Eine Schlange jagt über das Eis. In rieſiger Länge ausgeſtreckt ſchleppt ſie ihren dünnen Leib wie raſend dahin. Mit Schnellzugsgeſchwindigkeit ſpringt ſie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält ſie nicht auf, jetzt ſchwimmt ſie über das offene Waſſer eines Meeresarms und ſchlüpft gewandt über die hier und da ſich ſchaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer, unaufhaltſam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizont ſich hebt. Es geht über die Gletſcher hin nach dem dunklen Felsgeſtein, das mit weiten Flecken bräunlicher Flechten bedeckt mitten unter den Eismaſſen ſich emporbäumt. Wieder ſchießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwiſchen den Felsbrocken ſproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen ſchmücken den Boden, die ſpärlichen Blätter eines Weidenbuſchs zerſtieben unter dem Schlag des mit raſender Geſchwindigkeit hindurchfahrenden Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einſame Schneeammer, erſchrocken und brummend erhebt ſich aus ſeinem Schlummer der Eisbär, dem ſoeben die Schlange das zottige Fell geſtreift hat.
Die Schlange kümmert ſich nicht darum; während ihr Schweif über die nordiſche Sommerlandſchaft hinjagt, hebt ſie ihr Haupt hoch empor in die Luft, der Sonne entgegen. Es iſt kurz nach Mitternacht, eben hat der neunzehnte Auguſt begonnen.
Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des Gebirges, das unter der Einwirkung des ſchon monatelang dauernden Tages ſich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen ſtürmt die Schlange. Wo aber iſt der Kopf des eilenden Ungetüms? Man ſieht ihn nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und durchſichtig über der Polarlandſchaft liegt. Doch welch ſeltſame Erſcheinung? Der Schlange ſtets voran ſchwebt, von der Sonne vergoldet, ein rundlicher Körper. Es iſt ein großer Ballon. Straff ſchwillt die feine Seide unter dem Druck des Waſſerſtoffgaſes, das ſie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden treibt ein ſtarker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem Norden zu. Die Schlange aber iſt das Schlepptau dieſes Luftballons, der in günſtiger Fahrt dem langerſehnten Ziel menſchlicher Wißbegier ſich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden nachſchleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher ſteigt, hemmt es ihn durch ſein Gewicht, das er mit aufheben muß; wenn er ſinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf der Erde ſich ausſtreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen Widerſtand und ermöglicht es damit den Luftſchiffern, durch Stellung eines Segels bis zu einem gewiſſen Grade von der Windrichtung abzuweichen.
Aber das Segel iſt jetzt eingezogen. Der Wind weht ſo günſtig unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur wünſchen können. Lange hatten ſie an der Nordküſte von Spitzbergen auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte ſich der Polarſommer ſeinem Ende zu, und ſie fürchteten unverrichteter Sache umkehren zu müſſen, wie der kühne Schwede Andrée bei ſeinem erſten Verſuche. Da endlich, am 17. Auguſt, ſetzte der Südwind ein. Der gefüllte Ballon erhob ſich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten ſie tauſend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt. Der von Nanſen entdeckte nordiſche Ozean war überflogen und neues Land erreicht, das ſich ganz gegen Erwartung der Geographen hier vorfand. Schon entſchwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden ihren Blicken. Bald mußte es ſich entſcheiden, ob die beiden Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol ſelbſt erreicht hätten. Bei der Unſicherheit der Ortsbeſtimmung in dieſen Breiten waren Zweifel darüber entſtanden, die Ausſicht vom Ballon war durch Nebel getrübt geweſen, der Schlittenexpedition fehlte ein weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen Privatmanns, des Aſtronomen Friedrich Ell, eine deutſche Expedition ausgerüſtet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol unterſuchen ſollte.
