Auf der Nordſeite der Stadt Friedau dehnt ſich ein langgeſtreckter Hügelrücken. Sorgſam gepflegte Gärten ziehen ſich an ſeinen Abhängen in die Höhe, aus deren Grün ſchmucke Villen hervorlugen. Vom Gipfel hernieder glänzt über den Baumkronen eines parkartigen Gartens ein weißes Landhaus, das ein erhöhter Kuppelbau auf den erſten Blick als eine Sternwarte erkennen läßt.
Der wunderbar klare Septembertag, an dem die Beſucher jenes über dem Nordpol ſchwebenden Ringes mit ihrem tauſendmal vergrößernden Projektionsfernrohr die Karte von Deutſchland durchmuſterten, neigte ſich ſeinem Ende zu. Sein mildes Licht lag über den zierlichen Gärten Friedaus, in denen großblumige Georginen den Roſenflor verdrängten, über den alten Bäumen des weiten fürſtlichen Parks, der vom Fuß des Hügels beginnend faſt die ganze Stadt umzog, und ſpiegelte ſich dort im ruhigen Waſſer des Teiches.
Den breiten Kiesweg, welcher vom Hügel herab zwiſchen den Vorgärten der Villen nach dem Eingang des Parkes führte, ſchritt in Gedanken verloren der Beſitzer jener Privatſternwarte. Im Schatten der Bäume angelangt, nahm er den weichen hellfarbigen Filzhut ab, und man ſah, daß volles graues Haar ſeinen Kopf bedeckte. Aber es war nicht ergraut von der Laſt des Alters, es hatte ſtets dieſe Farbe gehabt. Unter der hohen Stirn leuchteten zwei mächtige tiefdunkle Augen. Sie waren jetzt nicht mehr ſinnend zur Erde gerichtet, ſondern ſpähten erwartungsvoll durch die Gänge des Parkes.
Zwiſchen den Büſchen am Ufer des Teiches ſchimmerte ein heller Sonnenſchirm. Beim Geräuſch der nahenden Schritte erhob ſich von einer Bank unter dem Schatten einer breitäſtigen Linde eine anmutige Frauengeſtalt in eleganter Sommerkleidung. Der nachdenkliche Ernſt, der über ihren feinen Zügen gelegen hatte, wich einem freundlichen Lächeln, als ſie jetzt Ell entgegentrat, und in ihren dunkelblauen Augen blitzte es auf wie von einem ſtillen Glück, als ſie ihm die Hand reichte.
„Verzeihen Sie“, ſagte Ell, indem er an ihrer Seite den Parkweg am Ufer des Teiches entlangwandelte, „ich habe mich verſpätet, natürlich ohne meine Schuld.“
„Auch ich bin eben erſt gekommen“, erwiderte Isma Torm. „Ich habe Beſuch gehabt. Frau Anton hat mir ſehr weiſe Reden gehalten. Sie konnte gar kein Ende finden.“
„Ich kann es mir denken, aber machen Sie ſich nichts daraus. Sie können tun, was Sie wollen, den Menſchen werden Sie es doch nicht recht machen.“
Isma ſeufzte leiſe. „Sie ſehen, ich bin doch gekommen!“
Ell dankte ihr durch einen Blick. „Es iſt die einzige Stunde am Tag, Isma, in der einmal der Weltärger verſchwindet und ich frei und glücklich bin.“
„Und Ihre Arbeit?“
„Selbſt dieſe iſt nicht frei von Enttäuſchung. Beſchränktheit und Engherzigkeit, wohin Sie ſehen. Sie wiſſen, daß ich mich über Kampf und Streit nicht beklage, denn das iſt die Form, wodurch wir weiterkommen. Aber dieſe Unfähigkeit, das Ziel zu ſehen, dieſer Eigenſinn, daß die Dinge nicht auch anders gingen!“
„Was hat Sie denn heute geärgert, Ell? Schütten Sie nur das Herz aus.“
„Es iſt ja nichts Neues. Sie wiſſen, daß ich mich vor Jahresfriſt entſchloſſen habe, meine Theorie der Gravitation zu veröffentlichen. Grunthe redete mir zu, obwohl er ſagte, es wird niemand begreifen.“
„Ich erinnere mich ſehr gut. Es war —“
„Ja damals —“
„Und damals ſagten Sie, das wäre Ihnen ganz gleichgültig.“
