Die vier Beſucher des Ringes begaben ſich über die mittlere Galerie nach der Treppe zur oberen. Hier gelangten ſie in die weite Halle, von welcher aus die Abfahrt der Raumſchiffe ſtattfand. Das rege Leben, das hier geherrſcht hatte, begann ſich jetzt zu beruhigen. Denn die Einſchiffung der Abreiſenden war vollendet, und ihre Begleiter verließen ſoeben das Schiff. Die Luke ſollte geſchloſſen werden.
Hil mit ſeiner Begleitung hatte ſich doch verſpätet, und ſo mußten Grunthe und Saltner ſich diesmal darauf beſchränken, das Raumſchiff von außen zu betrachten. Sie tröſteten ſich damit, daß in drei Tagen bereits eine neue Abfahrt ſtattfände; überdies feſſelte ſie der Anblick, der ſich ihnen darbot, zur Genüge.
Die rieſige Halle beſaß einen Radius von 60 Meter. An ihrer Decke, und zwar rings um den Rand herum, befanden ſich kreisförmige Einſchnitte. Auf fünf von ihnen ruhte je ein Raumſchiff, ſo daß das untere Segment desſelben in die Halle hineinragte und von hier aus zugänglich war. Der überwiegende Teil jedes Raumſchiffs befand ſich natürlich oberhalb der Decke nach außen, wodurch die Halle, wenn man ſie von oben her hätte betrachten können, wie von fünf Rieſenkuppeln gekrönt erſchienen wäre. Bei vollbeſetzter Station hätten ſich acht Kuppeln über der Halle erhoben. Die Martier waren imſtande, acht Raumſchiffe gleichzeitig auf der Station zu halten. Die vorhandenen fünf Schiffe ſollten in dreitägigen Zwiſchenräumen die Station verlaſſen; ſie vermochten ſämtliche anweſende Martier fortzufahren, ſo daß alſo der Aufenthalt der Martier auf der Inſel in fünfzehn Tagen beendet ſein mußte. Man konnte durch die vollſtändig durchſichtige Decke die Außenſeite der Schiffe genau betrachten. Sie ſtellten vollkommene Kugeln dar, die mit ihrem größten Umfang noch weit über den Rand der Galerie hinausragten. Auch nicht der geringſte Vorſprung, nicht die kleinſte Unebenheit war an ihnen zu entdecken. Die äußeren Hüllen dieſer Kugeln waren durchſichtig. Man erblickte hinter ihnen die innere Kugel, den eigentlichen Schiffsraum, von welchem aus eine Reihe von Öffnungen in den Zwiſchenraum zwiſchen beiden Kugeln hineinführte. Dieſer über zwei Meter breite Raum trug in regelmäßiger Anordnung allerlei Gerüſte, die den verſchiedenen Zwecken der Raumfahrt dienten. Jetzt waren ſie zum größten Teil von den Martiern beſetzt, die mit ihren Freunden in der Abfahrtshalle noch Abſchiedsgrüße austauſchten.
An der tiefſten Stelle der Kugel befand ſich ein abgegrenzter Raum, der die Kommandobrücke bildete. Hier erſchien jetzt Jo. Er warf einen Blick auf die Apparate, die rings um ſeinen Platz angeordnet waren. Dann grüßte er mit einer Handbewegung in die Halle hinein und drückte auf einen Knopf. In dieſem Augenblick leuchtete zu ſeinen Füßen auf der Innenſeite der durchſichtigen Kugel das Bild eines Kometen und der Name des Schiffes, das der ‚Komet‘ hieß, in bläulichem Fluoreszenzlicht auf. Dies war das Zeichen, daß der ‚Komet‘ bereit war, ſeine Reiſe anzutreten.