Natürlich hatte man ſich die Erfahrungen der früheren Expeditionen zunutze gemacht. Durch die internationale Vereinigung für Polarforſchung war eine eigene Abteilung für wiſſenſchaftliche Luftſchiffahrt ins Leben gerufen worden. Namentlich hatte man die Benutzung des Schleppſeils ausgebildet und damit für die Leitung des Ballons wenigſtens annähernd ein Mittel zur Lenkung gefunden, wie es das Segelſchiff im Widerſtand des Waſſers beſitzt. Man hatte Metallzylinder konſtruiert, in denen man bis auf 250 Atmoſphären Druck zuſammengepreßten Waſſerſtoff mit ſich führte, um bei Dauerfahrten einen eingetretenen Gasverluſt zu erſetzen. Man hatte dem Korb eine Form gegeben, die es geſtattete, ihn nach Bedarf gegen die äußere Luft abzuſchließen. Der neue Ballon ‚Pol‘ war mit allen dieſen fortgeſchrittenen Einrichtungen ausgerüſtet. Außerdem hing unterhalb des Korbes zur Rettung im äußerſten Notfall ein großer Fallſchirm. Unter einer Art Sattel, der einen ſicheren Sitz gewährte, war an demſelben für alle Fälle ein Proviantkorb befeſtigt.
Der Direktor der Abteilung für wiſſenſchaftliche Luftſchiffahrt, Hugo Torm, hatte ſelbſt die Leitung der Expedition unternommen. Ihn begleiteten der Aſtronom Grunthe und der Naturforſcher Joſef Saltner. Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte auf den Momentverſchluß des photographiſchen Apparats und notierte die Zeit und den Luftdruck.
„Dieſe Gegend hätten wir glücklich in der Taſche“, murmelte er. Dann ſtreckte er die in hohen Filzſtiefeln ſteckenden Füße ſo weit aus, als es der beſchränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit den luſtigen Augen und ſagte: „Meine Herren, ich bin ſchauderhaft müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen? Was meinen Sie, Kapitän?“
„Tun Sie das“, antwortete Torm, „Sie ſind an der Reihe. Aber beeilen Sie ſich. Wenn wir dieſen Wind noch drei Stunden behalten —“
Er unterbrach ſich, um die nötigen Ableſungen zu machen.
„Wecken Sie mich gefälligſt, ſobald wir — am Pol ſind —“
Saltner ſprach mit geſchloſſenen Augen, und beim letzten Wort war er ſchon ſanft entſchlummert.
„Es iſt ein unheimliches Glück, das wir haben“, begann Torm. „Wir fliegen im wahren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die letzten fünf Minuten wieder 3,9 Kilometer notiert. Könnten Sie eine genauere Beſtimmung verſuchen, wo wir ſind?“
„Es wird ſich machen laſſen“, antwortete Grunthe, indem er nach dem Sextanten griff. „Der Ballon geht ſehr ruhig, und wir haben die Ortszeit ziemlich ſicher. Wir hatten den tiefſten Sonnenſtand vor einer Stunde und 26 Minuten.“ Er nahm die Sonnenhöhe mit größter Sorgfalt. Dann rechnete er einige Zeit lang.
In vollkommener Stille lag die Landſchaft, über welche die Luftſchiffer eilten. Ein weites Hochplateau, mit Moos und Flechten bedeckt, hier und da von Waſſerlachen durchſetzt, bildete den Fuß des Gebirges, dem ſich der Ballon ſchnell näherte. Man hörte nichts als das Ticken der Uhrwerke, von Zeit zu Zeit das regelmäßige Abſchnurren des Aſpirationsthermometers, dazwiſchen die behaglichen Atemzüge des ſchlummernden Saltner. Es war freilich eine angenehmere Polarfahrt, als mit halbverhungerten Hunden die langſamen Schlitten über die Eistrümmer zu ſchleppen. Grunthe ſah von ſeiner Rechnung auf.
„Welche Breite haben Sie aus der Berechnung des zurückgelegten Weges?“ fragte er Torm.
„Achtundachtzig Grad fünfzig — einundfünfzig Minuten“, erwiderte dieſer.
„Wir ſind weiter.“
Grunthe machte eine Pauſe, indem er noch einmal kurz die Rechnung prüfte. Dann ſagte er bedachtſam, aber mit derſelben Gleichmäßigkeit der Stimme:
„Neunundachtzig Grad 12 Minuten.“
„Nicht möglich!“
„Ganz ſicher“, erwiderte Grunthe ruhig und zog die Lippen ein, ſo daß ſein Mund unter dem dünnen Schnurrbart wie ein Gedankenſtrich erſchien. Das war das Zeichen, daß keine Gewalt mehr imſtande ſei, an Grunthes unerſchütterlichem Ausſpruch etwas zu ändern.
„Dann haben wir keine 90 Kilometer mehr bis zum Pol“, rief Torm lebhaft.
„Neunundachtzigeinhalb“, ſprach Grunthe.
