Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten Roman in zwei Büchern. Die Erſtausgabe erſchien 1897. Scan: https://archive.org/details/aufzweiplanetenr00lass Hörbuch: https://archive.org/details/auf_zwei_planeten_0907_librivox 1. Am Nordpol Eine Schlange jagt über das Eis. In rieſiger Länge ausgeſtreckt ſchleppt ſie ihren dünnen Leib wie raſend dahin. Mit Schnellzugsgeſchwindigkeit ſpringt ſie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält ſie nicht auf, jetzt ſchwimmt ſie über das offene Waſſer eines Meeresarms und ſchlüpft gewandt über die hier und da ſich ſchaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer, unaufhaltſam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizont ſich hebt. Es geht über die Gletſcher hin nach dem dunklen Felsgeſtein, das mit weiten Flecken bräunlicher Flechten bedeckt mitten unter den Eismaſſen ſich emporbäumt. Wieder ſchießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwiſchen den Felsbrocken ſproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen ſchmücken den Boden, die ſpärlichen Blätter eines Weidenbuſchs zerſtieben unter dem Schlag des mit raſender Geſchwindigkeit hindurchfahrenden Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einſame Schneeammer, erſchrocken und brummend erhebt ſich aus ſeinem Schlummer der Eisbär, dem ſoeben die Schlange das zottige Fell geſtreift hat. Die Schlange kümmert ſich nicht darum; während ihr Schweif über die nordiſche Sommerlandſchaft hinjagt, hebt ſie ihr Haupt hoch empor in die Luft, der Sonne entgegen. Es iſt kurz nach Mitternacht, eben hat der neunzehnte Auguſt begonnen. Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des Gebirges, das unter der Einwirkung des ſchon monatelang dauernden Tages ſich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen ſtürmt die Schlange. Wo aber iſt der Kopf des eilenden Ungetüms? Man ſieht ihn nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und durchſichtig über der Polarlandſchaft liegt. Doch welch ſeltſame Erſcheinung? Der Schlange ſtets voran ſchwebt, von der Sonne vergoldet, ein rundlicher Körper. Es iſt ein großer Ballon. Straff ſchwillt die feine Seide unter dem Druck des Waſſerſtoffgaſes, das ſie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden treibt ein ſtarker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem Norden zu. Die Schlange aber iſt das Schlepptau dieſes Luftballons, der in günſtiger Fahrt dem langerſehnten Ziel menſchlicher Wißbegier ſich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden nachſchleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher ſteigt, hemmt es ihn durch ſein Gewicht, das er mit aufheben muß; wenn er ſinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf der Erde ſich ausſtreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen Widerſtand und ermöglicht es damit den Luftſchiffern, durch Stellung eines Segels bis zu einem gewiſſen Grade von der Windrichtung abzuweichen. Aber das Segel iſt jetzt eingezogen. Der Wind weht ſo günſtig unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur wünſchen können. Lange hatten ſie an der Nordküſte von Spitzbergen auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte ſich der Polarſommer ſeinem Ende zu, und ſie fürchteten unverrichteter Sache umkehren zu müſſen, wie der kühne Schwede Andrée bei ſeinem erſten Verſuche. Da endlich, am 17. Auguſt, ſetzte der Südwind ein. Der gefüllte Ballon erhob ſich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten ſie tauſend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt. Der von Nanſen entdeckte nordiſche Ozean war überflogen und neues Land erreicht, das ſich ganz gegen Erwartung der Geographen hier vorfand. Schon entſchwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden ihren Blicken. Bald mußte es ſich entſcheiden, ob die beiden Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol ſelbſt erreicht hätten. Bei der Unſicherheit der Ortsbeſtimmung in dieſen Breiten waren Zweifel darüber entſtanden, die Ausſicht vom Ballon war durch Nebel getrübt geweſen, der Schlittenexpedition fehlte ein weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen Privatmanns, des Aſtronomen Friedrich Ell, eine deutſche Expedition ausgerüſtet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol unterſuchen ſollte. Natürlich hatte man ſich die Erfahrungen der früheren Expeditionen zunutze gemacht. Durch die internationale Vereinigung für Polarforſchung war eine eigene Abteilung für wiſſenſchaftliche Luftſchiffahrt ins Leben gerufen worden. Namentlich hatte man die Benutzung des Schleppſeils ausgebildet und damit für die Leitung des Ballons wenigſtens annähernd ein Mittel zur Lenkung gefunden, wie es das Segelſchiff im Widerſtand des Waſſers beſitzt. Man hatte Metallzylinder konſtruiert, in denen man bis auf 250 Atmoſphären Druck zuſammengepreßten Waſſerſtoff mit ſich führte, um bei Dauerfahrten einen eingetretenen Gasverluſt zu erſetzen. Man hatte dem Korb eine Form gegeben, die es geſtattete, ihn nach Bedarf gegen die äußere Luft abzuſchließen. Der neue Ballon ‚Pol‘ war mit allen dieſen fortgeſchrittenen Einrichtungen ausgerüſtet. Außerdem hing unterhalb des Korbes zur Rettung im äußerſten Notfall ein großer Fallſchirm. Unter einer Art Sattel, der einen ſicheren Sitz gewährte, war an demſelben für alle Fälle ein Proviantkorb befeſtigt. Der Direktor der Abteilung für wiſſenſchaftliche Luftſchiffahrt, Hugo Torm, hatte ſelbſt die Leitung der Expedition unternommen. Ihn begleiteten der Aſtronom Grunthe und der Naturforſcher Joſef Saltner. Saltner warf einen Blick auf Uhr und Barometer, drückte auf den Momentverſchluß des photographiſchen Apparats und notierte die Zeit und den Luftdruck. „Dieſe Gegend hätten wir glücklich in der Taſche“, murmelte er. Dann ſtreckte er die in hohen Filzſtiefeln ſteckenden Füße ſo weit aus, als es der beſchränkte Raum des Korbes zuließ, zwinkerte mit den luſtigen Augen und ſagte: „Meine Herren, ich bin ſchauderhaft müde. Könnte man nicht jetzt ein kleines Schläfchen machen? Was meinen Sie, Kapitän?“ „Tun Sie das“, antwortete Torm, „Sie ſind an der Reihe. Aber beeilen Sie ſich. Wenn wir dieſen Wind noch drei Stunden behalten —“ Er unterbrach ſich, um die nötigen Ableſungen zu machen. „Wecken Sie mich gefälligſt, ſobald wir — am Pol ſind —“ Saltner ſprach mit geſchloſſenen Augen, und beim letzten Wort war er ſchon ſanft entſchlummert. „Es iſt ein unheimliches Glück, das wir haben“, begann Torm. „Wir fliegen im wahren Sinn des Worts auf das Ziel zu. Ich habe für die letzten fünf Minuten wieder 3,9 Kilometer notiert. Könnten Sie eine genauere Beſtimmung verſuchen, wo wir ſind?“ „Es wird ſich machen laſſen“, antwortete Grunthe, indem er nach dem Sextanten griff. „Der Ballon geht ſehr ruhig, und wir haben die Ortszeit ziemlich ſicher. Wir hatten den tiefſten Sonnenſtand vor einer Stunde und 26 Minuten.“ Er nahm die Sonnenhöhe mit größter Sorgfalt. Dann rechnete er einige Zeit lang. In vollkommener Stille lag die Landſchaft, über welche die Luftſchiffer eilten. Ein weites Hochplateau, mit Moos und Flechten bedeckt, hier und da von Waſſerlachen durchſetzt, bildete den Fuß des Gebirges, dem ſich der Ballon ſchnell näherte. Man hörte nichts als das Ticken der Uhrwerke, von Zeit zu Zeit das regelmäßige Abſchnurren des Aſpirationsthermometers, dazwiſchen die behaglichen Atemzüge des ſchlummernden Saltner. Es war freilich eine angenehmere Polarfahrt, als mit halbverhungerten Hunden die langſamen Schlitten über die Eistrümmer zu ſchleppen. Grunthe ſah von ſeiner Rechnung auf. „Welche Breite haben Sie aus der Berechnung des zurückgelegten Weges?“ fragte er Torm. „Achtundachtzig Grad fünfzig — einundfünfzig Minuten“, erwiderte dieſer. „Wir ſind weiter.“ Grunthe machte eine Pauſe, indem er noch einmal kurz die Rechnung prüfte. Dann ſagte er bedachtſam, aber mit derſelben Gleichmäßigkeit der Stimme: „Neunundachtzig Grad 12 Minuten.“ „Nicht möglich!“ „Ganz ſicher“, erwiderte Grunthe ruhig und zog die Lippen ein, ſo daß ſein Mund unter dem dünnen Schnurrbart wie ein Gedankenſtrich erſchien. Das war das Zeichen, daß keine Gewalt mehr imſtande ſei, an Grunthes unerſchütterlichem Ausſpruch etwas zu ändern. „Dann haben wir keine 90 Kilometer mehr bis zum Pol“, rief Torm lebhaft. „Neunundachtzigeinhalb“, ſprach Grunthe. „Dann ſind wir in zwei Stunden dort.“ „In einer Stunde und 52 Minuten“, verbeſſerte Grunthe unerſchütterlich, „wenn nämlich der Wind mit derſelben Geſchwindigkeit anhält.“ „Ja — wenn“, ſo rief Torm lebhaft. „Nur noch zwei Stunden, Gott gebe es!“ „Sobald wir über jenen Bergrücken ſind, werden wir den Pol ſehen.“ „Sie haben recht, Doktor! Sehen werden wir den Pol — ob auch erreichen?“ „Warum nicht?“ fragte Grunthe. „Hinter den Bergen, der Himmel gefällt mir nicht — auf der Nordſeite liegt jetzt ſeit Stunden die Sonne, es iſt dort ein aufſteigender Luftſtrom vorhanden —“ „Wir müſſen abwarten.“ „Da — da — ſehen Sie — den herrlichen Abſturz des Gletſchers“, rief Torm. „Wir fliegen gerade auf ihn zu; müſſen wir nicht ſteigen?“ fragte Grunthe. „Gewiß, dort müſſen wir hinüber. Aufgepaßt! Schneiden Sie ab!“ Zwei Säcke Ballaſt klappten herab. Der Ballon ſchoß in die Höhe. „Wie die Entfernung täuſcht“, ſagte Torm. „Ich hätte die Wand für entfernter gehalten — es reicht noch nicht. Wir müſſen noch mehr opfern.“ Er ſchnitt noch einen Sack ab. „Wir dürfen nicht in die Schlucht geraten“, erklärte er, „kein Menſch weiß, in was für Wirbel wir da kommen. Aber was iſt das? Der Ballon ſteigt nicht? Es hilft nichts — noch mehr hinaus!“ Eine ſchwarze Felswand, welche den Gletſcher in zwei Teile ſpaltete, erhob ſich unmittelbar vor ihnen. Der Ballon ſchwebte in unheimlicher Nähe. Mit ängſtlicher Erwartung verfolgten die beiden Männer den Flug ihres Aëroſtaten. Der Südwind war jetzt, zu ihrem Glück, hier in der unmittelbaren Nähe der Berge ſchwächer, ſonſt wären ſie ſchon an die Felſen geſchleudert worden. Der Ballon befand ſich nunmehr im Schatten der Berge; das Gas kühlte ſich ab. Die Temperatur ſank ſchnell tief unter den Gefrierpunkt. Torm überlegte, ob er noch mehr Ballaſt auswerfen dürfe. Was er jetzt an Ballaſt verlor, das mußte er dann an Gas aufopfern, um den Ballon wieder zum Sinken zu bringen, und das Gas war ſein größter Schatz, das Mittel, das ihn wieder aus dem Bereich des furchtbaren Nordens bringen ſollte. Er wußte ja nicht, was ihn hinter den Bergen erwarte. Aber der Ballon ſtieg zu langſam. Da — eine ſeitliche Strömung bewegt ihn — die Strahlen der Sonne, welche über den Sattel des Gletſchers herüberlugt, treffen ihn wieder — das Gas dehnt ſich aus, der Ballon ſteigt — tiefer und tiefer ſinken die Eismaſſen unter ihm. — „Hurrah!“ rufen die beiden Luftſchiffer wie aus einem Munde. „Was gibt’s?“ fährt Saltner aus ſeinem Schlummer empor. „Sind wir da?“ „Wollen Sie den Nordpol ſehen?“ „Wo? Wo?“ Im Augenblick war Saltner in die Höhe gefahren. „Sakri, das iſt kalt“, rief er. „Wir ſind über 500 Meter geſtiegen“, antwortete Torm. Saltner hüllte ſich in ſeinen Pelz, was die andern ſchon vorher getan hatten. „Wir ſind jetzt faſt in gleicher Höhe mit dem Kamm des Gebirges. Sobald wir darüber hinwegsehen können, muß vor uns, etwa 50 Kilometer nach Norden, die Stelle liegen —“ „Wo die Erdachſe geſchmiert wird!“ rief Saltner. „Ich bin verteufelt neugierig. Na, den Champagner brauchen wir nicht erſt kalt zu ſtellen.“ Die drei Männer ſtanden, am Tauwerk ſich haltend, in der Gondel. Mit geſpannten Blicken ſchauten ſie jeden Augenblick, den ihnen die Bedienung des Ballons und die Beobachtung der Inſtrumente freiließ, durch ihre Feldſtecher nach Norden, der Sonne entgegen, die erſt wenig nach Oſten hin beiſeite getreten war. Allmählich verſanken die Berggipfel unter ihnen — noch ein breiterer Rücken hemmte ihnen die Ausſicht — der Ballon glitt jetzt wieder in der Höhe des Kammes dahin, das Schlepptau ſchleifte —, noch eine breite Mulde war zu überfliegen, dann mußte das erſehnte Ziel vor ihnen liegen. Der Ballon befand ſich etwa in der Mitte der Mulde, höchſtens 100 Meter über ihrem Boden, und die gegenüberliegende Talwand verdeckte noch die Ausſicht. Der Wind war etwas weniger lebhaft, aber immer noch ſüdlich, und der Ballon ſtieg an der flachen Erhebung des Eisfeldes hinan. Jetzt wurden einzelne weiße Bergkuppen in großer Entfernung hinter dem nahen Horizont der gegenüberliegenden Eiswand ſichtbar, die Luftſchiffer befanden ſich in gleicher Höhe mit dem letzten Hindernis, das ihren Blick beſchränkte. Die Gipfel mehrten ſich, ſie bildeten eine Bergkette. „Dieſe Berge liegen ſchon hinter dem Pol“, ſagte Grunthe, und diesmal bebte ſeine Stimme doch ein wenig vor Aufregung. Feſt preßte er ſeine Lippen zur geraden Linie zuſammen. Weiter ſtieg der Ballon — dunkel gefärbte Bergzüge erſchienen unter den Schneegipfeln, rötlich und bräunlich ſchimmernd — jetzt erreichte der Ballon die Höhe und ſchwebte über einem tiefen Abgrund — das Schleppſeil ſchnellte hinab, und der Ballon ſank ſofort einige hundert Meter tief — dann pendelte er noch einmal auf und ab — dieſe plötzliche Schwankung des Ballons hatte die Aufmerkſamkeit der Luftſchiffer voll in Anſpruch genommen — ſie ſahen unter ſich, tief unten ein wildes Gewirr von Klippen, Felstrümmern und Eisblöcken, hinter ſich die ſteil abgebrochene Wand, an welcher der verzerrte Schatten des Ballons auf- und niederſchwankte — die Inſtrumente mußten beobachtet werden, und erſt jetzt konnten ſie den Blick nach vorwärts lenken, vorwärts und nordwärts — oder war es vielleicht ſchon ſüdwärts? Saltner war der erſte, der nach vorn blickte. Aber er ſprach nichts, in einem langgedehnten Pfiff blies er den Atem aus ſeinen geſpitzten Lippen. „Das Meer!“ rief Torm. „Grüß Gott!“ ſagte jetzt Saltner. „Da hat halt der alte Petermann doch recht behalten, aber bloß ein biſſel. Ein offenes Polarmeer iſt es ſchon, man muß ſich nur nicht zuviel drauf einbilden.“ „Ein Binnenmeer, ein Baſſin, immerhin, gegen tauſend Quadratkilometer ſchätze ich“, ſagte Grunthe. „Etwa ſo groß wie der Bodenſee. Aber wer kann wiſſen, was ſich dort hinten noch an Fjords und Kanälen abzweigt. Und auch das Baſſin ſelbſt iſt durch verſchiedene Inſeln in Arme geteilt.“ „Wer da unten zu Fuß oder zu Schiff ankommt, muß Mühe haben zu entſcheiden, ob das Meer im Land liegt oder das Land im Meer“, ſagte Saltner. „Gut, daß wir’s bequemer haben.“ „Gewiß“, meinte Torm, „es iſt möglich, daß wir ein Stück des offenen Meeres vor uns haben, obwohl es von hier den Anſchein hat, als ſchlöſſen die Berge das Waſſer von allen Seiten ein. Wir werden ja ſehen. Aber vor allen Dingen, was ſollen wir tun? Wir haben wider Erwarten ſo hoch ſteigen müſſen, daß wir jetzt ſehr viel Gas verlieren würden, wenn wir hinabwollten, und andrerſeits werden wir wieder drüben über die Berge hinaufmüſſen. Es iſt eine ſchwierige Frage. Aber wir haben noch Zeit, darüber nachzudenken, denn der Ballon bewegt ſich jetzt nur langſam.“ „Und dieſe Gelegenheit wollen wir benutzen, um dem Nordpol unſern wohlverdienten Gruß zu bringen“, rief Saltner. Mit dieſen Worten zog er ein Futteral hervor, aus welchem drei Flaſchen Champagner ihre ſilbernen Hälſe einladend hervorſtreckten. „Davon weiß ich ja gar nichts“, ſagte Torm fragend. „Das iſt eine Stiftung von Frau Isma. Sehen Sie, es ſteht darauf: ‚Am Pol zu öffnen. Gewicht vier Kilogramm.‘“ Torm lachte. „Dachte ich mir doch“, ſagte er, „daß meine Frau irgend etwas einſchmuggeln würde, was das Expeditionsreglement durchbricht.“ „Es iſt doch aber auch ein herrlicher Gedanke von Ihrer Frau, ſich am Nordpol in Champagner hochleben zu laſſen“, erwiderte Saltner. „Erſtens für ſich ſelbſt, denn das iſt etwas, was noch nicht dageweſen iſt; das müſſen Sie zugeben, Damen ſind hier noch niemals leben gelaſſen worden. Und zweitens für uns, das müſſen Sie auch zugeben; es iſt ſehr wonnig, in dieſer Kälte den Schaumwein zu trinken auf das Wohl unſerer Kommandeuſe. Und drittens, iſt es nicht einfach bejauchzbar, das tragiſche Antlitz unſeres Aſtronomen zu ſehen? Denn Champagner trinkt er prinzipiell nicht, und auf weibliche Weſen ſtößt er prinzipiell nicht an; da er aber auf dem Nordpol prinzipiell in ein Hoch einſtimmen muß und will, ſo findet er ſich in einem Widerſtreit der Prinzipien, aus dem herauszukommen ihm verteufelt ſchwerfallen wird.“ „Darauf könnte ich ſehr viel erwidern“, ſagte Grunthe. „Zum Beiſpiel, daß wir noch gar nicht wiſſen, wo der Nordpol eigentlich liegt.“ „Schon wahr“, unterbrach ihn Torm, „aber eben darum müſſen wir den Moment feiern, in welchem wir ſicher ſind, ihn zum erſtenmal in unſerm Geſichtsfeld zu haben. Das werden Sie zugeben?“ „Hm, ja“, ſagte Grunthe, und ein leichtes Schmunzeln glitt über ſeine Züge. „Ich nehme an, wir wären am Pol. So kann ich mit Ihnen anſtoßen, oder auch nicht, ganz wie ich will, ohne mit irgendwelchen Prinzipien in Widerſpruch zu geraten.“ „Wieſo?“ fragte Saltner. „Der Pol iſt ein Unſtetigkeitspunkt. Prinzipien ſind Grundſätze, die unter der Vorausſetzung gelten, daß die Bedingungen beſtehen, für welche ſie aufgeſtellt ſind, vor allem die Stetigkeit der Raum- und Zeitbeſtimmungen. Am Pol ſind alle Bedingungen aufgehoben. Hier gibt es keine Himmelsrichtungen mehr, jede Richtung kann als Nord, Süd, Oſt oder Weſt bezeichnet werden. Hier gibt es auch keine Tageszeit; alle Zeiten, Nacht, Morgen, Mittag und Abend, ſind gleichzeitig vorhanden. Hier gelten alſo auch alle Grundſätze zuſammen oder gar keine. Es iſt der vollſtändige Indifferenzpunkt aller Beſtimmungen erreicht, das Ideal der Parteiloſigkeit.“ „Bravo“, rief Saltner, der inzwiſchen die Trinkbecher von Aluminium mit dem perlenden Wein gefüllt hatte. „Es lebe Frau Isma Torm, unſere gnädige Spenderin!“ Saltner und Torm erhoben ihre Becher. Grunthe kniff die Lippen zuſammen und hielt, geradeaus ſtarrend, ſein Trinkgefäß unbeweglich vor ſich hin, indem er es paſſiv geſchehen ließ, daß die andern mit ihren Bechern daran ſtießen. Nun rief Torm: „Es lebe der Nordpol!“ Da ſtieß auch Grunthe ſeinen Becher lebhaft mit den andern zuſammen und ſetzte hinzu: „Es lebe die Menſchheit!“ Sie tranken und Saltner rief: „Grunthes Toaſt iſt ſo allgemein, daß ein Becher nicht reichen kann.“ Und er ſchenkte noch einmal ein. Inzwiſchen war der Ballon langſam dem Binnenmeer entgegengetrieben, das ſich nun immer deutlicher den ſtaunenden Blicken der Reiſenden enthüllte. Vom Fuß der ſteil abfallenden Felſenwand des Gebirges ab ſenkte ſich das Gelände allmählich, wohl noch eine Strecke von einigen zwanzig Kilometern weit, nach dem Ufer hin. Aber die Landſchaft zeigte jetzt ein vollſtändig anderes Gepräge. Die wilde Gletſchernatur war verſchwunden, grüne Matten zogen ſich, nur noch mit einzelnen Geſteinstrümmern hier und da bedeckt, in ſanfter Senkung dem Waſſer zu. Man glaubte in ein herrliches Alpental zu ſchauen, in deſſen Mitte ein blauer Bergsee ſich ausbreitete. An dem jenſeitigen, entfernten Ufer, das freilich in undeutlichem Dämmer verſchwamm, ſchien dagegen wieder ein Steilabfall von Fels und Eis zu herrſchen, doch zog ſich über den Bergen dort eine Wolkenwand empor. Das Auffallendſte in der ganzen Szenerie aber bot der Anblick einer der Inſeln, die zahlreich und in unregelmäßiger Geſtaltung in dem Baſſin lagen, bis an deſſen Ufer der Ballon jetzt herangeſchwebt war. Sie war kleiner als die Mehrzahl der übrigen Inſeln. Aber ihre Formen waren ſo vollkommen regelmäßig, daß es zweifelhaft ſchien, ob man eine Geſtaltung der Natur vor ſich habe. Die mit Flechten bekleideten Felstrümmer, welche die andern Inſeln bedeckten, fehlten hier vollſtändig. Die Forſcher mochten ſich etwa noch zwölf Kilometer von der rätſelhaften Inſel entfernt befinden, die ſie mit ihren Ferngläſern muſterten, als Torm ſich an Grunthe wandte. „Sagen Sie uns, bitte, Ihre Meinung. Können wir eigentlich beſtimmen, wo wir uns befinden? Ich muß geſtehen, daß ich beim Überſchreiten des Gebirges und dem raſchen Höhenwechſel nicht mehr imſtande war, die einzelnen Landmarken zu verfolgen.“ „Ich habe“, erwiderte Grunthe, „einige Peilungen gemacht, aber zu einer ſicheren Beſtimmung reichen ſie nicht mehr aus. Auch die Methode aus der Meſſung der Sonnenhöhe iſt jetzt nicht anwendbar, da wir nicht mehr imſtande ſind, die Tageszeit auch nur mit einiger Sicherheit anzugeben. Wir haben die Himmelsrichtung vollſtändig verloren. Der Kompaß iſt ja hier im Norden ſehr unzuverläſſig. Auf alle Fälle ſind wir ganz nahe am Pol, wo alle Meridiane ſo nah zuſammenlaufen, daß eine Abweichung von einem Kilometer nach rechts oder links einen Zeitunterſchied von einer Stunde oder mehr ausmacht. Wenn unſer Ballon aus der Nord-Süd-Richtung vielleicht ſeit der Überſchreitung des Gebirges um fünf oder ſechs Kilometer abgewichen iſt, was ſehr leicht ſein kann, ſo haben wir jetzt nicht, wie wir vermuten, drei Uhr morgens am 19. Auguſt, ſondern vielleicht ſchon Mittag, oder, wenn wir nach Weſten abgewichen ſind, ſo ſind wir ſogar in den geſtrigen Tag zurückgeraten und haben vielleicht erſt den 18. Auguſt abends.“ „Das wäre der Teufel“, rief Saltner. „Das kommt von dieſem ewigen Sonnenſchein am Pol! Nun kann ich an meinem Abreißkalender das Blatt von geſtern wieder ankleben.“ „Schon möglich!“ lächelte Grunthe. „Nehmen Sie an, Sie machen einen Spaziergang um den Nordpol in der Entfernung von hundert Metern vom Pol, ſo ſind Sie in fünf Minuten bequem um den Pol herumgegangen und haben ſämtliche 360 Meridiane überſchritten; Sie haben alſo in fünf Minuten alle Tageszeiten abgelaufen. Gehen Sie nach Weſten herum, und wollen Sie die richtige Zeit jedes Meridians haben, ſo müßten Sie auf jedem Meridian Ihre Uhr um 4 Minuten zurückſtellen, ſo daß Sie nach beſagten fünf Minuten um einen vollen Tag zurück ſind, und wenn Sie in dieſer Art eine Stunde lang um den Pol herumgegangen ſind, ſo muß Ihre Uhr, wenn ſie einen Datumzeiger beſitzt, den 7. Auguſt anzeigen.“ „Da muß ich mir halt einen Anklebekalender anſchaffen“, meinte Saltner. „Ja, aber wenn Sie nach Oſten herumgehen, kommen Sie um ebenſoviel in der Zeit voran, Sie hätten dann nach zwölfmaligem Spaziergang um den Pol den 31. Auguſt erreicht, wenn Sie bei jedem Umgehen des Pols ein Blatt in ihrem Kalender abriſſen. In beiden Fällen würden ſie ſich indeſſen tatſächlich noch am 19. Auguſt befinden. Sie müßten alſo, wie die Seefahrer beim Überſchreiten des 180. Meridians, ihren Datumzeiger entſprechend regulieren.“ „Und wenn wir nun gerade über den Pol wegfliegen?“ „Dann ſpringen wir in einem Moment um zwölf Stunden in der Zeit. Der Pol iſt eben ein Unſtetigkeitſpunkt.“ „Sackerment, da weiß man ja gar nicht, wo man iſt.“ „Ja“, ſagte Torm, „das iſt eben das Fatale. Wir haben uns von Anfang an darauf verlaſſen müſſen, daß wir unſere Lage aus dem zurückgelegten Wege beſtimmen. Läßt ſich denn gar nichts tun?“ „Nur wenn wir landen und unſere Inſtrumente ſo feſt aufſtellen, daß wir einige Sterne anviſieren können.“ „Daran können wir auf keinen Fall eher denken, bis wir den See überflogen haben und das jenſeitige Gebirge überſchauen. Hier zwiſchen den Inſeln dürfen wir uns nicht hinabwagen. Wir ſind alſo wirklich nicht beſſer daran als unſere Vorgänger, und der wahre Pol bleibt wieder unbeſtimmt.“ „Zu verflixt“, brummte Saltner, „da ſind wir vielleicht gerade am Nordpol und wiſſen es nicht.“ 2. Das Geheimnis des Pols Langſam zog der Ballon weiter, doch bewegte er ſich nicht direkt auf die auffallende kleine Inſel zu, ſondern ſie blieb rechts von ſeiner Fahrtrichtung liegen. Während Grunthe die Landmarken aufnahm und Torm die Inſtrumente ablas, ſuchte Saltner, dem die photographiſche Feſthaltung des Terrains oblag, die Gegend mit ſeinem vorzüglichen Abbéſchen Relieffernrohr ab. Dasſelbe gab eine ſechzehnfache Vergrößerung und ließ, da es die Augendiſtanz verzehnfachte, die Gegenſtände in ſtereoskopiſcher Körperlichkeit erſcheinen. Sie hatten ſich jetzt der Inſel ſoweit genähert, daß es möglich geweſen wäre, Menſchen, falls ſich ſolche dort hätten befinden können, mit Hilfe des Fernrohrs wahrzunehmen. Saltner ſchüttelte den Kopf, ſah wieder durch das Fernrohr, ſetzte es ab und ſchüttelte wieder den Kopf. „Meine Herren“, ſagte er jetzt, „entweder iſt mir der Champagner in den Kopf geſtiegen —“ „Die zwei Glas, Ihnen?“ fragte Torm lächelnd. „Ich glaub es auch nicht, alſo — oder —“ „Oder? Was ſehen Sie denn?“ „Es ſind ſchon andere vor uns hier geweſen.“ „Unmöglich!“ riefen Torm und Grunthe wie aus einem Munde. „Die bisherigen Berichte wiſſen nichts von einer derartigen Inſel — unſere Vorgänger ſind offenbar gar nicht über das Gebirge gekommen“, fügte Torm hinzu. „Sehen Sie ſelbſt“, ſagte Saltner und gab das Fernrohr an Torm. Er ſelbſt und Grunthe benutzten ihre kleineren Feldſtecher. Torm blickte geſpannt nach der Inſel, dann wollte er etwas ſagen, zuckte aber nur mit den Lippen und blieb völlig ſtumm. Saltner begann wieder: „Die Inſel iſt genau kreisförmig — das haben wir ſchon bemerkt. Aber jetzt ſehen Sie, daß gerade im Zentrum ſich wieder ein dunkler Kreis von — ſagen wir — vielleicht hundert Metern Durchmeſſer befindet.“ „Allerdings“, ſagte Grunthe, „aber es iſt nicht nur ein Kreis, ſondern eine zylindriſche Öffnung, wie man jetzt deutlich ſehen kann. Und um den Rand derſelben führt eine Art Brüſtung.“ „Und nun ſuchen Sie einmal den Rand der Inſel ab. Was ſehen Sie?“ „Mein Glas iſt zu ſchwach, um Einzelheiten zu erkennen.“ „Ich habe geſehen, was Sie wahrſcheinlich meinen“, ſagte Torm. „Aber was iſt das“, unterbrach er ſich, „der Ballon ändert ſeine Richtung?“ Er gab das Glas an Grunthe und wandte ſeine Aufmerkſamkeit dem Ballon zu. Dieſer wich nach rechts von ſeinem bisherigen Kurſe ab. Er bewegte ſich parallel mit dem Ufer der Inſel, dieſe in ſich gleichbleibender Entfernung umkreiſend. „Wir wollen uns überzeugen, daß wir dasſelbe meinen“, ſagte Grunthe. „Rings um die Inſel zieht ſich ein Kreis von pfeiler- oder ſäulenartigen Erhöhungen in gleichen Abſtänden.“ „Es ſtimmt“, ſagten die andern. „Ich habe ſie gezählt“, bemerkte Torm, „es ſind zwölf große, dazwiſchen je elf kleinere, im ganzen hundertvierundvierzig.“ „Und der ſeltſame Reflex über der ganzen Inſel?“ „Wiſſen Sie, es ſieht aus, als wäre die ganze Inſel mit einem Netz von ſpiegelnden metalliſchen Drähten oder Schienen überzogen, die wie die Speichen eines Rades vom Zentrum nach der Peripherie laufen.“ „Ja“, ſagte Torm, indem er ſich einen Augenblick erſchöpft niederſetzte, „und Sie werden gleich noch mehr ſehen, wenn Sie länger hinſchauen. Ich will es Ihnen ſagen.“ Seine Stimme klang rauh und heiſer. „Was Sie dort ſehen, iſt der Nordpol der Erde — aber, wir haben ihn nicht entdeckt.“ „Das fehlte gerade“, fuhr Saltner auf. „Dafür ſollten wir uns in dieſen pendelnden Frierkaſten geſetzt haben? Nein, Kapitän, entdeckt haben wir ihn, und was wir da ſehen, iſt kein Menſchenwerk. So verrückt wäre doch kein Menſch, hier Drähte zu ſpannen! Eher will ich glauben, daß die Erdachſe in ein großes Velozipedrad ausläuft, und daß wir wahrhaftig berufen ſind, ſie zu ſchmieren! Nur nicht den Mut verlieren!“ „Wenn es nicht Menſchen ſind“, ſagte Torm tonlos, „und ich weiß auch nicht, wie Menſchen dergleichen machen ſollten, und warum, und wo ſie herkämen — das hätte man doch erfahren — ſo — eine Täuſchung iſt es doch nicht — ſo ſteht mir der Verſtand ſtill.“ „Na“, ſagte Saltner, „Eisbären werden’s nicht gemacht haben, obgleich ich mich jetzt über nichts mehr wundern würde, und wenn gleich ein geflügelter Seehund käme und ‚Station Nordpol‘ ausriefe. Aber es könnte doch vielleicht eine Naturerſcheinung ſein, ein merkwürdiger Kriſtalliſationsprozeß — — Sakri! Jetzt hab ich’s. Das iſt ein Geiſir! Ein rieſiger Geiſir!“ „Nein, Saltner“, erwiderte Torm, „das habe ich auch ſchon gedacht — ein Schlammvulkan könnte etwa eine ähnliche Bildung zeigen. Aber — Sie haben wohl das Eigentliche, die Hauptſache, das — Unerklärliche noch nicht geſehen —“ „Was meinen Sie?“ „Ich hab’ es geſehen“, ſagte jetzt Grunthe. Er ſetzte das Fernrohr ab. Dann lehnte er ſich zurück und runzelte die Stirn. Auch um die feſt zuſammengezogenen Lippen bildeten ſich Falten, daß ſein Mund ausſah wie ein in Klammern geſetztes Minuszeichen. Er verſank in tiefes, ſorgenvolles Nachdenken. Saltner ergriff das Glas. „Achten Sie auf die Färbungen am Boden der ganzen Inſel!“ ſagte Torm zu ihm. „Es ſind Figuren!“ rief Saltner. „Ja“, ſagte Torm. „Und dieſe Figuren ſtellen nichts anderes dar als ein genaues Kartenbild eines großen Teils der nördlichen Halbkugel der Erde in perſpektiviſcher Polarprojektion. Sie ſehen deutlich den Verlauf der grönländiſchen Küſte, Nordamerika, die Beringſtraße, Sibirien, ganz Europa — mit ſeinen unverkennbaren Inſeln und Halbinſeln, das Mittelmeer bis zum Nordrand von Afrika, wenn auch ſtark verkürzt.