Man hatte ſchon vorher die ganze Galerie, die ſich um ihre vertikale Achſe drehen ließ, für die Abfahrt paſſend eingeſtellt. Genau in der Sekunde, in welcher dieſe ſtattfinden ſollte, mußte der Punkt der Galerie, wo das Schiff ſich befand, von der Sonne abgewendet ſtehen. Denn ſobald das Schiff bei ſeiner Abfahrt völlig ſchwerelos gemacht wurde, bewegte es ſich in der Tangente der Erdbahn. Da aber die Erde gleichzeitig in ihrer Bahn fortlief, ſo hatte dies zur Folge, daß das Schiff in bezug auf die Erde ſich auf einer Linie entfernte, welche genau von der Sonne fortwies. Nach dieſer Richtung hin alſo mußte die Bahn frei ſein. Die Sonne hatte den niedrigen Stand von gegen ſieben Grad über dem Horizont, die Bewegung wich ſomit von der horizontalen wenig ab.
Die Martier im Innern der Abfahrtshalle fuhren jetzt auf Schienen eine eigentümliche Hebemaſchine unter das Schiff. Sie beſtand in einem oben offenen, unten geſchloſſenen Zylinder, welcher dazu diente, das Schiff aus ſeinem Lager zu heben und gleichzeitig die Öffnung der Abfahrtshalle luftdicht zu ſchließen. Der Zylinder wurde in die Höhe geſchraubt und hob dadurch auf ſeinem oberen Rande das faſt ſchon ſchwerelos gemachte und darum leicht bewegliche Schiff empor. Als das Schiff ſo hoch gebracht war, daß ſein tiefſter Punkt höher ſtand als das Dach der Halle, wurde der Hebungszylinder angehalten. Auf ein gegebenes Zeichen mußte er herabfallen und damit das Schiff freigeben.
Der entſcheidende Augenblick nahte. Die vollkommene Diabarie des Schiffes mußte genau in dem berechneten Moment eintreten, wenn nicht die Dispoſition der ganzen Raumreiſe dadurch verändert werden ſollte.
Jo hatte ſeinen Blick auf die Uhr gerichtet, während ſeine Hand den Griff des diabariſchen Apparats umfaßt hielt. Mit größter Aufmerkſamkeit beobachtete ihn der Ingenieur im Innern der Halle, um das Zeichen zum Fallen des Stütz-Zylinders zu geben.
Jetzt blickte Jo hinab und drückte auf den Griff. Zugleich ſank der Zylinder nach unten. Die rieſige Kugel ſchwebte, vollſtändig frei, dicht über dem Dach der Halle.
Die Martier im Schiff und in der Halle ſchwenkten grüßend Hände und Tücher. Mit angehaltenem Atem folgten Grunthe und Saltner dem wunderbaren Schauſpiel, das ſo gar keine Ähnlichkeit mit dem Aufſtieg eines Luftballons hatte. Es ſchien den Menſchen, als müßte die freiſchwebende Rieſenmaſſe ſie im nächſten Augenblick zerſchmettern.
In den erſten Sekunden bemerkte man kaum, daß das Raumſchiff ſich bewege, denn die Abweichung von der Erdbahn, welche in der erſten Sekunde nur 3 Millimeter beträgt, ſteigt nach 10 Sekunden erſt auf 30 Zentimeter. Nach einer Minute aber war die Entfernung ſchon auf 11 Meter gewachſen. Die Kugel paſſierte jetzt den Rand der Galerie und ſchwebte frei über der unendlichen Tiefe, 6.300 Kilometer hoch über der Erde. Selbſt die geübten Luftſchiffer Grunthe und Saltner überkam ein beängſtigendes Gefühl, als ſie das Schiff ſo ganz langſam, ohne jede bemerkbare Triebkraft, über den Abgrund ziehen ſahen. Schon wuchs die Entfernung merklicher. Nach zwei Minuten war es 44, nach drei Minuten 100 Meter entfernt, und immer mehr verſchwanden die wehenden Tücher. Genau in der Richtung der Sonnenſtrahlen, ſanft nach unten geneigt, hart am Rand des — übrigens im leeren Raum nicht ſichtbaren — Schattens des Ringes zog das Schiff hin. Die Kugel wurde ſichtlich kleiner; nach zehn Minuten hatte ſie einen Abſtand von 1.100 Metern erreicht.
