Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten 20. Das neue Luftſchiff Grunthe erwachte aus einem unruhigen Schlummer und ſah nach der Uhr. Sie zeigte auf 9,6, das entſprach nach mitteleuropäiſcher Zeit ein Uhr früh; es war alſo noch mitten in der konventionellen Nacht. Er legte ſich daher wieder auf ſein Lager zurück. Während er ſich ſeinen Gedanken hingab, vernahm er ein eigentümliches Ziſchen. Es unterſchied ſich deutlich von dem leichten, gleichmäßigen Rauſchen des Meeres, das in den Schlafräumen nur ſchwach durch die Stille der Nacht hörbar war. Auch ſchien es aus der Luft herzukommen, nahm erſt zu, um dann allmählich ſchwächer zu werden und ſchließlich zu verſchwinden. Nach einiger Zeit begann das Ziſchen wieder, kam aber deutlich von einer andern Seite her. Sollten es Windſtöße ſein, die ſich um die Inſel erhoben? Aber auf dieſe Weiſe hätten ſie ſich wohl nicht geäußert. Als ſich das Geräuſch mehrfach wiederholte, ſtand Grunthe auf, und die Läden der Decke ſchoben ſich, als ſein Fuß den Boden berührte, an einer Stelle automatiſch beiſeite. Ein ſchräger rötlicher Sonnenſtrahl ſchlich ſich in das Zimmer, und ein Streifen des Himmels wurde ſichtbar. Es war alſo noch immer klares Wetter, nur ſtand die Sonne bereits ſo tief, daß ſie nur ſchwach durch die Atmoſphäre hindurchdrang. Plötzlich verdunkelte ſich der ſichtbare Streifen des Himmels auf einen Moment, es war, als ob ein großer Gegenſtand mit namhafter Geſchwindigkeit über die Inſel fortgeflogen wäre. Zugleich war das Ziſchen beſonders laut geworden. Da das Zimmer keine ſeitlichen Fenſter hatte, konnte Grunthe keinen Rundblick gewinnen. Er wußte aber, daß man an einigen Stellen die Hartglasbedachung der Decke öffnen konnte. Nur mußte man dazu die genügende Höhe erreichen, um bis zur Decke zu gelangen. Eine Leiter hatte er nicht zur Verfügung, er wollte deshalb zunächſt verſuchen, ob er nicht durch die Fenſter des Sprechzimmers eine genügende Ausſicht finden könne. Zu ſeiner Überraſchung fand er die Verbindungstür von außen geſperrt. Dies ließ darauf ſchließen, daß bei den Martiern etwas im Werk ſei, wobei ſie von den Menſchen nicht beobachtet zu werden wünſchten. Um ſo mehr ſteigerte ſich bei Grunthe das Verlangen, ſeine Wißbegier zu befriedigen. Er betrachtete ſorgfältig die Decke in der Nähe der Luken und erkannte, daß ſich dort verſchiedene, zu den Apparaten der Martier gehörige Haken befanden, an denen man ſehr gut Stricke befeſtigen konnte. Solche waren zur Genüge an den Körben vorhanden, die zur Ausrüſtung des Ballons gedient hatten und in ſeinem Zimmer lagerten. Aus einem der leeren Körbe und zwei Seilen ließ ſich eine Art ſchwebendes Trapez herſtellen, das, an der Decke angehängt, geſtatten mußte, den Kopf bis über das Dach zu erheben. Aber wie hinaufkommen? Er entſchloß ſich, Saltner zu wecken. Der räſonnierte eben ein wenig über die nächtliche Störung, als ſich das Ziſchen in der Entfernung wieder hören ließ. Nun ſprang er mit einem Satz in die Höhe und fuhr in ſeine Kleider. Auf Grunthes Schultern ſtehend, gelang es ihm, zwei Seile an der Decke zu befeſtigen, und nun war es nicht