„Dann ſind wir in zwei Stunden dort.“
„In einer Stunde und 52 Minuten“, verbeſſerte Grunthe unerſchütterlich, „wenn nämlich der Wind mit derſelben Geſchwindigkeit anhält.“
„Ja — wenn“, ſo rief Torm lebhaft. „Nur noch zwei Stunden, Gott gebe es!“
„Sobald wir über jenen Bergrücken ſind, werden wir den Pol ſehen.“
„Sie haben recht, Doktor! Sehen werden wir den Pol — ob auch erreichen?“
„Warum nicht?“ fragte Grunthe.
„Hinter den Bergen, der Himmel gefällt mir nicht — auf der Nordſeite liegt jetzt ſeit Stunden die Sonne, es iſt dort ein aufſteigender Luftſtrom vorhanden —“
„Wir müſſen abwarten.“
„Da — da — ſehen Sie — den herrlichen Abſturz des Gletſchers“, rief Torm.
„Wir fliegen gerade auf ihn zu; müſſen wir nicht ſteigen?“ fragte Grunthe.
„Gewiß, dort müſſen wir hinüber. Aufgepaßt! Schneiden Sie ab!“
Zwei Säcke Ballaſt klappten herab. Der Ballon ſchoß in die Höhe.
„Wie die Entfernung täuſcht“, ſagte Torm. „Ich hätte die Wand für entfernter gehalten — es reicht noch nicht. Wir müſſen noch mehr opfern.“
Er ſchnitt noch einen Sack ab.
„Wir dürfen nicht in die Schlucht geraten“, erklärte er, „kein Menſch weiß, in was für Wirbel wir da kommen. Aber was iſt das? Der Ballon ſteigt nicht? Es hilft nichts — noch mehr hinaus!“
Eine ſchwarze Felswand, welche den Gletſcher in zwei Teile ſpaltete, erhob ſich unmittelbar vor ihnen. Der Ballon ſchwebte in unheimlicher Nähe. Mit ängſtlicher Erwartung verfolgten die beiden Männer den Flug ihres Aëroſtaten. Der Südwind war jetzt, zu ihrem Glück, hier in der unmittelbaren Nähe der Berge ſchwächer, ſonſt wären ſie ſchon an die Felſen geſchleudert worden. Der Ballon befand ſich nunmehr im Schatten der Berge; das Gas kühlte ſich ab. Die Temperatur ſank ſchnell tief unter den Gefrierpunkt. Torm überlegte, ob er noch mehr Ballaſt auswerfen dürfe. Was er jetzt an Ballaſt verlor, das mußte er dann an Gas aufopfern, um den Ballon wieder zum Sinken zu bringen, und das Gas war ſein größter Schatz, das Mittel, das ihn wieder aus dem Bereich des furchtbaren Nordens bringen ſollte. Er wußte ja nicht, was ihn hinter den Bergen erwarte. Aber der Ballon ſtieg zu langſam. Da — eine ſeitliche Strömung bewegt ihn — die Strahlen der Sonne, welche über den Sattel des Gletſchers herüberlugt, treffen ihn wieder — das Gas dehnt ſich aus, der Ballon ſteigt — tiefer und tiefer ſinken die Eismaſſen unter ihm. —
„Hurrah!“ rufen die beiden Luftſchiffer wie aus einem Munde.
„Was gibt’s?“ fährt Saltner aus ſeinem Schlummer empor. „Sind wir da?“
„Wollen Sie den Nordpol ſehen?“
„Wo? Wo?“ Im Augenblick war Saltner in die Höhe gefahren.
„Sakri, das iſt kalt“, rief er.
„Wir ſind über 500 Meter geſtiegen“, antwortete Torm.
Saltner hüllte ſich in ſeinen Pelz, was die andern ſchon vorher getan hatten.