„Das iſt auch wahr. Was meine Perſon angeht, meinen Ruhm oder wie Sie es nennen wollen, das iſt mir auch ganz gleichgültig. Aber um der Sache willen tut es mir leid. Was die Menſchheit dadurch verliert, das ſchmerzt mich, und ich ſehe, daß ihr ſo nicht zu helfen iſt. Erſt wird das Buch totgeſchwiegen, die Gelehrten wiſſen nicht, was Sie damit anfangen ſollen, dann kommt einer und behauptet, das wäre eine phantaſtiſche Hypotheſe, durch nichts bewieſen. Dabei habe ich aufgrund meiner Theorie das ſogenannte Drei-Körper-Problem gelöſt und die Richtigkeit bis auf die Hundertſtelſekunden an der Störung der Marsmonde nachgewieſen. Aber glauben Sie, daß ein einziger Aſtronom meine Methode der Rechnung verſtanden hat?“
„Ko Bate“, ſagte Isma lächelnd. „Das wollten Sie doch wohl ſagen? Wahrſcheinlich haben Sie ſich nicht klar genug ausgedrückt.“
„Allerdings, ich hätte darüber ein beſonderes Buch ſchreiben müſſen — ich glaubte nicht, daß man ſo ſchwerfällig ſein würde. Ich habe die Methode gar nicht ſelbſt erfunden, ſondern ſchon in meinem achtzehnten Jahr von meinem Vater erlernt —“
„Aber warum haben Sie das alles ſo lange geheimgehalten?“
„Sie ſehen ja, daß es noch immer zu früh iſt. Könnten die andern mit mir in der gleichen Richtung weiterarbeiten, man würde auch techniſch zu Reſultaten kommen, die eine ganz neue Welt eröffnen müßten. Ach, dann würden wir vielleicht einmal frei von dieſer ſchweren Erde.“
„Immer wieder dieſelbe Sehnſucht. Es iſt ja doch hier ganz leidlich. Sie müſſen Geduld haben. Und dies hat Sie heute verſtimmt und aufgehalten?“
„Dies weniger. Heute waren es praktiſche Sachen, Ärger mit den Behörden. Das iſt eine Schwerfälligkeit — vornehmlich drüben im Nachbarſtaat —, ein Reglementieren — alles muß in eine Schablone gepreßt werden. Und das hat mich mißmutig gemacht, ganz beſonders, weil es auch Sie angeht.“
„Mich? Iſt etwas vorgefallen?“ fragte Isma ängſtlich.
„Nein, ich meine unſere Luftſchifferſtation. Man will ſie verſtaatlichen, neben die militäriſche unter das Kriegsminiſterium ſtellen, wahrſcheinlich dann auch von hier fort verlegen. Jedenfalls verlangt man eine Staatsaufſicht — obwohl der Staat noch nicht einen Pfennig dazu gegeben hat.“
„Aber warum denn?“
„Ich glaube, man traut mir nicht. Im Falle eines Krieges will man wohl Sicherheiten haben. Sie wiſſen, die Abteilung iſt eine internationale Gründung. Ich ſelbſt habe meine beſonderen Anſichten über Patriotismus.“
„Ich bitte Sie, Ell, Sie ſind doch ein Deutſcher. Im Kriegsfall müſſen wir uns ſelbſtverſtändlich zur Verfügung ſtellen — aber, wer wird denn an Krieg denken. Ach, machen Sie mir nicht noch mehr Sorge!“
„Ich bin ein Deutſcher mit meinen Sympathien, ſtaatsrechtlich bin ich es nicht, man kann mich alſo im Notfall ausweiſen. Die Sache iſt doch ſo — Deutſchland oder Frankreich oder England, irgendeine Nation oder ein Staat iſt ja kein Selbſtzweck; Selbſtzweck kann nur die Menſchheit als Ganzes ſein. Die einzelnen Völker und Staaten ſind Mittel, im gegenſeitigen Wettbewerb die Idee der Menſchheit zu erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch ſeinen Erfolg nicht das zweckentſprechende Mittel wäre in Rückſicht auf die Idee der Menſchheit, ſo wäre es unmoraliſch, wenn ich als freie Perſönlichkeit mich nur darum für ihn entſchiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethiſche Forderung iſt eine andere. Aber bei den Menſchen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entſchieden, und das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß Neigung iſt.“