“ „Es iſt kein Zweifel“, ſagte Saltner. „Die ganze Umgebung des Pols iſt in einem deutlichen Kartenbild in koloſſalem Maßſtab hier abgezeichnet, und zwar bis gegen den 30. Breitengrad.“ „Und wie iſt das möglich?“ Die Frage fand keine Antwort. Alle ſchwiegen. Inzwiſchen hatte der Ballon eine faſt vollſtändige Umkreiſung der Inſel vollzogen. Aber er hatte ſich derſelben auch noch um ein Stück genähert. Es war klar, daß er durch eine unbekannte Kraft, wohl durch eine wirbelförmige Bewegung der Luft, um die Inſel herumgeführt und zugleich nach der Achſe des Wirbels, die von der Mitte der Inſel ausgehen mochte, zu ihr hingezogen wurde. Torm unterbrach das Schweigen. „Wir müſſen einen Entſchluß faſſen“, ſagte er. „Wollen die Herren ſich äußern.“ „Ich will zunächſt einmal“, begann Saltner, „dieſe merkwürdige Erdkarte photographieren. Sie ſcheint ziemlich richtig ſelbſt in Details zu ſein. Daß ſie nicht von Menſchenhand herrühren kann, ſehen wir daraus daß auch die noch unbekannten Gegenden des Polargebietes dargeſtellt ſind. Die innere Öffnung, bei welcher die Karte abbricht, entſpricht in ihrem Umfange etwa dem 86. Breitengrade; es fehlen alſo — für uns leider — die nächſten vier Grade um den Pol herum.“ „Selbſtverſtändlich“, ſagte Torm, „müſſen Sie die Karte photographieren. Wir dürfen nicht mehr zweifeln, ein Werk intelligenter Weſen vor uns zu haben, wenn ich mir auch nicht erklären kann, wer dieſe ſein mögen. Aber wenn das richtig iſt, was wir kontrollieren können, ſo müſſen wir ſchließen, daß auch die Teile des Polargebietes nach den Nordküſten von Amerika und Sibirien hin zuverläſſig dargeſtellt ſind. Und dann hätten wir mit einem Schlage eine vollſtändige Karte dieſes bisher unerforſchten Polargebietes.“ „Nun, ich denke, wir können mit dieſem Erfolg ſchon zufrieden ſein. Und bedenken Sie, wie nützlich die Karte für unſere Rückkehr werden kann. So —“, damit brachte Saltner die photographiſche Kammer wieder an ihren Platz, „ich habe drei ſichere Aufnahmen. Aber der Ballon bewegt ſich ja ſchneller?“ „Ich glaube auch“, ſagte Torm. „Ich bitte nun um die Meinung der Herren, ſollen wir eine Landung auf der Inſel wagen, um dieſes Geheimnis zu erforſchen?“ „Ich meine“, äußerte ſich Saltner, „wir müſſen es verſuchen. Wir müſſen zuſehen, mit wem wir es hier zu tun haben.“ „Gewiß“, ſagte Torm, „die Aufgabe iſt verlockend. Aber es iſt zu befürchten, daß wir zuviel Gas verlieren, daß wir vielleicht die Möglichkeit aufgeben, den Ballon weiter zu benutzen. Was meinen Sie, Dr. Grunthe?“ Grunthe richtete ſich aus ſeinem Nachſinnen auf. Er ſprach ſehr ernſt: „Unter keinen Umſtänden dürfen wir landen. Ich bin ſogar der Anſicht, daß wir alle Anſtrengungen machen müſſen, um uns ſo ſchnell wie möglich von dieſem gefährlichen Punkt zu entfernen.“ „Worin ſehen Sie die Gefahr?“ „Nachdem wir die eigentümliche Ausrüſtung des Pols und die Abbildung der Erdoberfläche geſehen haben, iſt doch kein Zweifel, daß wir einer gänzlich unbekannten Macht gegenüberſtehen. Wir müſſen annehmen, daß wir es mit Weſen zu tun bekommen, deren Fähigkeiten und Kräften wir nicht gewachſen ſind. Wer dieſen Rieſenapparat hier in der unzugänglichen Eiswüſte des Polargebiets aufſtellen konnte, der würde ohne Zweifel über uns nach Gutdünken verfügen können.“ „Nun, nun“, ſagte Torm, „wir wollen uns darum nicht fürchten.“ „Das nicht“, erwiderte Grunthe, „aber wir dürfen den Erfolg unſerer Expedition nicht aufs Spiel ſetzen. Vielleicht liegt es im Intereſſe dieſer Polbewohner, den Kulturländern keine Nachricht von ihrer Exiſtenz zukommen zu laſſen. Wir würden dann ohne Zweifel unſere Freiheit verlieren. Ich meine, wir müſſen alles daranſetzen, das, was wir beobachtet haben, der Wiſſenſchaft zu übermitteln und es dann ſpäteren Erwägungen überlaſſen, ob es geraten ſcheint und mit welchen Mitteln es möglich ſei, das unerwartete Geheimnis des Pols aufzulöſen. Wir dürfen uns nicht als Eroberer betrachten, ſondern nur als Kundſchafter.“ Die andern ſchwiegen nachdenklich. Dann ſagte Torm: „Ich muß Ihnen recht geben. Unſere Inſtruktion lautet allerdings dahin, eine Landung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir ſollen mit möglichſtes Eile in bewohnte Gegenden zu gelangen ſuchen, nachdem wir uns dem Pol ſoweit wie angänglich genähert und ſeine Lage feſtgeſtellt haben, und wir ſollen verſuchen, einen Überblick über die Verteilung von Land und Waſſer vom Ballon aus zu gewinnen. Dieſer Geſichtspunkt muß entſcheidend ſein. Wir wollen alſo verſuchen, von hier fortzukommen.“ „Aber nach welcher Richtung?“ fragte Saltner. „Darüber könnte uns die Polarkarte der Inſel Auskunft geben.“ „Ich fürchte“, entgegnete Torm, „von unſerm guten Willen wird dabei ſehr wenig abhängen. Wir müſſen abwarten, was der Wind über uns beſchließen wird. Zunächſt laſſen Sie uns verſuchen, dieſem Wirbel zu entfliehen.“ Inzwiſchen hatte ſich der Ballon noch mehr der Inſel genähert, und ſeine Geſchwindigkeit begann zu wachſen. Zugleich aber erhob er ſich weiter über den Erdboden. Die Luftſchiffer ſpannten nun das Segel auf und gaben ihm eine ſolche Stellung, daß der Widerſtand der Luft ſie nach der Peripherie des Wirbels treiben mußte. Da aber der Ballon viel zu hoch ſchwebte, als daß das Schleppſeil ſeine hemmende Wirkung hätte ausüben können, ſo mußte das Manöver zuerſt verſagen. In immer engeren Spirallinien aufſteigend näherte ſich der Ballon dem Zentrum des Wirbels und vermehrte ſeine Geſchwindigkeit. In großer Beſorgnis verfolgten die Luftſchiffer den Vorgang. Sie beeilten ſich, die Länge des Schlepptaus zu vergrößern. Ihre vorzügliche Ausrüſtung geſtattete ihnen, ein Schlepptau von tauſend Metern Länge zu verwenden, an welches noch ein hundertundfünfzig Meter langer Schleppgurt mit Schwimmern kam. Aber auch dieſe ſtattliche Ausdehnung des Seiles reichte nicht bis auf die Oberfläche des Waſſers. „Es bleibt nichts übrig“, rief Torm endlich, „wir müſſen weiter niederſteigen.“ Er öffnete das Manöverventil. Das Gas ſtrömte aus. Der Ballon begann zu ſinken. „Wir wollen aber“, ſagte Torm, „da wir nicht wiſſen, wie wir hier davonkommen, doch verſuchen, eine Nachricht nach Hauſe zu geben. Laſſen Sie uns einige unſerer Brieftauben abſenden. Jetzt iſt der geeignete Moment. Was wir geſehen haben, muß man in Europa erfahren.“ Eilends ſchrieb er die nötigen Notizen auf den ſchmalen Streifen Papier, den er zuſammenrollte und in der Federpoſe verſiegelte, welche den Brieftauben angeheftet wurde. Saltner gab den Tierchen die Freiheit. Sie umkreiſten wiederholt den Ballon und entfernten ſich dann in einer Richtung, die von der Inſel fortführte. Torm ſchloß das Ventil wieder. Sie mußten jetzt jeden Augenblick erwarten, daß das Ende des Schlepptaus die Oberfläche des Waſſers berühre. Der Ballon näherte ſich ſeiner Gleichgewichtslage. Grunthe blickte durch das Relieffernrohr direkt nach unten, da es durch dieſes Inſtrument möglich war, den breiten Sackanker am Ende des Schleppgurts zu ſehen und den Abſtand desſelben vom Boden zu ſchätzen. Plötzlich griff er mit größter Haſt zur Seite, erfaßte den nächſten Gegenſtand, der ihm zur Hand war — es war das Futteral mit den beiden noch gefüllten Champagnerflaſchen — und ſchleuderte es in großem Bogen zum Korbe hinaus. „Sakri, was fällt ihnen ein“, rief Saltner entrüſtet, „werfen da unſern ſaubern Wein ins Waſſer.“ „Entſchuldigen Sie“, ſagte Grunthe, indem er ſich aus ſeiner gebückten Stellung aufrichtete, da er an der Bewegung der Wimpel bemerkte, daß der Ballon wieder im Steigen begriffen war. „Entſchuldigen Sie, aber das Fernrohr konnte ich doch nicht hinauswerfen, und es war keine halbe Sekunde zu verlieren — wir wären wahrſcheinlich verloren geweſen.“ „Was gab es denn?“ fragte Torm beſorgt. „Wir ſind nicht mehr über dem Waſſer, ſondern bereits am Rande der Inſel. Das Ende des Seils war wohl kaum weiter als zehn Meter von der Oberfläche der Inſel entfernt. Wir hätten ſie berührt, wenn nicht das Sinken des Ballons momentan aufgehört hätte. Glücklicherweiſe genügten die Flaſchen, unſern Fall aufzuhalten.“ „Und glauben Sie denn, daß wir die Inſel nicht berühren dürfen?“ „Ich glaube es nicht, ich weiß es.“ „Wieſo?“ „Wir wären hinabgezogen worden.“ „Ich kann noch nicht einſehen, woraus Sie das ſchließen.“ „Sie haben mir doch beigeſtimmt“, ſagte Grunthe, „daß wir es nicht darauf ankommen laſſen dürfen, in die Macht der unbekannten Weſen — ſie mögen nun ſein, wer ſie wollen — zu geraten, welche dieſen unerklärlichen Apparat und dieſe Koloſſalkarte am Nordpol hergeſtellt haben. Es iſt aber wohl keine Frage, daß dieſer Apparat, an den wir mehr und mehr herangezogen werden, nicht ſich ſelbſt überlaſſen hier ſtehen wird. Sicherlich iſt die Inſel bewohnt, es befinden ſich die geheimnisvollen Erbauer wahrſcheinlich in oder unter jenen Dächern und Pfeilern, die wir mit unſern Fernrohren nicht durchdringen können. Es iſt anzunehmen, daß ſie unſern Ballon längſt bemerkt haben, und ſo ſchließe ich denn, daß ſie denſelben ſofort zu ſich hinabziehen würden, ſobald unſer Schleppſeil in das Bereich ihrer Arme gelangt.“ „Gott ſei Dank“, rief Saltner, „daß Sie den dunkeln Polgäſten wenigſtens Arme zuſprechen; es iſt doch ſchon ein menſchlicher Gedanke, daß man ihnen zur Not in die Arme fallen kann.“ Torm unterbrach ihn. „Ich kann mich immer noch nicht recht dazu verſtehen“, ſagte er, „an eine ſolche überlegene Macht zu glauben. Das widerſpräche ja doch allem, was bisher in der Geſchichte der Polarforſchung, ja der Entdeckungsreiſen überhaupt vorgekommen iſt. Freilich die Karte —, aber was denken Sie überhaupt über dieſe Inſel? Sie ſprachen von einem Apparat, ſo ein Apparat müßte doch einen Zweck haben—“ „Den wird er ohne Zweifel haben, wir ſind nur nicht in der Lage, ihn zu kennen oder zu begreifen. Denken Sie, daß Sie einen Eskimo vor die Dynamomaſchine eines Elektrizitätswerks ſtellen; daß das Ding einen Zweck hat, wird er ſich ſagen, aber was für einen, das wird er nie erraten. Wie ſoll er begreifen, daß die Drähte, die von hier ausgehen, ungeheure Energiemengen auf weite Strecken verteilen, daß ſie dort Tageshelle erzeugen, dort ſchwere Wagen mit Hunderten von Menſchen mit Leichtigkeit hingleiten laſſen? Wenn der Eskimo ſich über die Dynamomaſchine äußert, ſo wird es jedenfalls eine ſo kindiſche Anſicht ſein, daß wir ſie belächeln. Und um nicht dieſem unbekannten Apparat gegenüber die Rolle des Eskimo zu ſpielen, will ich mich lieber gar nicht äußern.“ Torm ſchwieg nachdenklich. Dann ſagte er: „Was mich am meiſten beunruhigt, iſt dieſe unerklärliche Anziehungskraft, die die Achſe der Inſel auf unſern Ballon ausübt. Und ſehen Sie, ſeitdem wir kein Gas mehr ausſtrömen laſſen, beginnt der Ballon wieder rapid zu ſteigen. Dabei wird er fortwährend um das Zentrum der Inſel herumgetrieben.“ „Und wer ſagt Ihnen, was geſchieht, wenn wir in die Achſe ſelbſt geraten? Ich halte unſere Situation für geradezu verzweifelt, aus dem Wirbel können wir nur heraus, wenn wir uns ſinken laſſen. Dann aber geraten wir in die Macht der unbekannten Inſulaner.“ „Und dennoch“, ſagte Torm, „werden wir uns entſchließen müſſen.“ Alle drei ſchwiegen. Mit düſteren Blicken beobachteten Torm und Grunthe die Bewegungen des Ballons, während Saltner die Inſel mit dem Fernrohr unterſuchte. Mehr und mehr verſchwanden die Details, die vorher deutlich ſichtbar waren, ein Zeichen, daß der Ballon mit großer Geſchwindigkeit ſtieg, auch wenn die Inſtrumente, ja ſelbſt die zunehmende Kälte, dies nicht angezeigt hätten. Da — was war das? — auf der Inſel zeigte ſich eine Bewegung, ein eigentümliches Leuchten. Saltner rief die Gefährten an. Sie blickten hinab, konnten aber mit ihren ſchwächeren Inſtrumenten nur bemerken, daß ſich helle Punkte vom Zentrum nach der Peripherie hin bewegten. Saltner ſchien es durch ſein ſtarkes Glas, als wenn eine Reihe von Geſtalten mit weißen Tüchern winkende Bewegungen ausführte, die alle vom Innern der Inſel nach außen hin wieſen. „Man gibt uns Zeichen“, ſagte er. „Sehen Sie hier durch das ſtarke Glas!“ „Das kann nichts anderes bedeuten“, rief Torm, „als daß wir uns von der Achſe entfernen ſollen. Aber ſo klug ſind wir ſelbſt — wir wiſſen nur nicht wie.“ „Wir müſſen das Entleerungs-Ventil öffnen“, ſagte Saltner. „Dann ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade“, rief Grunthe. „Und doch wird uns nichts übrig bleiben“, bemerkte Torm. „Und was ſchadet es?“ fragte Saltner. „Vielleicht wollen jene Weſen nur unſer Beſtes. Würden ſie uns ſonſt warnen?“ „Wie dem auch ſei — wir dürfen nicht höher ſteigen“, ſagte Torm. „Wir werden ja geradezu in die Höhe geriſſen.“ Schon hatten ſich alle dicht in ihre Pelze gewickelt. „Warten wir noch“, ſagte Grunthe, „wir ſind immer noch gegen hundert Meter von der Achſe der Inſel entfernt. Die Trübung hat ſich genähert, wir kommen in eine Wolkenſchicht. Vielleicht gelangt doch der Ballon endlich ins Gleichgewicht.“ „Unmöglich“, entgegnete Torm. „Wir haben bereits gegen 4.000 Meter erreicht. Der Ballon war im Gleichgewicht, als das Gewicht des Futterals mit den Champagnerflaſchen ſeine Bewegung zu ändern vermochte. Wenn er jetzt mit ſolcher Geſchwindigkeit ſteigt, ſo iſt das ein Zeichen, daß uns eine äußere Kraft in die Höhe führt, die um ſo ſtärker wird, je mehr wir uns dem Zentrum nähern.“ „Ich muß es zugeben“, ſagte Grunthe. „Es iſt gerade, als wenn wir uns in einem Kraftfeld befänden, das uns direkt von der Erde abſtößt. Sollen wir einen Verſuchsballon ablaſſen?“ „Kann uns nichts Neues mehr ſagen — es iſt zu ſpät. Da — wir ſind in den Wolken.“ „Alſo hinunter!“ rief Saltner. Torm riß das Landungsventil auf. Der Ballon mäßigte ſeine aufſteigende Bewegung, aber zu ſinken begann er nicht. Die Blicke der Luftſchiffer hingen an den Inſtrumenten. Wenige Minuten mußten ihr Schickſal entſcheiden. Das Gas ſtrömte in die verdünnte Luft mit großer Gewalt aus. Brachte dies den Ballon nicht bald zum Sinken, ſo war es klar, daß ſie die Herrſchaft über das Luftmeer verloren hatten. Sie befanden ſich dann einer Gewalt gegenüber, die ſie, unabhängig von dem Gleichgewicht ihres Ballons in der Atmoſphäre, von der Erde forttrieb. Und der Ballon ſank nicht. Eine Zeitlang ſchien es, als wollte er ſich auf gleicher Höhe halten, aber die wirbelnde Bewegung hörte nicht auf, die ihn der Achſe der Inſel entgegentrieb. Dieſe Achſe, daran war ja kein Zweifel, war nichts anderes als die Erdachſe ſelbſt, jene mathematiſche Linie, um welche die Rotation der Erde erfolgt. Immer ſtärker wurden ſie zu ihr hingezogen. Aber je näher ſie ihr kamen, um ſo heftiger wurde der Ballon noch oben gedrängt. Schon begannen ſich die körperlichen Beſchwerden einzuſtellen, welche die Erhebung in die verdünnten Luftſchichten begleiten. Alle klagten über Herzklopfen. Saltner mußte das Fernrohr hinlegen, vor ſeinen Augen verſchwammen die Gegenſtände. Atemnot ſtellte ſich ein. „Es bleibt nichts andres übrig“, rief Torm. „Die Reißleine!“ Grunthe ergriff die Reißleine. Die Zerreißvorrichtung dient dazu, einen Streifen der Ballonhülle in der Länge des ſechsten Teils des Ballonumfangs aufzureißen, um den Ballon im Notfall binnen wenigen Minuten des Gaſes zu entleeren. Aber — die Vorrichtung verſagte! Er zerrte an der Leine — ſie gab nicht nach. Sie mußte ſich am Netzwerk des Ballons verfangen haben. Es war jetzt unmöglich, den Schaden zu reparieren. Der Ballon ſtieg weiter. Von der Erde war nichts mehr zu ſehen, man blickte auf Wolken. „Die Sauerſtoffapparate!“ kommandierte Torm. Obwohl man die Abſicht hatte, ſich ſtets in geringer Höhe zu halten, konnte man doch nicht wiſſen, ob nicht die Umſtände ein Aufſteigen in die höchſten Regionen mit ſich bringen wurden. Für dieſen Fall hatte man ſich mit komprimiertem Sauerſtoff zur Atmung verſehen. Es war jetzt notwendig, die künſtliche Atmung anzuwenden. Die Forſcher fühlten ſich neu geſtärkt; aber immer furchtbarer wurde die Kälte. Sie merkten, wie ihre Gliedmaßen zu erſtarren drohten. Die Naſe, die Finger wurden gefühllos, ſie verſuchten ihnen durch Reiben den Blutzufluß wieder zuzuführen. Der Ballon ſtieg rettungslos weiter, und zwar immer ſchneller, je mehr er ſich dem Zentrum näherte. Siebentauſend — achttauſend — neuntauſend Meter zeigte das Barometer im Verlauf einer Viertelſtunde an. Die größte Höhe, welche je von Menſchen erreicht worden war, wurde nun überſchritten. Untätig ſaßen die Männer zuſammengedrängt — ſie hatten den künſtlichen Verſchluß der Gondel hergeſtellt, da ſie nichts mehr am Ballon ändern konnten. Sie vermochten nichts zu tun, als ſich gegen die Kälte zu ſchützen. Kein Mittel der Rettung zeigte ſich — ihre Tatkraft begann unter dem Einfluß der vernichtenden Kälte zu erlahmen. Der Flug in die Höhe war unhemmbar — nichts mehr konnte ſie retten vor dem Erfrieren — oder vor dem Erſticken. — Was würde geſchehen? Es war ja gleichgültig. Und doch, immer wieder raffte ſich der eine oder andere mit Anſtrengung aller Willenskräfte auf — noch ein Blick auf die Inſtrumente — die Thermometer waren längſt eingefroren — und — kaum glaublich — das Barometer zeigte einen Druck von nur noch 50 Millimeter, das heißt, ſie befanden ſich zwanzig Kilometer über der Erdoberfläche. Und jetzt — ſchien es nicht, als käme der Ballon zu ihnen herab? Die entleerte Seidenhülle ſenkte ſich über die Gondel — die Gondel flog ſchneller als der Ballon — wie aus einer Kanone geſchoſſen fuhr ſie in die Seide des Ballons hinein, die Inſaſſen der Gondel waren verſtrickt in das Gewirr von Stoff und Seilen — halb ſchon bewußtlos bemerkten ſie kaum noch den Stoß der ſie traf — ſie waren in die Achſe des von der Inſel ausgehenden Wirbels geraten. — — Sie befanden ſich ſenkrecht über dem Pol der Erde — das Ziel war erreicht, dem ſie ſo hoffnungsfroh entgegengeſtrebt hatten. Weit unter ihnen im hellen Sonnenſcheine lagen die glänzenden Wolkenſtreifen und fern im Süden das grünlich ſchimmernde Land ausgebreitet, die kühnen Forſcher aber ſahen nichts mehr davon. Ohnmächtig, erſtickt — erdrückt von der Laſt des Ballons, flogen ſie, eine formloſe Maſſe bildend, in der Richtung der Erdachſe den Grenzen der Atmoſphäre entgegen. 3. Die Bewohner des Mars Unter dem Einfluß der geheimnisvollen Kraft, welche die Trümmer der verunglückten Expedition in der Richtung der Erdachſe vom Nordpol forttrieb, hatten ſie eine ungeheure Beſchleunigung erlangt. Der in die Falten des Ballons hineingetriebene Korb bewegte ſich jetzt mit raſender Geſchwindigkeit nach oben. Wenige Minuten mußten genügen, den Tod der Inſaſſen zu bewirken, da der Verſchluß der Gondel ſie nicht hinreichend zu ſchützen vermochte. Nicht mehr von der Erde aus erkennbar ſchien das ſeltſame Geſchoß einſam und verlaſſen den Weltraum zu durcheilen, jeder menſchlichen Macht entrückt, ein Spielball kosmiſcher Kräfte — — Und dennoch war der Ballon der Gegenſtand geſpannteſter Aufmerkſamkeit. Die Beobachter desſelben befanden ſich auf einer Stelle, wo kein Menſch lebende Weſen vermutet, ja nur eine ſolche Möglichkeit hätte verſtehen können. Daß der Nordpol von unbekannten Bewohnern beſetzt ſei, war ja äußerſt ſeltſam und überraſchend; aber er war doch ein Punkt der Erde, auf welchem lebende Weſen ſich aufzuhalten und zu atmen vermochten. Der Ort dagegen, von welchem aus man jetzt auf den verunglückten Ballon aufmerkſam wurde, befand ſich bereits außerhalb der Erdatmoſphäre. Genau in der Richtung der Erdachſe und auf dieſer genau ſo weit von der Oberfläche der Erde entfernt wie der Mittelpunkt der Erde unterhalb, alſo in einer Höhe von 6.356 Kilometer, befand ſich frei im Raume ſchwebend ein merkwürdiges Kunſtwerk, ein ringförmiger Körper, etwa von der Geſtalt eines rieſigen Rades, deſſen Ebene parallel dem Horizont des Poles lag. Dieſer Ring beſaß eine Breite von etwa fünfzig Metern und einen inneren Durchmeſſer von zwanzig, im ganzen alſo einen Durchmeſſer von 120 Metern. Rings um denſelben erſtreckten ſich außerdem, ähnlich wie die Ringe um den Saturn, dünne, aber ſehr breite Scheiben, deren Durchmeſſer bis auf weitere zweihundert Meter anſtieg. Sie bildeten ein Syſtem von Schwungrädern, das ohne Reibung mit großer Geſchwindigkeit um den inneren Ring herumlief und denſelben in ſeiner Ebene ſtets ſenkrecht zur Erdachſe hielt. Der innere Ring glich einer großen kreisförmigen Halle, die ſich in drei Stockwerken von zuſammen etwa fünfzehn Metern Höhe aufbaute. Das geſamte Material dieſes Gebäudes wie das der Schwungräder beſtand aus einem völlig durchſichtigen Stoffe. Dieſer war jedoch von außerordentlicher Feſtigkeit und ſchloß das Innere der Halle vollſtändig luft- und wärmedicht gegen den leeren Weltraum ab. Obwohl die Temperatur im Weltraum rings um den Ring faſt zweihundert Grad unter dem Gefrierpunkt des Waſſers lag, herrſchte innerhalb der ringförmigen Halle eine angenehme Wärme und eine zwar etwas ſtark verdünnte, aber doch atembare Luft. In dem mittleren Stockwerk, durch welches ſich ein Gewirr von Drähten, Gittern und vibrierenden Spiegeln zog, hielten ſich auf der inneren Seite des Rings zwei Perſonen auf, die ſich damit beſchäftigten, eine Reihe von Apparaten zu beobachten und zu kontrollieren. Wie aber war es möglich, daß dieſer Ring in der Höhe von 6.356 Kilometern ſich freiſchwebend über der Erde erhielt? Eine tiefreichende Erkenntnis der Natur und eine äußerſt ſcharfſinnige Ausbildung der Technik hatten es verſtanden, dieſes Wunderwerk herzuſtellen. Der Ring unterlag natürlich der Anziehungskraft der Erde und wäre, ſich ſelbſt überlaſſen, auf die Inſel am Pol geſtürzt. Gerade von dieſer Inſel aus aber wirkte auf ihn eine abſtoßende Kraft, welche ihn in der Entfernung im Gleichgewicht hielt, die genau dem Halbmeſſer der Erde gleichkam. Dieſe Kraft hatte ihre Quelle in nichts anderem als in der Sonne ſelbſt, und die Kraft der Sonnenſtrahlung ſo umzuformen, daß ſie jenen Ring der Erde gegenüber in Gleichgewichtslage hielt, das eben hatte die Kunſt einer glänzend vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft und Technik zuſtande gebracht. In jener Höhe, einen Erdhalbmeſſer über dem Pol, war der Ring ohne Unterbrechung der Sonnenſtrahlung ausgeſetzt. Die von der Sonne ausgeſtrahlte Energie wurde nun von einer ungeheuren Anzahl von Flächenelementen, die ſich in dem Ringe und auf der Oberfläche der Schwungräder befanden, aufgenommen und geſammelt. Die Menſchen verwenden auf der Erdoberfläche von der Sonnenenergie hauptſächlich nur Wärme und Licht. Hier im leeren Weltraum aber zeigte ſich, daß die Sonne noch ungleich größere Energiemengen ausſendet, insbeſondere Strahlen von ſehr großer Wellenlänge, wie die elektriſchen, als auch ſolche von noch viel kleinerer als die der Lichtwellen. Wir merken nichts davon, weil ſie zum größten Teile ſchon von den äußerſten Schichten der Atmoſphäre abſorbiert oder wieder in den Weltraum ausgeſtrahlt werden. Hier aber wurden alle dieſe ſonſt verlorenen Energiemengen geſammelt, transformiert und in geeigneter Geſtalt nach der Inſel am Nordpol reflektiert. Auf der Inſel wurden ſie, in Verbindung mit der von der Inſel direkt aufgenommenen Strahlung, zu einer Reihe großartiger Leiſtungen verwendet; denn man hatte auf dieſe Weiſe eine ganz enorme Energiemenge zur Verfügung. Ein Teil dieſer Arbeitskraft wurde nun zunächſt dazu gebraucht, ein elektromagnetiſches Feld von gewaltigſter Stärke und Ausdehnung zu erzeugen. Die ganze Inſel mit ihren hundertvierundvierzig Rundbaſtionen ſtellte gewiſſermaßen einen rieſigen Elektromagneten vor, der von der Sonnenenergie ſelbſt geſpeiſt wurde. Die Konſtruktion war ſo angelegt, daß die Kraftlinien ſich um den Ring konzentrierten und dieſer, der Schwerkraft entgegen ſchwebend gehalten wurde. Daß dies genau in der Entfernung des Erdhalbmeſſers vom Pole geſchah, hing mit einer Beziehung zwiſchen Elektromagnetismus und Schwere zuſammen, infolge deren ſich gerade an dieſer Stelle eine Art Knotenpunkt für die Wellenbewegung beider Kräfte zu bilden vermochte und das Gleichgewicht ermöglichte. Allerdings wurde durch eine Reihe komplizierter und höchſt ſcharfſinnig ausgedachter Kontrollapparate dafür geſorgt, daß alle Schwankungen der Energiemengen zur rechten Zeit ausgeglichen wurden. Einen ſolchen Apparat aufzuſtellen wäre indeſſen an keinem anderen Punkte der Erde möglich geweſen als in der Verlängerung ihrer Rotationsachſe, alſo über dem Nordpol oder über dem Südpol. Denn an jeder andern Stelle hätte, abgeſehen von tieferliegenden Schwierigkeiten, die Verſchiebung der Erdoberfläche infolge der täglichen Umdrehung der Erde unüberwindbare Hinderniſſe für die Herſtellung des Gleichgewichts zwiſchen der Schwerkraft und dem Elektromagneten geboten; auch hätte die gleichmäßige Sonnenſtrahlung gefehlt. Der Pol bietet aber in jeder Hinſicht die einfachſten Verhältniſſe wenn es gelingt, bis zu ihm zu gelangen. Nun, die unübertroffenen Ingenieure der Inſel und des Ringes waren einmal da. Aber wo kamen ſie her? Wie waren ſie dorthin gelangt, ohne daß die internationale Kommiſſion für Polarforſchung die geringſte Ahnung davon hatte? Und vor allem — wenn ſie einmal da waren —, was hatte es für einen Zweck, jenen freiſchwebenden Ring über dem Pol zu balancieren? Und wenn einmal jener Ring da war, wie konnte man hinauf- und hinabkommen? Jener Ring war überhaupt nur ein Mittel, um einen ganz andern Zweck zu erreichen. Er diente dazu, einen Standpunkt außerhalb der Atmoſphäre der Erde zu gewinnen, eine Station, um zwiſchen dieſer und der Erde nichts Geringeres auszuführen, als — eine zeitweilige Aufhebung der Schwerkraft. Der Raum zwiſchen der inneren Öffnung des Ringes von zwanzig Metern Durchmeſſer und der auf der Inſel ſich befindenden Vertiefung, alſo ein Zylinder, deſſen Achſe genau mit der Erdachſe zuſammenfiel, war ein ‚{abariſches Feld}‘. Dies bedeutet, ein Gebiet ohne Schwere. Körper, welche in dieſen zylindriſchen Raum gerieten, wurden von der Erde nicht mehr angezogen. Dieſes abariſche Feld bewirkte, daß in der ganzen Umgebung des Feldes Spannungen im Raum vorhanden waren, wodurch etwa ſich nähernde Körper in das Feld getrieben wurden. Daher war es gekommen, daß der Ballon der Luftſchiffer allmählich der Inſel und damit dem abariſchen Felde unentrinnbar zugeführt worden war. Die Erzeugung jenes Feldes, in welchem die Schwerkraft aufgehoben war für den inneren Raum zwiſchen Inſel und Ring, war dadurch möglich gemacht worden, daß man eine der Erdſchwere entgegengeſetzt gerichtete Gravitationskraft herſtellte. Es war jenen Polbewohnern bekannt, wie man diejenigen Strahlen, welche hauptſächlich chemiſche Wirkung, Wärme und Licht liefern, in Gravitation überführen kann. Sie wurden zu dieſem Zweck bis in den inneren Teil des Ringes geleitet und traten hier in den ‚Gravitationsgenerator‘. Dies war ein Apparat, durch welchen man Wärme in Gravitation umwandelte. Ein zweiter, ebenſo eingerichteter Gravitationserzeuger befand ſich in der zentralen Vertiefung im Inneren der Inſel. Beide Apparate wirkten derartig zuſammen, daß die Beſchleunigung der Schwerkraft im Inneren zwiſchen Inſel und Ring beliebig reguliert werden konnte. Man konnte ſie entweder nur verringern, oder ganz aufheben — dann war das abariſche Feld im eigentlichen Sinne hergeſtellt —, oder man konnte die Gegenſchwerkraft ſo verſtärken, daß die Körper innerhalb des abariſchen Feldes ‚nach oben fielen‘, das heißt, eine beliebig ſtarke Beſchleunigung entgegengeſetzt der Erdſchwere, alſo von der Erde fort, erhielten. Auf dieſe Weiſe war es möglich, mit jeder gewünſchten Geſchwindigkeit Körper zwiſchen der Inſel und dem Ringe ſowohl von unten nach oben als von oben nach unten in Bewegung zu ſetzen, indem man ſie in einen zu dieſem Zweck konſtruierten Flugwagen einſchloß. Es war nun die ſchwierige Aufgabe der Ingenieure an den beiden Endſtationen, den Betrieb ſo zu regulieren, daß jedesmal das abariſche Feld die nötige Stärke beſaß, um den Wagen nach oben zu treiben oder in ſeiner Bewegung aufzuhalten. Als der Ballon der Polarforſcher in das abariſche Feld geriet, war dasſelbe gerade auf ‚Gegenſchwere‘ geſtellt, weil ſich ein Flugwagen auf dem Wege von der Inſel nach dem Ringe befand. Infolgedeſſen wurde der nach dem abariſchen Felde hingedrängte Ballon, ſobald er in die Achſe desſelben geraten war, mit großer Geſchwindigkeit in die Höhe geriſſen. Äußerlich unterſchied ſich das Feld von der umgebenden Luft in gar nichts. Nur ein ſtarker aufſteigender Luftſtrom und infolgedeſſen ein ſeitliches Zuſtrömen der Luft war natürlich vorhanden. Aber bei dem geringen Durchmeſſer des Feldes von zwanzig Metern war die in die Höhe getriebene Luftmaſſe ſo gering, daß es dadurch nicht zu einer merklichen Nebel- oder Wolkenbildung kam, zumal vom Ringe wie von der Inſel aus eine ſo ſtarke Beſtrahlung ſtattfand, daß der ſich etwa kondenſierende Waſſerdampf ſofort wieder in Gasform aufgelöſt wurde. Solange der Ballon ſich noch in den Luftſchichten bis ein oder zwei Kilometer befand, konnte das Ausſtrömen des Gaſes ſein Aufſteigen einigermaßen verzögern. Dann aber wurde die Beſchleunigung zu groß. Die Gondel, welche ſich im Zentrum des Feldes befand, erfuhr dabei eine größere Beſchleunigung nach oben als der an Maſſe zwar geringere, an Ausdehnung aber ſoviel größere Ballon. Denn da der Durchmeſſer des Ballons zwanzig Meter übertraf, ſo ragte er zum Teil über das abariſche Feld hinaus. Erſt als er durch den Verluſt an Gas zuſammengeſunken war, geriet er ganz in das abariſche Feld, und nun begann jener koloſſal beſchleunigte ‚Fall nach oben‘, der den Ballon binnen einer Viertelſtunde auf tauſend Kilometer emporgeriſſen hätte, wenn er nicht zum Glück nach kaum einer Minute aufgehalten worden wäre. Als die Ingenieure der Inſel den Ballon bemerkten, hatten ſie zunächſt verſucht, ihn durch Ergreifung des Schleppgurts feſtzuhalten. Dies hatte Grunthe durch das Hinauswerfen der Champagnerflaſchen verhindert, da er jede Berührung der Inſel vermeiden wollte. So war der Ballon ſo weit geſtiegen, daß er nicht mehr ergriffen werden konnte, aber er war dadurch dem abariſchen Felde unrettbar überliefert. Hier hätten ihn nun die Bewohner der Inſel freilich ſogleich aufhalten und zurückführen können, wenn ſie die ‚Gegenſchwere‘ im Felde abgeſtellt hätten. Dies war ihnen jedoch darum nicht möglich, weil ſich oberhalb des Ballons, längſt nicht mehr ſichtbar, ihr eigener Flugwagen befand. Sie konnten alſo nicht eher eine Veränderung am Feld vornehmen, als bis ihr Wagen an der Station des Ringes angekommen war. Zum Glück für die Inſaſſen des Ballons mußte dies in kürzeſter Zeit geſchehen. Inzwiſchen hatten aber auch die Ingenieure auf dem Ring, obwohl ſie den Ballon nicht ſehen konnten, doch an ihren Gravitationsmeſſern eine Störung im abariſchen Felde wahrgenommen. Sie ſandten daher vom Ring eine Depeſche nach der Inſel. Dieſe Übermittlung bot keine Schwierigkeit, denn ſie verſtanden es, die Lichtſtrahlen ſelbſt als Träger für ihre Depeſchen zu benutzen. Der Raum zwiſchen Ring und Inſel geſtattete dies infolge der intenſiven Beſtrahlung auch beim feuchteſten Wetter. Sie telegraphierten nicht nur, ſie telefonierten vermöge des Lichtſtrahls. Die elektromagnetiſchen Schwingungen des Telephons ſetzten ſich in photochemiſche um und wurden auf der andern Station ſofort am Apparat abgeleſen. Während die unglücklichen Luftſchiffer, von der Seide des Ballons eingehüllt, ihre blitzſchnelle Fahrt auf der Erdachſe vollführten, ging an ihnen eine Depeſche vom Ring nach der Inſel vorüber, welche lautete: „[E najoh. Ke.]