„Es iſt nun hier weiter nichts mehr zu ſehen“, ſagte Hil zu Saltner. „Wenn es Ihnen recht iſt, werfen wir jetzt einen Blick auf die Erde durch unſern großen Apparat.“
„Wie lange kann man den ‚Komet‘ noch erblicken?“ fragte Grunthe.
„Mit dem Fernrohr“, erwiderte Hil, „können wir ihn ſo lange ſehen, bis er Richtſchüſſe gibt und durch den Erdſchatten geht. Wie mir Jo ſagte, beabſichtigt er dies zu tun, ſobald er 1.000 Kilometer von hier entfernt iſt. Das wird in 5 Stunden der Fall ſein. Nachher entfernt er ſich natürlich mit viel größerer Geſchwindigkeit, weil er von der Erdbahn abbiegt.“
„Kann man die Löſung der Richtſchüſſe von hier beobachten?“
„Davon ſehen Sie gar nichts. Ich will Ihnen jetzt etwas Intereſſanteres zeigen, und Sie ſollen mir mancherlei erklären.“
In der inneren auf der Unterſeite des Ringes befindlichen Galerie traf die kleine Geſellſchaft auf Las Vater, der erſt jetzt Saltner und Grunthe freundlich begrüßte, da er bisher zu ſehr mit der Expedition des Schiffes beſchäftigt geweſen war. Hil bat um Erlaubnis, das große Inſtrument der Station benutzen zu dürfen. Fru erklärte ſich gern bereit, ſelbſt die Einſtellung zu übernehmen.
„Aber du mußt die ganz ſtarke Vergrößerung anwenden“, ſagte La ſchmeichelnd zu ihrem Vater, „der arme Bat hier möchte einmal ſehen, wo er zu Hauſe iſt.“
„Und die neugierige La auch, nicht wahr? Nun, du weißt, es kommt alles auf die Beleuchtung an.“
Es geſellten ſich noch einige andere Martier hinzu, die ebenfalls die Gelegenheit wahrnehmen wollten, ſich die Erde von ihren Bewohnern erklären zu laſſen.
„Ach“, ſagte Saltner leiſe zu La, „das wird eine große Geſellſchaft, da werden wir wohl nicht viel zu ſehen bekommen.“
„Warte nur ab“, antwortete ſie ebenſo, „das wird gerade hübſch. Du weißt ja gar nicht, wie man bei uns ins Fernrohr ſieht.“
Man ſammelte ſich vor einer geſchloſſenen Tür.
„Sie denken vielleicht“, ſagte La, „daß bei uns jeder für ſich durch ein Rohr guckt. O nein, das iſt viel bequemer.“
Fru öffnete die Tür. Man trat in ein vollſtändig verdunkeltes Zimmer, das nur künſtlich durch eine Lampe beleuchtet war. Die eine Wand war rein weiß, alle übrigen ſchwarz angeſtrichen. Man gruppierte ſich vor der weißen Wand, im Vordergrund La, Saltner und Grunthe als Gäſte neben ihr. Hinter den Zuſchauern befand ſich ein Geſtell mit verſchiedenen Apparaten und Meßinſtrumenten, von welchem aus ſchwarz angeſtrichene Rohre nach der Decke liefen. Hier ſtellte ſich Fru auf. Das Licht verloſch. Nur die Schrauben und Skalen der Apparate phosphoreszierten in ſchwachem Eigenlicht.