Isma blieb ſtehen. „Aber dann“, ſagte ſie langſam, „mit welchem Recht gehen wir hier ſpazieren? Iſt das auch Pflicht?“
„Gewiß, wenn ſie auch mit der Neigung zuſammenfällt. Sie werden ſich ſelbſt doch nicht danach beurteilen, was die Friedauer für richtig halten?“
„Nein“, ſagte Isma, indem ſie lächelnd zu ihm aufblickte, „kommen Sie ruhig mit durch die Stadt. Glauben Sie nicht, daß wir bald eine Nachricht erwarten können?“
„Die Depeſche von Spitzbergen ſagt uns, daß die Fahrt am 17. Auguſt angetreten iſt. Es iſt wohl möglich, daß in den nächſten Tagen eine Nachricht eintrifft.“
„Sie ſind noch immer guten Muts?“
„Ich hoffe zuverſichtlich. Glauben Sie mir, ich hätte Ihrem Mann nicht ſo aufrichtig zugeredet, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß ihm die Expedition in beſonderer Weiſe glücken wird.“
„Ell, Sie denken noch an irgend etwas Unerwartetes; ich bitte Sie, ſeien Sie offen, fürchten Sie eine beſtimmte Gefahr?“
„Nichts, was zu fürchten iſt, ich verſichere Sie, Isma! Etwas Unerwartetes vielleicht, aber nichts zu fürchten!“
„O bitte, was denken Sie? Ich habe ſchon oft bemerkt, daß Sie mir noch etwas verſchweigen.“
„Wahrhaftig, Isma, ich verſchweige Ihnen nichts, was ich weiß, aber verlangen Sie nicht, daß ich Vermutungen Ausdruck gebe, die vielleicht völlig nichtig ſind. Ich ſetze eine große Hoffnung auf die glückliche Wiederkehr der Expedition, und ich rechne mit Sicherheit darauf. So ſicher, daß ich mir größte Mühe gebe, eine Stellung für Saltner ausfindig zu machen. Denn was ſoll er dann tun, wenn er zurückkehrt? Und ſehen Sie, das hat mich auch heute gekränkt — glauben Sie, daß die Regierung den Mann anſtellt, der eine ſo ruhmvolle Expedition mitmacht? Er iſt ja ein Ausländer und hat ſeine Prüfungen nicht bei uns abgelegt!“
„Laſſen Sie ihn nur erſt zurück ſein. Mich beunruhigt dieſes Unerwartete, wie Sie es nennen.“
„Wirklich, es iſt nur eine Art Ahnung, daß uns mit der Auffindung des Nordpols mehr gegeben werden wird als eine geographiſche Entdeckung.“
„Das müſſen Sie mir noch erklären.“
„Vielleicht bald. Aber heute haben wir noch nicht einmal von Ihnen geſprochen. Was haben Sie getan, geleſen, erfahren?“
„Herzlich wenig. Die Polarkarte habe ich wieder einmal ſtudiert.“
Im lebhaften Geſpräch durchſchritten ſie die belebteren Teile der Anlagen. Hinter den Bäumen ſank die Sonne, rot und golden leuchtete der Abendhimmel. Öfter begegneten ſie jetzt Spaziergängern. Den meiſten waren ſie bekannt, man grüßte die beiden höflich, aber hinterher drehte man ſich um und ſah ihnen nach. Man warf ſich Blicke zu oder ziſchelte eine Bemerkung.
„Sie haben gut ſpazierengehen“, näſelte ein kleiner Herr mit breitem, ſchnüffligem Geſicht ſeinem Begleiter zu, „er hat den Mann nach dem Nordpol geſchickt.“
„Das iſt die Torm“, ſagte ein junges Mädchen. „Jeden Tag geht ſie mit dem Doktor Ell hier vorüber.“
Die Friedauer waren ſehr ſtolz darauf, daß alle Zeitungen von ihrer Nordpolexpedition erfüllt und die Lebensbeſchreibungen ihrer Mitbürger überall zu leſen waren. Darum waren ſie glücklich, auch über ſie reden zu können. Sie taten es nach Herzensluſt in ihrer menſchenfreundlichen und liebevollen Weiſe und um ſo mehr, je weniger ſie von ihnen wußten.