mehr ſchwer, einen Beobachtungspoſten einzurichten. Vorſichtig ſteckten die beiden indiskreten Beobachter ihre Köpfe aus der Luke und wandten ſich nach der Richtung, in welcher ſich jetzt deutlich, aber in der Ferne, ein gleichmäßiges leiſes Sauſen vernehmen ließ. Zu ihrem grenzenloſen Erſtaunen ſahen ſie, daß dieſes Geräuſch von einem rieſigen Vogel herzurühren ſchien, der mit ausgebreiteten Schwingen in ruhigem Segelflug durch die Luft glitt und in geringer Höhe über dem Waſſer rings um die Inſel ſchwebte. Jetzt näherte er ſich derſelben und ſchoß mit raſender Geſchwindigkeit vielleicht zwanzig Meter über dem Dach der Inſel hinweg. Trotz der kurzen Zeit, in welcher die beiden Männer den ſeltſamen Vogel beobachten konnten, ſahen ſie doch, daß er weder Kopf noch Füße beſaß. Sein langgeſtreckter Körper hatte die Geſtalt einer nach vorn und hinten koniſch zulaufenden Zigarre, am hinteren Ende befand ſich ein langer, flacher Schwanz als Steuerruder. Natürlich war den Beobachtern ſofort klar, daß ſie eine neue Erfindung der Martier vor ſich hatten, ein den Verhältniſſen der Erde angepaßtes Luftſchiff. Die Martier ſtellten damit Übungen und Verſuche an, wobei ſie von den Menſchen nicht beobachtet ſein wollten. Das Luftſchiff entfernte ſich, kehrte dann in einem kurzen, eleganten Bogen um, brauſte zurück und hielt plötzlich direkt über der Inſel an. Man konnte beobachten, wie der ganze Schiffskörper in Schwingungen geriet, als der äußerſt ſchnelle Flug binnen drei Sekunden zum Stillſtand kam. Und nun geſchah etwas noch Merkwürdigeres. Die Flügel und das Steuerruder waren plötzlich verſchwunden. Etwa zehn Meter über dem Dach der Inſel, aber ſo weit vom Standpunkt der beiden Deutſchen entfernt, daß ihre eben nur aus der Luke hervorblickenden Köpfe kaum bemerkt werden konnten, ſchwebte der Schiffskörper frei in der Luft. Seine Länge mochte etwa zehn, ſein Durchmeſſer gegen vier Meter betragen. Das Material zeigte dasſelbe glasartige Ausſehen wie die Raumſchiffe der Martier, geſtattete aber keine Durchſicht. Den Boden wie das Verdeck bildeten zwei glatte, nach oben und unten gewölbte Schalen, zwiſchen denen ein nur vorn und hinten geſchloſſener, etwa meterhoher Streifen freiblieb. Durch denſelben konnte man beobachten, daß das Luftboot von zwölf Martiern bemannt war. Jetzt ſenkte ſich das Boot auf das Dach der Inſel langſam herab, wo es ohne Verankerung liegenblieb. Die Beſatzung ſtieg aus, und andere Martier traten an ihre Stelle. Nur die beiden Männer, die an den beiden Enden des Bootes ſich befunden hatten, nahmen ihre Plätze wieder ein. Sie waren Grunthe und Saltner unbekannt, und dieſe ſchloſſen daher, daß es die mit dem ‚Glo‘ angekommenen Konſtrukteure des neuen Luftſchiffes ſeien, die hier die Martier mit der Behandlung des Bootes bekannt machten. Die Galerien der Inſel waren von zuſchauenden Martiern beſetzt, doch konnte man dieſe von dem tiefen Standpunkt Grunthes und Saltners aus nicht erblicken; auch der untere Teil des Luftſchiffes blieb ihnen verborgen, und ſie konnten die Bemannung nur in dem Augenblick ſehen, in welchem ſie das Schiff verließ oder