Als Fru den Verſchluß des Suchers öffnete, projizierte ſich auf der Wand ein Teil des ſüdlichen Sternenhimmels, und nach einigen Verſchiebungen erſchien das Bild der Erde, nicht vergrößert, aber ſehr ſcharf in allen Umriſſen. Es nahm faſt die ganze Fläche der Wand ein, und man konnte deutlich die Abnahme der Beleuchtung an der Schattengrenze beobachten, die jetzt ſchon etwas weiter nach Weſten gerückt war. Zum Glück zeigte ſich der Himmel über Deutſchland ganz klar, ſo daß Fru nicht zweifelte, die ſtärkſte Vergrößerung anwenden zu können. Fru erſuchte Grunthe, ihm auf dem Bild an der Wand die Stelle zu bezeichnen, an welcher ungefähr die Hauptſtadt ſeines Landes zu ſuchen ſei. Grunthe deutete auf einen Punkt in Norddeutſchland und Fru ſtellte nun den Projektionsapparat ſo ein, daß dieſer Punkt genau in die Mitte des Bildes kam. Jetzt wandte er hundertfache Vergrößerung an, um die Stadt Berlin erkennen zu laſſen. Die Entfernung von der Außenſtation bis nach Berlin betrug 8.600 Kilometer; bei der angewandten Vergrößerung wurden alſo die Gegenſtände bis auf 86 Kilometer nahegerückt, und es war ſomit möglich, Ausdehnungen von etwa hundert Meter Länge zu unterſcheiden und bei beſonders heller Beleuchtung auch noch kleinere. Der Kreis an der Wand, der jetzt freilich ſehr viel lichtſchwächer erſchien, zeigte ſich von bräunlichen und grünlichen Streifen und Vierecken bedeckt, die an zahlreichen Stellen von dunkleren, unregelmäßigen Flecken unterbrochen waren; jene waren die bebauten Felder, dieſe die dazwiſchen liegenden Wälder und Seen.
Grunthe hatte richtig geſchätzt. An der rechten Seite des Bildes waren die ausgedehnten Seen der Havel bei Potsdam unverkennbar, links erſchien noch der Lauf der Oder bei Frankfurt auf dem Bild. Eine verwaſchene Stelle nach rechts unten zeigte die von Rauch erfüllte Atmoſphäre der Millionenſtadt an. Dieſe wurde nun in die Mitte der Projektion gebracht und nochmals um das Zehnfache vergrößert. Dadurch rückte die Stadt bis auf kaum neun Kilometer an den Standpunkt des Beſchauers heran. Es war, als ob man ſie aus einem dreitauſend Meter über dem Nordende der Stadt ſchwebenden Luftballon betrachtete, nur freilich bei einer außerordentlich matten Beleuchtung. Der auf der Wand abgebildete Kreis umfaßte in Wirklichkeit einen Durchmeſſer von zehn Kilometern.
Dem Mangel an Licht, welcher eine Folge der Projektion bei ſtarker Vergrößerung war, konnten die Martier durch eine ihrer genialen Erfindungen abhelfen; ſie ſchalteten in den Gang der Lichtſtrahlen ein ſogenanntes optiſches Relais ein. Die Strahlen paſſierten dabei eine Vorrichtung, durch welche ſie neue Energie aufnahmen, und zwar jede Farbengattung genau Licht derſelben Art und im Verhältnis ihrer Helligkeit. Dadurch erhielt das ganze Bild, ohne ſeinen Charakter zu verändern, die erforderliche Lichtſtärke. Eins aber konnte freilich nicht entfernt werden — der über der ganzen Stadt lagernde Dunſt und Qualm. Die Felder nördlich von der Stadt und ein Teil der Vororte waren zu erkennen. Man bemerkte die feinen Linien, von einem Rauchwölkchen gekrönt, welche die der Hauptſtadt zuſtrebenden Eiſenbahnzüge vorſtellten. Das Häuſermeer ſelbſt aber verſchwamm in einem grauen Nebel, über den nur die Türme und Kuppeln der Kirchen hervorragten. Deutlich erkannte man den Reflex der Sonne an dem Dach des Reichstagsgebäudes und an der Siegesſäule.