„Wir ſind jetzt faſt in gleicher Höhe mit dem Kamm des Gebirges. Sobald wir darüber hinwegsehen können, muß vor uns, etwa 50 Kilometer nach Norden, die Stelle liegen —“
„Wo die Erdachſe geſchmiert wird!“ rief Saltner. „Ich bin verteufelt neugierig. Na, den Champagner brauchen wir nicht erſt kalt zu ſtellen.“
Die drei Männer ſtanden, am Tauwerk ſich haltend, in der Gondel. Mit geſpannten Blicken ſchauten ſie jeden Augenblick, den ihnen die Bedienung des Ballons und die Beobachtung der Inſtrumente freiließ, durch ihre Feldſtecher nach Norden, der Sonne entgegen, die erſt wenig nach Oſten hin beiſeite getreten war. Allmählich verſanken die Berggipfel unter ihnen — noch ein breiterer Rücken hemmte ihnen die Ausſicht — der Ballon glitt jetzt wieder in der Höhe des Kammes dahin, das Schlepptau ſchleifte —, noch eine breite Mulde war zu überfliegen, dann mußte das erſehnte Ziel vor ihnen liegen. Der Ballon befand ſich etwa in der Mitte der Mulde, höchſtens 100 Meter über ihrem Boden, und die gegenüberliegende Talwand verdeckte noch die Ausſicht. Der Wind war etwas weniger lebhaft, aber immer noch ſüdlich, und der Ballon ſtieg an der flachen Erhebung des Eisfeldes hinan.
Jetzt wurden einzelne weiße Bergkuppen in großer Entfernung hinter dem nahen Horizont der gegenüberliegenden Eiswand ſichtbar, die Luftſchiffer befanden ſich in gleicher Höhe mit dem letzten Hindernis, das ihren Blick beſchränkte. Die Gipfel mehrten ſich, ſie bildeten eine Bergkette.
„Dieſe Berge liegen ſchon hinter dem Pol“, ſagte Grunthe, und diesmal bebte ſeine Stimme doch ein wenig vor Aufregung. Feſt preßte er ſeine Lippen zur geraden Linie zuſammen.
Weiter ſtieg der Ballon — dunkel gefärbte Bergzüge erſchienen unter den Schneegipfeln, rötlich und bräunlich ſchimmernd — jetzt erreichte der Ballon die Höhe und ſchwebte über einem tiefen Abgrund — das Schleppſeil ſchnellte hinab, und der Ballon ſank ſofort einige hundert Meter tief — dann pendelte er noch einmal auf und ab — dieſe plötzliche Schwankung des Ballons hatte die Aufmerkſamkeit der Luftſchiffer voll in Anſpruch genommen — ſie ſahen unter ſich, tief unten ein wildes Gewirr von Klippen, Felstrümmern und Eisblöcken, hinter ſich die ſteil abgebrochene Wand, an welcher der verzerrte Schatten des Ballons auf- und niederſchwankte — die Inſtrumente mußten beobachtet werden, und erſt jetzt konnten ſie den Blick nach vorwärts lenken, vorwärts und nordwärts — oder war es vielleicht ſchon ſüdwärts?
Saltner war der erſte, der nach vorn blickte. Aber er ſprach nichts, in einem langgedehnten Pfiff blies er den Atem aus ſeinen geſpitzten Lippen.
„Das Meer!“ rief Torm.
„Grüß Gott!“ ſagte jetzt Saltner. „Da hat halt der alte Petermann doch recht behalten, aber bloß ein biſſel. Ein offenes Polarmeer iſt es ſchon, man muß ſich nur nicht zuviel drauf einbilden.“
„Ein Binnenmeer, ein Baſſin, immerhin, gegen tauſend Quadratkilometer ſchätze ich“, ſagte Grunthe. „Etwa ſo groß wie der Bodenſee. Aber wer kann wiſſen, was ſich dort hinten noch an Fjords und Kanälen abzweigt. Und auch das Baſſin ſelbſt iſt durch verſchiedene Inſeln in Arme geteilt.“
„Wer da unten zu Fuß oder zu Schiff ankommt, muß Mühe haben zu entſcheiden, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer“, ſagte Saltner. „Gut, daß wir’s bequemer haben.“
„Gewiß“, meinte Torm, „es iſt möglich, daß wir ein Stück des offenen Meeres vor uns haben, obwohl es von hier den Anſchein hat, als ſchlöſſen die Berge das Waſſer von allen Seiten ein. Wir werden ja ſehen. Aber vor allen Dingen, was ſollen wir tun? Wir haben wider Erwarten ſo hoch ſteigen müſſen, daß wir jetzt ſehr viel Gas verlieren würden, wenn wir hinabwollten, und andrerſeits werden wir wieder drüben über die Berge hinaufmüſſen. Es iſt eine ſchwierige Frage. Aber wir haben noch Zeit, darüber nachzudenken, denn der Ballon bewegt ſich jetzt nur langſam.“
„Und dieſe Gelegenheit wollen wir benutzen, um dem Nordpol unſern wohlverdienten Gruß zu bringen“, rief Saltner. Mit dieſen Worten zog er ein Futteral hervor, aus welchem drei Flaſchen Champagner ihre ſilbernen Hälſe einladend hervorſtreckten.
