gleichzeitig. Dies dauerte ſo lange, bis der Wagen die Station verlaſſen hatte, und diente als Merkzeichen für den Reiſenden, daß er nicht etwa bei der Abholungszeit überſehen war. Wenn es wieder begann, ſo war es das Signal, daß das Reiſeziel nach Angabe der Adreſſe erreicht war. Saltner hatte aus dem Kursbuch erſehen, daß ſeine Reiſe acht Stunden in Anſpruch nehmen würde, denn die Entfernung betrug etwa 3.000 Kilometer. Es war jetzt bald Mitternacht, er traf alſo am Vormittag ziemlich zeitig auf der Station Mari ein. Übrigens brauchte er ſich nicht darum kümmern, ob er zur rechten Zeit erwache, da ſein Coupé ſo lange auf der Station halten blieb, bis er die Adreſſe entfernt hatte oder der ganze bezahlte Tag abgelaufen war. Aber er wußte nicht, wie weit er noch von der Bahnſtation nach Las Wohnort habe. Darüber wollte er ſich am Morgen während der Fahrt vergewiſſern, da die Bibliothek des Coupés genaue Reiſehandbücher über alle Teile des Mars enthielt. Früher als am Nachmittag konnte er indeſſen nicht darauf rechnen, La anzutreffen, weil die Beförderung des Hauſes, die auf der Gleitbahn ſtattfand, mindeſtens die doppelte Zeit in Anſpruch nehmen mußte als ſeine Eilfahrt. Jetzt zog er den Handgriff, welcher das Coupé in ein Schlafzimmer umgeſtaltete, und legte ſich zu Bett. Kein Schienenraſſeln, kein Pfiff, kein Ruf und Signal ſtörte ihn. Er merkte noch, daß das leiſe Summen aufgehört und er ſomit ſeine Fahrt angetreten hatte. Er dachte, es ſei doch eine gute Einrichtung, daß hier jeder für zehn Mark ſeinen eigenen Salonwagen haben könne, bequemer, als es ſich auf der Erde ein Fürſt leiſten kann. Dreitauſend Kilometer —. Und es fiel ihm ein, das war gerade die Entfernung von Ses Wohnort —. Ob der wohl in der Nähe war? La wollte ſie ja wieder ſehen. Wie lange hatte auch er ſie nicht geſehen, obwohl geſprochen — aber ſehen —. Saltner entſchlummerte, während ſein Coupé, auf dem Radwagen ſtehend, unter den Häuſerreihen zwiſchen geradlinigen Kanälen nach Südweſten jagte. 37. Die Wüſte Gol