Grunthe und Saltner hatten natürlich ſchon öfter Gelegenheit gehabt, bei ihren Geſprächen mit den Martiern die wichtigſten geographiſchen und politiſchen Aufklärungen über die Menſchen zu geben. Sie würden noch beſſeres Verſtändnis dafür gefunden haben, wenn nicht die Inſelbewohner als Techniker hauptſächlich mathematiſch-naturwiſſenſchaftlich gebildet geweſen wären, ſo daß ihre hiſtoriſchen Kenntniſſe nur der allgemeinen Bildung der Martier entſprachen. So wußten dieſe bloß im allgemeinen zu ſagen, daß ihnen die Einrichtungen der Erde auf dem Standpunkt zu ſtehen ſchienen, den man auf dem Mars als Periode der Kohlenenergie bezeichnete. Sie lag für die Geſchichte der Martier um mehrere hunderttauſend Jahre zurück. Raſſen, Staaten und Stände in heißem Konkurrenzkampf um Lebensunterhalt und Genuß, die ethiſchen und äſthetiſchen Ideale noch nicht rein geſchieden von den theoretiſchen Beſtimmungen, der Energieverbrauch ganz auf das Pflanzenreich angewieſen, ob dieſe Energie nun von der Landwirtſchaft aus den lebenden oder von der Induſtrie aus den begrabenen Pflanzen, den Kohlen, gezogen wurde.
„Woher kommen dieſe Nebel über Ihren großen Städten?“ fragte einer der Martier.
„Hauptſächlich von der Verbrennung der Kohle“, erwiderte Grunthe.
„Aber warum nehmen Sie die Energie nicht direkt von der Sonnenſtrahlung? Sie leben ja vom Kapital ſtatt von den Zinſen.“
„Wir wiſſen leider noch nicht, wie wir das machen ſollen. Übrigens ſind die Kohlen doch nur zurückgelegte Zinſen, die unſere geehrten Vorfahren im Tierreich nicht aufzehren konnten.“
„Die Wolken ſind häßlich, man kann ja nichts deutlich ſehen“, ſagte La.
„Ich wünſchte“, ſprach Hil mehr für ſich als zu den andern, „wir hätten bei uns einen Teil Ihrer Wolken. Welch gewaltige Waſſerbecken haben Sie auf der Erde!“
„Es iſt aber hier an der Stadt wirklich nichts zu ſehen“, bemerkte Fru. „Die Luft iſt zu unruhig in größerer Höhe über der Stadt, wir bekommen keine klaren Bilder.“
„Laſſen Sie uns einmal meine Heimat ſchauen“, rief Saltner. „Bitt’ ſchön! Da iſt die Luft klar wie auf dem Mars.“
„Das wollen wir ſehen“, ſagte La. „Aber Heimweh dürfen Sie nicht bekommen.“
„Ich will Ihnen ſagen, wie Sie reiſen müſſen. Drehen Sie einmal ſo, daß wir nach Weſten kommen —“
„Wie weit iſt es bis nach Ihrer Heimat?“
„Von Berlin? Nun ſo ſiebenhundert Kilometer oder etwas mehr werden’s wohl ſein.“
„Nun, da kommen wir doch raſcher zum Ziel, wenn wir erſt noch einmal die hundertfache Vergrößerung nehmen und dann einſtellen. So, jetzt dirigieren Sie. Das Bild faßt nunmehr hundert Kilometer im Durchmeſſer.“
„Alſo weſtlich bitte — aber nicht zu ſchnell, ſonſt erkenn ich nichts. Das iſt Potsdam, nun weiter —. Das iſt die Elbe — meinen Sie nicht, Grunthe? Das dort muß Magdeburg ſein — halt! Nun immer direkt ſüdlich.“
Fru ließ die Karte von Deutſchland über die Tafel wandern. Der Harz, die Hügel- und Waldlandſchaften Thüringens und des fränkiſchen Jura zogen ſchnell vorüber, die bayeriſche Hochebene beherrſchte das Bild.
„Das dort muß München ſein, da iſt’s ſchön!“ rief Saltner. „Bitte, machen Sie einmal groß. Und dann erſt weiter, dann kommen die Alpen.“
Fru ſtellte den Apparat wieder auf tauſendfache Vergrößerung und ſchaltete das optiſche Relais ein. Die Hauptſtadt Bayerns zeigte ihre Kuppeln.