„Davon weiß ich ja gar nichts“, ſagte Torm fragend.
„Das iſt eine Stiftung von Frau Isma. Sehen Sie, es ſteht darauf: ‚Am Pol zu öffnen. Gewicht vier Kilogramm.‘“
Torm lachte. „Dachte ich mir doch“, ſagte er, „daß meine Frau irgend etwas einſchmuggeln würde, was das Expeditionsreglement durchbricht.“
„Es iſt doch aber auch ein herrlicher Gedanke von Ihrer Frau, ſich am Nordpol in Champagner hochleben zu laſſen“, erwiderte Saltner. „Erſtens für ſich ſelbſt, denn das iſt etwas, was noch nicht dageweſen iſt; das müſſen Sie zugeben, Damen ſind hier noch niemals leben gelaſſen worden. Und zweitens für uns, das müſſen Sie auch zugeben; es iſt ſehr wonnig, in dieſer Kälte den Schaumwein zu trinken auf das Wohl unſerer Kommandeuſe. Und drittens, iſt es nicht einfach bejauchzbar, das tragiſche Antlitz unſeres Aſtronomen zu ſehen? Denn Champagner trinkt er prinzipiell nicht, und auf weibliche Weſen ſtößt er prinzipiell nicht an; da er aber auf dem Nordpol prinzipiell in ein Hoch einſtimmen muß und will, ſo findet er ſich in einem Widerſtreit der Prinzipien, aus dem herauszukommen ihm verteufelt ſchwerfallen wird.“
„Darauf könnte ich ſehr viel erwidern“, ſagte Grunthe. „Zum Beiſpiel, daß wir noch gar nicht wiſſen, wo der Nordpol eigentlich liegt.“
„Schon wahr“, unterbrach ihn Torm, „aber eben darum müſſen wir den Moment feiern, in welchem wir ſicher ſind, ihn zum erſtenmal in unſerm Geſichtsfeld zu haben. Das werden Sie zugeben?“
„Hm, ja“, ſagte Grunthe, und ein leichtes Schmunzeln glitt über ſeine Züge. „Ich nehme an, wir wären am Pol. So kann ich mit Ihnen anſtoßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit irgendwelchen Prinzipien in Widerſpruch zu geraten.“
„Wieſo?“ fragte Saltner.
„Der Pol iſt ein Unſtetigkeitspunkt. Prinzipien ſind Grundſätze, die unter der Vorausſetzung gelten, daß die Bedingungen beſtehen, für welche ſie aufgeſtellt ſind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbeſtimmungen. Am Pol ſind alle Bedingungen aufgehoben. Hier gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Oſt oder Weſt bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, ſind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten alſo auch alle Grundſätze zuſammen oder gar keine. Es iſt der vollſtändige Indifferenzpunkt aller Beſtimmungen erreicht, das Ideal der Parteiloſigkeit.“
„Bravo“, rief Saltner, der inzwiſchen die Trinkbecher von Aluminium mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. „Es lebe Frau Isma Torm, unſere gnädige Spenderin!“
Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen zuſammen und hielt, geradeaus ſtarrend, ſein Trinkgefäß unbeweglich vor ſich hin, indem er es paſſiv geſchehen ließ, daß die andern mit ihren Bechern daran ſtießen. Nun rief Torm:
„Es lebe der Nordpol!“
Da ſtieß auch Grunthe ſeinen Becher lebhaft mit den andern zuſammen und ſetzte hinzu:
„Es lebe die Menſchheit!“
Sie tranken und Saltner rief:
„Grunthes Toaſt iſt ſo allgemein, daß ein Becher nicht reichen kann.“ Und er ſchenkte noch einmal ein.