betrat, was durch das Verdeck desſelben zu geſchehen ſchien. Ein neues Manöver begann. Ohne Flügel und Steuer, horizontal liegend, ſtieg das Boot mit zunehmender Geſchwindigkeit ſenkrecht in die Höhe. Da war kein Luftballon ſichtbar, keine Schraube, kein Flügelſchlag hob es. In wenigen Minuten war es ſo hoch geſtiegen, daß es dem bloßen Auge nur als ein Pünktchen mit Mühe wahrnehmbar erſchien. Plötzlich vergrößerte ſich der Punkt ſchnell. Das Schiff ſtürzte herab. Aber jetzt entfaltete es ſeine Flügel und ſein Steuer, und wie ein rieſiger Raubvogel ſauſte es in weitem Kreis um die Inſel, ſtreifte faſt an der Meeresoberfläche hin und erhob ſich dann wieder in einer Spirale. Dabei wurden offenbar Signale mit den Martiern der Inſel gewechſelt, die aber für Grunthe nicht verſtändlich waren. Man ſah nun, daß das Schiff ſeine Flügel verkürzte oder zurücklegte, das Steuer ſtellte ſich gerade, eine weiße Dampfwolke brach aus dem Hinterteil des Schiffes hervor, der ein kanonenſchußartiger Knall und ein gewaltiges Brauſen folgte — das Boot ſchoß ſchräg aufwärts ſteigend wie aus einem Geſchütz geſchleudert in die Ferne und war nach weniger als einer Minute in der Richtung des zehnten Meridians dem Auge entſchwunden. Aus der Bewegung, welche ſich jetzt auf der Inſel bemerkbar machte, ſchloſſen Grunthe und Saltner, daß das Schiff eine Fernfahrt angetreten habe und fürs nächſte nicht wieder zu erwarten ſei. Sie verließen daher ihren unbequemen Poſten und zogen ſich in ihr Zimmer zurück, jedoch entſchloſſen, die Rückkehr des Schiffes zu erwarten. Zu dieſem Zweck wollten ſie ſich im Wachen ablöſen. Dieſe Mühe hätten ſie ſich freilich ſparen können, wenn ſie gewußt hätten, wie weit das Schiff ſeine Aufklärungsfahrt ausdehnen ſollte. Es wurde erſt in der folgenden Nacht von den Martiern zurückerwartet. Die Verſuche der Martier waren vollſtändig gelungen. Ihre auf dem Mars in Berückſichtigung der terreſtriſchen Verhältniſſe ausgeführten Konſtruktionen bewährten ſich in überraſchender Weiſe. Sie waren nun im Beſitz eines Luftſchiffs, welches ſie nach Belieben in der Erdatmoſphäre lenken konnten und mit welchem ſie ſelbſt einem Sturm zu widerſtehen vermochten. Was die Menſchen ſo lange vergeblich angeſtrebt hatten, die Techniker des Mars hatten es in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht. Allerdings beſaßen ja die Martier vor allem ein Mittel, ſich in die Luft zu erheben, das den Menſchen fehlt, die Anwendung der Diabarie. Der Fortſchritt der Luftſchiffahrt bei den Menſchen war früher immer daran geſcheitert, daß man das aeroſtatiſche und das dynamiſche Luftſchiff nicht in geeigneter Weiſe verbinden konnte. Wandte man den Luftballon an, um Laſten in die Höhe zu heben, ſo mußte der Apparat rieſige Dimenſionen annehmen, und es war dann unmöglich, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Wind eine zu große Angriffsfläche bot oder nicht genügend widerſtandsfähig gegen ſeinen Druck gemacht werden konnte. Wählte man aber die dynamiſche Form des Luftſchiffs, wobei durch Schrauben oder Flügel die Erhebung bewerkſtelligt wurde, ſo fehlte es an Maſchinen, um die