Ell und Isma hatten die Anlagen verlaſſen und waren in eine der breiten mit Vorgärten vor den Häuſern verſehenen Alleen hineingeſchritten. Sie ſtanden vor der Tormſchen Wohnung. Ell hatte ſchon Isma die Hand zum Abſchied gereicht, und beide zögerten nur noch einen Augenblick, ſich zu trennen. Da öffnete ſich die Haustür und ein Telegraphenbote kam ihnen entgegen.
„Guten Abend, Frau Doktor“, ſagte er. „Da treff ich Sie ja noch. Es war oben niemand zu Hauſe.“
Isma griff nach dem Telegramm. Sie riß es auf.
„Von ihm! Aus Hammerfeſt!“ rief ſie fieberhaft.
„Das iſt die Brieftaubenſtation“, ſagte Ell.
Es dunkelte ſchon. Sie konnte die Buchſtaben nicht mehr recht erkennen. Die Leute ſahen ihr von den Fenſtern aus zu.
„Kommen Sie mit hinauf, Ell“, ſagte ſie. „Die Sache iſt nicht ſo kurz. Das iſt eine Ausnahme, heute dürfen Sie kommen!“
Isma eilte voran. Als Ell in das Wohnzimmer trat, ſtand ſie ſchon unter der elektriſchen Lampe und las das Telegramm. Ihren Hut, der ihr das Licht nahm, hatte ſie herabgeriſſen.
„Da“, ſagte ſie, Ell das Papier reichend. „Er lebt! Er iſt geſund! Leſen Sie, leſen Sie vor. Ich werde nicht daraus klug.“ Sie ließ ſich in einen Seſſel ſinken und begann ihre Handſchuhe abzuſtreiten.
Ell warf einen Blick auf das Telegramm. Seine Hände bebten ſichtlich. Er ſetzte ſich.
„Um Gottes willen, Ell, was iſt — Sie zittern —“
„Nicht aus Sorge, nein, nein — es war nur ein Augenblick der Überraſchung. Hören Sie, Isma.“
Er las:
„Hammerfeſt, 5. September, 3 Uhr 8 Minuten. Soeben Brieftaube mit dem Stempel ‚Ballon Pol‘ zurückgekehrt, brachte folgende Nachricht:
Frau Isma Torm, Friedau, Deutſchland.
19. Auguſt, 5 Uhr 34 Minuten M.E.Z., nachmittags. Alle geſund. Nach dreißigſtündiger direkt nördlicher, günſtiger Fahrt ſchweben wir über dem Pol. Gewirr von Inſeln in meiſt eisfreiem, nicht ſehr ausgedehntem Baſſin. Kleine, kreisrunde Inſel, etwa fünfhundert Meter Durchmeſſer, von unbekannten Bewohnern als Pol markiert, trägt unerklärliche Apparate. Ihre Oberfläche enthält im größten Maßſtab ſtereographiſche Polarprojektion der Nordhalbkugel bis gegen den dreißigſten Breitengrad. Bewohner nicht ſichtbar. Da Landung nicht ratſam, ſetzen wir Reiſe fort. Innigſten Gruß.
Torm.“
Ell las die Depeſche noch einmal ſorgfältig durch, während Isma ihn erwartungsvoll anſah. Dann ſprang er auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Auch Isma hatte ſich erhoben.
„Wir ſetzen die Reiſe fort! Das heißt, wir kommen wieder — nicht wahr, Ell, das heißt es doch? Es iſt gelungen? O Gott ſei Dank!“
„Ja, es iſt gelungen“, ſagte Ell bedeutungsvoll.
Isma trat auf ihn zu und ergriff ſeine beiden Hände.
„Ich danke Ihnen, lieber Freund“, ſagte ſie, ihre tränenfeuchten Augen zu ihm aufſchlagend, „ich danke Ihnen, es iſt Ihr Werk!“
Er zog ſie ſanft an ſich, ſie lehnte weltvergeſſen ihren Kopf an ſeine Schulter.
„Isma!“ ſagte er. Seine Lippen berührten ihre Stirn.
Sie ſchüttelte leiſe den Kopf und trat zurück. „Setzen Sie ſich“, ſagte ſie. „Und nun ſprechen Sie, erklären Sie mir — das Rätſelhafte, das Unerwartete —“
„Es iſt da.“
„Aber was bedeutet es — ich verſtehe nicht, ich bin ganz verwirrt. Iſt es eine Gefahr?“
„Es bedeutet — Isma, Sie werden es nicht glauben wollen, was es bedeutet — für uns alle. Wie ſoll ich es Ihnen ſagen?“
Er zog ſeinen Seſſel an den ihrigen und ergriff ihre Hand.