“ Und von der Inſel wurde zurückdepeſchiert: „[Bate li war. Tak a fil.]“ Man hätte freilich alle bekannten Sprachen der Erde durchgehen können, ohne in irgendeiner dieſe Sätze zu finden. Sie bedeuten: „Achtung! Störung! Was iſt vorgefallen?“ Und die Antwort lautete: „Menſchen im abariſchen Feld. Abſtellen ſobald als möglich.“ Der Empfänger dieſer Depeſche ſtand in der Beobachtungsabteilung des ſchwebenden Ringes und kontrollierte die Apparate, welche daſelbſt an einem großen Schaltbrett angebracht waren. Der Zeiger am Differenzialbaroskop wies ihm genau die Stelle, wo ſich der Flugwagen im Augenblick befand. Schon war dieſer nahe herangekommen. Einige Handgriffe des Beamten regulierten die Geſchwindigkeit des Wagens, der nach wenigen Minuten auf der Endſtation erſchien. Das vorſpringende Fangnetz hielt ihn auf, er ruhte an ſeinem Ziel. Der Beamte — es war der Vorſteher der Außenſtation ſelbſt — namens Fru, hatte bis jetzt keinen Blick von den Apparaten verwandt. Man hätte ihn für einen alten Mann halten mögen, denn langes, faſt weißes Haar flatterte um ſeine Schläfe. Eine ungewöhnlich hohe Stirn wölbte ſich über den großen Augen, deren Pupillen einen tiefen Glanz zeigten. Die Haltung des Körpers aber war frei und leicht. Gewandt bewegte er ſich an dem langen Schaltbrett entlang von einem Apparat zum andern, ſeine Schritte glichen faſt einem Gleiten über den Boden. Er war offenbar daran gewöhnt, daß die Schwerkraft eine viel geringere war als auf der Erde. Denn hier, in der doppelten Entfernung vom Mittelpunkt der Erde als deren Oberfläche, betrug die Schwere nur ein Viertel von der uns gewohnten. Die Tür des Flugwagens wurde jetzt geöffnet. Der Vorſteher der Ringſtation warf nur einen flüchtigen Blick dorthin und wandte ſich dann wieder den Apparaten zu, um nach dem Pol zu telegraphieren, daß das abariſche Feld frei ſei. Die Fahrgäſte verließen den Wagen und betraten die Galerie. Es mochten achtzehn Perſonen ſein, in ſeltſamer Tracht, mit eng anliegenden Kleidern. Ihre bedeutenden Köpfe zeichneten ſich meiſt durch ſehr helles, faſt weißes Haar und glänzende, durchdringende Augen aus, die aber jetzt durch dunkle Brillen geſchützt waren. Sie durchſchritten die Galerie, deren Überſchrift in jener fremden Sprache beſagte, daß man ſich auf der ‚Außenſtation der Erde‘ befinde, und wandten ſich über eine Treppe der Ausgangstür nach der oberen Galerie zu. Über der Tür ſtand in großen Buchſtaben: ‚[Vel lo nu]‘, das bedeutet: ‚Zum Raumſchiff nach dem Mars.‘ Jener ſchwebende Ring war nichts anderes als der Marsbahnhof der Erde. Er war eine Station in der Nähe der Erde, durch deren Erbauung es den Bewohnern des Planeten Mars möglich geworden war, zwiſchen ihrem Planeten und der Erde eine regelmäßige Verbindung herzuſtellen. Die Fahrgäſte des Flugwagens waren Martier, die nach ihrer Heimat zurückkehren wollten. 4. Der Sturz des Ballons Die Regulierung des abariſchen Feldes hatte von der Ringſtation aus ſtattgefunden, um den emporſteigenden Flugwagen mit der nötigen Geſchwindigkeit zu leiten. Der Wechſel von Gegenſchwere und Erdſchwere erſtreckte ſich aber auf das ganze Feld und hatte natürlich zur Folge, daß auch der verunglückte Ballon den Schwankungen der Schwere unterlag. So wurde er zuerſt in ſeinem Fluge nach oben gemäßigt, durchlief dann eine kurze Strecke mit unveränderter Geſchwindigkeit, und von dem Augenblicke an, in welchem der Flugwagen den Ring erreicht hatte, begann der Ballon wieder mit immer zunehmender Geſchwindigkeit zu fallen. Da in dieſen Höhen von einem Widerſtand der Luft nicht die Rede war, ſo fielen auch jetzt Ballon und Gondel mit gleicher Geſchwindigkeit. Der ſtark zuſammengeſunkene Ballon, der einen großen Teil ſeiner Gasmenge verloren hatte, bedeckte in dichten Falten den Korb. Dieſer Umſtand hatte die Luftſchiffer vor einem ſofortigen Tod bewahrt. Zunächſt ſchützte ſie die Einhüllung in den Ballon vor dem Erfrieren; ja merkwürdigerweiſe ſtieg die Temperatur im Inneren des Korbes wieder, als die Atmoſphäre der Erde durchflogen war. Dies rührte von der Sonnenſtrahlung her, welche jetzt in voller Stärke, durch die Luft nicht mehr aufgehalten, den Ballon traf. Sie wurde durch die Hülle des Ballons abſorbiert und erwärmte alles, was ſich in derſelben befand. Ein glücklicher Zufall hatte es aber auch ſo gefügt, daß ſich noch ein Teil des Gaſes im Ballon hielt, deſſen Stoff von ſo vorzüglicher Beſchaffenheit war, daß er die Diffuſion des Waſſerſtoffs ſelbſt gegenüber dem leeren Raume faſt völlig aufhob. Das Gas konnte nur durch das Landungsventil entſtrömen. Das Verſagen der Zerreißvorrichtung, das ihr Verderben ſchien, wurde jetzt die Rettung der Luftſchiffer. Durch die Einſtülpung, welche der Ballon im abariſchen Felde erfahren hatte, war der untere Teil des Ballons ſo in den oberen hineingetrieben worden, daß das Ventil zwiſchen den Falten zuſammengepreßt lag und ein weiteres Ausſtrömen des Gaſes verhindert wurde. Freilich hätte auch dies nicht lange vorgehalten, aber der ganze Vorgang, von dem Augenblick, in welchem Grunthe die Reißleine ergriff, bis zum Zuſammenklappen des Ballons und dann zum Abſtellen des abariſchen Feldes durch die Martier hatte nur wenige Minuten betragen. Da es ſich bei dem Niedergang des Ballons im abariſchen Feld um einen herabſteigenden Körper handelte, hatten die Ingenieure der Inſel die Regulierung der Bewegung zu beſorgen. Sie konnten denſelben zwar der eingetretenen Bewölkung wegen nicht ſehen, aber ihre Inſtrumente zeigten ihnen genau die Stelle, an welcher er ſich befand, und die Geſchwindigkeit, mit welcher er fiel. Sie gaben nun im geeigneten Moment dem Feld eine ſo ſtarke Gegenbeſchleunigung, daß der Ballon in der Höhe von etwa dreitauſend Meter über der Erde zur Ruhe kam, gerade in dem Augenblick, in welchem er die Wolkendecke durchbrochen hatte und der Beobachtung durch das Fernrohr zugänglich geworden war. Der Ballon war jetzt den gewöhnlichen Verhältniſſen der Atmoſphäre überlaſſen. Das abariſche Feld wurde nun gänzlich abgeſtellt, ſo daß es ſich in nichts von den übrigen Teilen der Atmoſphäre unterſchied. Allerdings hatte der Ballon ſo viel Gas verloren, daß er ſich nicht in der Höhe halten konnte. Aber wenn die Luftſchiffer noch am Leben waren, durften die Martier annehmen, daß ſie durch Auswerfen von Ballaſt ihren Abſtieg nunmehr verlangſamen und ſelbſtändig regulieren konnten. Doch was ſahen die Martier der Inſel durch ihre Fernrohre? Der Ballon hatte ſich allerdings über dem Korb wieder erhoben. Dieſer ſelbſt aber war gegen den Ring gepreßt und in das Gewirr der ihn tragenden Seile geraten und lag nun vollſtändig ſchief zur Seite. Das Schleppſeil hing nicht herab, ſondern hatte ſich um den Ballon herumgeſchlungen. Der Verſchluß des Korbes war geöffnet. Ein großer Teil des Inhalts der Gondel ſchien dabei herausgeſtürzt. Die Laſt des Ballons war dadurch ſo ſtark erleichtert worden, daß die übriggebliebene Gasmenge, ſo gering ſie auch war, ſie doch noch zu tragen vermochte. Der Ballon ſank nur ganz allmählich und wurde, da das abariſche Feld außer Tätigkeit geſetzt war, vom Wind ergriffen. So trieb der Ballon von der Inſel fort über das Binnenmeer hin, nahezu in der entgegengeſetzten Richtung als in derjenigen, aus welcher die Luftfahrer gekommen waren. Die Martier erkannten nun wohl, daß die Inſaſſen des Ballons die Kontrolle über ihn verloren hatten. Was konnten ſie aber zu ihrer Rettung tun? Sie hätten zwar durch Herſtellung des abariſchen Feldes bewirken können, daß ſich der Ballon dem Zentrum wieder nähern mußte, doch ſie wollten ihn ja gerade von der Inſel entfernen. Denn ſie durften durch dieſen fremden Körper nicht länger ihren Verkehr mit der Ringſtation ſtören laſſen. Während die Martier ſich berieten, hatte der Ballon bereits die Inſel überflogen und befand ſich über dem Meer. Zugleich war er auf etwa zweitauſend Meter geſunken. Würde er das gegenüberliegende Ufer erreichen? Würde er in das Meer ſtürzen? Oder würde er an der Felswand des ſteil abfallenden Ufers zerſchellen? Das letzte ſchien das Wahrſcheinlichſte, wenn es nicht gelang, den Ballon entweder zu heben oder zu ſchnellem Sinken zu bringen. In der halb umgeſtürzten Gondel des Ballons ſah es wüſt aus. Die Inſtrumente zum Teil zertrümmert, die Körbe und Kiſten zerbrochen, Vorräte und Menſchen in einem wirren Knäuel, nur durch das Netz der vielfach verſchlungenen Stricke am Herausſtürzen verhindert. Von einem ſtechenden Schmerz im rechten Fuß erweckt, öffnete Grunthe die Augen. Er ſah ſich zu ſeinem Erſtaunen am Rande des Korbes, der ſich auf der einen Seite mit dem Ringe verfangen hatte, zwiſchen dem Geflecht desſelben und einem der Anker des Ballons eingeklemmt. Dieſer hatte ihn am Fuß verletzt. Schnell kam Grunthe wieder zu vollem Bewußtſein. Er konnte nur ſeinen Oberkörper und die Arme bewegen. Ein Blick auf den Zuſtand des Ballons ließ ihn befürchten, daß es unmöglich ſein würde, die Höhe des Gebirges jenſeits des Sees zu gewinnen. Unter ihm aber lag die Fläche des Meeres. Beſorgt blickte er ſich nach ſeinen Gefährten um. Torm vermochte er nirgends zu entdecken. Aber nun ſah er, wie unter einem zerbrochenen Korb und einem Haufen von Decken ſich etwas bewegte und ein Kopf mit dunkelbraunem, lockigem Haar zum Vorſchein kam. Es war Saltner, der ebenfalls aus ſeiner Ohnmacht erwachte. Saltner, der keine Ahnung von dem Zuſtand des Ballons hatte, ſuchte ſich aus ſeiner unbequemen Lage zu befreien. Grunthe aber erkannte, in welcher Gefahr der Reiſegenoſſe ſchwebte. Jede weitere Bewegung konnte ihn aus dem Korbe herausſchleudern und hinabſtürzen laſſen. „Liegen Sie ſtill“, rief er ihm zu, „verhalten Sie ſich ganz ruhig — der Korb iſt gekentert — halten Sie ſich feſt!“ „Sackerment“, brummte Saltner unter der Decke, „liegen Sie doch einmal ſtill, wenn Sie auf einer zerbrochenen Champagnerflaſche ſitzen! Hätten wir nur das ganze Zeug gleich ausgetrunken und die leere Flaſche hinausgeworfen!“ Dabei warf er ſich mit einem Gewaltruck zur Seite, zugleich aber geriet er ins Rollen — Grunthe ſtieß einen Schrei des Schreckens aus. Er ſah den Gefährten am äußerſten Rande der Gondel ſchweben — Saltner fuhr mit den Armen in die Luft, jedoch er fand keinen Halt — der Körper ſtürzte hinaus — ſeine Knie hingen in der Schlinge eines Seiles — in dieſer furchtbaren Lage, den Kopf nach unten, ſchwebte Saltner mehr als tauſend Meter über dem Spiegel des Polarmeeres. In der Aufregung des Augenblicks wandte Grunthe, mit beiden Händen ſich feſthaltend, ſeinen Körper ſo gewaltſam, daß es ihm gelang, den Fuß unter dem Anker herauszureißen. Er achtete den Schmerz nicht; ſo ſchnell wie möglich, obwohl mit großer Vorſicht, kletterte er an den Tauen des Korbes nach Saltner hin. Er ſuchte nach einem Seil, das er ihm zuwerfen konnte, um ihn wieder in die Gondel zu ziehen. Aber wo war in dieſem Gewirr von Stricken ſogleich ein paſſendes Tau zu finden? Hier hing eine weite Schlinge herab. Er verſetzte ſie in Schwingungen, er zerrte daran, und jetzt gelang es ihm, das Tau bis in Saltners Nähe zu bringen. Zum Glück hatte dieſer keinen Augenblick ſeine Geiſtesgegenwart verloren. Als er das Tau im Bereich ſeiner Hände ſah, griff er danach. Es gelang ihm ſich feſtzuhalten, und nun verſuchte er an dem Tau ſich wieder zur Gondel emporzuarbeiten. Schon befand er ſich wieder in aufrechter Stellung. Mit den Händen am Seil höher greifend, zog er ſeine Füße aus der Schlinge, in welcher er hängengeblieben war, und ſetzte ſie auf den Rand des Korbes. Plötzlich entſtand über ihm ein Rauſchen und Krachen. Das Seil, an welchem er ſich hielt, war ein Teil des über den Ballon gefallenen Schlepptaus. Es löſte ſich jetzt mit ſeinem freien Ende vom Ballon und glitt abwärts. Kaum hatte Saltner noch Zeit, ſich an der Gondel feſtzuklammern, als das Seil in ſeiner ganzen Länge hinabſauſte. Aber indem es über den Ballon hinwegglitt, verfing es ſich mit der Reißleine und zog dieſelbe mit voller Gewalt mit ſich. Jetzt trat die Zerreißvorrichtung in Funktion. Die Ballonhülle klaffte auseinander. Das Gas ſtrömte mit Ziſchen aus. Der Ballon drehte ſich um ſeine Achſe und begann mit raſender Geſchwindigkeit zu fallen. „Hinauf in den Ring“, rief Grunthe. „Wir müſſen ſehen, die Gondel abzuſchneiden.“ „Aber wo iſt Torm?“ rief Saltner. Sie riefen, ſie ſchrieen, ſie ſuchten — Torm war nicht zu finden. Dennoch war es möglich, daß er ſich noch im Korb befand — ſie durften dieſen alſo nicht vom Ballon trennen, ſie konnten ihn auch nicht länger durchſuchen — „Den Fallſchirm, den Fallſchirm!“ rief Grunthe wieder. „Er iſt fort!“ Der Ballon wirbelte abwärts — Ein Schlag, ein Schäumen und Aufſpritzen — das Meer ſchlug über der Gondel und ihren Inſaſſen zuſammen — — Wie eine rieſige Schildkröte ſchwamm die Hülle des Ballons, ſich aufblähend, auf dem Waſſer, die Expedition unter ſich begrabend. 5. Auf der künſtlichen Inſel Das milde Licht des Polartages ſchien durch die breiten Fenſter eines hohen Gemaches, das im Stile der Marsbewohner ausgeſtattet war. An der Decke zogen ſich eine große Anzahl metalliſcher Streifen entlang, die in ihrer Geſamtheit ein geſchmackvolles Muſter darſtellten. In der Mitte ſchloſſen ſie ſich zu einer Roſette zuſammen, von welcher zahlreiche Drähte herabführten und in einem ſchrankartigen Aufſatz endigten. Dieſer Aufſatz befand ſich auf einem großen runden Tiſch und trug an ſeiner Außenſeite ringsum eine Reihe von Wirbeln oder Handgriffen; Aufſchriften über ihnen bezeichneten ihre Beſtimmung. Die den Fenſtern gegenüberliegende Wand war zu beiden Seiten der breiten Mitteltür von geſchnitzten Regalen bedeckt, die zur Aufbewahrung einer reichhaltigen Bibliothek dienten. Den darüber freibleibenden Raum ſchmückten Gemälde; ſie ſtellten Anſichten vom Mars dar. Doch hätte man glauben mögen, durch eine Reihe von Öffnungen plaſtiſche Darſtellungen, oder vielmehr die Natur ſelbſt zu ſehen. Denn die Abſtufungen der Farben waren ſo intenſiv, daß ſie den Eindruck vollſtändiger Wirklichkeit machten. Da ſah man in einer Landſchaft die Reflexe der Sonnenſtrahlen auf dem ſumpfigen Boden wie leuchtende Sterne, und dennoch vermochte man in dem tiefen Schatten der rieſigen Bäume die feinſten Nuancen deutlich zu unterſcheiden. Über der Tür leuchtete die lebensgroße Büſte Imms, des unſterblichen Philoſophen der Martier, der ihnen die Lehre von der Numenheit enthüllt hatte. Auf der Fenſterſeite blühten in Näpfen ſeltſame Gewächſe. Am merkwürdigſten war darunter die tanzende Blüte ‚Ro-Wa‘, eine lilienartige Pflanze, deren lange Blütenſtengel ſich ſchlangengleich hin- und herbewegten und mit ihren zierlichen Knoſpen fortwährend anmutige Bewegungen ausführten, indem ſie zugleich ein leiſes Zwitſchern wie von Vogelſtimmen hören ließen. Zwiſchen den Blumentiſchen ſtand auf der einen Seite eine Schreibmaſchine, auf der andern ein Apparat, der nichts anderes vorſtellte als eine Maſchine zur Ausführung ſchwieriger mathematiſcher Rechnungen. Die Fenſter reichten bis zum Boden des Zimmers. Dennoch ſchien es, als liefe an denſelben etwa bis zur Höhe von einem Meter eine Bekleidung entlang. Aber ſeltſam, dieſe Bekleidung ſchimmerte in einem dunkeln Grün und wogte leiſe auf und ab; und mitunter leuchteten kleinere und größere Fiſche darin auf und ſtießen ihre Köpfe an die Scheiben. Es war das Meer, das bis zu Meterhöhe über den Boden des Zimmers hereinblickte. Denn jenes Zimmer befand ſich auf der Außenſeite der Inſel, welche Torms verunglückte Expedition am Nordpol der Erde geſehen hatte. Eine natürliche Inſel war jedoch dieſe Anlage der Martier nicht. Sie hatten vielmehr in den Binnenſee, der am Nordpol ſich vorfand, eine künſtliche Inſel, richtiger ein ſchwimmendes Floß von großer Ausdehnung, hineingebaut, das ihr Feld von rieſigen Elektromagneten zu tragen hatte. Denn dieſe Elektromagnete brauchten ſie zur Balancierung ihrer Außenſtation und dadurch zur Errichtung des abariſchen Feldes. Auf der inneren Seite des ringförmig erbauten Rieſenfloßes befanden ſich die Arbeitsmaſchinen und Apparate, während die Außenſeite zu Wohnräumen diente ſowie zum Stapelplatz aller der Vorräte und Werkzeuge, welche die Martier hier allmählich anſammelten, um die Eroberung der Erde vom Nordpol aus vorzubereiten. Über die Treppe, die von dem Dach der Inſel nach dem Korridor und den angrenzenden Wohnzimmern führte, ſtieg eine weibliche Geſtalt herab. Auf das Geländer geſtützt bewegte ſie ſich mühſam, wie durch eine ſchwere Laſt niedergebeugt. Sie zuckte ſchmerzlich zuſammen, ſooft ihr Fuß mit einem krampfhaften Aufſchlag die nächſt niedere Stufe berührte. Darauf durchſchritt ſie ebenſo ſchwer und mühevoll den Korridor, indem ſie ſich gleichfalls mit den Händen an einem der Geländer unterſtützte, die ſich den Korridor entlangzogen. Jetzt berührte ſie die Tür des Zimmers, die ſich geräuſchlos in ſich ſelbſt zuſammenrollte, und trat ein. Die Tür ſchloß ſich hinter ihr von ſelbſt. Mit einem Schlag war die Haltung der Geſtalt verändert. Leicht und kräftig richtete ſie ſich empor. In einer anmutigen Bewegung warf ſie den Kopf zurück und atmete einige Male tief auf. Sie glitt einige Schritte durch das Zimmer; nicht mehr gebeugt und mühſam, ſondern wie ſchwebend durchmaß ſie in graziöſer Haltung den Raum und blickte auf dem Tiſch nach dem Zifferblatt, das den Stand des Schweredrucks im Zimmer angab. Ein helles Aufleuchten ihrer großen, glänzenden Augen mochte ihre Zufriedenheit andeuten, denn ſie korrigierte kaum merklich die Stellung des Handgriffs, durch den ſie die im Zimmer herrſchende Schwerkraft regulieren konnte. Eine Abzweigung des abariſchen Feldes geſtattete den Bewohnern der Inſel, ihre Wohnräume den Schwereverhältniſſen anzupaſſen, welche ihre Konſtitution erforderte. Denn die Schwerkraft auf dem Mars beträgt nur ein Drittel von derjenigen auf der Erde. Jetzt ſtreifte ſie mit einer leichten Bewegung die warme Hülle ab, die ihre Schultern bedeckte, und ohne ſich umzublicken warf ſie dieſelbe, wo ſie gerade ſtand, achtlos in die Höhe. Von ihrem Kopf löſte ſie die Kapotte, die ſie draußen getragen hatte, und ſtieß ſie ebenfalls ziellos in die Luft. An ihren Handſchuhen drückte ſie auf ein Knöpfchen und ſtreckte dann ihre Hände mit geſpreizten Fingern leicht in die Höhe, worauf ſich die Handſchuhe von ſelbſt abſtreiften und emporſtiegen. Alle die nach oben geworfenen Gegenſtände flogen von ſelbſt einer Ecke des Zimmers zu, ſchlugen eine dort befindliche Klappe zurück und glitten hinter der Wand auf die ihnen beſtimmten Plätze, während die Klappe ſich wieder ſchloß. Sie waren ſämtlich mit einem von den Martiern entdeckten Stoff gefüttert, der ſich nach Art der Pflanzenfaſer behandeln ließ, aber in äußerſt kräftiger Weiſe, ſo wie das Eiſen vom Magnet, von einem dazu eingerichteten Apparat angezogen wurde. Die anziehende Kraft trat in Tätigkeit, ſobald der Schluß gelöſt wurde, der die Gegenſtände am Körper befeſtigte. Bei der im Zimmer herrſchenden geringen Schwere genügte es, die Sachen einfach mit einem leichten Ruck nach oben zu werfen; die ſelbſttätige Garderobe beſorgte das übrige. So war es den Martiern ſehr leicht gemacht, ihre Sachen in Ordnung zu halten. Denn durch die Konſtruktion der verſchiedenen Öffnungen, welche die Garderobenſtücke zu paſſieren hatten, während ſie im Inneren des Garderobenſchranks wieder herabfielen, wurden ſie automatiſch ſortiert, gereinigt und in die ihnen beſtimmten Fächer eingefügt, ſo daß ſie ſofort wieder zu bequemem Gebrauch bei der Hand waren. Ohne ſich um die abgelegten Kleidungsſtücke weiter zu kümmern, näherte ſich die Dame dem Bücherregal und zog eines der dort ſtehenden Bücher hervor, indem ſie es an einem daran befindlichen Handgriff erfaßte. Sie begab ſich damit nach dem Sofa und ſtreckte ſich in bequemer Lage hin. La war die Tochter des Ingenieurs Fru, des Vorſtehers der Außenſtation. Hätte ſie auf der Erde gelebt, ſo wäre ihre Lebenszeit auf mehr als vierzig Jahre zu berechnen geweſen. Als Bewohnerin des Mars aber, deſſen Jahre doppelt ſo lang ſind wie die der Erde, zählte ſie erſt einige zwanzig Sommer und ſtand in der Blüte ihrer Jugend. Ihr volles Haar, das ſie in einen Knoten geſchlungen trug, hatte eine auf Erden wohl nicht leicht zu findende Farbe, ein helles, etwas ins Rötliche ſchimmerndes Blond, einigermaßen der Teeroſe vergleichbar; in bezaubernder Zartheit erhob es ſich wie eine Krone über dem weißen, reinen Teint ihres feingebildeten Antlitzes. Die großen Augen, die allen Martiern eigentümlich ſind, wechſelten je nach der Beleuchtung von einem lichten Braun bis zum tiefſten Schwarz. Denn entſprechend den ſtarken Helligkeitsunterſchieden, welche auf dem Mars herrſchen, beſitzen die Bewohner desſelben ein ſehr weitreichendes Akkomodationsvermögen, und bei ſchwachem Licht erweitern ſich ihre dunklen Pupillen bis an den Rand der Augenlider. Das Mienenſpiel gewinnt dadurch eine überraſchende Lebhaftigkeit, und nichts pflegte die Menſchen mehr an den Marsbewohnern, nachdem ſie ſie kennengelernt hatten, zu feſſeln als der ausdrucksvolle Blick ihrer mächtigen Augen. In ihnen zeigte ſich die gewaltige Überlegenheit des Geiſtes dieſer einer höheren Kultur ſich erfreuenden Weſen. Wie eine leichte Wolke umhüllte ein faltenreicher weißer Schleier die ganze Geſtalt und ließ nur den edel geformten Hals und den unteren Teil der Arme unbedeckt. Darunter aber ſchimmerten die Formen des Körpers wie in einen glänzenden Harniſch gekleidet; denn in der Tat beſtand das eng anſchließende Kleid aus einem metalliſchen Gewebe, das, obgleich es ſich jeder Bewegung auf das bequemſte anpaßte und dem leichteſten Drucke nachgab, doch einen Panzer von größter Widerſtandsfähigkeit bildete. Das Buch, welches La der Bibliothek entnommen hatte, beſaß wie alle Bücher der Martier die Form einer großen Schiefertafel und wurde an einem Handgriff ähnlich wie ein Fächer gehalten, ſo daß die längere Seite der Tafel nach unten lag. Ein Druck mit dem Finger auf dieſen Griff bewirkte, daß das Buch nach oben aufklappte, und auf jeden weiteren Druck legte ſich Seite auf Seite von unten nach oben um. Man bedurfte auf dieſe Weiſe nur einer Hand, um das Buch zu halten, umzublättern und jede beliebige Seite feſtzulegen. La ſchien es mit ihrem Studium nicht eilig zu haben. Sie hielt das Buch geſchloſſen in der nachläſſig herabhängenden Hand und gab ſich ihren Gedanken hin. Nach einiger Zeit begann ſie die Lippen zu bewegen und Laute vor ſich hin zu ſagen, die ihr offenbar nicht geringe Mühe machten. Mitunter lachte ſie leiſe vor ſich hin, wenn ihr eines der ungewohnten Worte nicht über die Lippen wollte, oder es lief momentan ein Ausdruck der Ungeduld über ihre Züge. Sie repetierte ein Penſum, das ſie für ſich erlernt hatte. Aber nun blieb ſie ganz ſtecken und ſann eine Weile nach. Dann ſagte ſie für ſich: „Es iſt doch ein närriſches Kauderwelſch, das dieſe Kalaleks ſprechen!“ Jetzt erſt erhob ſie das Buch und ließ die Blätter mit großer Geſchwindigkeit ſich herumſchlagen, bis ſie die gewünſchte Stelle gefunden hatte. Das Buch enthielt eine Zuſammenſtellung alles deſſen, was die Martier bisher über die Lebensweiſe und Sprache der Eskimos hatten in Erfahrung bringen können. Durch die Eskimofamilie, welche ſie aufgefunden hatten und auf ihrer Station ernährten, war es ihnen gelungen, die Sprache der Eskimos zu erforſchen. Ja ſie kannten ſogar von einer Anzahl Worte ihre Darſtellung in lateiniſcher Druckſchrift; denn der jüngere der beiden Eskimos hatte ſich eine Zeitlang auf einer Miſſionsſtation in Grönland aufgehalten und war im Beſitz einer grönländiſchen Überſetzung des Neuen Teſtaments, in welcher er zu buchſtabieren vermochte. La ſtudierte Grammatik und Wörterbuch der Eskimos oder ‚Kalalek‘. Nachdem ſie wieder eine Reihe von Worten und Redensarten vor ſich hingeſagt hatte, fiel ihr ein, ob ſie wohl auch die richtige Ausſprache getroffen habe. Die Prüfung war leicht; ſie brauchte nur die Empfangsplatte des Grammophons auf die betreffende Stelle des Buches zu legen, um den Laut ſelbſt zu hören; denn das Buch enthielt auch die Phonogramme der direkt vom Mund der Eskimos aufgenommenen Worte. Aber das Grammophon, welches die Phonogramme hörbar machte, befand ſich in dem Schrankaufſatz des Tiſches, und ſie hätte ſich zu dieſem Zweck vom Sofa erheben müſſen; das war ihr zu unbequem. Ach, dachte ſie, es iſt doch eine zu ungeſchickt eingerichtete Welt! Daß man noch nicht einmal ſo weit iſt, daß der Selbſtſprecher zu einem hergelaufen kommt! Das Grammophon kam aber nicht. La blieb alſo liegen und begnügte ſich, das Buch neben ſich auf einem Tiſchchen zu deponieren. Es iſt wirklich recht überflüſſig, ſpann ſie ihren Gedankengang weiter, ſich mit der Eskimoſprache ſoviel Mühe zu geben. Dieſe Eskimos ſind doch eine traurige Geſellſchaft, und der Trangeruch iſt unerträglich. Sicher iſt die große Erde auch von Weſen feinerer Art bewohnt, die vermutlich eine ganz andere Sprache reden. Weiß doch ſogar unſer junger Kalalek mit Erſtaunen von der Weisheit ſeiner frommen Väter zu erzählen, die ihm das Buch in der ſeltſamen Schrift gegeben haben. Wenn wir erſt einmal Gelegenheit fänden, mit ſolchen Leuten zu verkehren, das möchte ſich vielleicht eher lohnen. Was mag das für ein Luftballon geweſen ſein, der heute über die Inſel hinzog und dann in der Höhe verſchwand? Da waren doch gewiß keine Eskimos darin. Was mag aus den Luftſchiffern geworden ſein? La blickte empor. An der Wand war die Klappe des Fernſprechers mit leichtem Schlag niedergefallen. „La, biſt du da?“ fragte eine weibliche Stimme in dem halblauten Ton der Martier. „Hier bin ich“, antwortete La in ihrer tiefen, langſamen Sprechweiſe. „Biſt du es, Se?“ „Ja, ich bin es. Hil läßt dich bitten, ſogleich hinüber in das Gaſtzimmer Nummer 20 zu kommen.“ „Schon wieder hinaus in die Schwere. Was gibt es denn?“ „Etwas ganz Beſonderes, du wirſt es gleich ſehen.“ „Müſſen wir ins Freie?“ „Nein, du brauchſt keinen Pelz. Aber komm gleich.“ „Nun gut denn, ich komme.