erforderliche große Kraft zu entwickeln; denn um dies zu leiſten, mußten die Maſchinen ſelbſt zu ſchwer werden. Dieſen Schwierigkeiten waren nun die Martier dadurch enthoben, daß ſie diabariſche Fahrzeuge zu bauen vermochten, das heißt Fahrzeuge, für welche die Anziehungskraft der Erde nahezu ganz aufgehoben werden konnte. Bei der Luftſchiffahrt geſchah dieſe Aufhebung natürlich nicht ſo vollſtändig wie bei der Raumſchiffahrt, ſondern nur ſoweit, daß das Gewicht des Schiffes ſamt ſeinem Inhalt geringer wurde als das Gewicht der von ihm verdrängten Luft. Nach dem archimediſchen Geſetz mußte es dann in der Luft in die Höhe ſteigen, und, je nachdem man ſeine Schwere vergrößerte oder verkleinerte, konnte man es ſenken oder heben. Man bedurfte dazu keiner Rieſenballons und keiner Ballaſtmaſſen. Das Probeſchiff der Martier wog mit ſeinem ganzen Inhalt etwa fünfzig Zentner und beſaß eine Luftverdrängung von über hundert Kubikmeter. Es genügte alſo eine Erniedrigung des Gewichts bis auf fünf Prozent des eigentlichen Betrages, das heißt bis auf 125 Kilogramm, um zu bewirken, daß das Schiff in der Nähe der Erdoberfläche ſchwebte, denn ſoviel beträgt hier ungefähr das Gewicht der verdrängten hundert Kubikmeter Luft. Was aber die Martier bisher verhindert hatte, ſich mit ihren Raumſchiffen in die Atmoſphäre zu wagen, war die mangelhafte Widerſtandsfähigkeit des Stellits. Es galt ſomit für die Martier vor allem, einen Stoff zu finden, der ſich diabariſch machen ließ und dabei doch die genügende Feſtigkeit beſaß, um eventuell nicht nur den gewaltigen Druck eines Sturmwindes auszuhalten, ſondern auch mit großer Geſchwindigkeit gegen die Luft anzufliegen. Das war jetzt gelungen. Das neue Luftſchiff vermochte einer mit 400 Metern Geſchwindigkeit gegen dasſelbe bewegten Luftmaſſe Widerſtand zu leiſten, ohne eine ſchädliche Verbiegung ſeiner Umhüllung zu erleiden. Dieſer Stoff führte den Namen Rob. Diabarie und Rob fanden nun ihren dritten Verbündeten zur Vollendung der Aerotechnik in einer Modifikation des Repulſit. Man konnte natürlich in der Luft der Erde nicht wie im leeren Raum Repulſitbomben ſchleudern. Aber man hatte dafür eine Vorrichtung erſonnen, den kondenſierten Äther des Repulſits ſo allmählich zu entſpannen, daß man den unmittelbaren Rückſtoß zur Fortbewegung benutzen konnte. So bedurfte es keiner Schrauben oder Flügel, die nicht nur viel Raum einnahmen, ſondern auch leicht der Havarie ausgeſetzt waren; man ſchoß ſich direkt durch Reaktion, wie eine Rakete, durch die Luft. Die beiden großen Flügel und das Steuer, welche das neue Luftſchiff trug, konnten unter Umſtänden gänzlich zuſammengeſchoben und eingezogen werden; ſie dienten nur dazu, um das Gleichgewicht bei plötzlicher Änderung der Richtung zu bewahren und um nicht die großen Vorteile zu verlieren, welche der Segelflug bei günſtigem Wind darbietet. Ill hatte das Schiff vom Mars mitgebracht und ſich jetzt von ſeiner Tauglichkeit überzeugt. Die Verſuche geſchahen in der Nacht, das heißt während der Schlafenszeit, weniger, weil man die neuen Erfolge vor den Menſchen verbergen wollte, als weil man bei einem etwaigen