„Was iſt Ihnen?“ fragte ſie, ihn ängſtlich anblickend.
„Es bedeutet, daß die Bewohner des Planeten Mars auf dem Nordpol der Erde gelandet ſind. Es, bedeutet, daß ſie mit ihren Apparaten und Maſchinen feſten Fuß auf der Erde gefaßt haben. Es bedeutet, daß die Erde, die Menſchheit binnen kurzem unter ihrer Leitung ſtehen wird — daß ein goldenes Zeitalter des Glückes und des Friedens die Not der Menſchheit ablöſen ſoll — und daß wir es erleben!“
Seine Stimme hatte ſich gehoben, er hatte mit Begeiſterung geſprochen, ſeine Augen flammten tief, groß, dunkel und hafteten wie in weiter Ferne.
Isma wußte nicht, was ſie denken ſollte.
„Ell“, ſagte ſie ſchüchtern, „ich bitte Sie, Sie können in dieſer Stunde nicht ſcherzen — wie ſoll ich das verſtehen?“
„Es iſt die Wahrheit.“
Es war mit einem Ausdruck geſprochen, daß ein Zweifel nicht möglich war.
Isma ſchwieg. Sie lehnte ſich zurück und ſtrich das lichtbraune Haar aus der ſchmalen Stirn. Dann faltete ſie ihre Hände und ſah ihn bittend an.
„Hören Sie, Isma, geliebte Freundin“, ſprach Ell langſam, „hören Sie, was noch niemand weiß, noch niemand wiſſen durfte, und was ihnen manches erklären wird, das Ihnen an mir rätſelhaft war. Es iſt eine lange Geſchichte.“
Er verfiel in Schweigen.
„Erzählen Sie“, bat ſie innig. „Sie bleiben über Abend — ich kann heute nicht allein ſein, und andere mag ich heute nicht ſehen — ich muß alles wiſſen.“
Ell erzählte. Er ſprach vom Mars, von ſeinen Bewohnern, von ihrer Kultur, ihrer Güte, ihrer Macht. Er erklärte, wie ſie zur Erde zu gelangen hofften, um die Menſchheit ihrer Kultur, der Numenheit, entgegenzuführen, wie er ſein Leben lang auf die Nachricht gehofft habe, daß der Pol im Beſitz der Martier ſei, wie er hauptſächlich darum die Polarforſchung und Ausrüſtung der Expedition betrieben habe. Und nun habe er keinen Zweifel mehr.
Isma hatte ihm ſchweigend zugehört. Ihre Faſſungskraft ſchien zu Ende.
Als er ſchwieg, ſagte ſie:
„Sie erzählen ein Märchen, ein ſchönes Märchen. Ich würde das alles für ein Märchen halten, wäre nicht die Depeſche, und wären Sie nicht mein lieber, treuer Freund. So muß ich Ihnen glauben, obwohl ich nicht begreife, woher Sie das alles wiſſen und warum Sie niemals davon geſprochen haben. Wenn Sie es wußten, was am Pol zu erwarten war, ſo mußten Sie doch meinen Mann darauf vorbereiten.“
Ell lächelte jetzt. „Das hab ich auch“, ſagte er, „ſoweit ich durfte. Ich wußte ja nicht, ob meine Vermutung eintreffen würde, alſo durfte ich auch nicht davon ſprechen. Denn eben haben Sie ſelbſt geſagt, daß Sie mir ohne die Depeſche nicht geglaubt hätten. Man hätte mir nicht geglaubt, man hätte mich für einen Narren gehalten, und ich hätte meine ganze Tätigkeit diskreditiert. Aber ich habe für alle Fälle geſorgt. Erinnern Sie ſich der drei Flaſchen Champagner, die Sie durch Saltner in den Korb ſchmuggeln ließen? Sie gingen durch meine Hände. Unter denſelben befindet ſich ein von mir entworfener Sprachführer — deutſch und martiſch —, der beim Zuſammentreffen mit den Marsbewohnern am Pol, auf das ich hoffte, gefunden werden mußte.“
Isma reichte ihm lächelnd die Hand und ſagte kopfſchüttelnd: „Und nun ſagen Sie mir das eine und Hauptſächlichſte. Woher konnten Sie alles das wiſſen — wenn es wirklich wahr iſt?“
„Sie ſollen auch dies wiſſen. Mein Vater war ein Nume. Er war kein Engländer, wie es hieß, kein auf der Erde Geborener. Ich ſtamme väterlicherſeits von den Bewohnern des Mars.“
Isma ſah ihn ſprachlos an. Sie konnte nicht zweifeln. Das Fremdartige ſeines Weſens, ſelbſt ſeiner Erſcheinung, das ſie anfänglich abgeſtoßen, ſpäter ſo viel ſtärker gefeſſelt hatte, als ſie ſich ſelbſt geſtehen mochte — alles wurde ihr auf einmal erklärlich.