“ Die Klappe des Fernſprechers ſchloß ſich. La erhob ſich und glitt in ihrem ſchwebenden Gang der Tür zu. Sie öffnete ſie mit einem leiſen Seufzer, denn ſie ging nicht gern über die Korridore, auf denen die Erdſchwere herrſchte, ſo daß ſie nur gebückt einherſchleichen konnte. Aber ſie war doch neugierig, was auf der Inſel Beſonderes paſſiert ſein ſollte. Waren neue Gäſte vom Mars gekommen? Oder hatte ſich der Ballon wieder gezeigt? * * * Als der zertrümmerte Ballon ins Meer ſtürzte, hatten die Martier der Inſel bereits ihr Jagdboot bemannt, auf welchem ſie das Polarbinnenmeer zu durchforſchen pflegten. Eine von Akkumulatoren getriebene Schraube erteilte ihm eine außerordentliche Geſchwindigkeit. Sechs Martier unter Führung des Ingenieurs Jo hatten in demſelben Platz genommen; auch der Arzt der Station, Hil, befand ſich dabei. Alle trugen die Köpfe in einer helmartigen Bedeckung, die ihnen ſowohl ihre Bewegungen in der Luft erleichterte, als auch zugleich als Taucherhelm im Waſſer diente. Die Helme waren nämlich aus einem diabariſchen, das iſt ſchwereloſen Stoff und hatten daher für ihre Träger kein Gewicht. Zugleich enthielten ſie in ihrer Kuppel einen ziemlich bedeutenden luftleeren Raum, ſo daß ſie eine, freilich nur geringe Zugkraft nach oben hin ausübten. Dennoch genügte dieſelbe, wenigſtens das Gewicht des Kopfes ſoweit zu mindern, daß die Muskeln des Nackens entlaſtet wurden und die Martier ihren Kopf faſt ebenſo frei wie auf dem Mars zu bewegen vermochten, wenn ſie auch ſonſt von dem ihnen ungewohnten Körpergewicht bedrückt wurden. Eben deshalb trugen ſie Taucheranzüge, um ſchwere Arbeiten möglichſt in das Waſſer zu verlegen. Denn hier nahm ihnen natürlich der Auftrieb des Waſſers die Laſt ihres Körpergewichts ab. Schnell näherte ſich das Jagdboot dem Ballon, der von den Spuren des in ihm noch enthaltenen Waſſerſtoffes und der Luft, die ſich unter ihm verfangen hatte, auf dem Waſſer ſchwimmend erhalten wurde. Um zu dem von der Seide des Ballons bedeckten Korb zu gelangen, tauchten die Martier unter und drangen vom Waſſer aus unter den Ballon. Sie fanden ſogleich die beiden verunglückten Menſchen und ſchafften ſie eiligſt in ihr Boot. Sodann löſten ſie die Gondel von ihren Verbindungen und bargen ihren geſamten Inhalt ebenfalls an Bord. Alles übrige ließen ſie vorläufig treiben, da es ihnen zunächſt darauf ankam, die aufgefundenen Menſchen in ihre Behauſung zu bringen. Saltner und Grunthe hatten außer der Verletzung, die ſich letzterer bereits vor dem Abſturz am Fuß zugezogen hatte, weiter keine Beſchädigungen durch den Fall erlitten. Aber ſie hatten ſich nicht aus dem Waſſer herausarbeiten können. Keiner gab ein Lebenszeichen von ſich. Indeſſen begannen die Martier unter Leitung des Arztes ſofort die eifrigſten Wiederbelebungsverſuche, wie es ſchien ohne Erfolg. „Da hätten wir nun“, ſagte Jo, „endlich einmal ein paar wirkliche Bate, die keine Kalalek ſind, ein paar ziviliſierte Erdbewohner, und nun müſſen die armen Kerle tot ſein.“ „Wir wollen noch hoffen“, erwiderte einer der Martier. „Der Körper iſt noch warm. Vielleicht haben die Bate ein zähes Leben.“ „Es wäre ein großes Glück“, begann Jo wieder, „wenn wir ſie retten könnten. Es ſind nicht bloß kühne Leute, es ſind offenbar beſonders hervorragende Männer ihres Volkes, ſonſt würden ſie nicht zu dieſem wunderbaren Unternehmen ausgewählt ſein.“ „Ich wußte gar nicht“, ſagte ein andrer, „daß die Bate Luftſchiffe haben.“ „Derartige Ballons ſind ſchon mehrfach beobachtet worden“, erwiderte Jo, „aber man wußte nicht ſicher, wozu ſie dienen, wenigſtens nicht, daß ſich die Bate damit ſelbſt in die Luft erheben. Ich habe immer geglaubt, ſie ließen dadurch nur irgendwelche Laſten über die Erde heben oder ziehen. Gleichviel, für uns kommt alles darauf an, daß wir durch die Leute nähere Nachrichten von den kultivierten Gegenden der Erde erhalten. Alle unſere Pläne würden alsdann weſentlich gefördert werden. Hil, verſuchen Sie Ihre ganze Kunſt.“ Der Arzt antwortete nicht. Seine Aufmerkſamkeit konzentrierte ſich auf die Bemühungen, die Atmung der Ertrunkenen wieder in Tätigkeit zu ſetzen. Endlich richtete er ſich auf. „Geben Sie vollen Strom!“ rief er Jo zu. „Es iſt eine leiſe Hoffnung da, aber hier im Freien bringen wir ſie nicht durch. Wir müſſen in einer Minute im Laboratorium ſein.“ Das Boot ſauſte durch die Flut. In zehn Sekunden war die Inſel erreicht. Es ſchoß durch die Einfahrt bis in den inneren Hafen. Im Augenblick darauf waren die Verunglückten aufgehoben und in die Krankenabteilung gebracht. Es war keine leichte Arbeit, denn jeder der beiden Männer hatte für die Martier, in Rückſicht auf ihre Fähigkeit, Laſten zu heben, ein Gewicht, das für uns einem ſolchen von fünf Zentnern entſpricht. Sie hätten zwar ihre Kräne benutzen können, aber dies hätte zu lange gedauert. Und es kam auch nur darauf an, die Verunglückten bis über die Schwelle der Tür zu heben. Dann trat die Wirkung des abariſchen Feldes in Kraft, und der Transport hatte keine Schwierigkeiten mehr. Hil begann ſofort die Behandlung mit allen Hilfsmitteln der martiſchen Heilkunſt. Er hatte bereits einige Erfahrung aus dem Studium der Eskimos gewonnen und daraus die Unterſchiede in der Funktion der Organe bei Menſchen und bei Marsbewohnern kennengelernt, die übrigens keineswegs ſo bedeutend ſind, wie man meinen mochte. Dem durchdringenden Scharfblick des Martiers genügten die Schlüſſe, die er aus der gewonnenen Erfahrung ziehen konnte, um das Richtige zu treffen. Die Bewohner der Inſel, ſoweit ſie nicht gerade mit einer dringenden Arbeit beſchäftigt waren, hatten ſich inzwiſchen aufs Lebhafteſte für die aufgefundenen Menſchen intereſſiert. Im Vorraum des Krankenzimmers war ein fortwährendes Kommen, Gehen und Fragen, die Klappen der Fernſprechverbindungen hoben und ſenkten ſich, aber noch immer konnte man nichts Beſtimmtes erfahren. Endlich, nach einer halben Stunde angeſtrengter Tätigkeit, brach Hil ſein Schweigen. Er wandte ſich zu dem Direktor der Station, Ra, der neben ihm ſtehend aufmerkſam die merkwürdigen, wie tot daliegenden Weſen betrachtete, und ſagte: „Sie werden leben.“ „Ah!“ „Aber es iſt fraglich, ob wir ſie hier zum Bewußtſein bringen. Wir müſſen ſie in Verhältniſſe ſchaffen, die ihren Lebensgewohnheiten entſprechen. Vor allem dürfen wir ihnen die Schwere nicht entziehen, und ich glaube, auch die Temperatur des Zimmers muß höher ſein.“ „Gut“, antwortete Ra, „wir haben ja Gaſtzimmer genug, wir können ſie an der Außenſeite, bei unſeren Wohnungen unterbringen. Ich werde ſofort das Nötige anordnen.“ Sobald Ra in den Vorraum trat und den hoffnungsvollen Ausſpruch des Arztes mitteilte, pflanzte ſich die Nachricht durch die ganze Inſel hin fort. Die Bate, die keine Eskimos ſind, waren der Mittelpunkt aller Geſpräche, obgleich erſt die wenigſten Martier ſie überhaupt geſehen hatten. Daß übrigens jemand, der bei der Pflege nichts zu tun hatte, neugierig hätte eindringen wollen, konnte bei dem feinen Taktgefühl der Martier ſelbſtverſtändlich nicht vorkommen. Die beiden Geretteten wurden getrennt in geeigneten Räumen untergebracht und vollſtändiger Ruhe überlaſſen. Stundenlang lagen ſie in tiefem Schlaf. 6. In der Pflege der Fee Saltner ſchlug die Augen auf. Was er da über ſich ſah, war es das Netzwerk des Ballons? Dieſe regelmäßigen, goldglänzenden Arabesken auf dem lichtblauen Grund? Nein, der Ballon war es nicht — der Himmel ſieht auch nicht ſo aus — doch — was war denn geſchehen? Er war ja ins Waſſer geſtürzt. Sieht es unten auf dem Meer ſo aus? Aber im Waſſer iſt man tot oder — er wendete den Kopf, doch die Augen fielen ihm wieder zu. Er wollte nachdenken, doch die Fragen waren ihm zu ſchwer, er fühlte ſich ſo matt — — jetzt bemerkte er, daß er einen Gegenſtand zwiſchen den Lippen hielt, ein Röhrchen. — War es noch immer das Mundſtück des Sauerſtoffapparats? Nein. — Ein ſeltſamer Duft umwehte ihn — inſtinktiv ſog er an dem Rohr, denn er empfand einen brennenden Durſt. Ach, wie das wohltat! Ein kühler erquickender Trank! Wein war es nicht — Milch auch nicht —, gleichviel, es mundete — war es vielleicht Nektar? Seine Sinne verwirrten ſich wieder. Aber der Trank wirkte wunderbar. Neues Leben rann durch ſeine Adern. Er konnte die Augen wieder öffnen. Aber was erblickte er? Alſo war er doch im Waſſer? Über ihm, höher als ſein Kopf, rauſchten die Wogen des Meeres. Aber ſie drangen nicht bis zu ihm heran. Eine durchſichtige Wand trennte ſie von ihm, hielt ſie zurück. Der Schaum ſpritzte an ihr empor, das Licht brach ſich in den Wellen. Dennoch konnte er den Himmel nicht ſehen, ein Sonnendach mochte ihn abblenden. Hin und wieder ſtieß ein Fiſch dumpf gegen die Scheiben. Vergeblich verſuchte ſich Saltner ſeine Lage zu erklären. Er glaubte zunächſt, ſich auf einem Schiff zu befinden, obwohl es ihn wunderte, daß ſich im Zimmer nicht die geringſte Bewegung ſpüren ließ. Aber nun blickte er etwas mehr zur Seite. War es denn nicht mehr Tag? Das Zimmer war doch von Tageslicht erhellt, aber dort links ſah er direkt in dunkle Nacht. Ein ihm unbekanntes Bauwerk in einem nie geſehenen Stil lag im Mondſchein vor ihm. Er blickte auf das Dach desſelben, das von den Wipfeln ſeltſamer Bäume begrenzt wurde. Und wie merkwürdig die Schatten waren —! Saltner verſuchte ſich vorzubeugen, den Kopf zu heben. Da ſtanden wirklich zwei Monde am Himmel, deren Strahlen ſich kreuzten. Auf der Erde gab es etwas Derartiges nicht. Ein Gemälde konnte doch aber nicht ſo ſtarke Lichtunterſchiede zeigen — es müßte denn ein transparentes Bild ſein — Auf das leiſe Geräuſch, welches ſeine Bewegung verurſachte, ſchob ſich auf einmal die Landſchaft zur Seite. Eine Geſtalt lehnte in einem Seſſel und ſah Saltner mit großen, leuchtenden Augen an. Einen Augenblick ſtarrte er verwirrt auf dieſe neue Erſcheinung. Noch nie glaubte er ein ſo herrliches Frauenantlitz geſehen zu haben. Schnell wollte er ſich erheben, und nun erſt warf er einen Blick auf ſeinen eignen Körper. Man hatte ihn während ſeiner Bewußtloſigkeit offenbar gebadet und mit friſcher Leibwäſche verſehen. Er fand ſich in einen weiten Schlafrock von einem ihm unbekannten Stoff gehüllt. Jetzt ſtreckte die Geſtalt eine Hand aus und drehte an einem der Knöpfe, die ſich neben ihr auf einem Tiſch befanden. in demſelben Augenblick durchlief Saltner ein Gefühl, als wollte man ihn plötzlich in die Höhe heben. Die Hand, deren Stellung er verändern wollte, fuhr ein ganzes Stück höher, als er ſie zu heben beabſichtigte. Mit Leichtigkeit richtete er ſeinen Oberkörper empor, aber bei dem Ruck flogen auch ſeine Beine in die Luft, und mit einer überraſchenden Geſchwindigkeit führte er einige unbeabſichtigte turneriſche Übungen aus, bis es ihm gelang, ſich in ſitzender Stellung auf ſeinem Lager zu balancieren. Zugleich hatte ſich auch die weibliche Geſtalt erhoben und ſchwebte auf ihn zu. Ein herzgewinnendes Lächeln lag auf ihren Zügen, und aus den wunderbaren Augen ſprach die innigſte Teilnahme. Saltner wollte aufſtehen, bemerkte aber ſchon beim erſten Anziehen ſeines Fußes, daß er Gefahr lief, in eine unbeſtimmte Höhe zu ſchnellen. Eine leichte Handbewegung der vor ihm ſtehenden Geſtalt bedeutete ihm, ſeinen Sitz wieder einzunehmen. Nun endlich fand er die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit. „Wie Sie befehlen“, ſagte er. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigſt andeuten, wo ich mich eigentlich befinde.“ Bei ſeinen Worten ließ die Geſtalt ein leiſes, ſilbernes Lachen vernehmen. „Er ſpricht, er ſpricht!“ rief ſie in der Sprache der Martier. „Es iſt zu luſtig!“ „Fafagolik?“ verſuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben. „Was iſt das für eine Sprache oder was für eine Gegend?“ Die Martierin lachte wieder und betrachtete ihn dabei vergnüglich, wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anſchaut. Saltner wiederholte ſeine Frage franzöſiſch, engliſch, italieniſch und ſogar lateiniſch. Damit war ſein Sprachſchatz erſchöpft. Da ihn die Fremde offenbar nicht verſtand und er noch immer keine Antwort erhielt, ſagte er wieder auf deutſch: „Die Gnädige ſcheint mich nicht zu verſtehen, aber ich will mich doch wenigſtens vorſtellen. Mein Name iſt Saltner, Joſef Saltner, Naturforſcher, Maler, Photograph und Mitglied der Tormſchen Polarexpedition, augenblicklich verunglückt und, wie mir ſcheint, mehr oder weniger gerettet. Eigentlich iſt dabei gar nichts zu lachen, meine Gnädige, oder was Sie ſonſt ſind.“ Darauf zeigte er mehrere Male mit dem Finger auf ſich ſelbſt und ſagte deutlich: „Saltner! Saltner!“ Sodann zeigte er mit der Hand rings auf ſeine Umgebung und zuletzt auf die ſchöne Martierin. Dieſe ging ſogleich auf ſeine Gebärdenſprache ein. Sie bewegte die Hand langſam auf ſich zu und ſagte ihren Namen: „Se.“ Darauf deutete ſie auf Saltner und wiederholte deutlich ſeinen Namen. Und noch einmal wiederholte ſie mit den entſprechenden Geſten: „Se! Saltner!“ „Se, Se?“ ſagte Saltner fragend. „Das iſt alſo Ihr werter Name. Oder meinen Sie vielleicht, da draußen ſei die See? Verſtehen Sie vielleicht doch ein wenig Deutſch? Wo befinden wir uns denn hier?“ Auf ſeine fragende Handbewegung zeigte Se nach dem Meer, das vor den bis zum Fußboden reichenden Fenſtern wogte, und nannte das Wort, das in der Sprache der Martier Meer bedeutet. Darauf zog ſie an einem Handgriff, und anſtelle des Meeres erſchien die Landſchaft, welche Saltner bewundert hatte. Er ſah jetzt, daß dieſelbe auf einen Wandſchirm gemalt war, den Se ſoeben vor das Fenſter geſchoben hatte. Sie zeigte auf die Landſchaft und ſagte „Nu.“ Das bedeutet ‚Mars‘, aber Saltner war freilich mit dieſem Wort nicht gedient. Se ging nun weiter in das Zimmer zurück, das der Wandſchirm bisher ſeinen Blicken verhüllt hatte, und ſuchte nach einem Gegenſtand, den ſie nicht ſogleich zu finden ſchien. Saltner folgte ihr mit den Augen. Er glaubte noch nie etwas Anmutigeres geſehen zu haben, etwas Wunderbareres jedenfalls noch nicht. Ein roſiger Schleier umhüllte den größten Teil der Geſtalt, ließ jedoch hier und da den metalliſchen Schimmer des Unterkleides durchblicken. Die Haare kräuſelten ſich über dem Nacken in beweglichen Löckchen, die als Grundfarbe ein lichtes Braun zeigten, aber bei jeder Bewegung iriſierten wie das Farbenſpiel auf einer Seifenblaſe. Alle Bewegungen ihres Körpers glichen dem leichten Schweben eines Engels, der von der Schwere des Stoffes unabhängig iſt. Und ſobald der Kopf an eine dunklere Stelle des Zimmers geriet, leuchtete das Haar phosphoreszierend und umgab das Geſicht wie ein Heiligenſchein. Plötzlich unterbrach ſie ihr Suchen und rief: „Wie bin ich doch zerſtreut! Das hat ja alles noch Zeit. Der arme Bat hat gewiß Hunger, daran hätte ich zunächſt denken ſollen. Wart, mein armer Bat, ich will dir gleich etwas braten.“ Sie trat an den Tiſch im Hintergrund des Zimmers und machte ſich an dem Schrankaufſatz und verſchiedenen Handgriffen zu ſchaffen. Dann war ſie wieder neben ihm und ſagte mit einem unnachahmlichen Ton, der ihn entzückte: „Saltner“, indem ſie die nicht mißzuverſtehenden Pantomimen des Eſſens machte. „Glänzender Gedanke, holdſelige Se“, rief Saltner, indem er die Pantomime wiederholte. Auf einen Handgriff Ses, Saltner wußte nicht wie, ſtand auf einmal ein Tiſchchen vor ſeinem Lager, und Se ſetzte ihm eine Speiſe vor, die ſie ſoeben bereitet hatte. Er unterſuchte nicht lange, was es ſei, zerbrach ſich nicht den Kopf über die merkwürdigen Formen der ihm gereichten Inſtrumente, ſondern gebrauchte ſie, unbekümmert um Ses Lächeln, als Löffel, und tat dann einen langen Zug aus dem Mundſtück eines mit Flüſſigkeit gefällten Gefäßes. Sein Hunger war, wie er jetzt erſt merkte, ſo groß, daß er ſelbſt Ses Anweſenheit und ſeine ganze Umgebung momentan vergeſſen hatte. Erſt nachdem der erſte Reiz geſtillt war, hörte er wieder aufmerkſam auf Ses Erklärungen, die ihm die einzelnen Gegenſtände in ihrer Sprache benannte, und es gelang ihm bald, einige Worte zu behalten. Als er ſein Mahl beendet hatte, betrachtete ihn Se wieder mit zufriedener Miene. Wie man ein Schoßhündchen ſtreichelt, glitt ſie mit der Hand über ſein Haar und ſagte: „Der arme Bat war hungrig, nun wird er wieder geſund werden. War es gut, Saltner?“ Saltner verſtand freilich ihre Worte nicht, aber den Sinn fühlte er deutlich heraus. Er kam ſich auch etwas gedemütigt vor, denn er merkte wohl, daß ihn Se nicht als ein gleichberechtigtes Weſen behandelte. Aber wie ſie ſeinen Namen ausſprach, wie ſie ihn mit den Augen anſah, die bis ins Innerſte der Seele hineinzuleuchten ſchienen, konnte er nicht anders, als ihr mit den herzlichſten Worten danken. Und auch Se verſtand den Dank, ohne die Worte zu kennen, die er ſprach. Lächelnd ſagte ſie in ihrer Sprache: „Saltner gefällt mir, er iſt nicht wie ein Kalalek.“ Saltner hatte das Wort Kalalek verſtanden, das die Eskimos den Martiern als die Bezeichnung ihres Stammes genannt hatten. „Nein“, rief er entſchieden, „meine ſchöne Se, ein Eskimo bin ich nicht, ich bin ein Deutſcher, kein Eskimo — Deutſcher!“ Und er begleitete die Worte mit ſo entſchiedenen Geſten, daß Se ihren Sinn ſofort verſtand. Sie eilte zu dem Bücherregal an der Zimmerwand — denn Bücher gehören bei den Martiern zur unentbehrlichen Ausſtattung jedes Zimmers, eher würde man die Fenſter entbehren als die Bibliothek — und holte einen Atlas herbei. Inzwiſchen beſtürmte Saltner ſeine Pflegerin mit Fragen nach dem Schickſal ſeiner Gefährten, ohne ſich genügend verſtändlich machen zu können. Se kümmerte ſich zunächſt nicht um ſeine Worte und Gebärden, ſondern hielt den Atlas an ſeinem Griff Saltner vor die Augen und ließ die Blätter desſelben ſich raſch umſchlagen. Sein Erſtaunen über dieſe Mechanik wurde aber übertroffen, als ſie in ihrem Umblättern ſtillhielt und den Griff des Buches in einem Geſtell auf dem Tiſchchen vor ihm befeſtigte. Er erkannte ſofort die Karte der Gegenden um den Nordpol der Erde wieder, die er in dem Rieſenmaßſtab der Inſel vom Ballon aus bewundert hatte. Se zeigte mit ihrem ſchlanken, zierlichen Finger, an dem ihm die große Beweglichkeit der einzelnen Glieder auffiel, auf Grönland und die nächſten Landmaſſen um den Pol; dazu ſagte ſie wiederholt: „Kalalek, Bat Kalalek.“ Dann zeigte ſie auf Saltner, ergriff ſeine Hand und führte ſie über die andern Teile des Kartenbildes, indem ſie dabei fragte: „Bat Saltner?“ Saltner ſuchte auf der Karte die Gegend von Deutſchland, die allerdings perſpektiviſch ſchon ſtark verkürzt erſchien, und machte ihr durch Zeichen begreiflich, daß hier ſeine Heimat ſei. Da er aus dem öfter gehörten Wort ‚Bat‘ ſchloß, daß dies wohl ſoviel wie Menſch oder Volksſtamm bedeute, ſo zeigte er auf den Pol und fragte dazu: „Bat Se?“ Se antwortete mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung. Sie legte die ganze Hand auf die Karte und ſagte: „Bat“. Dann zeigte ſie auf ſich ſelbſt und ſprach mit Selbſtbewußtſein: „Se, Nume.“ Und als Saltner ſie fragend anblickte, wies ſie mit ausgeſtrecktem Arm nach einer beſtimmten Stelle des Bodens und wiederholte noch einmal: „Nume.“ Wie ſie ſo daſtand, leuchteten ihre Augen in verklärtem Glanz, und Saltner konnte nicht zweifeln, daß er ein höheres Weſen vor ſich habe. Aber ſogleich neigte ſie ſich wieder mit liebenswürdigem Lächeln zu ihm und ließ einige Blätter des Atlas zurückſchlagen. Es zeigte ſich eine Gruppe geometriſcher Figuren, in denen Saltner ohne Schwierigkeit einen Aufriß der Planetenbahnen im Sonnenſyſtem erkannte. Se wies auf den Mittelpunkt und ſagte: „O“. „Sonne“, antwortete Saltner, indem er zugleich nach der Richtung hinzeigte, in welcher die Sonnenſtrahlen auf der Oberfläche des Meeres ſpielten. Se nickte befriedigt, beſchrieb dann mit ihrem Finger auf der Karte die Erdbahn und wiederholte den Namen der Erde: „Ba“, und, auf Saltner weiſend: „Bat!“ Dann aber wieder mit dem ganzen Stolz der Martier den Namen ‚Nume‘ ausſprechend, bezeichnete ſie auf der Karte die Bahn des Mars und ſagte mit einem hoheitsvollen Blick auf Saltner: „Nu.“ „Der Mars!“ Es kam faſt tonlos von Saltners Lippen. Er merkte, wie ſich alle ſeine Begriffe zu verwirren drohten. Hilflos ſah er zu Se empor, die kaum ſeine Aufregung bemerkt hatte, als ſie ihm ſchon bedeutete, ſich niederzulegen. Zwar wollte er trotz der Mattigkeit, die er jetzt an ſich ſpürte, aufſpringen, um ſeine Wißbegierde weiter zu befriedigen, aber ein Blick, der keinen Widerſtand zuließ, bannte ihn auf ſein Lager. In dieſem Augenblick öffnete ſich die Tür des Zimmers, und in derſelben erſchien zuſammengebeugt und ſchleppend, auf zwei Stäbe geſtützt, die Geſtalt des Arztes Hil. Kaum aber hatte Hil das Zimmer betreten, als er ſich in voller Höhe aufrichtete, die Stäbe fortwarf und ſchnell auf das Lager zuſchritt. Er ergriff ſofort Saltners Hand, und während er den Puls beobachtete, ſagte er mit leichtem Vorwurf: „Aber Se Se, was machen Sie mir für Geſchichten. Stellen Sie nur gleich die Abarie ab. Unſer Bat muß ſeine richtige Erdſchwere haben, ſonſt geht er uns ein, ehe wir ihn wieder kräftig ſehn.“ „Seien Sie nur nicht böſe, Hil Hil“, lachte Se, „ich habe ihn ja ſo ſchön gepflegt und gefüttert — ſehen Sie die Schüſſel — 150 Gramm Eiweiß, 240 Gramm Fett und —“ Hil ſah nach der Federwaage, die ſich unter jedem Speiſegerät der Martier befand und ſofort konſtatierte, wieviel Nahrungsſtoffe man auf dieſelbe gelegt oder dem Körper zugeführt hatte. „Aber Sie haben die Schwere abgeſtellt, davon ſtand nichts in Ihrer Inſtruktion.“ „Ja, Hil Hil, Sie können doch nicht verlangen, daß ich im Zimmer herumkriechen ſoll, wenn er wach iſt.“ „Ach ſo, die liebe Eitelkeit!“ „Oh, vor dem Bat! Aber als er aufwachte, mußte ich doch ſchnell hin, und dann mußte ich die Paſtete backen, und — ja, wenn Sie wüßten: Er heißt Saltner und iſt kein Kalalek, ſondern ein — ja, das Wort habe ich vergeſſen, doch ich zeige Ihnen auf der Karte die Gegend.“ „Erſt laſſen Sie es ſchwer werden — aber halt, noch einen Augenblick, ich will mir zuvor einen Stuhl holen — ſo —“ „Und ich will mich auch erſt ſetzen“, ſagte Se. Als beide Platz genommen hatten, griff Se an einen Wirbel, und Saltner ſah, wie Se und Hil ſichtlich in ihren Seſſeln zuſammenſanken und ihre gelegentlichen Bewegungen mühſam und ſchwerfällig wurden. Er aber merkte, wie das eigentümliche Gefühl des Schwindels, das ihn beherrſcht hatte, verſchwand, ſeine Gliedmaßen konnte er wieder normal dirigieren, und er legte ſich behaglich auf ſein Lager zurück. Der Arzt ſah ihn mit ſeinen großen, ſprechenden Augen wohlwollend an. „Alſo man iſt wieder lebendig?“ ſagte er, was Saltner freilich nicht verſtand. Dann fügte er in der Sprache der Eskimos hinzu: „Verſteht ihr vielleicht dieſe Sprache?“ Saltner erriet die Frage und ſchüttelte den Kopf. Dagegen ſagte er nunmehr ſelbſt in der Sprache der Martier, was er von Se gelernt hatte: „Trinken — Wein — Bat gut Wein trinken —“ Se brach in ihr feines, ſilbernes Lachen aus, und Hil ſagte beluſtigt: „Sie haben ja ausgezeichnete Fortſchritte gemacht — nun werden wir uns wohl bald unterhalten können.“ Dabei wies er auf das neben Saltner ſtehende Trinkgefäß hin, und dieſer bediente ſich desſelben mit Erfolg zu neuer Stärkung. Das Schickſal ſeiner Gefährten lag ihm am ſchwerſten auf der Seele. Er verſuchte noch einmal, darüber Erkundigungen einzuziehen, indem er einen Finger aufhob und dazu ſagte: „Bat Saltner.“ Dann erhob er drei Finger und ſuchte durch weitere Zeichen verſtändlich zu machen, daß drei ‚Bate‘ mit dem Ballon angekommen und herabgeſtürzt ſeien. Hil, der zum erſten Mal einen Europäer ſah, hatte ſeine Aufmerkſamkeit mehr auf den ganzen Menſchen als auf ſein Anliegen gerichtet, und blickte jetzt fragend zu Se hinüber, als ſich Saltner mit der von Se gehörten Anrede ‚Hil Hil‘ direkt an ihn wendete. Se erklärte: „Er meint, daß drei Bate angekommen und in das Meer geſtürzt ſind. Wir haben aber doch nur zwei gefunden?“ „Allerdings“, ſagte Hil, „und dem andern geht es auch beſſer. Der Fuß iſt nicht ſchlimm verletzt und wird in einigen Tagen geheilt ſein. Ich habe mich durch La ablöſen laſſen, um einmal hier nach dem Rechten zu ſehen. Ich glaube übrigens, daß er bei Bewußtſein iſt, er hat wiederholt die Augen geöffnet, doch ohne zu ſprechen. Hoffentlich hat er keine ſchwere Erſchütterung davongetragen. Wir wollen ihn nicht anreden, um ihn nicht vorzeitig aufzuregen. Wollen Sie nicht einmal hinübergehen?“ „Recht gern, aber wer bleibt bei Saltner?“ „Der muß jetzt ſchlafen. Und dann müſſen wir überhaupt eine andere Einrichtung treffen. Wir bringen ſie beide zuſammen in ein Zimmer, und zwar in das große. Aus der einen Seite laſſe ich die abariſche Verbindung entfernen, desgleichen in den beiden Nebenräumen. Dort werden ihre Betten und alle ihre Geräte hingebracht, ſo daß ſie in ihren gewohnten Verhältniſſen leben können. Und wir können uns dann bei ihnen aufhalten und ſie ſtudieren, ohne fortwährend unter dieſem Druck umherkriechen zu müſſen, indem wir uns in dem andern Teil des Zimmers die Schwere erleichtern.“ „Schön“, ſagte Se, „aber ehe Sie meinen armen Bat einſchläfern, will ich noch einmal mit ihm verhandeln.“ Sie wandte ſich zu Saltner und machte ihm ſo gut wie möglich begreiflich, daß noch einer ſeiner Gefährten gerettet ſei und daß er ihn bald ſehen ſolle. Dann brachte ſie auf geſchickte Weiſe in Erfahrung, wie jener heiße, und ließ ſich einige deutſche Worte ſo lange vorſagen, bis ſie ſich dieſelben eingeprägt hatte. Während ſie Saltner aus ihren großen Augen lächelnd anſah, ſtreckte Hil die Hand gegen ſein Geſicht aus und bewegte ſie einige Male hin und her. Saltner fielen die Augen zu. Noch war es ihm, als wenn zwei ſtrahlende Sonnen vor ihm leuchteten, dann wußte er nicht mehr, ob dies zwei Augen ſeien oder die Monde des Mars, und bald lag er in traumloſem Schlaf. 