„Jetzt dachte ich doch wirklich einen Augenblick“, rief La, „dort eine Frau zu erkennen. Aber das müßte ja eine ſeltſame Rieſin ſein.“
„Das iſt ſie auch“, ſagte Saltner lachend. „Es iſt die Bildſäule der Bavaria, die Sie ſehen.“
„Bavaria? Wodurch hat ſich die Frau ſo verdient gemacht, daß man ihr Bildſäulen ſetzt? Hat ſie ein Problem gelöſt?“
„Die Bierfrage“, ſagte Saltner.
„Die Bildſäule ſtellt die Perſonifikation eines unſrer Staaten vor“, erklärte Grunthe.
„Warum nehmen Sie aber dazu nicht einen Mann?“ fragte La wieder.
„Das hätte Grunthe auch ſicher getan, wenn er gefragt worden wäre“, neckte Saltner.
„Ich denke“, ſagte Grunthe, „es iſt Zeit weiterzureiſen.“
„Nun immer weiter nach Süden!“ rief Saltner.
Die Vorberge der Alpen erſchienen im klaren Licht der Nachmittagsſonne. Ein dunkler Bergsee erfüllte die Wand, dahinter erhoben ſich die Spitzen der bayeriſchen Alpen —
„Der Walchenſee!“ rief Saltner.
„Das iſt ſchön — ſo ſchön gibt es nichts bei uns —“, ſagte La.
„Wartens nur“, rief Saltner, der jetzt alles um ſich und beinahe ſelbſt La vergaß. „Es kommt noch ſchöner. Nun drehens nur langſam!“
Es war ein wunderbares Wandelpanorama, das ſich jetzt entfaltete. Je höher die Gebirgswelt anſtieg, um ſo klarer und reiner wurde die Luft und damit die Schärfe der Bilder. Man betrachtete das Gebirge aus einer Entfernung von neun Kilometern und unter einem Neigungswinkel von annähernd zwanzig Grad, alſo wie aus einer Höhe von dreitauſend Metern, doch ſo, daß man unter dieſer Neigung ſtets einen Umkreis von zehn Kilometern Durchmeſſer vor ſich hatte, entſprechend einem Flächenraum von achtzig Quadratkilometern. So ſah man jetzt gerade den Nordabfall der Karwendelwand vor ſich, aber man blickte darüber hinweg auf die dahinterliegenden Gebirgsketten. Alles dies erſchien im höchſten Grade plaſtiſch, genau wie ein Relief der Gegend; denn das Fernrohr wirkte durch ſeine Konſtruktion wie ein Stereoskop.
So ſchob ſich die Gegend nach und nach vor den Blicken der Zuſchauer vorüber, als ob dieſelben in einem Luftballon ſchnell darüber hinſchwebten. Der Einſchnitt des Inntals wurde paſſiert, und nun leuchteten hell im Sonnenſtrahl die Ferner der Ötztaler Alpen. Fru war bei der Drehung des Fernrohrs nach Weſten abgewichen. Wieder erblickte man den ſchmalen Streifen eines tief eingeſchnittenen Tales, und dahinter erſchien eine herrliche Berggruppe, alle Gipfel mit glänzendem Weiß bedeckt.
„Was iſt denn das“, rief Saltner, „da ſind wir von der Richtung abgekommen. Das iſt der Ortler! Nun müſſen Sie wieder nach Oſten drehen — ſo — immer weiter! Sehen Sie, immer an dieſem Streifen hin, das iſt nämlich das Etſchtal, und jetzt können Sie gerad hineinſchauen, hier ſchwenkt es nach Südoſt ab. Noch immer weiter, bis es ganz nach Süden geht — da — da ſchaun Sie hin — ah, wie ſchade, aus dem Tal ſteigt die Luft ſo unruhig in die Höhe, aber die Etſch können Sie durchſchimmern ſehn. Und jetzt, ganz langſam, noch ein bißchen, hier, die Berge am linken Ufer, hier iſt’s wieder klar — nun bitte, halt!“
Er beugte ſich ganz dicht vor, daß der Schatten ſeines Kopfes auf die Wand fiel und die andern nicht mehr gut ſehen konnten.