Mißerfolg keinerlei Zeugen zu haben wünſchte. Immerhin beabſichtigte Ill nicht, die Menſchen in die Fortſchritte einzuweihen, welche die Martier gemacht hatten; da aber noch weitere Übungen angeſtellt werden ſollten und man höchſtens noch auf zwei Wochen Tageslicht rechnen konnte, ſo lag ihm ſelbſt daran, Grunthe, wenn dieſer auf ſeiner Weigerung beharren ſollte, möglichſt ſchnell von der Inſel zu entfernen. Die Aufklärungsfahrt des Luftſchiffs in der Richtung nach Europa hing mit dieſer Abſicht zuſammen. Es ſtellte ſich heraus, daß mit Anwendung des Repulſits Geſchwindigkeiten von 200 Metern in ruhiger Luft mit Leichtigkeit erreicht werden konnten. Man bewegte ſich dabei in Höhen von ungefähr zehn Kilometern, bei einer Luftverdünnung, welche allerdings von Menſchen nur bei künſtlicher Sauerſtoffatmung ertragen werden konnte, den Martiern aber, wenn ſie nur von Zeit zu Zeit etwas Sauerſtoffzuſchuß erhielten, keine beſonderen Beſchwerden verurſachte. Heftige Luftſtrömungen konnten hier die Geſchwindigkeit des Luftſchiffs wohl zeitweiſe um die Hälfte ſteigern oder mindern, im Mittel jedoch vermochte man in der Stunde ſiebenhundert Kilometer zurückzulegen. Auf dieſe Weiſe konnte man vom Nordpol nach Berlin in ſechs Stunden gelangen. Als die Lichtdepeſche über das Gelingen dieſer Probefahrten nach dem Mars gelangte, bewilligte der Zentralrat die Mittel zum Bau von hundertvierundvierzig Erd-Luftſchiffen, welche bis zum nächſten Erd-Nordfrühjahr fertigzuſtellen ſeien — — — — Es war noch früh am Tage, und Saltner wollte ſich eben von ſeinem Poſten, auf dem er vergeblich nach der Rückkehr des Luftſchiffes ausgeſchaut hatte, nach dem Dach der Inſel begeben, um Grunthe bei der Arbeit am Ballon zu helfen, als er in das Sprechzimmer gerufen wurde. Dort erwartete ihn La. Der kühle Ernſt, welchen ſie geſtern gezeigt hatte, die fremde Haltung war verſchwunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen, in der ganzen hinreißenden Anmut ihres Weſens ſchwebte ſie ihm entgegen und begrüßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die ihn wehrlos machte. Sie zog ihn neben ſich auf einen Sitz und ſagte, ſeine Hand haltend: „Sei nur nicht gar ſo verwundert, Sal, heute iſt wieder mein Tag, und was geſtern war, geht uns nichts an. Oder haſt du ſchon vergeſſen —?“ „Wie könnte ich! Aber ich begreife nur nicht —“ „Aber liebſter Freund, das iſt doch ganz einfach! Haben wir uns lieb?“ „La!“ „Und hab ich dir nicht ſchon geſagt, Liebe darf nicht unfrei machen? Und haſt du nicht auch Se lieb?“ „Ich bitte dich.“ „Ich weiß es, und es iſt ein Glück, ſonſt dürften wir uns ſo nicht ſehen.“ „Was ihr für ſeltſame Sitten habt!“ „Können wir uns gehören für immer? Kannſt du dauernd auf dem Mars leben oder ich auf der Erde? Oder irgendwo zwiſchen den Planeten? Und was hat das überhaupt mit der Liebe zu tun? Das ſind ganz andere Fragen. Wir aber wollen uns der Schönheit freuen und des Glücks, das wir im freien Spiel des Gefühles genießen. Liebteſt du mich allein, du wäreſt bald unfrei, über dich herrſchte die Leidenſchaft, der das Herzeleid folgt, und ich müßte mich dir entziehen. Wohl gibt es ein Glück zwiſchen Mann und Frau, das kein Spiel iſt, ſondern Ernſt; doch davor ſtehen viele Prüfungen, und ob es möglich iſt zwiſchen Nume und Menſch, das weiß noch niemand. Und damit wir nicht vergeſſen, daß Liebe ein Spiel iſt, dürfen wir nicht ganz allein es führen, und doch allein, wann wir wollen. Und nun zerbrich dir nicht den törichten Kopf! Ich habe dir etwas Ernſtes zu ſagen.