Inzwiſchen war der Ballon langſam dem Binnenmeer entgegengetrieben, das ſich nun immer deutlicher den ſtaunenden Blicken der Reiſenden enthüllte. Vom Fuß der ſteil abfallenden Felſenwand des Gebirges ab ſenkte ſich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die Landſchaft zeigte jetzt ein vollſtändig anderes Gepräge. Die wilde Gletſchernatur war verſchwunden, grüne Matten zogen ſich, nur noch mit einzelnen Geſteinstrümmern hier und da bedeckt, in ſanfter Senkung dem Waſſer zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu ſchauen, in deſſen Mitte ein blauer Bergsee ſich ausbreitete. An dem jenſeitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem Dämmer verſchwamm, ſchien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels und Eis zu herrſchen, doch zog ſich über den Bergen dort eine Wolkenwand empor. Das Auffallendſte in der ganzen Szenerie aber bot der Anblick einer der Inſeln, die zahlreich und in unregelmäßiger Geſtaltung in dem Baſſin lagen, bis an deſſen Ufer der Ballon jetzt herangeſchwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen Inſeln. Aber ihre Formen waren ſo vollkommen regelmäßig, daß es zweifelhaft ſchien, ob man eine Geſtaltung der Natur vor ſich habe. Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inſeln bedeckten, fehlten hier vollſtändig.
Die Forſcher mochten ſich etwa noch zwölf Kilometer von der rätſelhaften Inſel entfernt befinden, die ſie mit ihren Ferngläſern muſterten, als Torm ſich an Grunthe wandte.
„Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich beſtimmen, wo wir uns befinden? Ich muß geſtehen, daß ich beim Überſchreiten des Gebirges und dem raſchen Höhenwechſel nicht mehr imſtande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.“
„Ich habe“, erwiderte Grunthe, „einige Peilungen gemacht, aber zu einer ſicheren Beſtimmung reichen ſie nicht mehr aus. Auch die Methode aus der Meſſung der Sonnenhöhe iſt jetzt nicht anwendbar, da wir nicht mehr imſtande ſind, die Tageszeit auch nur mit einiger Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollſtändig verloren. Der Kompaß iſt ja hier im Norden ſehr unzuverläſſig. Auf alle Fälle ſind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane ſo nah zuſammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts oder links einen Zeitunterſchied von einer Stunde oder mehr ausmacht. Wenn unſer Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht ſeit der Überſchreitung des Gebirges um fünf oder ſechs Kilometer abgewichen iſt, was ſehr leicht ſein kann, ſo haben wir jetzt nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. Auguſt, ſondern vielleicht ſchon Mittag, oder, wenn wir nach Weſten abgewichen ſind, ſo ſind wir ſogar in den geſtrigen Tag zurückgeraten und haben vielleicht erſt den 18. Auguſt abends.“
„Das wäre der Teufel“, rief Saltner. „Das kommt von dieſem ewigen Sonnenſchein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das Blatt von geſtern wieder ankleben.“
„Schon möglich!“ lächelte Grunthe. „Nehmen Sie an, Sie machen einen Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom Pol, ſo ſind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen und haben ſämtliche 360 Meridiane überſchritten; Sie haben alſo in fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Weſten herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, ſo müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückſtellen, ſo daß Sie nach beſagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück ſind, und wenn Sie in dieſer Art eine Stunde lang um den Pol herumgegangen ſind, ſo muß Ihre Uhr, wenn ſie einen Datumzeiger beſitzt, den 7. Auguſt anzeigen.“
„Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anſchaffen“, meinte Saltner.
„Ja, aber wenn Sie nach Oſten herumgehen, kommen Sie um ebenſoviel in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um den Pol den 31. Auguſt erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des Pols ein Blatt in ihrem Kalender abriſſen. In beiden Fällen würden ſie ſich indeſſen tatſächlich noch am 19. Auguſt befinden. Sie müßten alſo, wie die Seefahrer beim Überſchreiten des 180. Meridians, ihren Datumzeiger entſprechend regulieren.“
„Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?“
„Dann ſpringen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit. Der Pol iſt eben ein Unſtetigkeitſpunkt.“
„Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man iſt.“
„Ja“, ſagte Torm, „das iſt eben das Fatale. Wir haben uns von Anfang an darauf verlaſſen müſſen, daß wir unſere Lage aus dem zurückgelegten Wege beſtimmen. Läßt ſich denn gar nichts tun?“
„Nur wenn wir landen und unſere Inſtrumente ſo feſt aufſtellen, daß wir einige Sterne anviſieren können.“
„Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See überflogen haben und das jenſeitige Gebirge überſchauen. Hier zwiſchen den Inſeln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir ſind alſo wirklich nicht beſſer daran als unſere Vorgänger, und der wahre Pol bleibt wieder unbeſtimmt.“
„Zu verflixt“, brummte Saltner, „da ſind wir vielleicht gerade am Nordpol und wiſſen es nicht.“