7. Neue Rätſel Grunthe erwachte aus ſeiner Bewußtloſigkeit in einem Zimmer, das ganz ähnlich eingerichtet war wie dasjenige, in welches man Saltner gebracht hatte. Denn es gehörte zu derſelben Reihe von Gaſtzimmern, die für den vorübergehenden Aufenthalt von Martiern auf der Erdſtation beſtimmt waren. Auch er konnte von ſeinem Lager aus nichts erblicken als die großen Fenſterſcheiben, hinter denen das Meer wogte, und den Wandſchirm, der den übrigen Teil des Zimmers verbarg. Dieſer Schirm war ebenfalls mit einer Nachtlandſchaft des Mars verziert, welche beide Monde des Mars zeigte — ein bei den Malern des Mars ſehr beliebter Lichteffekt. Hier aber befanden ſich außerdem im Vordergrund zwei Figuren, von denen die eine nach einem beſonders hell leuchtenden Stern hinwies, während eine zweite das ſtark vergrößerte Bild jenes Sternes beobachtete, wie es von einem Projektionsapparat auf einer Tafel entworfen erſchien. Grunthe ſuchte ſeine Gedanken zu ſammeln. Er lag ſorgfältig gebettet und in einem Schlafgewand, das nicht das ſeinige war, in einem erwärmten Zimmer. Seinen Fuß, der ihn übrigens nicht ſchmerzte, konnte er nicht bewegen; dieſer befand ſich in einem feſten Verband. Er fühlte ſich matt, aber vollſtändig bei Sinnen und ohne merkliche Beſchwerden. Kopf und Arme, bis zu einem gewiſſen Grad auch den Oberkörper, konnte er willkürlich bewegen. Er war alſo nach ſeinem Sturz ins Waſſer gerettet worden. Wo aber befand er ſich, und wer waren die Retter? Die anfängliche Täuſchung, daß er an der Stelle, wo der Schirm ſtand, in eine wirkliche Nachtlandſchaft ſehe, konnte bei ihm nicht lange anhalten, da dieſe Figuren enthielt, welche ſich nicht bewegten. Er hatte alſo ein Bild vor ſich. Demnach war das Meer, wie er auch aus der Farbe und Art der Beleuchtung ſchloß, wohl nichts anderes als das Polarmeer, in welches der Ballon geſtürzt war, er befand ſich auf der Inſel, und ſeine Retter waren die Bewohner dieſer Inſel. Wer waren ſie, und was hatte er von ihnen zu erwarten? Darauf konzentrierten ſich alle ſeine Gedanken. Er bewegte ſeine Arme, er beobachtete ſeine Atmung, ſeinen Puls, er hörte das Rauſchen des Meeres — alle Erſcheinungen der Natur waren unverändert, er war auf der Erde, und doch konnten die Weſen, die hier wohnten, keine Menſchen ſein. Der Stoff ſeines Gewandes, ſeiner Decke, ſeines Lagers war ihm vollſtändig unbekannt, daraus konnte er keinen Schluß ziehen. Aber das Bild! Was ſtellte das Bild vor? War es nicht möglich, daraus zu erkennen, in weſſen Gewalt er ſich befand? Die beiden Geſtalten auf dem Bild waren, wie es ſchien, menſchlicher Art. Die ſtehende Figur, welche nach dem Stern hinwies, ſah nicht anders aus als eine ideale Frauengeſtalt mit auffallend großen Augen; um ihren Kopf ſpielte ein ſeltſamer Lichtſchimmer — ſollte dies eine ſymboliſche Figur mit einem Heiligenſchein ſein? Die Gewandung — ſoweit überhaupt von ſolcher die Rede war — ließ keine Schlüſſe zu, ſie konnte ja einer Laune des Künſtlers entſprungen ſein. Die ſitzende Geſtalt, welche das Bild des Sternes beobachtete und dem Beſchauer den Rücken zuwandte, ſchien einen enganliegenden metallenen Panzer zu tragen; in der Hand hielt ſie einen Grunthe unbekannten Gegenſtand. Sollten dieſe beiden Figuren Vertreter der Bewohner der Polinſel ſein? Aber die Landſchaft ſelbſt war keine Landſchaft der Erde. Alſo wohl eine Erinnerung an die Heimat, aus welcher die Polbewohner ſtammten? Und wenn es ſo war — dieſe beiden Monde —, ſie konnten keiner andern Welt angehören als dem Mars. Bewohner des Mars haben den Pol beſiedelt! Der Gedanke war Grunthe ſchon einmal aufgeſtiegen, als er zuerſt vom Ballon aus die Inſel mit ihren Vorrichtungen und dem merkwürdigen Kartenbild der Erde betrachtet hatte. Er hatte ihn als zu phantaſtiſch zurückgedrängt, er wollte nichts mit ſo unwahrſcheinlichen Hypotheſen zu tun haben, ſo lange er noch auf eine andere Erklärung hoffen konnte. Doch als der Ballon von jener unerklärlichen Kraft in die Höhe geriſſen wurde, mußte er wieder an dieſe Hypotheſe denken. Und jetzt, die merkwürdige Rettung, die ſeltſamen Stoffe, das Bild! Was war das für ein Stern, der auf dieſem Bild beobachtet wurde? Er ſtrengte ſeine ſcharfen Augen an, um die Abbildung auf der Tafel zu erkennen. Eine hell beleuchtete ſchmale Sichel, der übrige Teil der Scheibe in einem matten Schimmer — und dieſe dunklen Flecke, die weißen Kappen an den Polen — kein Zweifel, das war die Erde, wie ſie vom Mars aus bei ſtarker Vergrößerung erſchien, die ſchmale Sichel im Sonnenſchein, das übrige ſchwach vom Mondlicht erhellt. — Grunthe konnte ſich nicht länger der Anſicht verſchließen, daß er bei den Marsbewohnern ſich befinde — ein Gaſt, ein Gefangener — wer konnte es wiſſen? Wie konnten Marsbewohner auf die Erde kommen? Grunthe wußte die Frage nicht zu beantworten. Nahm man aber die Tatſache einmal als gegeben, ſo erklärten ſich die andern Erſcheinungen ſehr leicht, der Wunderbau der Inſel, die Beeinfluſſung des Ballons, die Rettung, die Einrichtung des Zimmers — die Hypotheſe der Marsbewohner war doch wohl die einfachſte — Und auf einmal zuckte Grunthe zuſammen — eine Erinnerung wurde ihm plötzlich lebendig —, ſeine Lippen ſchloſſen ſich feſt aufeinander, und zwiſchen ſeinen Augenbrauen bildete ſich eine tiefe ſenkrechte Falte — Er ſpannte ſein Gedächtnis aufs äußerſte an — Ell, Ell!, ſagte er bei ſich. — Was war es doch, was ihm Ell geſagt hatte, ehe er die Reiſe antrat? Friedrich Ell, der Freund Torms, lebte als Privatgelehrter in Friedau ſeinen Studien, aber er war der eigentliche geiſtige und der pekuniäre Urheber der Expedition, die Seele der internationalen Vereinigung für Polarforſchung. Mit ihm hatte er oft über die Möglichkeit disputiert, wie die Bewohner des Mars mit der Erde in Verbindung treten könnten. Und Ell hatte immer geſagt: Wenn ſie kommen, ſo haben wir ſie am Nordpol oder am Südpol zu erwarten. Man ſpringt auf einen Eiſenbahnzug nicht, wo er in Fahrt iſt, ſondern wo er ſteht. Wer weiß, was Sie am Pol finden! Grüßen Sie mir die — — ja, das Wort hatte er vergeſſen. Er hatte kein Gewicht darauf gelegt. Man wußte nicht immer bei Ell, ob er ſcherze oder im Ernſt ſpräche. „Grüßen Sie mir die —“ Es fiel ihm nicht ein. Aber wohl erinnerte er ſich, wie Ell eines Abends ſehr erregt geworden war, als man von den Bewohnern des Mars wie von Fabelweſen geſprochen hatte. Er hatte dann das Geſpräch plötzlich abgebrochen. Grunthe wurde aus ſeinem Nachſinnen geriſſen. Hinter dem Bild der Marslandſchaft wurden Stimmen laut. Was war das für eine Sprache? Grunthe kannte ſie nicht, er verſtand kein Wort. Hinter dem Schirm hatte, von Grunthe unbemerkt, La geſeſſen. Es war ihr ſehr unbequem, unter dem Druck der irdiſchen Schwerkraft auszuhalten, und ſie hatte ſich deshalb unbeweglich auf ihr Sofa geſtreckt. Jetzt kam Se ſchwerfällig herbei und ließ ſich ebenfalls nieder. „Wie geht’s dem Bat?“ fragte ſie. „Ich weiß es wirklich nicht“, ſagte La, „ich habe noch nicht gehört, daß er ſich bemerklich gemacht hätte, und unter dieſem Druck kannſt du nicht verlangen, daß ich zu ihm hingehe.“ „So machen wir es leicht!“ rief Se und ſtreckte die Hand nach dem Griff des abariſchen Apparates aus. „Aber Hil hat es verboten“, erwiderte La. „Es könnte ſchädlich wirken.“ „Ach, ich habe es drüben auch ſo gemacht, auf kurze Zeit tut es dem Bat nichts. Haſt du ihn denn ſchon gefüttert?“ „Nein, wie konnte ich?“ „Und doch iſt es nötig, meint auch Hil. Und ſo lange müſſen wir mindeſtens uns frei bewegen können. Alſo, auf meine Verantwortung.“ Se ſtellte den Apparat auf die normale Marsſchwere ein. Die beiden Damen erhoben ſich und atmeten erleichtert auf. In demſelben Augenblick wollte Grunthe eine Bewegung ausführen, aber ſein Arm fuhr plötzlich viel höher, als er beabſichtigt hatte. Sogleich probierte er die Bewegung noch einmal und konſtatierte, daß alle ſeine Gliedmaßen ſowie die Decke ſeines Bettes viel leichter geworden waren. Er ſuchte nach einem Gegenſtand, den er in die Höhe werfen wollte, um das wunderbare Phänomen zu ſtudieren. Da er jetzt trotz des Verbandes an ſeinem Fuß den Oberkörper leicht aufrichten konnte, erblickte er auf einem Wandbrett über ſeinem Lager einige Gegenſtände, die ihm gehörten; man hatte ſie offenbar in ſeinen Taſchen gefunden. Er ergriff ſein Taſchenmeſſer, hielt es ſo hoch wie möglich über den Boden und ließ es fallen. Er konnte den Fall bequem mit den Augen verfolgen; es dauerte eine Sekunde, ehe das Meſſer den Boden erreichte. Grunthe ſchätzte die Höhe und ſagte ſich: Die Schwerkraft iſt geringer geworden, und zwar beträgt ſie nur etwa ein Drittel ſoviel wie gewöhnlich. Das iſt die Schwere auf dem Mars. Und wieder mußte er an Ell denken, der ſo oft geſagt hatte: „Von der Schwere frei werden, heißt das Weltall beherrſchen.“ Auf das leichte Geräuſch, welches das Auffallen des Meſſers erzeugte, hatte Se den Wandſchirm beiſeite geſchoben und war mit La auf Grunthe zugetreten. Dieſer hatte ſeine Aufmerkſamkeit nicht mehr auf den Schirm gerichtet und ſchrak daher mit einer Bewegung der Überraſchung zuſammen, als er plötzlich die beiden ſchönen Martierinnen vor ſich ſah. Kaum hatte er erkannt, daß ſich zwei lebendige weibliche Geſtalten ihm näherten, ſo legte er ſich mit eiſiger Miene zurück und heftete die Augen ſtarr an die Decke. Da er La und Se nicht anzuſehen wagte, konnte er nicht bemerken, mit welch freundlichen und teilnahmsvollen Blicken ſie ihn betrachteten. Nur an dem Ton der Stimmen, mit welchem ſie in ihrer Sprache einige Worte an ihn richteten, erkannte er die gute Geſinnung. La zupfte ihm die Decke zurecht, Se aber beugte ſich über ihn und ſah mit ihrem leuchtenden Blick tief in ſeine Augen. Dieſe Damengeſellſchaft war ihm ſchrecklich; lieber hätte er ſich von feindlichen Wilden umgeben geſehen. Ach, und nun fühlte er eine weiche Hand auf ſeinem Kopf, Se ſtreichelte ſein Haar — unwillig ſtieß er die Hand zurück. „Armer Menſch“, ſagte Se, „er ſcheint noch ganz verwirrt. Wir müſſen ihm vor allen Dingen zu trinken geben.“ Sie legte die Hand wieder auf ſeine Stirn und ſagte: „Fürchte dich nicht, wir tun dir nichts, armer Menſch.“ „Ko bat“, ſo lautete das letzte Wort Ses in ihrer Sprache, „Ko bat“ — es wirkte überraſchend auf Grunthe —, das war einer der ſeltſamen Ausdrücke Friedrich Ells. So pflegte Ell zu ſagen, wenn er mit einer ſeiner wunderlichen Anſichten nicht durchdringen konnte, wenn er ſein Mitleid mit dem Mangel an Verſtändnis bei den Menſchen bezeichnen wollte. Oft hatte ihn Grunthe gefragt, wo dieſe Redensart herſtammen wie er dazu käme. Dann hatte Ell immer nur ſtill gelächelt und wiederholt: „Ko bate, das verſteht ihr nicht, arme Menſchen!“ Dieſe Erinnerungen waren mit dem Wort in Grunthe wieder aufgetaucht. Er verhielt ſich jetzt ganz ruhig. Inzwiſchen hatte La ein Trinkgefäß herbeigeholt, mit dem wunderbaren Nektar der Martier gefüllt. Die Martier tranken ſtets durch einen mit Mundſtück verſehenen Schlauch, der in dem Gefäß befeſtigt war, und dieſes Mundſtück verſuchte La jetzt Grunthe zwiſchen die Lippen zu ſchieben. Aber das war vergebliches Bemühen, Grunthe hielt ſie feſt geſchloſſen und wandte ſein Geſicht zur Seite. „Die Bate ſind aber unliebenswürdige Geſchöpfe“, ſagte La lachend. „Oh“, entgegnete Se, „Saltner war ganz anders, der redete gleich!“ Grunthe hatte den Namen erfaßt, jetzt öffnete er zum erſten Mal die Lippen. „Saltner?“ fragte er, ohne jedoch Se anzublicken. „Ach“, ſagte Se, „ſiehſt du, er kann hören und ſprechen. Nun paß auf, nun werde ich einmal mit ihm reden.“ Sie ſchlug den Arm freundſchaftlich um Las Schulter und ſtellte ſich nahe an das Lager. Dann ſagte ſie mit großer Anſtrengung ihres Sprachorgans die von Saltner gelernten deutſchen Worte: „Saltner deutſch Freund trinken Wein, Grunthe trinken Wein, deutſch Freund.“ Grunthe warf jetzt einen erſtaunten Blick auf die deutſch redende Martierin, während La über die Worte, die ihr furchtbar komiſch vorkamen, kaum ihr Lachen verbergen konnte. Auch Grunthe war im Begriff zu lächeln, als er aber die beiden verführeriſchen Geſtalten ſo nahe vor ſich erblickte, ſtarrte er ſofort wieder an die Decke, antwortete jedoch in höflichem Ton: „Wenn ich recht verſtehe, ſo iſt auch mein Freund Saltner gerettet. Sagen Sie, bitte, wo ich hier bin.“ „Trinken Wein, Grunthe“, wiederholte Se dringend, und La hielt ihm das Mundſtück vor das Geſicht. Grunthe nahm jetzt die dargebotene Erfriſchung. Und bald fühlte er ſich durch das Getränk aufs angenehmſte erquickt und belebt. Er bedankte ſich und richtete noch einige Fragen an Se, aber ihre Sprachkenntniſſe waren nunmehr erſchöpft. Grunthe ſah ein, daß er die Gebärdenſprache zu Hilfe nehmen müſſe, und ſo mußte er ſich wohl oder übel entſchließen, die beiden Martierinnen anzuſehen. Er deutete auf ſie hin, dann auf das Bild, und ſagte auf gut Glück: „Mars? Mars?“ Das Wort hatte Se behalten. Sie wiederholte es bejahend: „Mars, Nu!“ Und auf La und ſich hinweiſend ſagte ſie, hochaufgerichtet: „La, Se, Nume!“ Nume! Das war’s! Das war das Wort, das Ell ihm geſagt hatte: Grüßen Sie die Nume! Nume alſo nannten ſich die Martier, und Ell hatte das gewußt — — das gab Grunthe ſoviel zu denken, daß er momentan ſeine Umgebung vergaß. Um in ſeinem Nachdenken nicht geſtört zu werden, ſchloß er die Augen, und ſein Geſicht nahm wieder den ſtarren Ausdruck an. Se wollte ihn fragen, ob er eſſen wolle, aber das deutſche Wort, das ſie ſich von Saltner hatte ſagen laſſen, war ihr entfallen. Da Grunthe hartnäckig die Augen geſchloſſen hielt, begab ſie ſich in den Hintergrund des Zimmers, um eine Mahlzeit zu bereiten. Denn dies geſchah in jedem Zimmer ſehr einfach und ſchnell durch die elektriſche Küche. La zog es indeſſen vor, ſich einen Seſſel herbeizuziehen und neben dem Lager Platz zu nehmen. Sie muſterte aufmerkſam die Gegenſtände, welche man bei Grunthe gefunden hatte, und ſpielte mit einem kleinen Buch, das ſich unter denſelben befand. Es war eine Anweiſung zum Verkehr in der Eskimoſprache und zeigte als Titelvignette einen fein ausgeführten Holzſchnitt, einen Eskimo in ſeinem Kajak auf wildbewegtem Meer dem Fiſchfang abliegend. „Oh, ſieh!“ rief ſie Se zu, „hier iſt ein Kalalek in ſeinem Kajak.“ Die beiden Eskimoworte ſchlugen verſtändlich an Grunthes Ohr und weckten ihn aus ſeinem verworrenen Hinbrüten. Sollten die Martier vielleicht das Grönländiſche erlernt haben? Er ſagte ſich, daß dies ja leicht möglich ſei. Er ſelbſt hatte ſich zum Zweck der Reiſe das Notwendigſte für den Verkehr angeeignet und fragte daher: „Ich ſpreche einige Worte der Eskimos. Verſtehen Sie mich?“ Se wußte nicht, was er meinte. La aber hatte ſchon ſeit einiger Zeit ihre Studien auf die Sprache der einzigen Menſchen gerichtet, die den Martiern bisher begegnet waren. Sie verſtand ihn und antwortete: „Ich verſtehe ein wenig.“ „Wo ſind meine Freunde?“ fragte Grunthe. „Es iſt nur einer da. Er iſt in einem andern Zimmer.“ „Kann ich zu ihm?“ „Er ſchläft, aber man wird Sie dann zuſammenbringen.“ „Wie kommen Sie vom Nu auf die Erde?“ La wußte die Antwort nicht auszudrücken. Sie fragte dagegen: „Was wollt ihr hier?“ Grunthe wußte nun ſeinerſeits nicht, wie er den Begriff ‚Nordpol‘ im Grönländiſchen wiedergeben ſollte. Er wollte ſich in dem Büchlein Rats erholen und ſagte: „Geben Sie mir das Buch.“ „Was?“ fragte La. Grunthe richtete ſich auf, um das Buch, das ſie in der Hand hielt, zu erfaſſen. Aber er hatte im Augenblick nicht an die veränderten Schwereverhältniſſe gedacht, und ſo kam es, daß ſein ganzer Oberkörper bis zu Las Platz hinüberſchnellte. Er wäre aus dem Bett geſtürzt, wenn nicht La ihn raſch am Arm gefaßt und gehalten hätte. Dieſe Berührung war nun für Grunthe höchſt peinlich, er wollte ſich ihr entziehen, aber da er noch gar nicht verſtand, ſeine Glieder unter den veränderten Umſtänden zu gebrauchen, und außerdem durch ſeinen Fuß behindert war, geſchah es, daß er nach der andern Seite zu fallen drohte und ihn La ganz mit ihren Armen umfaſſen mußte. Sie legte ihn ſanft auf das Lager zurück, während er ihr teeroſenfarbiges Haar dicht vor ſeinen Augen flimmern ſah. Ein Schwindel drohte ihn zu erfaſſen. Se kam mit dem Speiſegerät herangeſchwebt. „Was macht ihr denn?“ rief ſie lachend. „Ich höre, daß ihr euch ſo eifrig unterhaltet, ohne daß ich verſtehen kann, was ihr redet, und auf einmal —“ „Ja“, lachte La ebenfalls, „es war zu komiſch, was der arme Bat für Sprünge machte!“ „Ach“, ſagte Se, „das ſcheint mir eine gefährliche Geſchichte! Erſt wagt er dich nicht anzuſehen, und wie ich den Rücken wende, macht er dir auf grönländiſch eine Liebeserklärung.“ „Daran biſt du ſchuld, du haſt die Schwere abgeſtellt. Wenn ihm der Schreck nur nicht ſchlecht bekommt — was wird Hil ſagen!“ Grunthe lag wieder regungslos. Sein allerdings ganz unverſchuldetes Ungeſchick ärgerte ihn ſchwer, die Berührung mit der ſchönen La war ihm entſetzlich, zudem bewirkte die Abnahme der Schwere jetzt ein körperliches Übelbefinden. Aber La bat ihn ſo freundlich in der Eskimoſprache, doch zu eſſen, und Se bot ihm die einen verlockenden Duft entwickelnden Speiſen mit einem ſo gebietenden Blick, daß er ſeinen Hunger zu ſtillen wagte. Mit größter Vorſicht richtete er ſich auf und genoß einiges von den Speiſen, von denen er keine Ahnung hatte, was ſie vorſtellten. Sobald er ſich dankend zurücklehnte, ſchob Se das Speiſetiſchchen zur Seite, und La ſagte: „Leben Sie wohl, Grunthe, ſchlafen Sie.“ Sie ſchwebte zum Zimmer hinaus, und Se zog den Wandſchirm vor, ſo daß Grunthe wieder ſich ſelbſt überlaſſen blieb. Der Kopf ſchwirrte ihm von allem, was um ihn herum vorgegangen war, neue Fragen drängten ſich auf, und er wollte ſich eben noch einmal aufrichten; da ergriff ihn plötzlich ein Gefühl, als würde er mit Gewalt gegen ſein Lager gedrückt. Se hatte die Erdſchwere wieder hergeſtellt. Jetzt ſchoben ſich dichte Vorhänge vor die Fenſter, und Grunthe lag im Dunkeln. Eine leiſe Muſik wie aus weiter Ferne ließ ſich hören und miſchte ſich melodiſch mit dem Rauſchen des Meeres. Grunthe verſuchte vergebens, ſeine Gedanken zu konzentrieren. Sie bewegten ſich um die Frage, wie es lebenden Weſen möglich ſein könne, den luftleeren Weltraum zu durchfliegen. Wie hatten Martier auf die Erde kommen können? Aber nur in unbeſtimmten Vermutungen irrten ſeine Vorſtellungen umher, und ehe er zu irgendeiner Klarheit in dieſer Frage gelangte, löſten ſich ſeine Gedanken in undeutliche Traumbilder auf. Grunthe entſchlummerte. 8. Die Herren des Weltraums „Dreifach panzerten Mut und Kraft // Dem das eiſerne Herz, der ſich zuerſt gewagt // Im gebrechlichen Boot hinaus // Auf das tückiſche Meer. ...“ So pries einſt Horaz die Kühnheit des Seefahrers, der dem fremden Element ſein unſicheres Fahrzeug anvertraute. ... Aber unbedenklich beſteigt der Touriſt den luxuriöſen Bau des Rieſendampfers, um in wenigen Tagen die wohlbekannte Ozeanſtraße zu durchmeſſen. Ähnlich rühmte ein Dichter des Mars den Mut und den Scharfſinn jenes Martiers Ar, der es einſt gewagt, auf den Wegen des Lichts und der kosmiſchen Schwere in die Leere des Raumes ſeinen unvollkommenen Apparat zu werfen, um zum erſten Male den Flug zu verſuchen durch den Weltäther nach dem leuchtenden Nachbarſtern, der ſtrahlenden ‚Ba‘, dem Schmuck der Marsnächte, der jahrtauſendlangen Sehnſucht aller ‚Nume‘. Jetzt aber kannte man auf dem Mars genau die Mittel, welche die Marsbewohner, die ſich ſelbſt ‚Nume‘ nannten, anwenden mußten, die einzelnen Umſtände, auf die ſie zu achten hatten, um je nach der Stellung der Planeten die ſtrahlende Ba, das iſt die Erde, zu erreichen. Wohl war eine Reiſe zwiſchen Mars und Erde noch immer ein zeitraubendes und koſtſpieliges Unternehmen, aber es hatte ſeinen ebenſo ſicheren und bequemen Gang wie etwa heutzutage für einen Menſchen eine Reiſe um die Erde. Die Erforſchung der Erde, die Entdeckung des intraplanetaren Weges nach derſelben und die endliche Beſitzergreifung vom Nordpol bildet ein umfangreiches und wichtiges Kapitel in der Kulturgeſchichte der Martier. Die Durchſichtigkeit der Atmoſphäre auf dem Mars hatte ſeine Bewohner frühzeitig zu vorzüglichen Aſtronomen gemacht. Mathematik und Naturwiſſenſchaft waren zu einer Höhe der Entwicklung gelangt, die uns Menſchen als ein fernes Ideal vorſchwebt. Je mehr der alternde Mars durch ſeinen verhältnismäßig geringen Waſſervorrat die Exiſtenzbedingungen der Martier erſchwerte, um ſo großartiger waren die Anſtrengungen geweſen, durch welche die Martier die Technik der Naturbeherrſchung ausbildeten. Immer neue Kräfte und Hilfsmittel wußten ſie ihrem Planeten zu entlocken, der ſich freilich durch die Eigentümlichkeit ſeines Baues in noch viel höherem Maß zur Erziehung eines Kulturvolkes eignete als die Erde. Der Tag auf dem Mars hat faſt dieſelbe Dauer wie auf der Erde, er iſt nur vierzig Minuten länger. Das Jahr des Mars dagegen umfaßt 670 Mars-, das ſind 687 Erdentage, iſt alſo faſt doppelt ſo lang als ein Erdenjahr. Die geſamte Oberfläche des Mars beträgt etwa nur ein Viertel von derjenigen der Erde. Die ſüdliche Halbkugel des Mars iſt die waſſerreichere und daher am ſtärkſten bevölkert; ſie enthält auch die beiden einzigen Meere, welche der Mars beſitzt, wenn man darunter diejenigen Becken verſteht, welche das ganze Jahr hindurch mit Waſſer erfüllt ſind. Die nördliche Halbkugel beſteht zum größten Teil aus unfruchtbaren Wüſten. Aber die Bevölkerung des Mars, der die von der Natur genügend bewäſſerte Region ihres Planeten längſt zu klein geworden, wußte der kargen Natur neue Gebiete des Anbaus abzugewinnen. Sie durchzog das geſamte Wüſtengebiet mit einem vielverzweigten Netz geradliniger breiter Kanäle und verteilte auf dieſe Weiſe zur Zeit der Schneeſchmelze, im Beginn des Sommers einer je hatten. Die einzelnen Völkerſchaften bildeten einen großen Staatenbund. Wie auf der Erde der Weltverkehr ſich durch der einzelnen politiſchen Verbände darunter litt, ſo hatte die vorgeſchrittenere Ziviliſation der Martier in ihrer internationalen Vereinigung ein Zentralorgan, das unbeſchadet der Freiheit der Einzelgemeinden alle Angelegenheiten regulierte, welche für die Bewohner des ganzen Planeten ein gemeinſames den Halbkugel, das Waſſer, welches ſich in Geſtalt von Schnee an den Polen angehäuft hatte, über den ganzen Planeten. Wie die Ägypter das Anwachſen des Nils benutzten, um der Wüſte den fruchtbaren Boden des Niltals abzugewinnen, ſo tränkten die Marsbewohner durch ihre Kanäle beide Ufer derſelben. Schnell ſchoß hier eine üppige Vegetation auf, und ſo wurde durch das Kanalnetz das ganze Wüſtengebiet mit fruchtbaren, an hundert Kilometer breiten Vegetationsſtreifen durchzogen, die eine ununterbrochene Kette blühender Anſiedlungen der Martier enthielten. Wenn hier die dunkelgrünen Blätter der Pflanzen mit einem Schlag hervorſproßten, dann hoben ſich dieſe Streifen dunkel von dem rötlichen Wüſtenboden ab, und die Aſtronomen der Erde wunderten ſich, woher dieſes regelmäßige Netz von Streifen auf dem Mars wohl ſtammen möchte. Die Rieſenarbeit der Bewäſſerung des Planeten war eine Notwendigkeit für die Martier geworden, nachdem die in der Kultur vorgeſchritteneren Bewohner der Südhalbkugel allmählich den ganzen Planeten ihrer Herrſchaft unterworfen internationale Verträge regelte, ohne daß die Selbſtändigkeit Intereſſe beſaßen. Nachdem die Oberfläche des Planeten vollſtändig erforſcht und beſiedelt war, richtete ſich die Aufmerkſamkeit der Martier naturgemäß ſtärker wie je über die Grenzen ihres Wohnplatzes hinaus auf ihre Nachbarn im Sonnenſyſtem. Und was konnte ſie hier mächtiger feſſeln als die ſtrahlende Ba, die ſagenumwobene Erde, die bald als Morgen-, bald als Abendſtern alle andern Sterne ihres dunklen Himmels überſtrahlt? Die Ruhe und Durchſichtigkeit der Atmoſphäre geſtattete ihnen, bei ihren Fernrohren Vergrößerungen zu benutzen, wie ſie auf der Erde unmöglich waren. Denn auf der Erde vereitelt die ſtets ungleichmäßig bewegte Luft, daß wir Inſtrumente von ſo ſtarken Vergrößerungen praktiſch anzuwenden vermöchten, als wir ſie wohl theoretiſch und techniſch konſtruieren könnten. Der Druck der Atmoſphäre auf dem Mars iſt aber ſo gering, wie wir ihn nur auf den allerhöchſten Berggipfeln der Erde beſitzen, und die über der Marsoberfläche laſtende Luftſchicht iſt dementſprechend dünner und durchſichtiger. Die Aſtronomen des Mars konnten daher, bei günſtiger Stellung der Planeten gegeneinander, die Erde ihrem Auge ſo nahe bringen, als wäre ſie nur gegen zehntauſend Kilometer weit entfernt, und vermochten ſomit noch Gegenſtände von zwei bis drei Kilometer Ausdehnung zu erkennen. Unter dieſen Umſtänden hatten ſie natürlich bemerkt, daß ſich auf der Erde Einrichtungen finden, die nur als das Werk intelligenter Weſen zu erklären ſeien. Auch durchſchauten ſie viel zu klar den Bau und die Natur der Erde ſowie die Analogien im geſamten Sonnenſyſtem, als daß ſie nicht die Überzeugung von der Bewohnbarkeit der Erde und einer gewiſſen Kultur der Erdbewohner gehabt hätten. Die Karte der Erde ſelbſt war ihnen in umfaſſenderer Weiſe bekannt als uns Menſchen; denn von ihrem Standpunkt aus konnten ſie nach und nach alle jene Gebiete der Erdkugel, insbeſondere die Polargegenden, durchmuſtern, die bisher unſeren irdiſchen Forſchungen verſchloſſen geblieben ſind. Es hatte nicht an Verſuchen der Martier gefehlt, ſich mit den von ihnen vermuteten Erdbewohnern in Verbindung zu ſetzen. Aber die gegebenen Zeichen waren wohl nicht bemerkt oder nicht verſtanden worden. Jedenfalls mochten die Erdbewohner nicht in der Lage ſein, darauf zu antworten. Die Erde war ein ſehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie ſie der Mars ſchon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte. Da ſagten ſich die Marsbewohner ſelbſtverſtändlich, daß die Bate, wie ſie die hypothetiſchen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel niedrigeren Standpunkt der Kultur ſtänden als ſie, die Nume; ja wer weiß, ob ſie ſich überhaupt ſchon bis zur Höhe der ‚Numenheit‘, zur Vernunftidee der Martier, erhoben haben! Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft zu ſprechen anfing, blickten die Martier längſt nicht nur auf das Zeitalter des Dampfes, ſondern auch auf das Zeitalter der Elektrizität wie auf ein altes Kulturerbe zurück. Damals vollendete ſich bei ihnen eine wiſſenſchaftliche Entdeckung, die eine Umgeſtaltung aller Verhältniſſe nach ſich zu ziehen geeignet war. Die Enthüllung des Geheimniſſes der Gravitation war es, die einen ungeahnten Umſchwung der Technik herbeiführte und die Martier zu Herren des Sonnenſyſtems machte. Die Gravitation iſt jene Kraft, welche die Bewegungen der Geſtirne im Weltraum beherrſcht. Sie verbindet die Sonne mit den Planeten, die Planeten mit ihren Monden, ſie hält die Gegenſtände an der Oberfläche der Weltkörper feſt und bewirkt, daß dieſe als dauernde einheitliche Gruppen im Univerſum beſtehen; ſie läßt den geworfenen Stein wieder zur Erde fallen und die Gewäſſer nach dem Meer hin ſich ſammeln. Sie iſt eine allgemeine Eigenſchaft der Körper, welche von ihrer gegenſeitigen Lage im Raum abhängt; die Arbeit, welche ein Körper infolge der Gravitation zu leiſten vermag, nennt man daher Raumenergie. Wenn es gelänge, einem Körper dieſe eigentümliche Form der Energie zu entziehen, die er infolge ſeiner Lage zu den übrigen Körpern, insbeſondere zu den Planeten und der Sonne beſitzt, wenn es gelänge, ſeine Gravitation in eine andere Energieform überzuführen, ſo würde man dieſen Körper dadurch unabhängig von der Schwerkraft machen; die Schwerkraft würde durch ihn hindurch oder um ihn herumgehen, ohne ihn zu beeinfluſſen; er würde ‚diabariſch‘ werden. Er würde ebenſowenig von der Sonne angezogen werden wie ein Stück Holz vom Magneten. Dann aber müßte es ja auch gelingen, den Körper dem Einfluß der Planeten und der Sonne ſoweit zu entziehen, daß man ihn im Weltraum frei bewegen könnte; dann alſo müßte es gelingen, den Weg von einem Planeten zum andern, von dem Mars zur Erde zu finden. Dies war den Martiern gelungen. Sie vermochten Körper von gewiſſer Zuſammenſetzung herzuſtellen, ſo daß jede auf ſie treffende Schwerewirkung ſpurlos an ihnen und an den von ihnen umſchloſſenen Körpern vorüberging — das heißt ſpurlos als Schwere. Die Gravitationsenergie wurde in andere Energieformen umgewandelt. Solche Körper können wir ‚diabariſch‘ nennen. Zwei Umſtände hatten es den Martiern erleichtert, dem Geheimnis der Gravitation auf die Spur zu kommen. Der eine lag darin, daß die Schwerkraft auf ihrem Planeten nur ein Drittel von demjenigen Werte beträgt, den ſie auf der Erde beſitzt. Eine Laſt, die auf der Erde tauſend Kilogramm wiegt, hat, auf den Mars gebracht, nur ein Gewicht von 376 Kilogramm; ein freifallender Körper, der bei uns in der erſten Sekunde 5 Meter herabfällt, fällt auf dem Mars in dieſer Zeit nur um 1,8 Meter und kommt mit der ſanften Geſchwindigkeit von 3,6, ſtatt bei uns mit faſt 10 Meter, an. Infolgedeſſen war es den Martiern erleichtert, alle Eigentümlichkeiten der Schwere bequemer und genauer zu ſtudieren. Der zweite Umſtand war ein geographiſcher, oder, wie wir beim Mars ſagen müßten, ein areographiſcher, nämlich die Zugänglichkeit der Pole des Mars. Während auf der Erde die Pole mit ihrer ewigen Eisdecke des Beſuches ſich erwehren, ſind die Marspole nicht vergletſchert. Zwar bedecken ſie ſich im Winter mit einer dichten Schneehülle, die aber doch viel geringer iſt als auf der Erde, weil die Atmoſphäre des Mars viel weniger Feuchtigkeit enthält. Außerdem dauert der Sommer faſt ein volles Erdenjahr, währenddeſſen der Pol in fortwährendem Sonnenſchein liegt, ſo daß der Schnee zum größten Teil fortſchmilzt. Die Pole des Mars ſind daher den Marsbewohnern nicht nur bekannt, ſondern ſie haben gerade auf ihnen ihre bedeutendſten wiſſenſchaftlichen Stationen angelegt. Denn die Pole eines Planeten ſind ausgezeichnete Punkte, ſie unterliegen nicht der Umdrehung um die Achſe im Verlauf eines Tages, und ſie bieten dadurch Gelegenheit zu Beobachtungen, die ſich an keiner anderen Stelle ſo einfach anſtellen laſſen. Gerade nun für die Unterſuchung der Schwerkraft zeigte ſich dies von größter Wichtigkeit. Ihre Wirkungen im Kosmos zu ſtudieren, das heißt ihre Wechſelwirkung mit andern kosmiſchen Kräften, mußte man ſich von der Rotation des Planeten um ſeine Achſe und allen dadurch entſtehenden Komplikationen unabhängig machen. Dies konnte nur am Pol geſchehen. Vom Pol gingen denn auch die Unterſuchungen der Martier aus. Die Martier hatten entdeckt, daß die Gravitation, ebenſo wie das Licht, die Wärme, die Elektrizität, ſich in Form einer Wellenbewegung durch den Weltraum und die Körper fortpflanzt. Während aber die Geſchwindigkeit der ſtrahlenden Energie, die wir als Licht, Wärme und Elektrizität beobachten, 300.000 Kilometer in der Sekunde beträgt, iſt diejenige der Gravitation eine millionenmal größere. Nach den Berechnungen der Martier durchläuft die Gravitation den Raum mit einer Geſchwindigkeit von 300.000 Millionen Kilometern pro Sekunde, ſie verhält ſich alſo zu derjenigen des Lichts etwa ſo wie die des Lichts zur Geſchwindigkeit des Schalls. Den Weg von der Sonne bis zur Erde legt ſomit die Wirkung der Schwere in einem halben Tauſendteil einer Sekunde zurück; kein Wunder, daß es den Aſtronomen der Erde nicht gelungen war, die von ihnen allerdings vermutete endliche Geſchwindigkeit der Gravitation zu konſtatieren. Einen Körper, der die Lichtwellen nicht durch ſich hindurchgehen läßt, nennen wir undurchſichtig; ließe er ſie vollſtändig hindurchgehen, ſo würde er abſolut durchſichtig ſein, wir würden ihn ſo wenig ſehen wie die Luft. Ein Körper, der die Wärmewellen durch ſich hindurchgehen läßt, bleibt kalt; er muß ſie in ſich aufnehmen, ſie abſorbieren, um ſich zu erwärmen. So iſt es nun, wie