„Da, da iſt’s“, rief er jubelnd, „ich kann’s deutlich erkennen. Das iſt die alte Burg, links daneben liegt das Haus, mein Haus — Jeſus Maria — ich kann’s wahrhaftig ſehen, wie ein kleines, weißes Pünktchen! Da wohnt mein Mutterl.“
Jetzt beugte auch La ſich vor.
„Wo?“ fragte ſie.
Mit der Spitze einer Nadel bezeichnete Saltner den Punkt.
Ihre Köpfe berührten ſich. Lange betrachtete La die Gegend, als wollte ſie ſich jede Einzelheit einprägen. Saltner trat beiſeite.
„Ich hab nun genug geſchaut, mir tun die Augen weh“, ſagte er und zog ſich auf einen der Stühle zurück. Er bedeckte die Augen mit der Hand und ſaß ſchweigend. La ſetzte ſich neben ihn und drückte leiſe ſeine Linke.
Nach längerer Pauſe, während deren Fru die Schattengrenze der Erde betrachten ließ, die jetzt ſchon bis an den Ural vorgerückt war, ſagte La zu Saltner: „Du möchteſt wohl jetzt den Mars nicht mehr ſehen?“
„Warum nicht?“ entgegnete Saltner. „Ich will ihn auch liebgewinnen — aber du mußt verzeihen! Es iſt ein biſſen viel auf einmal, was jetzt durch meinen dummen Menſchenverſtand geht.“
„Ja, ihr armen Menſchen“, ſagte La, „es wird wohl noch ein Weilchen dauern, eh ich recht begreife, wie es in ſolchem Kopf ausſieht. Die Heimat liebhaben und die Eltern und die Freunde, das iſt gut. Und was gut iſt, wie kann das traurig machen?“
„Wenn man es nicht hat —“
„Nicht hat? Wie kann man das nicht haben, was doch nur vom Willen abhängt? Wer kann dir die Treue nehmen, die du für recht hältſt? Dieſe Liebe haſt du doch, ob hier oder dort, weil du ſie ſelbſt biſt.“
„Aber La, kennt ihr Nume die Sehnſucht nicht?“
„Die Sehnſucht? Siehſt du, du törichter Lieber, was wirfſt du doch durcheinander! Alſo biſt du gar nicht gut aus reinem Willen, ſondern dich treibt das Verlangen nach dem Beſitz. Und aus dieſem Widerſtreit biſt du traurig. Oh, was ſeid ihr für Wilde!“
„So würdeſt du dich nie nach mir ſehnen?“
„Nach dir? Das iſt doch ganz etwas anderes. Ich hab dich doch nicht lieb, weil es Pflicht iſt, weil es gut iſt, ſondern lieb hab ich dich, weil es ſchön iſt zu lieben und geliebt zu werden. Deine Nähe wünſche ich, wie ich den Ton des Liedes wünſche, um mich an ſeiner Schönheit zu erfreuen — aber nein, das iſt auch noch nicht richtig, du könnteſt denken, das ſei nur ein Mittel zur äſthetiſchen Luſt — nein, ſo brauch ich deine Liebe und Nähe, wie der Künſtler die eigne Seele braucht, um das Schöne zu ſchaffen. — Ach, ich komme mit eurer Sprache nicht zurecht. Ihr ſprecht von Liebe in hundertfachem Sinn. Ihr liebt Gott und das Vaterland und die Eltern und die Kinder und die Gattin und die Geliebte und den Freund, ihr liebt das Gute und das Schöne und das Angenehme, ihr liebt euch ſelbſt, und das ſind doch abſolut verſchiedene Zuſtände des Gemüts, und immer habt ihr nur das eine Wort.“
„Ich will dich ja ohne alle Worte lieben, du kluge La —“
Sie blickte tief in ſeine Augen und ſprach: „Wie nennt ihr das, was niemals wirklich iſt, was man nur in der Phantaſie ſich vorſtellt, und indem man es ſich vorſtellt, iſt das Glück wirklich in uns? Wie nennt ihr das?“
Saltner zauderte mit der Antwort, und La fuhr fort: „Und das, was man wollen muß, ob es auch nicht glücklich macht, und was im Wollen erfreut, wenn es auch nicht wirklich wird, wie nennt ihr das?“
„Ich glaube“, erwiderte Saltner, „das erſte nennen wir ſchön, und das zweite gut.“
„Und wenn ihr eine Frau liebt, rechnet ihr das zum Schönen oder zum Guten?“
Es kam zu keiner Antwort.