“ „Noch etwas Ernſteres? Ich werde Mühe haben, mich in das eine zu finden. Aber es iſt wahr, allgemeineres dürfen wir nicht über unſerem — Spiel vergeſſen.“ „Ich glaube, du verſtehſt mich noch immer nicht — Spiel heißt doch Kunſtwerk, ein Trauerſpiel iſt auch ein Spiel, nur daß man nicht ſelbſt dabei umkommt, ſondern der Held, mit dem man fühlt. Und den Wert unſeres Gefühls ſetzen wir nicht herab, nein, wir machen ihn reiner und höher, wenn wir ihn in die Freiheit des Spiels, in das Reich des ſelbſtgeſchaffenen ſchönen Scheines erheben. — Du Tor! Iſt dieſer Kuß ein Schein? — Nein, Schein iſt nur, daß ich damit die Freiheit meines Selbſt verliere. Und nun höre! Du kommſt mit uns auf den Mars, damit du endlich einmal verſtändig wirſt.“ „Sprichſt du ſo als meine geliebte La? Dann muß ich dir zeigen, daß ich dein gelehriger Schüler bin, indem ich meine Freiheit bewahre. Du weißt, warum ich nicht mit euch kommen kann.“ „Ich weiß es, und du biſt brav, und ich hab dich darum nur lieber. Ihr wart geſtern Männer. Aber wenn wir nun die Bedingung erfüllen, daß ihr eure Nachrichten überbringen könnt, wenn wir einem von euch die Mittel zur Heimkehr verſchaffen, will dann nicht der andere mit uns kommen?“ „Und wer ſoll der andere ſein?“ „Das wird ſich ja finden. Doch im Ernſt, ich bin beauftragt, bei euch anzufragen, ob ihr darauf eingehen wollt. Sobald ſich einer von euch beiden bereiterklärt, nach dem Mars mitzugehen, ſchaffen wir den andern ſofort in ſeine Heimat.“ „Merkwürdig! Und ich wollte euch heute denſelben Vorſchlag machen. Es hat ſich gezeigt, daß der Ballon nur eine Perſon wird tragen können, das muß natürlich Grunthe ſein. Wollt ihr uns eure Hilfe leihen, den Ballon herzuſtellen, ſo daß Grunthe abreiſen kann, ſo bin ich bereit, mit euch nach dem Mars zu gehen.“ „Das iſt herrlich, liebſter Freund, dafür muß ich dir danken. Und wegen des Ballons mache dir keine Sorge — wir haben einen ſichereren Weg nach Deutſchland —“ „Das Luftſchiff?“ „Ihr habt gelauſcht?“ „Geſehen. Und damit wollt Ihr uns — aber dann könnte ich ja auch mit zurück?“ „Nein, das iſt Bedingung. Du mußt mit uns kommen —“ „Ach, La, ich ſträube mich ja nicht.“ „So komm, wir wollen mit Ra und deinem Freund ſprechen.“ „Aber zuvor dürfen wir wohl noch ein wenig hier plaudern?