Das Mädchen erſchien an der Tür.
„Kommen Sie“, ſagte ſie. „Wir wollen uns wenigſtens zu Tiſch ſetzen, es iſt Zeit. Ich muß aber noch mehr hören, viel mehr.“
„Wie oft haben wir Sie geneckt“, ſagte Isma bei Tiſch, „wenn Sie hier bei uns ſaßen und von den Marsbewohnern phantaſierten. Es iſt mir nie der Gedanke gekommen, daß Sie Ihre Erzählungen ernſt meinen könnten.“
„Ich habe mich auch gehütet, es ſo erſcheinen zu laſſen. Dann ſäße ich wohl im Irrenhaus. Und doch iſt es ſo. Ich werde Ihnen die Aufzeichnungen meines Vaters zeigen, wenn Sie wieder einmal auf meinen Berg ſteigen. Und das meiſte weiß ich aus ſeinem eigenen Mund. Sie ſehen mich ungläubig an?“
„Seien Sie nicht böſe — ich glaube Ihnen, aber es will mir noch nicht in den Kopf, das Unerhörteſte, was je geſchehen iſt — und mir, mir ſoll es begegnen —“
„Zwiſchen uns ſoll ſich nichts ändern, Isma! Aber ich hoffe, Ihnen jetzt erſt ganz zeigen zu können, wie lieb ich Sie habe. Meine Pläne ſind groß.“
„Laſſen Sie mich nur erſt das Vergangene verſtehen. Ihr Vater —“
„Mein Vater hieß All. Er war Kapitän des Raumſchiffes ‚Ba‘, das heißt ‚Erde‘, mit dem er bereits mehrere Fahrten nach dem Nordpol wie nach dem Südpol der Erde gemacht hatte, als er infolge eines Unglücksfalls mit ſechs Gefährten auf dem Südpol zurückgelaſſen wurde. Als das Schiff in den nächſten Tagen nicht zurückkehrte, wußten ſie, daß ſie vor dem nächſten Frühjahr keine Hilfe zu erwarten hatten. Den Polarwinter am Südpol zu durchleben, war unmöglich. Unter unſäglichen Strapazen ſchleppten ſie ſich nach Norden bis an das Meeresufer. Mein Vater allein gelangte dort an, die übrigen waren den Anſtrengungen erlegen. Es glückte ihm, von einem verſpäteten Walfiſchjäger aufgenommen zu werden. Man hielt ihn für einen Schiffbrüchigen, der den Verſtand verloren hatte. Er aber benutzte die Zeit der Überfahrt nach Auſtralien, um die Sprache zu erlernen, ohne daß die Seeleute es wußten. Man brachte ihn in ein Hoſpital. Durch unerſchütterliche Energie gewöhnte er ſich an die Erdſchwere und machte ſich mit menſchlichen Verhältniſſen vertraut. Dann gewann er Freunde, die ihm die Mittel gaben, ſeine techniſchen Kenntniſſe zu verwerten. Einige Erfindungen, die auf dem Mars längſt bekannt waren, machten ungeheures Aufſehen. Es dauerte nicht lange, ſo war mein Vater ein reicher Mann. Er lernte meine Mutter kennen, die als deutſche Erzieherin in einem engliſchen Haus lebte. So wurde ich in deutſcher Bildung aufgezogen. Außer meiner Mutter und mir erfuhr niemand das Geheimnis der Herkunft meines Vaters. Aber in mir pflegte er den Stolz, als Sohn eines Martiers teilzuhaben an der Numenheit. Immer habe ich den roten Planeten als meine eigentliche Heimat betrachtet, und einmal auf ihn zu gelangen, war mein Jugendtraum. Aber mein Vater ſtarb, ehe ich das zweiundzwanzigſte Jahr erreichte, ohne daß den Menſchen eine Nachricht vom Mars gekommen war. Und das Vermächtnis meines Vaters — meine Mutter war noch vor ihm dahingegangen — ſtellte mir eine größere Aufgabe: die Erde den Martiern zu erſchließen, die Menſchheit teilnehmen zu laſſen am Segen der martiſchen Heimat.