„Was iſt das?“ hörte man plötzlich Fru laut rufen. Eine Bewegung entſtand bei den Martiern. Sie drängten ſich nahe an die Wand und hefteten ihre Augen auf eine beſtimmte Stelle des Bildes, das ſoeben vom Fernrohr projiziert wurde.
Grunthe hatte Fru gebeten, ihm die Einrichtung des Apparats zu erklären. Hierbei hatte Fru die Schrauben hin und her gedreht, das Bild der Erde war nicht mehr im Geſichtsfeld, zahlloſe Sterne liefen infolge der Umdrehung der Erde über den projizierten Teil des Himmels. Jetzt ſetzte Fru, weiter demonſtrierend, das Uhrwerk in Gang, welches das Fernrohr der Erdbewegung entgegen drehte, ſo daß die Sterne auf dem Bild ſtillſtanden. Fru warf einen Blick auf den Teil des Himmels, der ſich zufällig eingeſtellt hatte. Es war ein Stückchen der ‚ſüdlichen Krone‘, das ſich abbildete. Verwundert blickte er ſchärfer hin. Er kannte die Stelle zu genau, als daß ihm nicht ein Stern hätte auffallen ſollen, der ſich ſonſt nicht hier befand. Einer der Aſteroiden konnte es nicht ſein. Er änderte die Einſtellung ein wenig und erkannte daran, daß der fragliche Körper ſich in verhältnismäßig großer Nähe befinden müſſe.
Dies hatte ihn zu dem lauten Ausruf veranlaßt. Aufmerkſam prüften alle den Lichtpunkt, der ſich deutlich von den Bildern der Fixſterne als eine kleine rötliche Scheibe unterſchied.
„Es iſt ein Schiff!“ rief endlich einer der Martier.
„Der ‚Komet‘?“ fragte Grunthe.
„Das iſt nicht möglich“, ſagte Fru. „Es iſt der ‚Glo‘! Kein Zweifel, er iſt an ſeiner roten Farbe kenntlich, es iſt das Staatsſchiff.“
„Die Ablöſung!“ hieß es in den Reihen der Martier.
„Und Inſtruktionen von der Regierung“, rief Fru.
„Wie lange Zeit braucht das Schiff noch bis zur Ankunft?“ fragte Grunthe.
„Darüber können noch Stunden vergehen. Aber trotzdem muß ich leider um Entſchuldigung bitten, daß ich Ihnen heute den Mars nicht mehr zeigen kann. Ich hoffe, es wird nächſtens Gelegenheit dazu ſein. Denn ich muß ſofort die Vorbereitungen zur Landung treffen. Und deshalb, ſo leid es mir tut, muß ich auch den Flugwagen früher als beabſichtigt hinabgehen laſſen. Sie müſſen alſo die Güte haben, ſich zur Rückfahrt nach der Inſel bereitzuhalten.“
Fru verabſchiedete ſich herzlich von Grunthe, Saltner und La, und dieſe wie die übrigen Martier begaben ſich nach der Abfahrtsſtelle der Flugwagen, um auf die Inſel zurückzukehren.