“ * * * Es war ſieben Uhr, zwei Stunden nach Feierabend, als das Luftſchiff von ſeiner Fahrt zurückkehrte. Nachdem Ill den erſtatteten Bericht mit großer Zufriedenheit entgegengenommen hatte, wurde das Schiff ſofort zu einer neuen Fernfahrt in Bereitſchaft geſetzt. Grunthe und Saltner hatten ſich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen, als das Schiff ankam, und daher nichts mehr von demſelben bemerkt. In einer Unterredung mit Ill und Ra hatte Grunthe eingewilligt, die Fahrt auf dem Luftſchiff der Martier anzutreten. Er bereitete ſich darauf vor, indem er alle Gegenſtände zuſammenpackte, die er mitzunehmen wünſchte. Man hatte ihm Gepäck im Gewicht von einem Zentner bewilligt, und außer ſeinen Büchern und Inſtrumenten packte er noch eine Anzahl Kleinigkeiten ein, welche ſeinen Landsleuten die Induſtrie der Martier verdeutlichen ſollten. Darauf legte er ſich zur Ruhe. Am folgenden Morgen, am zweiten Tag nach der Beratung mit den Martiern, hatten Grunthe und Saltner eben ihr Frühſtück beendet, und Saltner hatte ſich nach dem Sprechzimmer begeben, als Hil bei Grunthe eintrat. Dieſer war damit beſchäftigt, ſeine Effekten auf einen Platz zuſammenzuſtellen. „Das iſt Ihr Gepäck?“ fragte Hil. „Wünſchen Sie ſonſt noch etwas mitzunehmen?“ „Nichts weiter — es iſt alles vollſtändig und wird das Gewicht von einem Zentner nicht überſchreiten.“ „So ſind Sie alſo reiſefertig?“ „Ganz und gar — Sie ſehen, ich bin ſogar ſchon in meinem Reiſeanzug, und da liegt mein Pelz. Wann ſoll die Fahrt beginnen?“ „Sehr bald, vielleicht ſchon in dieſer Stunde. Haben Sie Ihrem Freund noch etwas mitzuteilen?“ „Nein, wir haben uns hinreichend ausgeſprochen, hier ſind ſeine Briefe und Tagebücher für die Heimat.“ „Sie wären alſo bereit, ſogleich aufzubrechen?“ „Ich bin bereit.“ Hil trat dicht an ihn heran und faßte ſeine Hände, als wollte er ſich verabſchieden. Dabei ſah er ihm feſt in die Augen. Grunthe fühlte ſich von dieſem Blick eigentümlich betroffen. Er konnte die Augen nicht fortwenden, und doch begann die Umgebung vor ſeinen Blicken zu verſchwimmen. Er ſah nur noch die großen, glänzenden Pupillen des Arztes. Dieſer legte ihm jetzt langſam die Hände auf die Stirn und ſagte bedeutſam: „Sie ſchlafen!“ Grunthe ſtand ſtarr, bewußtlos, mit offenen Augen. Hil drückte leiſe ſeine Augenlider herab und winkte mit dem Kopf rückwärts. Zehn Martier, die ſich bereitgehalten hatten, traten ein. Sechs von ihnen nahmen Grunthe behutſam in die Arme, legten ihn auf ein Tragbett und ſchafften ihn aus dem Zimmer. Die vier andern folgten mit dem Gepäck. Grunthe wurde in das Luftſchiff gebracht und ſorgfältig in ſeinen Pelz gehüllt. Das Rohr des Sauerſtoffbehälters wurde in ſeinen Mund geführt. Wenige Minuten darauf erhob ſich das Luftſchiff ſenkrecht in die Höhe. Nachdem es tauſend Meter geſtiegen war, ſchloſſen ſich die ſeitlichen Öffnungen. Der Reaktionsapparat ſpielte. Schräg aufwärts ſchoß es in der Richtung des zehnten Meridians nach Süden. Ra begab ſich zu Saltner in das Sprechzimmer und ſagte: „Wundern Sie ſich nicht, daß Sie Ihren Freund nicht mehr vorfinden werden. Ich hoffe, daß wir Ihnen bald die Nachricht ſeiner glücklichen Ankunft in der Heimat melden können. Wir hielten es für notwendig, die Abreiſe zu beſchleunigen.“ Saltner ſprang an das Fenſter. Fern am Horizont leuchtete ein ſchwaches Dampfwölkchen auf, um alsbald zu verſchwinden. Er war jetzt der einzige Europäer am Nordpol. Se trat zu ihm. „Seien Sie guten Muts, lieber Freund“, ſagte ſie. „Morgen geht unſer Raumſchiff nach dem Nu!“ 21. Der Sohn des Martiers