Ich ging nach Deutſchland, ich ſtudierte und lernte den ganzen Jammer dieſes wilden Geſchlechtes kennen an der Stelle, wo die höchſte Ziviliſation des Planeten ſich zeigen ſoll. Auch ein großes, herrliches Glück trat mir entgegen, aber es ſollte mir nicht beſchieden ſein. Ich lernte Isma Hilgen kennen —“
„Sie wiſſen —“
„Ja, ja, Isma, Sie haben recht gehabt damals. Sie wären unglücklich geworden, wie ich es war. Ich ging nach Auſtralien zurück. Aber meine Pläne, die Martier am Nordpol aufſuchen zu laſſen, konnte ich nur von Europa aus verfolgen. Ich kaufte mich hier an — das andere wiſſen Sie.“
Sie reichte ihm die Hand über den Tiſch hinüber.
„Ich nehme Sie bei Ihrem Wort“, ſagte ſie herzlich, „zwiſchen uns ſoll ſich nichts ändern. Nein, ich fange an, vieles zu verſtehen, was mich manchmal von Ihnen zurückſchreckte. Wie konnte ich mir anmaßen, Ihnen das ſein zu können, was Sie bei den Menſchen ſuchten?“
„Ich habe Sie niemals mehr geliebt, als wenn Sie mich für wandelbar hielten.“
„Laſſen Sie — wir dürfen jetzt nicht von uns ſprechen. Was werden Sie zunächſt tun?“
„Das Telegramm muß natürlich veröffentlicht werden. Ich nehme es gleich mit. Aber die Aufklärung, welche ich Ihnen gegeben habe, bleibt vorläufig unter uns. Die Preſſe wird ſogleich ihre Zweifel, Vermutungen und weiſen Bemerkungen laut werden laſſen. Dann gebe ich den Hinweis auf die Martier als eine Hypotheſe, ganz vorſichtig, nur um vorzubereiten.“
„Aber ſind Sie denn auch Ihrer Sache ganz ſicher? Ich meine, daß es wirklich Ihre Landsleute ſind, die ſich am Pol befinden?“
„Ich habe keinen Zweifel. Ich kann Ihnen noch etwas ſagen, was ich ſelbſt erſt ſeit einigen Tagen weiß. Es wird ſicherlich ebenfalls öffentlich zur Sprache kommen, ſobald die Nachricht von der Expedition bekannt wird. Sie müſſen wiſſen — mein Vater hat es mir erklärt —, daß die Martier nur am Nordpol oder am Südpol auf der Erde landen können. Ihre Raumſchiffe ſuchen, ſobald ſie der Grenze der Atmoſphäre ſich nähern, genau in der Richtung der Erdachſe heranzukommen. Es iſt aber für ſie gefährlich, in die Atmoſphäre einzudringen. Deswegen ging man auf Anregung meines Vaters mit dem Plan um, in der Verlängerung der Erdachſe außerhalb der Atmoſphäre eine Station zu errichten, auf welcher die Schiffe bleiben und von der aus man dann auf andere Weiſe nach unten gelangt — ich erkläre Ihnen das ein andermal genauer, auch weiß ich ja nicht, ob die Pläne ſo ausgeführt worden ſind, wie ſie damals, vor mehr als vierzig Erdenjahren, beſtanden. Sicherlich aber haben die Martier in irgendeiner Weiſe ihre Abſicht durchgeſetzt und eine Außenſtation gegründet. Danach habe ich mit meinem Inſtrument geſucht, aber nur einmal einen Lichtpunkt bemerkt, den ich für die Station halten konnte, da er ſich nicht mit den übrigen Sternen um die Weltachſe drehte. Ich habe ihn ſeitdem nicht wieder finden können, obgleich ich die Stelle genau gemeſſen hatte; aber das wundert mich auch nicht, denn die Martier werden ſchon dafür ſorgen, daß die Station möglichſt wenig Licht ausſtrahlt, und es ſind gewiß nur vereinzelte Stunden, in denen die Station einmal auf ſo große Entfernung — ich berechne ſie auf gegen 9.000 Kilometer — ſichtbar wird. Nun wurde vor einigen Tagen von der Zentralſtation für Kometen in Kiel ein Telegramm verſendet, daß in Helſingfors ein Stern entdeckt wurde, der kein Stern ſein kann, weil er am Umlauf des Himmels nicht teilnimmt und doch nicht im Pol ſteht, dagegen genau im Meridian in 36 Grad Höhe. Daraus läßt ſich leicht berechnen, daß ſich auf der Erdachſe, genau in der Entfernung des Erdradius über dem Pol, ein leuchtender Körper befinden muß. Allerdings konnte dieſer wegen leichten Nebels, vielleicht auch, weil er ſchwächer leuchtend wurde, bisher nicht wiedergefunden werden, aber die Angabe ſtimmt genau mit meiner früheren Beobachtung. Ein Körper, der an dieſer Stelle über dem Nordpol ſtillſteht, kann gar nichts anderes ſein als die geplante Station der Marsbewohner; eine andere Erklärung iſt undenkbar. Dieſe Entdeckung wird meine Hypotheſe beſtätigen, ſobald ſie bekannt werden wird. Man hat ſie nur von Helſingfors aus mit ſo großer Vorſicht weitergegeben, weil man keine Erklärung dafür weiß und daher an eine Täuſchung denken mußte. Wir werden alſo vorbereitet ſein, wenn die Expedition zurückkommt —“
„Wann, wann glauben Sie, daß dies möglich iſt?“
„Jeden Tag, jede Stunde kann die Nachricht eintreffen, daß ſie bewohnte Gegenden erreicht haben, ja —“
Ell unterbrach ſich und ſann nach.
„Sie wollten noch etwas ſagen, Ell! Sie wollten ſagen, es müßte ſchon Nachricht da ſein, wenn alles gut gegangen? Nicht wahr?“
„Allerdings, es könnte ſchon Nachricht da ſein, aber es iſt auch durchaus kein Grund zur Beunruhigung, daß ſie noch nicht da iſt. Bedenken Sie — wir haben heute den fünften — alſo ſiebzehn Tage, nachdem die Expedition den Pol verlaſſen hat — ſie können in Gegenden gelandet ſein, von denen aus ein Bote Wochen braucht, um die nächſte Telegraphenſtation zu erreichen.“
Isma preßte die Hände an ihre Stirn.
„Es iſt ſo ſeltſam“, ſagte ſie nachdenklich, „wie ſehnte ich mich nach einer Nachricht, alle Gedanken gingen um die Expedition — und nun, nachdem Sie mir dies geſagt haben, dies Ungeheuerliche, das uns bevorſteht — wie ſchrumpft das alles zuſammen, was Menſchen tun. Ach, Ell, es iſt eigentlich Unrecht —“
„Durfte ich länger ſchweigen?“
„Nein, mein Freund, ich danke Ihnen ja doch — aber — Sie müſſen mir noch mehr ſagen, vom Mars —. Sie müſſen mich lehren —“
„Was Sie wollen, Isma.“
„Doch nicht heute — es iſt ſchon ſpät.“
„Wirklich, in der zehnten Stunde. Ich muß Sie verlaſſen. Aber auf Wiederſehen! Morgen wie gewöhnlich?“
„Wie gewöhnlich — wenn nicht — — Nein doch, wir haben zu viel zu ſprechen — kommen Sie hierher —“
„Ich gehe jetzt auf die Redaktion und zur Poſt, das Telegramm ſteht morgen in allen Zeitungen, Sie werden den ganzen Tag über von Beſuchen belagert ſein.“
„Dann flüchte ich lieber —. Ich komme hinaus zu Ihnen, bald nach Tiſch. Ich will martiſch lernen“, ſetzte ſie mit einem halb komiſchen Seufzer hinzu. „Ach, Ell, was werden die nächſten Zeiten bringen?“
„Großes für die Menſchen!“ war ſeine ernſte Antwort.
Ell ging.