die Martier entdeckten, auch mit der Gravitation. Die Körper ſind darum ſchwer, weil ſie die Gravitationswellen abſorbieren. Körper ziehen ſich nur dann gegenſeitig an, wenn ſie die von ihnen wechſelſeitig ausgehenden Gravitationswellen nicht durch ſich hindurchtreten laſſen. Sobald aber ein Körper ſo beſchaffen iſt, daß er die Gravitationswellen eines Planeten oder der Sonne nicht aufnimmt, ſondern frei durchläßt, ſo wird er nicht angezogen, er hat keine Schwere, er iſt diabar, ſchweredurchläſſig, und dadurch ſchwerelos. Die Martier hatte gefunden, daß das Stellit, ein auf ihrem Planeten vorkommender Körper, ſich ſo verändern läßt, daß die Schwerewellen hindurchtreten können. Und mit dieſem Augenblick wurde dieſer Körper vom Mars wie von der Sonne nicht mehr angezogen. Allerdings ließ es ſich nicht erreichen, abſolut ſchwereloſe Körper herzuſtellen, wie es ja auch keine abſolut durchſichtigen Körper gibt; wohl aber ließ ſich die Schwere ſo vermindern, daß ſie nur kaum merklich auf den diabaren Körper wirkt. Indem man die Schwereloſigkeit verſtärkte oder verminderte, konnte man nun, wenn einmal der Körper eine beſtimmte Geſchwindigkeit beſaß, durch paſſende Benutzung der Anziehung der Planeten und der Sonne die Bahn des Körpers im Weltraum regulieren — vorausgeſetzt, daß man ſich in einem ſolchen diabaren Körper befand, in einer Kugel aus Stellit. Dieſes Wageſtück, einen Apparat herzuſtellen, in welchem ein Menſch ſich in den Weltraum ſchleudern laſſen konnte, um dann durch Regelung der Anziehung, welche die Weltkörper auf ihn ausübten, ſeinen Weg zu lenken, das hatte zuerſt der Martier Ar unternommen. Aber man hatte ihn nie wiedergeſehen. War er in die Fixſternwelt jenſeits des Sonnenſyſtems hinausgeflogen? War er in die Sonne geſtürzt? Umkreiſte ſein Raumſchiff die Sonne oder irgendeinen Planeten als ein neuer Trabant? Niemand wußte es. Aber andere kühne Forſcher ließen ſich nicht zurückſchrecken. Sie hatten jetzt die theoretiſche Möglichkeit des interplanetaren Verkehrs eingeſehen, es war jetzt keine Tollkühnheit mehr, ſich dem Raum anzuvertrauen, ſondern eine dringende Aufgabe der Kultur und ſomit eine ſittliche Forderung, eine Pflicht der ‚Numenheit‘. Die größte Schwierigkeit lag nur darin, die Geſchwindigkeit unſchädlich zu machen, welche der Planet in ſeiner eigenen Bahn beſaß und die ſich natürlich auf das ſchwereloſe Raumſchiff übertrug, ſobald es den Mars verließ. Man reiſte von einem der Pole ab, um von der Rotation des Planeten unabhängig zu ſein, aber die Geſchwindigkeit des Mars in ſeiner Bahn beträgt 24 Kilometer in der Sekunde, und mit dieſer flog man hinaus in den Raum, fort von der Sonne in der Richtung der Tangente der Marsbahn. Es kam dann darauf an, ſich der Sonnenanziehung in dem richtigen Augenblick zu überlaſſen, um durch die Flugbahn des Raumſchiffs in den Anziehungsbereich der Erde zu gelangen. Man war ſomit ganz auf die vorhandenen Gravitationskräfte angewieſen, wie ein Schiff auf dem Meer auf die Richtung der Waſſer- und Luftſtrömungen; und auf einen weiteren Erfolg konnte man erſt hoffen, wenn es auch noch gelang, Mittel zu finden, die Richtung der erhaltenen Geſchwindigkeit willkürlich abzulenken. Aber auch dieſes Problem war allmählich gelöſt worden. Die Geſchichte der menſchlichen Entdeckungen auf der Erdoberfläche war nicht weniger reich an Opfern als diejenige der Verſuche der Martier, den Weltenraum zu durchſegeln. Endlich aber war einmal nach jahrelangem Ausbleiben ein Raumſchiff zurückgekehrt, das die Erde dreimal in großer Nähe umflogen hatte. Ein anderes war auf dem Mond der Erde gelandet. Zuletzt war es dem raſtloſen Erdforſcher Col auf ſeiner dritten Raumreiſe gelungen, den Nordpol der Erde zu erreichen. Der Südpol wurde zuerſt vom Kapitän All betreten. Von jetzt ab verkürzte ſich immer mehr die Reiſezeit nach der Erde durch die vervollkommnete Technik der Raumfahrt, anſtelle der vereinzelten Entdeckungsreiſen trat eine planmäßige Beſetzung des Nordpols. Und nachdem durch Konſtruktion der Außenſtation und die Errichtung des abariſchen Feldes die Landung auf der Erde ebenſo geſichert war wie die eines Dampfſchiffes im Schutz eines trefflichen Hafens, waren die Martier an dem erſehnten Ziel angelangt, die Erde nach Belieben beſuchen zu können. Nur freilich, die beiden Pole waren bis jetzt die einzigen Punkte, welche ſie zu erreichen vermochten. Am Südpol hatten ſie eine ähnliche, wenn auch kleinere und weniger benutzte Station angelegt wie am Nordpol. Denn nur während des Sommers der Nordhalbkugel konnten ſie die Nordſtation unterhalten. Im Winter verlegten ſie das abariſche Feld auf den Südpol, der zu dieſer Zeit Sommer hatte. Dagegen war es ihnen noch nicht gelungen, zu den bewohnten Teilen der Erde vorzudringen. Noch niemals hatten ſie einen ziviliſierten Menſchen kennengelernt. Einige Eskimos waren die einzigen Vertreter, nach denen ſie die Eigentümlichkeiten der Erdbewohner zu beurteilen vermochten. Aber bei ihren Umkreiſungen der Erde in der Entfernung von einigen tauſend Kilometern zeigten ihnen ihre vorzüglichen Inſtrumente natürlich die Einrichtungen der Kultur in ſolcher Deutlichkeit, daß ſie ſehr wohl wußten, die Hervorbringer dieſer Werke ſeien keine Eskimos. Doch an andern Stellen als an den Polen zu landen, war ihnen bisher nicht gelungen. Durch die Rotation der Erde wurden die Verhältniſſe dort ſo kompliziert, daß die techniſchen Schwierigkeiten nicht überwunden werden konnten. Dieſe ergaben ſich aus der beſonderen Natur der Gravitation und dem dadurch bedingten Bau der Raumſchiffe, welche dem Druck der Luft und ihren Stürmen nicht widerſtehen konnten. Auch am Pol war ja die Landung erſt mit Sicherheit durchzuführen, ſeitdem es nach vielen Opfern und Verluſten gelungen war, die Außenſtation zu errichten und ſo die Raumſchiffe außerhalb der Atmoſphäre zu halten. Wie die Brandung einer Inſel gegen die Überrumpelung durch landende Feinde ſchützt, ſo deckte die Umdrehung um ihre Achſe und die Dichtheit ihrer Atmoſphäre die Erde gegen einen plötzlichen Einfall der Marsbewohner von der Luftſeite her. Nur am Pol konnten ſie ſich feſtſetzen. Und wenn ſie nun auf der Erde vordringen wollten, ſo mußte dies über die Gletſcher und Eisſchollen der Polargegenden geſchehen. Mit dieſem Plan trugen ſich nun freilich die Marsbewohner. Aber die Überwindung dieſer Eiszonen bot ihnen ebenſoviel Schwierigkeiten, als wenn Europäer in das vernichtende Sumpfklima eines tropiſchen Urwaldes oder über die waſſerloſe Wüſte vordringen wollten. Unſere Schiffe tragen uns wohl ans Ufer unbekannter Länder, aber in das Innere vermögen wir erſt ſpäter und unter den größten Schwierigkeiten einen Einblick zu gewinnen. Die Martier hatten auf der Erde vor allem mit zwei gewaltigen Hinderniſſen zu kämpfen: Luft und Schwere. Die Dichtigkeit der Luft, ihre Feuchtigkeit und die Größe des Luftdrucks waren für die Konſtitution ihres Körpers verderblich; ſie konnten das Klima der Erde nur kurze Zeit ertragen. Und die Stärke der Schwerkraft, dreimal ſo groß wie auf dem Mars, hinderte ihre Bewegungen und drückte jeder ihrer mechaniſchen Arbeiten eine dreifache Laſt auf. Sie hätten dieſelbe überhaupt nicht tragen können, wenn ſie nicht für die Verhältniſſe ihres Planeten eine ſehr bedeutende Muskelkraft beſeſſen hätten. Gerade jetzt, als die Nordpolexpedition Torms in ihrem abariſchen Feld ſcheiterte, waren ſie mit den ernſteſten Vorbereitungen beſchäftigt, einen Vorſtoß nach Süden zu unternehmen. Denn auf dem Mars waren die Verſuche gelungen, einen Stoff herzuſtellen, der ſich wie das Stellit ſchwerelos machen ließ, aber dabei genügende Feſtigkeit beſaß, der Wärme und Feuchtigkeit der Luft zu widerſtehen. Von ihm erhofften die Martier, daß er ihnen die Wege durch die Erdenluft bahnen werde. 9. Die Gäſte der Marsbewohner Als Saltner zum zweiten Mal auf der Inſel erwachte, war er nicht wenig erſtaunt, ſich wieder in einer völlig veränderten Situation zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch ſchimmerte die Decke desſelben in einem matten Grau, ſo daß er einigermaßen ſeine Umgebung erkennen konnte. Er ſah ſofort, daß er in einen anderen Raum gebracht worden war. Fenſter waren nicht vorhanden, und das Rauſchen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen ſah er in der Nähe ſeines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgeſtapelt, in denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller geweſen wäre! Aber wie konnte man Licht erhalten? Er erhob erſt vorſichtig ſeinen Arm, um nicht etwa wieder einen unfreiwilligen Luftſprung zu machen, und als er merkte, daß er ſich unter den gewöhnlichen Umſtänden der Erdſchwere befand, ſetzte er ſich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand ſeines Lagers. Und ſiehe da, in dem Augenblick, in welchem ſeine Füße den Boden berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte ſich eine weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen leichten Schirm gedämpft, ſchien fröhlich herein. Er erkannte nun, daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor ſich hatte, auch ſeine ſorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei. Und am Boden lag ſogar ſein Eispickel, den er zu etwaigen Gletſcherbeſteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob er ſich, und ſchon bei den erſten Schritten, die er auf dem weichen Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er ſich wieder völlig wohl und bei Kräften befand. Er ſchob einen Vorhang zu ſeiner Linken beiſeite und ſah dahinter verſchiedene Geräte, die ihm höchſt fremdartig vorkamen, aber doch ſoviel erraten ließen, daß ſie einen Bade-Apparat vorſtellten und was ſonſt zur Toilette eines Martiers gehören mochte. Ehe er ſich jedoch getraute, von dieſen ihm unbekannten Gegenſtänden Gebrauch zu machen, unterſuchte er erſt die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand ſich eine große Tür, die er indeſſen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte ſich nun nach rechts und bemerkte, daß die Täfelung dieſer Seitenwand ebenfalls eine Tür enthielt, die aber nicht ganz geſchloſſen war. Sie führte in ein verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus herumtaſtete, rollte ſich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein Bett genau wie das ſeinige und erkannte zu ſeiner unausſprechlichen Freude — Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag. „Guten Morgen, Doktor“, rief Saltner ohne weiteres. „Wie geht’s?“ Grunthe ſchlug verwundert die Augen auf. „Saltner?“ ſagte er. „Hier ſind wir, munter und geſund, wer hätte das gedacht! Aber der arme Torm — niemand weiß etwas von ihm!“ „Und wiſſen Sie denn“, fragte Grunthe, ſogleich ermuntert, „wo wir uns befinden?“ „Ich weiß es, aber Sie werden’s freilich nicht glauben wollen. Oder haben Sie etwa ſchon mit dem biedern Hil oder der ſchönen Se geſprochen?“ „Wir ſind in der Gewalt der Nume“, antwortete Grunthe finſter. „Sind wir allein?“ „Soviel ich weiß, aber der Teufel traue dieſen Maſchinerien — wer kann wiſſen, ob man nicht von irgendwo alles hört und ſieht, was hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes Wort protokolliert. Na, deutſch verſtehen ſie vorläufig noch nicht.“ „Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?“ „Ja, wenn Sie das nicht wiſſen! Ich denke, hier gibt es überhaupt keine Zeit.“ „Nun, das wird ſich alles beſtimmen laſſen, wenn wir erſt einmal den freien Himmel wiederſehen“, ſagte Grunthe. „Aber wie kann man hier Licht machen?“ „Treten Sie gefälligſt mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem Bett, dann wird es Tag. Wir ſind hier im Lande der automatiſchen Bedienung.“ „Das kann ich nicht, beſter Saltner, mein Fuß iſt verwundet—“ „I — das wäre — laſſen Sie ſehen —“ „Es iſt nichts, ich bin ſchon verbunden, aber ich muß vorläufig noch liegen bleiben.“ Saltner war inzwiſchen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment, in welchem er den Teppich vor demſelben betrat, öffnete ſich das Oberlicht. „Sehen Sie“, rief Saltner, „allmählich lernt man dieſe Marskniffe. Ich kann übrigens ſchon etwas martiſch und werde Ihnen gleich ein Frühſtück beſtellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig Toilette mache.“ Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen ſollte, und ſtellte ſich überlegend vor die Apparate. „Das da ſcheint mir eine Badewanne“, ſagte er, während Grunthe durch die Tür ſein halblautes Selbſtgeſpräch vernahm, „aber Waſſer iſt nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waſchtiſch vorſtellen. Aber hier ſind drei verſchiedene Griffe, und jeder hat eine Aufſchrift — nur daß ich ſie nicht leſen kann. Ich kenn mich halt nicht aus. Na, ich werde mal ein biſſel drehen. Vielleicht kommt ein Waſſer heraus.“ Er drehte vorſichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das darunter befindliche flache Becken werde ſich auf irgendeine Weiſe mit Waſſer füllen. Aber ehe er ſich’s verſah, ſprang das Becken, ſich fächerförmig zu einem Tiſch ausbreitend, hervor und verſetzte ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo ſprang er zurück, fand ſich aber ſofort wieder ſtolpernd nach vorn geſchnellt, denn gleichzeitig hatte ſich in ſeinem Rücken ein Seſſel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er ſich von ſeinem erſten Schreck erholt, betrachtete er ſich die Sache eingehend, probierte an dem Tiſch und Seſſel, und da er ſie ſtandfeſt fand, ließ er ſich gemütlich auf dem Seſſel nieder. „Was gibt’s denn?“ fragte Grunthe von ſeinem Bett aus. „Ein Waſſer war’s nicht“, ſagte Saltner, „aber es ſitzt ſich ganz gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.“ Doch ſchnell ſprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne vielleicht dazu dienen Tiſch und Seſſel wieder verſchwinden zu laſſen, und bei dieſer Gelegenheit wollte er ſich erſt in Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer aufſpringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade enthielt eine Anzahl jener Mundſtücke, deren ſich die Martier, wie Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß oberhalb des Tiſches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche die Mundſtücke hineinpaßten. „Halt“, ſagte Saltner, „hier gibt’s was zu trinken. Aber damit wollen wir doch noch warten.“ Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde ſichtbar, und in dieſelbe fielen aus einer darüber befindlichen Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenſtände, welche etwa die Geſtalt von kleinen Würſten hatten. „Das iſt alſo ein Frühſtück und keine Toilette“, rief Saltner lachend und probierte die ſehr einladend ausſehenden und würzig duftenden Stangen. Sie ſchmeckten vorzüglich und erwieſen ſich als ein knuſpriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleiſchfarce gefüllt war. Wenigſtens hielt Saltner ſie dafür. Aber während er die erſte Stange verzehrte, ſetzte der Apparat ſeine Tätigkeit fort, und Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt war. Das iſt zuviel des Segens, dachte Saltner und ſuchte umher, wie ſich wohl der geheimnisvolle Speiſequell abſtellen ließe. Doch vergebens, der Wirbel ſelbſt ließ ſich nicht zurückdrehen — Saltner wußte nicht, daß man zu dieſem Zweck erſt durch Drehen der Schale den automatiſchen Spender des Gebäcks abſtellen mußte. Einen weiteren Handgriff aber verſtand er nicht zu finden, und ſo quoll ein unſtillbarer Strom von Fleiſchrollen auf die Schale, fiel von dort auf Tiſch und Fußboden und begann ſich zu einem ſtattlichen Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber er fand kein Mittel — er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt verſtopfen. — Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf laſſen. Er wollte nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale ſich drehen ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf. Er ſammelte die umherliegenden Maſſen der Delikateſſe bis auf einen kleinen Reſt und trug ſie in Grunthes Zimmer, der bei dieſem Anblick und Saltners tragikomiſcher Miene ſich eines Lächelns nicht erwehren konnte. Dort verbarg er ſie in einem der leeren Körbe der Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der aus der Gondel geretteten Gegenſtände geſchafft. „Warum laſſen Sie das Zeug nicht einfach liegen?“ fragte Grunthe. „Das geht nicht, ich bin ja ſonſt unſterblich vor den Damen als dummer Bat blamiert. Übrigens ſehne ich mich nach dem Frühſtück; aber erſt muß ich doch ſehen, wo ich ein Waſchwaſſer finde.“ Er drehte der Reihe nach an verſchiedenen Griffen, ohne daß er das Gewünſchte antraf. Bald ſprang ein Schrank auf, der ihm unverſtändliche Geräte enthielt, bald entzündeten ſich Lampen an verſchiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte ſich eine Schüſſel, und ſchon hoffte er am Ziel zu ſein, aber erſchrocken fuhr er zurück, denn die Schüſſel begann ſich zu erhitzen. Endlich erweiterte ſich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem flachen Baſſin, und ein Springbrunnen ſprühte einen Strahl hervor. Vorſichtig überzeugte ſich Saltner, ob er es auch wirklich mit Waſſer zu tun habe, und war ſehr erfreut, als ſich ſeine Vermutung beſtätigte. Nun vervollſtändigte er mit Hilfe ſeiner wiedergefundenen Reiſeeffekten ſeine Toilette und ſetzte ſich mit Behagen an den Frühſtückstiſch. Es war ihm ungewohnt und ſeltſam, daß das Tiſchchen ſo leer war und weder Gläſer noch Taſſen oder Löffel und Meſſer enthielt. Das Gebäck wenigſtens wollte er auf einen Teller legen und ſah ſich deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß ſich auch ein großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Geſtell mit mehreren glänzenden runden Scheiben ſtand, die er für ſilberne Teller hielt. Er holte ſich einen ſolchen Teller und legte ſein Frühſtücksgebäck darauf. Dann ließ er ſich das Getränk munden, das die Öffnungen über dem Tiſchchen bereitwillig ſpendeten, nachdem er die Mundſtücke daran befeſtigt hatte. Es war eine warme und zwei kalte Flüſſigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und Selterswaſſer bezeichnete, da ſie mit dieſen Getränken am meiſten Ähnlichkeit hatten, obwohl er ſich ſagte, daß ſie ſich doch in vieler Hinſicht von den auf der Erde üblichen Genüſſen dieſer Art unterſchieden. Insbeſondere die Schokolade war ſehr fettreich. Neu geſtärkt trat er in ſeinem kleidſamen Reiſeanzug zu Grunthe ins Zimmer und ſagte: „Ich bin nun bereit, unſere Polarforſchung fortzuſetzen. Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns beraten, was wir zu tun haben, will ich doch ſehen, ob ich Ihnen nicht ein Getränk verſchaffen kann. Sie müſſen ja einen grauſigen Durſt haben.“ „Danke ſchön“, erwiderte Grunthe lachend, „ſehen Sie, was ich habe.“ Und er wies auf das Mundſtück eines Schlauches hin, das neben ſeinem Kopf über dem Bett herabhing. „Und hier“, fuhr er fort, „koſten Sie einmal dieſe Paſtete oder was es ſonſt iſt. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich ſchmeckt, aber ich fühle mich dadurch wunderbar geſtärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte, ſtünde ich ſogleich auf.“ „Sakra auch, das laſſe ich mir gefallen! Wie haben Sie das entdeckt? Ich habe mich inzwiſchen abgeſchunden, verſchiedene Stöße bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden Sie das, es war doch vorhin nicht hier?“ „Einfach durch Nachdenken. Ich ſagte mir, die Martier ſind viel klüger als wir und jedenfalls viel umſichtiger. Wenn wir nun einen Patienten haben, der nicht gehen kann, ſo werden wir ihm doch ein Frühſtück ans Bett bringen, und wenn wir ſelbſt aus irgendeinem Grund nicht kommen wollen, ſo werden wir es ihm hinſtellen. Ich ſah mich alſo um. Nun betrachten Sie einmal dieſe beiden kleinen Zettel an dieſen Ringen.“ „Das ſind ja lateiniſche Buchſtaben!“ „Allerdings. Es ſind zwei Wörter der Eskimoſprache. ‚Miſalukpok‘ und ‚Imerpok‘. Das eine bezeichnet ‚Eſſen‘ und das andere ‚Trinken‘.“ „Warum hat man mir aber nicht auch ſolche Aufſchrift angeklebt? Bei mir ſind alle Schilder in einer Zeichenſchrift, die jedenfalls martiſch iſt.“ „Sie verſtehen ja nicht Grönländiſch.“ „Woher wiſſen aber die Nume, daß Sie es verſtehen?“ „Weil ich mich geſtern mit einer — mit jemand darin unterhalten habe.“ „Potztauſend, Grunthe, Sie ſind mir über! Aber eins begreif ich nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wiſſen, wie man dieſe Worte in unſern Buchſtaben ſchreibt?“ „Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie ſehen, es iſt Antiqua, der lateiniſchen Druckſchrift genau nachgemalt. Und mein kleines Wörterbuch iſt nicht mehr da, daraus haben ſie die Zeichen entnommen. Aber wie ſie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden haben, das iſt mir ein völliges Rätſel. Denn ſie kennen doch nur den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.“ „Es iſt eine unheimliche Geſchichte“, ſagte Saltner. „Aber ein gutes Weiberl iſt ſie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich nur wüßt, warum ſich kein Menſch bei uns ſehen läßt, kein Nume, wollt ich ſagen, denn darauf ſcheinen ſie ſich was Großes einzubilden, daß ſie keine Menſchen ſind.“ „Das kann ich Ihnen auch ſagen, Saltner. Würden Sie ihren Gäſten nachts zwiſchen drei und vier Uhr einen Beſuch machen?“ „Iſt das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie’s ja nicht, und ich denke, am Pol gibt’s überhaupt keine Zeit.“ „Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müſſen doch feſtſetzen, wann ſie ſchlafen und wann ſie zu Mittag eſſen ſollen. Wir alſo haben zum Beiſpiel unſere mitteleuropäiſche Einheitszeit auf unſeren Taſchenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon ſcheiterte, war es nach mitteleuropäiſcher Zeit gegen ſechs Uhr abends. Nun weiß ich bloß nicht, ob ſeitdem ein oder zwei Nächte vergangen ſind, denn das hängt von der Länge unſerer Ohnmacht und unſeres Schlafes ab.“ „Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann unſer erſtes Erwachen ſtattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald nach dem meinigen.“ „Nun, das läßt ſich nachher aus der Deklination der Sonne feſtſtellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt erſt wieder entdeckt — beide Uhren, und da ſie übereinſtimmen, ſind ſie auch nicht ſtehengeblieben —“ „Nein, ich habe dieſelbe Zeit —“ „Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das haben ſie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für ſie jetzt Schlafenszeit iſt und daß ſie erſt in vielleicht zwei Stunden aufſtehen werden. Deswegen ſagte ich, es ſei zwiſchen drei und vier bei unſern Wirten; wie ſie die Stunden zählen und benennen, weiß ich allerdings auch nicht.“ „Aber Doktor, woher wiſſen Sie denn, was bei den Martiern für eine Tageseinteilung Mode iſt und was die Glocke bei ihnen geſchlagen hat?“ „Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem Komfort der Martier ausgeſtattet iſt, werde eine Uhr fehlen?“ „Ich habe keine geſehen und Sie vorhin auch nicht.“ „Seitdem aber habe ich ſie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einſchließt? Sie iſt in zwölf mal zwölf gleiche Abſchnitte geteilt. Und jene ſchmalen hellen Streifen, die Sie dazwiſchen ſehen, liegen nicht feſt, ſondern bewegen ſich auf dem Ring. Das iſt mir erſt allmählich klar geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die Höhe ſtarrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.“ „Ich ſchau ſie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.“ „Entziffern kann ich ſie auch nicht. Aber ſehen Sie, es ſind zwei Zettel angeſteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, ſondern nur für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein geſchloſſenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung iſt klar: Schlafen und Wachen.“ „Es iſt richtig, und dieſer helle Strich —“ „Das iſt der Stundenzeiger —“ „Dachte ich mir. Er ſteht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen Kreiſes von dem geöffneten Auge ab.“ „Daher eben ſchließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum Beginn des Erwachens der Martier ſind.“ „Aber finden Sie es nicht ſeltſam, daß die Martier den Tag ebenfalls in zwölf Stunden teilen?“ „Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig —“ „Nun, das ſind zweimal zwölf.“ „Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht — ich würde mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Weſen der Zahl, das heißt im Weſen des Bewußtſeins überhaupt. Die Geſetze der Mathematik ſind die Geſetze der Welt. 12 iſt 3 mal 4, die kleinſte aller Zahlen, welche die drei erſten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern beſitzt. Alle intelligenten Weſen, welche Mathematik treiben, werden die 12, nächſtdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen machen.“ „Aber wir haben ja doch die Zehn —“ „Die alte Aſtronomie wählte die Zwölf — zwölf Zeichen bilden den Tierkreis — die Zehn iſt nur ein unwiſſenſchaftlicher Rückfall in die ſinnliche Anſchauung der zehn Finger — Krämerpolitik —, doch laſſen wir das.“ „Meinetwegen“, ſagte Saltner. „Aber was tun wir nun? Erſt müſſen Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.“ „Ich fürchte“, erwiderte Grunthe, „wir werden auch dann nichts anderes tun können, als was die Martier über uns beſchließen. Mit der Expedition wird es wohl ſo ziemlich aus ſein. Suchen wir uns inzwiſchen möglichſt mit den Verhältniſſen vertraut zu machen. Rekognoszieren Sie ein wenig!“ „Im Zimmer habe ich mich ſchon umgeſehen, und ich möchte nicht noch mehr von den rätſelhaften Inſtrumenten probieren — man kann ſich zu leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem phyſikaliſchen Inſtitut, bloß daß unſereiner nicht die nötige Naivität beſitzt.“ „Was haben wir denn für Ausgänge?“ „Nur einen aus jedem unſerer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu öffnen. ich glaube, es iſt auch ſchicklicher, wir warten hier, bis man uns aufſucht, als daß ich aufs Ungewiſſe herumſtöbere.“ „Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unſere Sachen ein wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, ſo bitte ich Sie darum. Zunächſt müſſen wir ſehen, daß wir ſowohl Torms Eigentum als die offiziellen Aktenſtücke der Expedition in Sicherheit bringen.“ „Ich habe ſchon einiges hier beiſeite gelegt“, ſagte Saltner, indem er unter den Gegenſtänden aufräumte, welche die Martier aus der Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das Meerwaſſer beſchädigt. „Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm“, fuhr Saltner fort, „wenn noch einiges von unſerm Proviant brauchbar wäre. Denn ich traue nicht recht, wie einem dieſer Würſtchen-Automat hier bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles aufgehoben haben! Da haben ſie uns ja das Futteral mit den beiden Flaſchen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballaſt auf die Inſel warfen. ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe zerſchlagen und dabei in tauſend Trümmer gehen. Aber es ſcheint ganz unverſehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem Kaſten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude anſehn. Arme Frau Isma!“ Er nahm die Flaſchen heraus. „Halt“, ſagte er, „da in dem Futter ſteckt noch ein Paketchen. — Was haben wir denn da?“ Der Verſchluß hatte ſich gelöſt. Ein Buch in der Größe eines Notizkalenders kam zum Vorſchein. „Na“, ſagte Saltner, „Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das iſt.“ „Was geht das mich an?“ ſagte Grunthe unwirſch. Saltner ſchlug das Buch auf. Er ſtutzte ſichtlich, blätterte darin und ſah lange hinein. „Das iſt —“, ſagte er dann kopfſchüttelnd, „das iſt ja — Aber wie iſt das möglich?“ Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateiniſchen Alphabets transkribiert, daneben befand ſich eine deutſche Überſetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der ſtenographiſchen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt. „Sagen Sie mir das eine“, fuhr er fort, „mir ſteht der Verſtand ſtill — wie kann ein deutſch-martiſches Wörterbuch hierherkommen — wie kann es überhaupt exiſtieren?“ Grunthe ſtreckte ſprachlos die Hand aus und ergriff das Buch. Er warf nur einen Blick hinein. Dann ſagte er leiſe: „Das iſt die Handſchrift von Ell.“ Grübelnd ſchloß er die Augen. Das unlösbare Rätſel trat ihm wieder entgegen — wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner? Und wenn er ſie kannte, warum hatte er ſich nicht offen ausgeſprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam ſie verſteckt in das Futteral, unter die Flaſchen? Er wußte keine Antwort. Saltner hatte inzwiſchen das Buch ergriffen und ſuchte ſich daraus einige Worte zuſammen. Da hörte er im Nebenzimmer leiſes Lachen und Stimmen der Martier. Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis an die Tür begleitet und amüſierte ſich köſtlich über die Unordnung, welche Saltner angeſtiftet hatte, am meiſten aber darüber, daß er bei ſeinem Frühſtück als Teller die — Kämme benutzt hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; ſie wurden elektriſch geladen und ſtreckten dann die Haare geradlinig vom Kopf ab. „Es iſt zu luſtig“, lachte Se. „Aber wir wollen ihm jetzt nichts ſagen, dem armen ‚deutſch Saltner‘.“ Darauf zog ſie ſich wieder zurück. Denn es war ihr zu ‚ſchwer‘ in den Zimmern der Bate. Hil trat bei Grunthe und Saltner ein. 10. La und Saltner Hil war mit dem Zuſtand ſeiner Patienten ſehr zufrieden. Mit großem Intereſſe betrachtete er ihre Effekten. Sichtliches Erſtaunen aber malte ſich auf ſeinen Zügen, als ihm Grunthe den kleinen deutſch-martiſchen Sprachführer überreichte. Er blätterte eifrig darin, und indem er auf einzelne Zeichen der martiſchen Schrift zeigte und ſich das danebenſtehende deutſche Wort nennen ließ, gelang es ihm bald, einige Fragen zu ſtellen, die Grunthe durch das umgekehrte Verfahren beantwortete. Da es ihm ſelbſt an Zeit gebrach, den gegenſeitigem Sprachunterricht ſofort eingehend aufzunehmen, fragte er Grunthe mit Hilfe des Grönländiſchen, ob er nicht mit La, die ſich gern mit Sprachſtudien beſchäftigte, martiſch ſprechen wolle, um recht bald zu einem gegenſeitigen Verſtändnis zu kommen. Grunthe war dies ſehr unangenehm. Er war recht froh, daß ſich keine von ſeinen Pflegerinnen hier bei ihm ſehen ließ, und er wandte ſich daher an Saltner mit dem Vorſchlag, ihn in dieſer Hinſicht zu vertreten. Obgleich dieſer die Sprache der Eskimos nicht als verbindendes Hilfsmittel benutzen konnte, glaubte er doch, mit Hilfe des Ellſchen Sprachführers auszukommen und erklärte ſich gern zu allen Dienſten bereit. Hil nahm den Sprachführer mit ſich und geleitete Saltner in den anſtoßenden großen Salon der Martier. Hier ſtellte er ihn einer Anzahl der dort verſammelten Martier vor, unter denen ſich der Leiter der Station Ra mit ſeiner Frau ſowie neben einigen andern Martierinnen auch Se und La befanden. Saltner wußte nicht, wo er ſeine Augen zuerſt hinwenden ſollte. Faſt alles, was er ſah, war ihm fremd, am meiſten aber überraſchten ihn die Geſtalten der Martier ſelbſt. Es war ihm nur lieb, daß er ſich aus Mangel an Sprachkenntniſſen in Schweigen hüllen und ſich mit dem Sehen begnügen konnte. Hil nannte ihm die Namen der einzelnen, die ihn mit ihren martiſchen Handbewegungen begrüßten, was Saltner mit europäiſchen Verbeugungen erwiderte. Nur fielen dieſelben leider etwas ſteif aus, da er infolge der verminderten Schwere ſehr vorſichtig ſein mußte. Er ſah wohl an den Geſichtern derjenigen Martier, welche in ihm zum erſten Mal einen Europäer erblickten, wie ſie ſich Mühe gaben, ihre Beluſtigung über ſeine Ungeſchicklichkeit zu verbergen. Es war ihm daher ſehr angenehm, als ſich die Mehrzahl der Anweſenden zurückzog. Gleich bei ſeinem Eintritt war ihm neben der reizenden Se die Geſtalt Las aufgefallen, und als er bei der Nennung der Namen erkannte, daß dieſes wunderbare Weſen ſeine Sprachlehrerin ſein ſollte, heftete er ſeine Blicke erwartungsvoll auf ihre Züge. Aber in ihren großen Augen war keine Spur von Spott zu bemerken, ſie begrüßte ihn mit ruhiger Liebenswürdigkeit, und ein Lächeln, das ſie mit Se tauſchte, ſagte dieſer, daß ihr dieſer Bat beſſer gefiel als der andere. Saltner war überzeugt, daß er rieſenſchnelle Fortſchritte im Martiſchen machen würde, wenn ihm die Anerkennung aus ſolchen Augen als Lohn winke. Er wußte nur nicht recht, wie die Sache zu beginnen ſei, da keines der beiden die Sprache des andern kannte. La holte einige Bücher aus der Bibliothek, darunter den ihm ſchon bekannten Atlas, der ihm zur erſten Verſtändigung mit Se gedient hatte. Sie ſtreckte ſich dann in ihrer Lieblingsſtellung auf den Diwan und winkte Saltner, ſich dicht an ihrer Seite niederzulaſſen. Sie begann zunächſt einige Gegenſtände zu bezeichnen, die ſich unmittelbar der Anſchauung darboten, und ſich die Benennung martiſch und deutſch wiederholen zu laſſen; dann verfuhr ſie ebenſo mit verſchiedenen Abbildungen in den Büchern. Aber ſo ging die Sache zu langſam. Sie griff zu dem Sprachführer, den Se in der Hand hielt. Se hatte bis jetzt in dem Büchlein geblättert und eine Anzahl von deutſchen Worten auf einem Streifen durchſichtigen Papiers einfach dadurch nachgebildet, daß ſie das Papier einen Augenblick auf das betreffende gedruckte Wort legte und andrückte. Das Papier war lichtempfindlich und gehörte zu einem kleinen Taſchenſchnellphotograph, den man als Notizbuch bei ſich zu führen pflegte. Saltner las: „Schüler fleißig. Lehrer ſtreng. Fernhörer. Alles hören.“ Als er wieder aufblickte, ſah er, daß Se ſchelmiſch lachte. Sie machte ſich dann noch an dem Apparatentiſch zu ſchaffen und entfernte ſich mit freundlichen Winken: „Das iſt recht“, ſagte La, „ſie hat den Phonograph aufgezogen. Danach können wir dann unſer Penſum gut repetieren.“ Darauf nahm La den Sprachführer vor und ging mit Saltner die Redensarten und kleinen Geſpräche durch, welche dort in beiden Sprachen angegeben waren. Er las ſie deutſch, ſie martiſch, und beide lachten dazwiſchen herzlich, wenn ſie ihre Ausſprache zu verbeſſern ſuchten oder komiſche Mißverſtändniſſe zutage kamen. Saltner mußte La dicht über die Schulter blicken, um im Buch zu leſen. Es ließ ſich nicht vermeiden, daß ſein Blick nach der wunderbaren Farbe ihres Haares und den weichen Formen des Nackens abirrte und die Worte manchmal zerſtreut herauskamen. Ein ſeltſamer Wärmeſtrom ging von ihrem Körper aus, und dies war nicht bloß ein Spiel ſeiner Phantaſie; er erfuhr ſpäter, daß die Martier in der Tat eine höhere Blutwärme beſitzen als die Menſchen. Er merkte, daß ſich ſeine Sinne verwirrten. Und auch dies hatte ſeinen Grund nicht nur in ſeinen Gefühlen, ſondern war eine Wirkung der geringen Schwere, an die ſeine Konſtitution noch nicht gewöhnt war. Das Blut wurde ihm ſtärker zu Kopfe getrieben. La erkannte dies bald. Sie gab ihm das Buch zu halten, lehnte ſich zurück und ſtellte das abariſche Feld ab. Alsbald fühlte ſich Saltner wieder wohler, und die Studien nahmen mit erneuter Kraft ihren Fortgang. So vergingen ſchnell einige Stunden. Und auf einmal ſtellte ſich heraus, daß die Lehrerin viel mehr deutſch gelernt hatte als der Schüler martiſch. Nicht weniger als Saltner hatte Grunthe dabei gelernt, der den Sprechübungen durch den Fernhörer zugehört hatte. Er fragte an, ob er jetzt vielleicht das Buch auf einige Zeit erhalten könnte. La ſtellte die Schwere ab, um ſich wieder frei bewegen zu können. „Oh, wie zerſtreut bin ich doch!“ rief ſie aus. „Wir brauchten uns doch nicht mit dem einen Exemplare zu quälen! Wenn Sie mir das Buch noch eine halbe Stunde erlauben“ — wandte ſie ſich durch den Fernſprecher an Grunthe —, „ſo werde ich es ſofort vervielfältigen laſſen.“ Sie ſchrieb einige Worte auf ein Stückchen Papier, legte dies in das Buch und packte das Ganze in einen Umſchlag. Dann warf ſie das kleine Paket in einen an der Wand befindlichen Kaſten. Saltner ſah ihr verwundert zu. „Das iſt die pneumatiſche Poſt nach der Werkſtatt“, ſagte La erklärend. „Es wird nicht lange dauern, ſo bekommen wir die Kopien des Buches, aber nicht in Ihrem ungeſchickten Format, ſondern in unſerer hübſchen Tafelform.“ Sie erläuterte das Geſagte durch verſchiedene Handbewegungen. „Und wer beſorgt denn dies?“ fragte Saltner. „Wer von den Technikern gerade an der Reihe für den Tag iſt. Die Arbeitszeit wechſelt in geregelter Ablöſung. Jeder hat ſeinen beſonderen Tätigkeitskreis. Ich zum Beiſpiel muß mich mit der Erlernung der ſchrecklichen Menſchenſprachen quälen. Haben Sie mich verſtanden?“ Da Saltner noch ein ziemlich fragendes Geſicht machte, wiederholte ſie die Antwort noch einmal, zu ſeiner Verwunderung in zwar etwas ſeltſamem, aber doch verſtehbarem Deutſch. „Sie ſprechen ja deutſch, La La!“ rief er aus. „Sie haben nicht aufgepaßt“, ſagte ſie lachend. „Die Worte ſind ja alle heute in unſerm Penſum vorgekommen. Wir wollen es repetieren.“ Sie ging an den Tiſch und drückte auf den Knopf des Grammophons. Man hörte ſogleich die Worte wieder, die La zu Se bei ihrer Verabſchiedung geſprochen hatte. La zog ſich nun auf ihren Diwan zurück, ſtellte die Abarie ab und winkte Saltner, ſich zu ſetzen. Es war ihm ganz ſeltſam zumute, als er ſo ſeine eigene Stimme, jedes Wort mit der eigenen Betonung, jeden Sprachfehler — dazwiſchen das tiefe, halblaute Organ Las und ihr leiſes Lachen — wieder vernahm. Die ſchräg einfallenden Sonnenſtrahlen rückten bis an Las Ruheſtätte und entzündeten ein ſeltſames Farbenſpiel zwiſchen den loſen Wellen ihres Haares, ſie ſpielten als ein Meer von Funken auf den glitzernden Fäden ihres Schleiers, die ſich bei ihren Atemzügen leiſe hoben und ſenkten. War er noch er ſelbſt, oder war er in ein fernes Geiſterreich entrückt und mußte er nun ſein eigenes Leben an ſich vorüberziehen laſſen? „Nicht träumen“, ſagte La halblaut, „aufpaſſen.“ Nun hörte er wieder auf die Worte ihrem Sprachſinn nach, er repetierte. Da klapperte es an dem Poſtkaſten. „Da ſind unſere Bücher“, ſagte La. „Stellen Sie, bitte, das Grammophon ab, und öffnen Sie den Kaſten.“ Saltner vollzog den Auftrag. Er enthob dem Kaſten ein Paket, das die Kopien des Sprachführers enthielt. La nahm das Original heraus und gab es Saltner. „Hier“, ſagte ſie, „bringen Sie dies Ihrem Freund zurück, mit beſtem Dank. Und wenn es Ihnen recht iſt, arbeiten wir am Nachmittag noch einmal.“ „Verfügen Sie vollſtändig über mich“, ſagte Saltner mit einem bewundernden Blick. Eine vornehme Handbewegung verabſchiedete ihn. * * * Die Sprachſtudien fanden am Nachmittag eine unerwartete Unterbrechung. Eben wollte Saltner, der mit Grunthe zuſammen geſpeiſt hatte, ſich wieder in den Salon begeben, als Ra bei ihnen eintrat, um ihnen eine Mitteilung zu machen, die beide Forſcher aufs Lebhafteſte erregte. Die Martier hatten auf ihren Jagdbooten das Binnenmeer und ſeine Ufer noch weiter nach Spuren der Expedition abgeſucht. In einem der Fjorde, welche ſich ungefähr in der Richtung des 70. Meridians weſtlicher Länge von Greenwich verzweigten, am Fuß eines unmittelbar in das Waſſer abfallenden Gletſchers, hatte man den bisher vermißten Fallſchirm der Expedition gefunden, zwiſchen losgebrochenen Eisſchollen treibend. Derſelbe mußte ſo nahe am Ufer niedergefallen ſein, daß es wohl denkbar war, ein an demſelben hängender Menſch hätte ſich auf den Gletſcher retten können. Die Martier hatten das Land ſelbſt nicht betreten können; ohne beſondere maſchinelle Vorrichtungen war ihnen dies überhaupt nicht möglich. Saltner ſprang auf und bat dringend, ihn ſofort an Ort und Stelle zu bringen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, daß Torm doch noch am Leben und zu retten ſei. Daß der Fallſchirm in ſo weiter Entfernung vom Ballon gefunden war, und zwar an einer Stelle, über die der Ballon nicht geflogen ſein konnte, ließ ſich nur dadurch erklären, daß Torm den Schirm vom Ballon getrennt hatte. Dann konnte die in den unteren Luftſchichten herrſchende Windſtrömung den langſam fallenden Schirm ſehr wohl bis dorthin getrieben haben. Aber ob ſich Torm an dem Schirm befunden hatte? Vermutlich hatte er ſich mit demſelben niedergelaſſen; aus welchen Gründen ließ ſich nur unſicher vermuten. Vielleicht hatte er den Ballon dadurch zu retten gedacht, daß er ihn um ſich ſelbſt erleichterte; vielleicht auch hatte er die Gefährten für erſtickt gehalten und für ſich ſelbſt ein letztes Rettungsmittel verſucht, ehe der Ballon wieder über das Meer hinaustrieb. Jedenfalls mußte man alles daranſetzen, etwaige Spuren von Torm aufzufinden. Ra ſtellte Saltner bereitwillig ein Boot und Mannſchaft zur Verfügung, ſagte aber ſogleich, daß die Martier zu einer Unterſuchung des Gletſchers ſelbſt ſehr wenig geeignet ſeien. Sie würden jedoch für einige Apparate ſorgen, die zum Transport etwaiger Laſten oder auch von Perſonen mit Vorteil benutzt werden könnten. Insbeſondere aber ſchlüge er ihm vor, die beiden Eskimos, welche ſich auf der Station aufhielten, Vater und Sohn, mitzunehmen. Sie leiſteten den Martiern gute Dienſte bei Arbeiten und Transporten im Freien, bei denen es menſchlicher Muskelkraft bedürfe, und könnten ihn gewiß bei einer etwaigen Beſteigung des Gletſchers unterſtützen. Nach einer halben Stunde war das Boot bereit. Da Saltner ſich nicht auf die ihm unbekannten Apparate der Martier verlaſſen wollte, hatte er ſich mit ſeinem eigenen Seil und ſeinem getreuen, glücklich geretteten Eispickel verſehen, die ihn ſchon bei ſo mancher ſchwierigen Klettertour in den Gebirgen ſeiner Heimat begleitet hatten. Saltner war nicht wenig erſtaunt, als er in dem langen, elegant gebauten Boot neun rieſige Kugeln von etwa einem Meter Durchmeſſer erblickte, die Kopfhüllen der Martier, die ihnen direkt auf den Schultern ſaßen. Sie ſahen dadurch wie ſeltſame Karikaturen aus. Der Führer des Bootes ſtand am Land und begrüßte Saltner, worauf er ſich mühſam an Bord begab und nun ebenfalls ſeinen Kugelhelm aufſetzte. Die beiden Eskimos befanden ſich ſchon im Boot und löſten das Seil, ſobald der Führer eingeſtiegen war. Sie verſtanden nicht recht ſeine Handbewegung, und das Boot begann von der Landeſtelle abzutreiben, gerade als Saltner ſeinen Fuß auf den Rand desſelben ſetzte. Die Martier, welche glaubten, er müſſe unfehlbar ins Waſſer ſtürzen, winkten lebhaft mit ihren Armen, während er ſelbſt ſich mit einem leichten Schwunge vom Ufer abſtieß und gewandt in das Boot ſprang. Für einen geſchickten Turner war dies eine Kleinigkeit, erregte aber bei den Martiern offenbare Anerkennung. Unter dem Einfluß der Erdſchwere wäre dieſe Leiſtung keinem von ihnen möglich geweſen. Kaum hatte Saltner einige Schritte getan, indem er ſich nach einem paſſenden Platz umſah, als einer der Martier ſeine große Kugel von der Schulter nahm und an ihrer Stelle der anmutige Kopf Las zum Vorſchein kam. Sie ſah ihn mit ihren großen Augen heiter an und nickte ihm freundlich zu. „Wie kommt es, daß Sie hier ſind, La La?“ ſagte Saltner, in ſeiner Überraſchung deutſch ſprechend. „Sie ſcheuen doch die Schwere draußen. Dieſe Fahrt iſt gewiß ſehr anſtrengend für Sie?“ „Ganz richtig“, antwortete La ebenfalls deutſch, „ich tue es nicht zum Vergnügen. Ich bin im Dienſt. Wie wollen Sie verſtehen dieſe Nume? Wie wollen Sie verſtehen dieſe Kalalek? Ich bin als Dolmetſcher hier“, fügte ſie auf martiſch hinzu. „Das iſt wahr, an dieſe Schwierigkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber wie leid tut es mir, daß Sie ſich ſo bemühen müſſen. Freilich, was könnte ich mir Beſſeres wünſchen — doch wollen Sie nicht Ihren Helm wieder aufſetzen?“ La ſchüttelte den Kopf. Aber ſie ſchlug hinter ihrem Platz eine Lehne mit weichem Polſter in die Höhe und ſtützte dort ihr Haupt auf. So lehnte ſie ſich zurück und ließ ihre Augen prüfend über das Boot und die ganze Umgebung wandern. Mit großer Geſchwindigkeit durchſchnitt das Boot die leiſe bewegten Wellen der Bucht und hatte in etwa zehn Minuten die Stelle erreicht, an welcher ſich mehrere Kanäle von verſchiedener Breite verzweigten. Jetzt mußte langſam und vorſichtig gefahren werden, denn ein Gewirr von Felsblöcken und Eisbergen oder Schollen erſtreckte ſich am Stirnende des Gletſchers entlang und verengte das Fahrwaſſer. Die Martier hatten den Platz bezeichnet, an welchem ſie den Fallſchirm gefunden hatten, und Saltner ſpähte nach einer geeigneten Stelle aus, wo man den Gletſcher erklimmen könnte. Er ſchlug ſeinen Eispickel in eine Scholle und ſprang auf dieſelbe hinüber, kam wieder zurück und ließ das Boot weiterfahren. Es ſchien ſich von ſelbſt zu verſtehen, daß er hier kommandierte. La ließ ihre Augen mit Wohlgefallen auf ſeinen entſchiedenen Bewegungen ruhen. Dieſer Bat, über den ſie als Martierin ſich ſo weit erhaben fühlte, war ihr bisher nur ſeltſam vorgekommen. Aber hier, in ſeinem Element als gewandter Kletterer, machte er ihr doch einen viel vorteilhafteren Eindruck. Gegenüber den unbeweglichen Kugeln, die ihre Landsleute auf den Schultern trugen, gegenüber den grauen, ſtumpfen Geſichtern der Eskimos mit ihren vorſtehenden Backenknochen bot ſein ausdrucksvoller Kopf, ſeine freie Haltung und kräftige Kühnheit ein Bild, das ſie gern betrachtete. Der Gletſcher fiel an den meiſten Stellen mit einem ſenkrechten Abbruch von zehn bis fünfzehn Metern Höhe in die See ab. Endlich hatte Saltner eine Stelle gefunden, an welcher ihm der Aufſtieg möglich ſchien. Gewandt ſchlug er Stufe auf Stufe in das ziemlich weiche Eis und kletterte, von den Augen der Martier unter Spannung verfolgt, die Eiswand hinauf. Dann warf er das Seil hinab, und die beiden Eskimos folgten ihm an demſelben. Bald waren die drei für die Inſaſſen des Bootes hinter dem Rand des Eiſes verſchwunden. Längere Zeit war nichts von den Kletterern zu vernehmen, und La begann ſchon ungeduldig nach der Höhe zu blicken. Da erſchien Saltner etwa hundert Meter weiter am Rand des Abſturzes und winkte dem Boot, ſich dorthin zu begeben. Als dies geſchehen war, rief er hinunter: „Ich habe Spuren gefunden. Wird es möglich ſein, einige Leute hier heraufzubringen?“ La überſetzte, und der Führer des Bootes ließ antworten, daß dies ſehr leicht ſei, wenn es Saltner gelänge, mit ſeinem Seil die Rolle des Aufzuges, den die Martier mit ſich führten, hinaufzuziehen und oben zu befeſtigen. Dies geſchah nach Wunſch. Alsbald hatten die Martier einen bequemen Aufzug eingerichtet, den ſie mit den Akkumulatoren ihres Bootes betrieben. Nicht weit von der Stelle, an welcher die Martier ihren Aufzug angebracht hatten, ſtieß eine Seitenſchlucht in das Haupttal, und hier zog ſich ein Streifen von Felstrümmern und Moränenſchutt, von Flechten überkleidet, auf dem ganz allmählich anſteigenden Gletſcher in die Höhe. Auf dieſem Streifen konnte man, ohne ſich der unſicheren Oberfläche des Gletſchers anzuvertrauen, gut ins Innere des feſten Landes gelangen. Saltner hatte nun in dieſer Richtung einen Gegenſtand zwiſchen dem Geröll bemerkt, der zwar der weiten Entfernung wegen nicht deutlich erkennbar war, aber jedenfalls unterſucht werden mußte, da er von Menſchen herzurühren ſchien, wenn es nicht gar der nur zum Teil ſichtbare Körper eines Menſchen war. Um jedoch das Geſtein zu erreichen, mußte man zunächſt eine tiefe und breite Spalte paſſieren; dieſe Spalte war an einer Stelle durch eine Schneebrücke überſpannt geweſen, die offenbar erſt vor kurzem zuſammengebrochen war. Gegenwärtig war es unmöglich, dieſelbe ohne künſtliche Hilfsmittel zu überſchreiten, und deshalb hatte Saltner die Martier heraufgerufen. Er ſagte ſich, es ſei ſehr wohl denkbar, daß Torm mit Hilfe des vom Fallſchirm abgelöſten Seiles auf den Gletſcher und von dort auf den Moränenſtreifen gelangt ſei. Mit großer Aufregung hatte er daher jenen dunklen Gegenſtand in der Ferne betrachtet. Die Martier wanden nun aus ihrem Boot genügend lange Stangen empor, um die Spalten überbrücken zu können, und Saltner verrichtete mit den Eskimos die übrige Arbeit. Alsdann wanderte er über die Felstrümmer weiter, eine Kletterpartie, die übrigens ſchwieriger war und langſamer vor ſich ging, als er urſprünglich erwartet hatte. La hatte ſich ebenfalls emporziehen laſſen. Auf ausgebreiteten Fellen ruhend ſah ſie den Arbeiten der Menſchen zu. Sie hatte noch niemals einen Gletſcher in der Nähe geſehen, geſchweige denn betreten. Auf dem Mars gab es ſolche Gebilde nicht; die Atmoſphäre war viel zu trocken, um dieſelben zu unterhalten. Mit Bewunderung blickte ſie in das Gewirr von Spalten, Trümmern und Zacken, die mit ihren grünlichen Schatten ſich von den rötlich im Sonnenſchein ſchimmernden Schneeflächen abhoben. Gar zu gern hätte ſie einen Blick in die unergründliche Eisſchlucht hineingetan, welche die Menſchen überbrückten, aber ſie ſcheute ſich, den mühſamen Gang zu zeigen, mit dem ſie ſich hätte hinſchleppen müſſen. Jetzt waren die Menſchen fortgegangen; ſie konnten die ſeltſame Figur nicht mehr beobachten, die ſich langſam von den Fellen erhob, ihren Kugelhelm aufſetzte und auf zwei Stöcke geſtützt der Spalte zuſchlich. Der Weg war gar nicht ſo anſtrengend, wie La glaubte; ſie hatte ſich doch ſchon einigermaßen geübt, ihre Glieder unter dem Einfluß der Erdſchwere zu bewegen. So gelangte ſie an den angebrachten Steg und ließ ſich am Rand der Gletſcherſpalte nieder. An die eine der hinübergelegten Stangen ſich haltend, beugte ſie vorſichtig den Kopf über den Abgrund. Dunkelgrün dämmerte die Tiefe, aus der das Rauſchen des Schmelzwaſſers dumpf herauftönte. Genau unter ihr ſtreckte ſich ein zackiger Grat ihr entgegen, der die Schlucht der Länge nach durchzog. Ein großer Felsblock war hinabgeſtürzt und auf dem Grat feſtgehalten worden. Er bildete eine Art Brücke da unten in der Tiefe. Daneben zeigte ein friſcher Spalt ſeine kriſtallklaren Eiswände. La konnte ſich an dem ungewohnten Schauſpiel nicht ſattſehen. Schwindel kannte ſie nicht. Sie war gewohnt, den Weltraum in ſeiner Unendlichkeit unter ihren Füßen zu erblicken, wenn das Raumſchiff die Leere des Sternenhimmels durcheilte. Aber ſie kannte auch nicht die Gefahren dieſes mürben, abbröckelnden Elements, auf deſſen überhängender Kante ſie ruhte. Um beſſer hinabzublicken, zog ſie ſich an der Stange weiter und ſtemmte ihre Füße gegen einen Vorſprung des Randes. Der Vorſprung brach. Zerſtiebend ſtürzte er in die Tiefe. Ihr Fuß verlor die Stütze. Sie wollte ſich wieder hinaufſchwingen, aber die Laſt war zu ſchwer für ihre Kräfte. Der unförmliche Helm hinderte ſie, ihren Oberkörper frei an dem Steg zu bewegen, an welchen ſie ſich geklammert hielt. Sie rief um Hilfe, doch die Stimme drang nur ſchwach unter dem Helm hervor. Eine erneute Anſtrengung brachte ihren Körper höher, aber nun glitt die Stange aus ihrer Lage, ihre Hände verloren den Halt — — La ſtürzte in den Abgrund. Ihr Angſtſchrei verhallte zwiſchen den Eiswänden der Spalte. Aber der Helm, der ihren Abſturz verſchuldete, wurde vorläufig zu ihrem Retter. Sie fiel auf die Stelle, welche der auf dem Grat ruhende Felsblock verengte, und der elaſtiſche Helm hemmte den Sturz. Er war zertrümmert, aber ſie ſelbſt fühlte ſich unverletzt, ſie hatte das Bewußtſein nicht verloren. Mit den Armen ſich feſtklammernd, lag ſie auf dem Felſen, unter ſich die finſtere Tiefe, über ſich den ſchmalen Lichtſtreifen des Himmels, unfähig, ſich zu bewegen. Sie vermochte nichts zu ihrer Rettung zu tun, Minute auf Minute verrann. Wann würde man ſie bemerken? Konnte ſie gerettet werden? Sie war vollkommen ruhig. Das Bild der fernen Heimat ſtieg vor ihr auf. „Noch einmal möcht ich ihn ſehen, meinen ſchönen Nu“, ſo klang es in ihr, „aber wenn es nicht ſein ſoll, ſo füg ich mich Deinem Willen im Weltenplan.“ Da vernahm ſie Rufe über ſich. Ein Kugelhelm wurde ſichtbar. Die Martier hatten ihr Verſchwinden bemerkt, ſie ward geſehen. Man rief ihr zu, ſie möge Mut faſſen, man werde den Aufzug herbeiſchaffen. Sie wußte, daß darüber lange Zeit vergehen müſſe; die Martier konnten nur langſam arbeiten. Und ſie fühlte, wie die Kälte der Schlucht ihre Glieder erſtarren ließ. Plötzlich hörte ſie oben erneute Rufe und ſchnelle Schritte. Eilende Geſtalten ſchwangen ſich über den Steg. La wußte, wer es war. Saltner war mit den beiden Eskimos zurückgekehrt. Kaum hatte er erkannt, was geſchehen war, als er ſich auch ſofort anſeilte und von ſeinen beiden Begleitern in den Spalt hinabſenken ließ. La ſah, wie ſeine Geſtalt näher und näher kam. Mit der einen Hand hielt er ſich von der Wand der Spalte ab. Und nun kniete er neben ihr auf dem Felsblock. Er löſte den Reſt ihres Helmes geſchickt von ihren Schultern; dumpf donnerte er in den Abgrund. Dann hob er ſie empor und ſagte beſorgte Worte, die ſie nur halb verſtand. Jetzt erſt erfaßte ſie der Schwindel, und das Bewußtſein drohte ſie zu verlaſſen. Aber ſie fühlte, daß Saltner ſie feſt umſchlang, und in dieſem Augenblick wußte ſie ſich geborgen. Jetzt rief er mit lauter Stimme in ſeiner Mutterſprache nach oben: „Ein zweites Seil!“ La lächelte, ihn dankbar anſehend, und ſagte leiſe: „Kalalek nicht verſtehen.“ „Doch, doch!“ erwiderte Saltner. Und wirklich, der jüngere der beiden Eskimos rief die deutſchen Worte hinab: „Nicht hier. Warten. Nume kommen.“ La blickte ihn fragend an. Aber er antwortete nicht, er ſah, daß ſie fror. „Werft die Decke herab!“ rief er. Man ſchien ihn jetzt nicht zu verſtehen. „Was heißt auf grönländiſch Decke?“ fragte er. „Kepik.“ „Kepik!“ rief er hinauf. Eine wollene Decke wurde hinabgeworfen. Saltner ſchlug den Pickel feſt in die Wand und beugte ſich weit vor, um ſie aufzufangen. Es gelang. Er hüllte La hinein. Er zog ſeine Feldflaſche heraus, die er vorſorglich aus den geretteten Reiſevorräten mit Kognak gefüllt hatte. La wußte zwar damit nicht Beſcheid, aber er flößte ihr etwas von dem feurigen Getränk ein, das ihr ſehr wohltat. Er berichtete kurz. Sein Ausflug war ohne entſcheidenden Erfolg geblieben. Der fragliche Gegenſtand war eine der im Ballon befindlichen Decken geweſen, dieſelbe, die La jetzt einhüllte. Aber ob ſie von Torm mitgenommen und dort zurückgelaſſen war oder ob ſie aus dem Ballon bei ſeinem Flug verloren und vom Wind hingetrieben worden war, ließ ſich nicht feſtſtellen; das letztere war ſogar das wahrſcheinlichere. Dabei hatte ſich überraſchenderweiſe herausgeſtellt, daß der Sohn des Eskimos einige Worte deutſch verſtand. Er war ein Jahr in Dienſten deutſcher Miſſionare auf Grönland geweſen und hatte einzelne Worte aufgefaßt, als Saltner mit La deutſch ſprach. Nur hatte er in Gegenwart der Martier nicht gewagt, dies zu erkennen zu geben. Endlich erſchienen die Martier wieder am Rand der Spalte. Ein zweites Seil wurde herabgelaſſen. Saltner machte einen erträglichen Sitz zurecht, und indem er La ſtützte und mit dem Eispickel beide von der Wand fernhielt, wurden ſie glücklich an die Oberfläche befördert. „Ich weiß, was ich Ihnen verdanke“, ſagte La. Eine tiefe Erſchöpfung ergriff ſie, und ſie mußte bis an das Boot getragen werden. Man trat ſofort die Heimfahrt an. 11. Martier und Menſchen Der September hatte begonnen. Noch immer beſchrieb die Sonne ohne unterzugehen den vollen Kreis des Himmels, aber ſie ſtand nur noch wenige Grad über dem Horizont. Schon ſtreifte ſie nahe an die höchſten Gipfel der Berge, welche an einzelnen Stellen die Steilufer des Polarbaſſins überragten. Der lange Polartag neigte ſich ſeinem Ende zu. Wie in einem ewigen Untergang wanderte der rieſige Glutball der Sonne rings um die Inſel, meiſt drang ſie nur ſtrahlenlos wie eine rote Scheibe durch die Nebel, und ein breites, roſig glühendes Band zog ſich durch die leiſe wogenden Fluten ihr entgegen und folgte ihrem Lauf als ein natürlicher Stundenzeiger um den Pol. Die beiden deutſchen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in einem köſtlichen Märchen. Hätte nicht der Gedanke an den verlorenen Gefährten auf ihre Stimmung niederdrückend gewirkt und den Genuß der Gegenwart gedämpft, nichts Freudigeres und Erhebenderes wäre denkbar geweſen als der beglückende Verkehr mit den Bewohnern der Polinſel, die, wie ſie jetzt erfuhren, den Namen Ara führte, zu Ehren des erſten Weltraumſchiffers Ar. Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäſte, denen jede Freiheit geſtattet war. Gegenüber den kleinen, unanſehnlichen, ſchmutzigen und tranduftenden Eskimos erſchienen ihnen die ſtattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen Tracht ſchon äußerlich als Weſen verwandter Art. Nicht wenig trug dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, ſobald ſie ſich nicht im Schutz des abariſchen Feldes befanden, an den Menſchen anerkennen mußten. Aufrecht und leicht ſchritten dieſe einher und verrichteten ſpielend Arbeiten, denen die unter dem Druck der Erdſchwere gebeugt einherſchleichenden Martier nicht gewachſen waren. Denn auch Grunthe war nach wenigen Tagen wieder in ſeiner Geſundheit völlig hergeſtellt und ſpürte keinerlei üble Folgen ſeiner Fußverletzung. Saltner aber hatte ſich durch die entſchloſſene und geſchickte Rettung Las die Achtung der Martier erworben. Überraſchend ſchnell hatte ſich das gegenſeitige Verſtändnis durch die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptſächlich durch die glückliche Auffindung der kleinen deutſch-martiſchen Sprachanweiſung gelungen. Es zeigte ſich, daß dieſe von ihrem Verfaſſer Ell ganz ſpeziell für diejenigen Bedürfniſſe ausgearbeitet war, die ſich bei einem erſten Zuſammentreffen der Menſchen mit den Martiern für beide Teile herausſtellen würden. Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenſtände und Beobachtungen berückſichtigt, über welche man ſich ja leicht durch die Anſchauung direkt verſtändigen kann, wie Speiſe und Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätſchaften, die ſichtbaren Naturerſcheinungen und ſo weiter; vielmehr fanden ſich gerade die Ausdrücke für abſtraktere Begriffe, für kulturgeſchichtliche und techniſche Dinge darin verzeichnet, ſo daß es Grunthe und Saltner möglich wurde, ſich über dieſe Gedankenkreiſe mit den Martiern zu beſprechen. Ell hatte offenbar vorausgeſehen, daß, wenn wiſſenſchaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen überlegenen Martiern zuſammenkämen, das Hauptintereſſe darin beſtehen müßte, ſich gegenſeitig über die allgemeinen Bedingungen ihres Lebens zu unterrichten. Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung wie bei den beiden Forſchern, daß auf Erden ein Menſch exiſtiere, der ſowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrſchte als auch eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältniſſe auf dem Mars beſaß. Aus gewiſſen Einzelheiten ſchloſſen ſie allerdings, daß dieſe Kenntnis ſich nur auf weiter zurückliegende Ereigniſſe bezog, daß insbeſondere die Tatſache der Marskolonie am Pol der Erde dem Verfaſſer des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der Name Ell war in einigen Landſchaften des Mars nicht ſelten. Die gegenwärtigen Polbewohner erinnerten ſich der Berichte, daß bei den erſten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge verſchollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schickſal der kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man ſogar gewiß, daß er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf der Erde zurückgelaſſen worden war, allerdings unter Umſtänden, welche allgemein an ſeinen baldigen Untergang glauben ließen. Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieſer Martier zu Menſchen ſich gerettet und die Kunde vom Mars dahin gebracht hätte. Dieſe Ereigniſſe aber lagen dreißig bis vierzig Erdenjahre zurück, und jene Männer ſelbſt waren alle in vorgeſchrittenerem Alter geweſen, da eine Beteiligung jüngerer Leute an jenen erſten, unſicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell ſelbſt, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter war, konnte alſo nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner konnten verſichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners, ja überhaupt von der Exiſtenz ſolcher Weſen, auf der Erde nichts bekannt ſei. Ell war der einzige, der ein ſolches Wiſſen beſaß, dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht ernſthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er ſelbſt dazu gekommen war, blieb ebenſo unaufgeklärt wie die Umſtände, durch welche jene Sprachanweiſung in das Flaſchenfutteral gelangt ſein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine ſcherzhafte Überraſchung am Nordpol mitgegeben hatte. Den Bemühungen der Deutſchen, ſich die Sprache der Marsbewohner anzueignen, kamen dieſe bereitwillig entgegen, ſo daß Saltner und insbeſondere Grunthe ſehr bald ein Geſpräch auf martiſch führen konnten; gleichzeitig fand es ſich, daß auch die Martier, welche den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutſche beherrſchten. Erſteres wurde dadurch möglich, daß die Verkehrsſprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und glücklicherweiſe für eine deutſche Zunge auch leicht auszuſprechen war. Sie war urſprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner geweſen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener Niederungen wohnten, welche von den Aſtronomen der Erde als Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der verſchiedenen Stämme und Raſſen der Martier zu einem großen Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Ziviliſatoren des Mars war die allgemeine Weltverkehrsſprache geworden. Durch einen Hunderttauſende von Jahren dauernden Gebrauch hatte ſie ſich ſo abgeſchliffen und vereinfacht, daß ſie der denkbar glücklichſte und geeignetſte Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche, alles, was Schwierigkeiten verurſachte, war abgeworfen worden. Deswegen konnte man ſie ſich ſehr ſchnell ſoweit aneignen, daß man ſich gegenſeitig zu verſtehen vermochte, wenn es auch außerordentlich ſchwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die mit der äſthetiſchen Anwendung der Sprache verbunden waren. Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrſchte. Neben derſelben aber gab es zahlloſe, ſehr verſchiedene und in ſteter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig kleinen Gebieten geſprochen wurden, endlich ſogar Idiome, die allein im Kreis einzelner Familiengruppen verſtanden wurden. Denn es zeigte ſich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier, daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre ſoziale Zuſammengehörigkeit als Bewohner desſelben Planeten anbetraf, eine ebenſo große Mannigfaltigkeit und Freiheit des individuellen Lebens entſprach. Wenn ſo die ſchnelle Erfaßbarkeit des Martiſchen den Deutſchen zugute kam, ſo brachte die erſtaunliche Begabung der Martier andererſeits zuwege, daß ſie ſich wie ſpielend das Deutſche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden Formenreichtum des Grönländiſchen erſchien ihnen das Deutſche weſentlich leichter. Was aber die ſchnellere Erlernung desſelben hauptſächlich bewirkte, war der Umſtand, daß das Deutſche als Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geiſtigen Niveau der Martier ſoviel näherſtand. Was der Grönländer in ſeiner Sprache auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken konnte, der enge Intereſſenkreis, auf den ſich das Leben des Eskimo beſchränkte, das alles war dem Martier ſehr gleichgültig, und er beſchäftigte ſich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel beſaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders aber wurde das Intereſſe der Martier erregt, als ſie mit Grunthe und Saltner Geſprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutſchen fanden ſie eine Sprache, reich an Ausdrücken für abſtrakte Begriffe, und dadurch verwandt und angemeſſen ihrer eigenen Art zu denken. Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die komplizierteſten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne ſeiner Anwendungen mit einemmal überblickten, dieſe bewundernswerte Feinheit der Organiſation des Martiergehirns kam den Deutſchen zum erſtenmal zum vollen Bewußtſein, als ſie die Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutſche nicht nur erfaßten und gebrauchten, ſondern gewiſſermaßen aus dem einmal begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft nachſchufen. Grunthe und Saltner wurde es ſehr bald klar, daß die Martier geiſtig in ganz unvergleichlicher Weiſe höher ſtanden als das ziviliſierteſte Volk der Erde, wenn ſie auch noch nicht zu überſehen vermochten, wie weit dieſe höhere Kultur reiche und was ſie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich war, wenn der Stolz des deutſchen Gelehrten einer höheren Intelligenz ſich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter verſtockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen Natur der Martier beſtehen. Es wich widerſtandslos der ungeteilten Bewunderung dieſer höheren Weſen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, konnten bei den Menſchen gar nicht aufkommen, weil ſie ſich nicht einfallen laſſen durften, ſich mit den Martiern auf dieſelbe Stufe der Einſicht ſtellen zu wollen. Freilich wurden ſie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen man ihre Torheit liebevoll nachſieht, während man ſie zu beſſerem Verſtändnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts. Denn die Martier, wenigſtens diejenigen der Inſel, waren viel zu klug und taktvoll, als daß ſie je ihre Überlegenheit in direkter Weiſe geltend gemacht hätten. Sie wußten es ſo einzurichten, daß den Menſchen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Reſultat der eigenen Arbeit erſchien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe korrigierten ſie mit entſchuldigender Liebenswürdigkeit. Die Wunder der Technik, welche die Forſcher bei jedem Schritt auf der Inſel umgaben, verſetzten ſie in eine neue Welt. Sie fühlten ſich in der beneidenswerten Lage von Menſchen, die ein mächtiger Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt hat, in welcher die Menſchheit eine höhere Kulturſtufe erklommen hat. Die kühnſten Träume, die ihre Phantaſie von der Wiſſenſchaft und Technik der Zukunft ihnen je vorgeſpiegelt hatte, ſahen ſie übertroffen. Von den tauſend kleinen automatiſchen Bequemlichkeiten des täglichen Lebens, die den Martiern jede perſönliche Dienerſchaft erſetzten, bis zu den Rieſenmaſchinen, die, von der Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in ſechstauſend Kilometer Höhe ſchwebend erhielten, gab es eine unerſchöpfliche Fülle neuer Tatſachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben die Wirte ihren Gäſten Auskunft, aber in den meiſten Fällen war es gar nicht möglich, ihnen den Zuſammenhang zu erklären, weil ihnen die Vorkenntniſſe fehlten. Grunthe war in dieſer Hinſicht ſo vorſichtig, nicht viel zu fragen; er ſuchte ſich auf ſeine eigne Weiſe zurechtzufinden, ſobald er ſah, daß die Erklärung der Martier über ſeinen Horizont ging. Saltner machte ſich weniger Skrupel darüber. „Das hilft nun nichts“, pflegte er zu ſagen, „wir ſpielen einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, iſt Medizin.“ Als ihnen Hil zum erſtenmal die Einrichtung erklärt hatte, wodurch ſich die Martier in ihren Zimmern den Druck der Erdſchwere erleichterten, und Grunthe mit zuſammengekniffenen Lippen in tiefes Nachdenken verfiel, ſagte Saltner einfach: „Medizin“ und hob Grunthe ſamt dem Stuhl, auf welchem er ſaß, mit ausgeſtreckten Armen über ſeinen Kopf. Dieſe Kraftleiſtung war zwar für ihn bei der auf ein Drittel verringerten Erdſchwere durchaus nichts Beſonderes, ließ ihn aber doch den Martiern als einen Rieſen an Stärke erſcheinen. Das Zimmer, welches an die beiden Schlafzimmer von Grunthe und Saltner ſtieß, war für den bequemen Verkehr der Martier mit den Menſchen in eigentümlicher Weiſe eingerichtet worden. Da nämlich die Verringerung der Erdſchwere, deren die Martier für die Leichtigkeit ihrer Bewegungen bedurften, von Grunthe und Saltner nicht gut vertragen wurde, ſo hatte man es durch eine am Boden markierte Linie — Saltner nannte ſie den ‚Strich‘ — in zwei Teile zerlegt. Der abariſche Apparat konnte für die Hälfte des Zimmers, welche an die Wohnräume der Menſchen grenzte, ausgeſchaltet werden, während in dem übrigen Teil die Gegenſchwere auf das den Martiern gewohnte Maß eingeſtellt wurde. Hier hielten ſich die Martier auf, wenn ſie bei den Deutſchen ihre Beſuche machten, während dieſe ſich nach ihren Wünſchen eingerichtet hatten, ſoweit es mit den von den Martiern bereitwillig hergegebenen Möbeln und den wenigen von ihnen ſelbſt mitgebrachten Gegenſtänden geſchehen konnte. Freilich beſchränkte ſich dieſe Einrichtung nur auf die Aufſtellung eines Arbeitstiſches, einiger Bücher, Schreibmaterialien und Inſtrumente; denn in dieſer Hinſicht wußten die Forſcher nur in der ihnen gewohnten Weiſe auszukommen. Was im übrigen die Bequemlichkeiten des täglichen Lebens anbetraf, ſo waren ſie nicht nur auf die Apparate und Gewohnheiten der Martier angewieſen, ſondern fanden dieſelben auch bald um ſo viel vorteilhafter und angenehmer, daß ſie gern darüber nachdachten, wie ſie dergleichen in ihre Heimat verpflanzen könnten. Saltner, der ſeinen photographiſchen Apparat unter den geretteten Gegenſtänden wiedergefunden hatte, konnte kaum Zeit genug gewinnen, alle die Ausſtattungsſtücke der Martier aufzunehmen und die gänzlich neuen Formen der Verzierungen, die Gemälde, Kunſtwerke und Zimmerpflanzen abzubilden. Ein beſonderes Studium machte er aus den Automaten, deren Mechanismus er zu ergründen ſuchte und ſich immer wieder aufs neue erklären ließ. Seine Beraterin in dieſen Dingen war in der Regel die immer heitere Se, ſeine liebenswürdige Pflegerin beim erſten Erwachen. Sie hielt ſich täglich einen großen Teil ihrer Zeit über in dem gemeinſchaftlichen Geſellſchaftszimmer auf und machte den Gäſten gewiſſermaßen die Honneurs des Hauſes. Dagegen bekam Saltner La nur ſelten zu ſehen, gewöhnlich nur des Abends, wenn ſich die Martier in größerer Anzahl einzuſtellen pflegten. Und dann hielt ſie ſich gern zurück, obwohl er oft fühlte, daß ihre großen Augen mit einem ſinnenden Ausdruck auf ihm ruhten. Sein lebhaftes Geſpräch mit Se aber unterbrach ſie häufig durch eine Neckerei. Da man ſich meiſt bei geöffneten Fernhörklappen unterhielt, ſo konnte man, ſobald man wollte, einem Geſpräch in einem andern Zimmer zuhören und ſich hineinmiſchen; ſo war es nichts Ungewöhnliches, daß man von einem Zwiſchenruf eines ungeahnten Zuhörers unterbrochen wurde. Ebenſowenig aber nahm es jemand übel, wenn man einfach ſeine Klappe abſchloß. Die Sprachſtudien waren ſpeziell zwiſchen La und Saltner nicht wieder aufgenommen worden. Denn La hatte noch mehrere Tage nach ihrem Unfall ſich vollkommener Ruhe hingeben müſſen, und als ſie wieder geſundet war, fand ſie das gegenſeitige Verſtändnis zwiſchen Menſchen und Martiern ſchon ziemlich weit vorgeſchritten. Aber auch ſie hatte ihre unfreiwillige Muße benutzt und nicht nur den Ellſchen Sprachführer, ſondern auch die wenigen Nachſchlagwerke, welche die Luftſchiffer mit ſich hatten, durchſtudiert. Trotz des Eindrucks, den die reizende Se auf Saltners empfängliches Gemüt machte, flogen ſeine Gedanken immer zu der ſtilleren, milden La zurück, und es war ihm ſtets wie eine leichte Enttäuſchung, wenn er ſie im Zimmer nicht vorfand. Gerade daß er öfter ihre tiefe Stimme vernahm, ließ ihn ihren Anblick um ſo mehr vermiſſen. Las Zurückhaltung war nicht abſichtslos. Daß ſowohl ſie wie Se eine unentrinnbare Gefahr für Saltners Herz waren, lag ja für beide auf der Hand, nachdem ſie ſich überhaupt erſt an den Gedanken gewöhnt hatten, daß ein Menſch ſich verlieben könne. Was aber Se höchſt komiſch vorkam und als äußerſt ſpaßhaft erſchien, das vermochte La ſo harmlos nicht anzuſehen. Der ‚arme Menſch‘, mit dem Se ſich ſo luſtig unterhielt, war ihr doch in einem andern Licht erſchienen, damals, als er, in ſeinem eignen Element tätig, Leiſtungen verrichtete, die über das Vermögen der Nume hinausgingen. Sie konnte den Moment nicht vergeſſen, in welchem ſie ſich in ſeinen ſtarken Armen vom vernichtenden Abgrund zurückgeriſſen fühlte. Und ſo blieb es ihr immer gegenwärtig, daß dieſes Spielzeug der erhabenen Nume, wenn auch nur ein Menſch, doch ein freies Lebeweſen ſei, kein ebenbürtiger Geiſt, aber vielleicht ein ebenbürtiges Herz. Ein doppeltes Mitleid ſtritt mit ſich ſelbſt in ihrer Seele, ſie vermochte ihn nicht zu kränken durch Kälte und Zurückweiſung, und ſie wollte nicht Gefühle erwecken, die ihm doch nur zu größerem Leid werden konnten. Wer kann wiſſen, wie Menſchenherzen fühlen mögen? Vielleicht waren die Menſchen viel ſtärker in ihren Gefühlen als in ihrem Verſtand. Und ſie war Saltner zu dankbar, um nicht für ihn zu denken, was er wohl nicht verſtand. — Aber was tun? Wäre Saltner ein Martier geweſen, ſo hätte es keiner Vorſicht für La bedurft. Er hätte dann gewußt, daß ihre Freundlichkeit und ſelbſt ihre Zärtlichkeit nichts bedeuteten als das äſthetiſche Spiel bewegter Gemüter, das die Freiheit der Perſon nicht beſchränken kann. Wie jedoch mochten Menſchen in dieſem Fall denken? Durfte ſie hierin ohne weiteres gleiche Sitten vorausſetzen? Und würde er wohl verſtehen, was von vornherein und immer den Menſchen, den wilden Erdbewohner, von der heiteren Freiheit des erhabenen Numen trennte? Und lief er nicht Gefahr, bei Se demſelben Schickſal zu verfallen, vor dem ſie ihn ſelbſt zu behüten ſuchte? Wenn ſie Se ihre Bedenken andeutete, ſo lachte dieſe nur. „Aber La“, ſagte ſie, „du biſt auch gar zu bedächtig! Ich bitte dich, er iſt ja bloß ein Menſch! Es iſt doch furchtbar komiſch, wenn der ſich Mühe gibt, ſo recht liebenswürdig zu ſein.“ „Du kannſt aber nicht wiſſen“, antwortete La, „ob ihm auch ſo furchtbar komiſch zumute iſt. Ein Tier, das wir necken, ſcheint uns oft äußerſt lächerlich, und ich muß dann doch immer denken, daß es vielleicht bitter dabei leidet. Und ein Menſch iſt doch nicht bloß komiſch —“ „Ich habe freilich noch keinen in einer Eisgrube geſehen“, ſagte Se, „doch ich glaube, du brauchſt dir um den keine Sorge zu machen. Wenn es dich aber beruhigt, ſo kann man ihn ja leicht merken laſſen, wie’s gemeint iſt —“ „Ich will ihn aber nicht kränken.“ „Im Gegenteil, wir machen gemeinſame Sache. Wir binden ihn beide.“ „Meinſt du, daß ein Menſch das Spiel verſteht?“ „Na, wenn er ſo dumm iſt —“ „Wir wiſſen doch gar nichts von den Anſchauungen —“ „So werden wir uns eben alle drei belehren. Schade, daß der ſteife Grunthe nicht mitſpielen kann. Willſt du?“ „Ich werde mir’s überlegen.“ La zog ſich zu ihren Studien zurück. Se begab ſich in das Geſellſchaftszimmer, wo ſie Saltner wieder mit Zeichnen beſchäftigt fand. „Wenn ich mit meinen Muſtern glücklich nach Deutſchland zurückkomme“, rief er vergnügt, „ſo bin ich ein gemachter Mann. ‚Martiſch‘ muß Mode werden. Ich gründe einen Bazar für Marswaren. Schade nur, daß wir die Rohſtoffe nicht haben werden. Was iſt das zum Beiſpiel für ein wunderbares Gewebe, aus dem Ihr Schleier beſteht? Die Stickerei darin bildet lauter funkelnde Sterne, die ſich nirgends untereinander berühren; nirgends iſt ein Grund ſichtbar, der ſie zuſammenhält. Es ſcheint, als ſchwebe eine Wolke von Funken um Sie her.“ „Das tut ſie auch“, ſagte Se lachend, „aber ſie brennt nicht, fühlen Sie getroſt! Kommen Sie gefälligſt hierher, denn über den Strich gehe ich nicht.“ Se hatte ſich, mit einer chemiſchen Handarbeit beſchäftigt, auf einem der niedrigen Diwane, wie die Martier ſie lieben, niedergelaſſen, während Saltner an ſeinem eigenhändig hergerichteten Pult ſich befand. Er legte den Zeichenſtift fort und trat an Se heran, die ſich mit ihrem Diwan bis dicht an die Schwerkraftgrenze gerückt hatte. „Geben Sie Ihre Hände her“, ſagte Se. Sie nahm ein Ende des langen Schleiers und band damit Saltners Hände zuſammen. Man konnte keinerlei Stoff erkennen. Es ſah auch jetzt aus, als wenn ein Strom vom lichten Funken um ſeine Hände ſtöbe. „Fühlen Sie etwas?“ fragte Se. „Jetzt, nachdem Sie Ihre Finger fortgenommen haben, nichts. Kann man denn den Stoff überhaupt nicht fühlen?“ „Wenigſtens nicht mit der groben Haut von euch Menſchen.“ Saltner führte die zuſammengebundenen Hände mit dem Schleier an ſeine Lippen. „Doch“, ſagte er, „mit den Lippen fühle ich, daß etwas zwiſchen meiner Hand und meinem Mund iſt.“ „Nun ſtrengen Sie einmal Ihre Rieſenkräfte an, und reißen Sie die Hände voneinander.“ „Oh, das wäre ſchade um den Funkenſchleier.“ „Verſuchen Sie es nur.“ Saltner zerrte ſeine Hände auseinander, aber je heftiger er zog, um ſo enger ſchloß ſich der Knoten, und er merkte jetzt, wie ſich die kleinen Sternchen in ſeine Haut eingruben. „Ja“, ſagte Se, „der Stoff iſt unzerreißbar, wenigſtens kann er koloſſale Laſten halten. Dieſe unſichtbar feinen Fäden, von denen jeder wohl einen Zentner tragen kann, ſind für viele unſerer Apparate ein unentbehrlicher Beſtandteil. Jetzt ſind Sie alſo gefeſſelt und können ohne meine Erlaubnis nicht mehr fort.“ „Um die bitte ich auch gar nicht, ich finde es reizend hier“, ſagte Saltner und beugte ſich über die Lehne des Diwans, auf welche er die gebundenen Hände ſtützte. Se faßte ſeinen Kopf zwiſchen ihre Hände und bog ihn zu ſich nieder, während ſie ihm in die Augen ſah, als wollte ſie ſeine Gedanken ergründen. „Seid ihr eigentlich dumm, ihr Menſchen?“ fragte ſie plötzlich. „Nicht ſo ganz“, ſagte Saltner, indem er ſich noch tiefer herabbeugte. „Der Strich!“ rief Se lachend und ſchob ſeinen Kopf leicht zurück. „Geben Sie die Hände her.“ Sie löſte im Augenblick den Knoten und ergriff wieder die gläſernen Stäbchen, mit denen ſie in einem Gefäß auf beſondere Weiſe hantierte. „Sie haben mir noch immer nicht geſagt“, ſprach Saltner, nach ſeinem Pult zurückgehend, „was für ein Stoff das iſt, auf dem die Stickerei ſitzt.“ „Eine Stickerei iſt es überhaupt nicht, ſondern es ſind Dela — wie heißt das? Aus Muſcheln, kleine Kriſtalle, die ſich darin bilden.“ „Alſo etwas Ähnliches wie unſere Perlen —“ „Aber ſie leuchten von ſelbſt. Und der Stoff iſt Lis.“ „Lis? Da bin ich ebenſo klug.“ „Lis iſt eine Spinne, ſie webt ein faſt unſichtbares Netz.“ „Und wie findet man das auf? Wie webt man die Fäden?“ „Im polariſierten Licht, ſehr einfach, und mit beſonderen Maſchinen. Und die Dela ſind nicht daraufgeſetzt, ſondern ſie liegen in Schlingen zwiſchen dünnen Schichten des Gewebes.“ „Sie nannten die Dela Kriſtalle — wie iſt es denn möglich, daß ſie dieſes Eigenlicht dauernd ausſenden, ähnlich wie unſre Glühwürmchen?“ „Sie müſſen natürlich von Zeit zu Zeit ins Strahlbad, dann leuchten ſie wieder ein paar Tage.“ „Ins Strahlbad?“ „Nun ja, ſie werden einer ſtarken, künſtlichen Beſtrahlung ausgeſetzt. Das Licht trennt einen Teil der chemiſchen Stoffe der Kriſtalle voneinander, und indem dieſe ſich nachher langſam wieder vereinigen, entſteht das Selbſtleuchten.“ „Alſo was wir Phosphoreszenz nennen. Und was haben Sie dort für eine Handarbeit?“ Se antwortete nicht ſogleich. Sie ſtellte gerade eine Kopfrechnung an, die ſich auf ihre Arbeit bezog, und betrachtete dabei den Sekundenzeiger der Zimmeruhr. Da klang die Klappe des Fernſprechers, und gleich darauf vernahm man die Stimme von La. Sie fragte an, ob die ‚Menſchen‘ für einige Herren der Inſel zu ſprechen ſeien. „Es wird mir ſehr angenehm ſein, die Herren zu ſehen“, ſagte Saltner. „Mein Freund iſt augenblicklich nicht anweſend, aber ich werde ihn ſogleich rufen.“ — 12. Die Raumſchiffer Grunthe beſchäftigte ſich auf der Oberfläche der Inſel mit Meſſungen. Was ihn ſowohl wie Saltner beſonders wunderte, war der Umſtand, daß die vom Ballon aus beobachtete Erdkarte auf dem Dach der Inſel ſelbſt durchaus nicht ſichtbar war. Wie kamen die Martier überhaupt auf die Idee, eine ſolche Rieſenkarte anzubringen, und auf welche erſtaunliche Weiſe war ſie hergeſtellt? Aber gerade darüber konnten die Forſcher auf ihre Fragen keine Auskunft erhalten. Grunthe liebte es, ſich ſoviel als möglich im Freien aufzuhalten, um ſowohl die techniſchen Einrichtungen der Inſel als auch die Erſcheinungen der Natur am Nordpol zu ſtudieren, ja er hatte ſchon mit Unterſtützung einiger Martier Bootfahrten auf dem Binnenmeer und ebenfalls bis zum gegenüberliegenden Ufer vorgenommen, ohne jedoch auf weitere Spuren von Torm zu treffen. Er hatte dabei bemerkt, daß die Polinſel infolge ihrer verſteckten Lage zwiſchen den übrigen höheren Inſeln von den Ufern des Baſſins aus überhaupt nicht wahrnehmbar und ſomit gegen zufällige Entdeckung geſchützt war. So ernſthaft ihn dieſe Studien beſchäftigten, war es ihm doch nebenbei ſehr angenehm, mit einem triftigen Vorwand ſich von dem Konverſationszimmer fernzuhalten. Denn hier waren einen großen Teil des Tages über Se oder La, manchmal auch eine oder die andre der übrigen auf der Inſel wohnenden Frauen anweſend, und die Aufgabe der Höflichkeit, ſich mit dieſen zu unterhalten, überließ er gern Saltner, der ſich derſelben mit Vorliebe unterzog. Im Freien dagegen war er ziemlich ſicher, keiner von den Damen zu begegnen. Außerhalb der Schutzvorrichtungen, die ſie von einem Teil der Erdſchwere befreiten, war ihnen der Aufenthalt zu läſtig; und ſie wußten wohl, daß der ſchwerfällige Schritt und die gebeugte Haltung, die ihnen dort die eigene Körperlaſt auferlegte, ihre Anmut keineswegs erhöhten. Insbeſondere den Menſchen gegenüber, die ſich hier ungezwungen in ihrem Element fühlten, zeigten ſie ſich nicht gern in dem Zuſtand phyſiſcher Unfreiheit. Da Saltner wußte, daß ſich Grunthe in der Nähe aufhielt, konnte er ihn leicht benachrichtigen. Die Zahl der auf der Inſel befindlichen Martier war nicht unbedeutend, ſie mochte gegen dreihundert Perſonen betragen, worunter ſich ungefähr fünfundzwanzig Frauen, aber keine Kinder befanden. Die Lebensweiſe dieſer Kolonie entſprach nicht den Gewohnheiten der Martier auf ihrem eigenen Planeten; es waren nicht Familien, die ſich hier angeſiedelt hatten, ſondern die Koloniſten bildeten eine ausgewählte Truppe mit militäriſcher Organiſation, wie ſie von den Martiern zur Vornahme wichtiger öffentlicher Arbeiten ausgerüſtet wurde. Aber auch hier war dem Bedürfnis der Nume nach möglichſt großer individueller Unabhängigkeit Rechnung getragen. Die einzelnen hatten ſich je nach ihrer perſönlichen Neigung zu Gruppen zuſammengefunden und danach ihre Wohnung auf der Inſel gewählt. Jede dieſer Gruppen wurde durch einen der älteren Beamten geleitet, der die Ordnung der Arbeiten verteilte. Ihm ſtand eine der Damen zur Seite, welche gewiſſermaßen die häusliche Wirtſchaft der Gruppe führte, die Verteilung der Nahrungsmittel beaufſichtigte und die regelmäßige Funktion der Automaten kontrollierte, während jedes Mitglied einer Gruppe eine beſtimmte Zeit der Bedienung dieſer Automaten widmete. Die Pflege der beiden Gäſte hatten die Gruppen des Ingenieurs Fru und des Arztes Hil übernommen, denen als weibliche Aſſiſtenten La und Se angehörten. Es war natürlich, daß Saltner und Grunthe hauptſächlich mit den Mitgliedern dieſer Gruppe verkehrten, wozu ſich noch als täglicher Gaſt der Direktor der Kolonie, Ra, geſellte. Mit den übrigen Gruppen waren ſie bisher nur gelegentlich in Berührung gekommen. Die Martier, welche im Begriff ſtanden, ihren Beſuch bei den Gäſten zu machen, gehörten der Gruppe des Ingenieurs Jo an, deſſen Tätigkeit Grunthe und Saltner hauptſächlich ihre Rettung verdankten. Selbſtverſtändlich hatten ſie nicht verſäumt, ihm alsbald nach ihrer Wiederherſtellung ihren herzlichſten Dank abzuſtatten. Mit ihnen zuſammen erſchien La. Sie trat zuerſt Saltner entgegen und bot ihm mit einem reizenden Lächeln über den ‚Strich‘ hinüber ihre Hand. Aber ehe noch Saltner in ein Geſpräch mit ihr kam, wußte Se ſie beiſeite zu ziehen. Während Jo mit Saltner ſprach, unterhielten ſich die beiden Damen eifrig und leiſe, worauf Se das Zimmer verließ. Jo begrüßte Saltner in ſeiner offenen, nach martiſchen Begriffen etwas derben Weiſe und nannte die Namen ſeiner Begleiter. Jeder von ihnen grüßte nach martiſcher Sitte, indem er die linke Hand ein wenig erhob und die Finger derſelben leicht öffnete und ſchloß. Saltner bewies die Fortſchritte in ſeiner Bildung dadurch, daß er den Gruß in derſelben Weiſe erwiderte. Die Martier wollten ihm jedoch an Höflichkeit nicht nachſtehen und ſchüttelten ihm der Reihe nach auf deutſche Weiſe die rechte Hand, ohne ſich merken zu laſſen, wie ſehr dieſe barbariſche Zeremonie ſie innerlich beluſtigte. Sie hüteten ſich dabei ſorglich, den Strich zu überſchreiten, jenſeits deſſen die Erdſchwere begann. Auf Saltners Einladung nahmen ſie an der breiten Tafel in der Mitte des Zimmers Platz. Man hatte dieſes Zimmer in Rückſicht auf zahlreiche Verſammlungen ſo eingerichtet, daß ein großer Tiſch die Länge desſelben erfüllte und mit dem einen Ende über den ‚Strich‘ hinüberragte. Hier befanden ſich die Plätze für die beiden Deutſchen. In den Beſuchsſtunden, beſonders aber am Abend, wenn die Arbeiten des Tages beendet waren, pflegte ſich hier ſtets eine größere Geſellſchaft zuſammenzufinden. Dann wurde auch bei gemeinſchaftlichen Geſprächen eine leichte Erfriſchung in Form von Getränken eingenommen. Die Einhaltung dieſer Plauderſtunden war eine feſtſtehende Sitte der Martier. Die Mahlzeiten dagegen, welche wirklich zur Sättigung dienten, fanden niemals gemeinſchaftlich ſtatt; dies galt bei den Martiern als unpaſſend. Beim Eſſen ſchloß ſich ein jeder ab, und ſchon daß Saltner und Grunthe gemeinſchaftlich zu ſpeiſen pflegten, erſchien den Martiern als ein Zeichen der ſtark tieriſchen Natur der Menſchen. Nach ihrer Anſicht war die Sättigung eine phyſiſche Verrichtung, welche nicht in die Geſellſchaft gehörte; in dieſer wurden nur äſthetiſche Genüſſe geſtattet. Zu ſolchen äſthetiſchen Genüſſen gehörten Eſſen und Trinken allerdings auch, inſofern ſie dem reinen Wohlgefallen am Geſchmack entſprachen und ſich der Empfindungen der Zunge und des Gaumens nur zum freien Spiel bedienten, nicht aber inſofern ſie den Zweck der Ernährung und die Stillung des körperlichen Bedürfniſſes zu erfüllen beſtimmt waren. Auf Las Aufforderung, welche jetzt die Stelle der Wirtin vertrat, öffneten die Martier die auf dem Tiſch ſtehenden Käſtchen und bedienten ſich der darin befindlichen Piks. Der Gebrauch dieſer Piks erſetzte den Martiern in vollkommener Weiſe den Genuß, welchen die Menſchen durch das Rauchen erreichen, ein leichtes, die Sinne mäßig beſchäftigendes und die Nerven beruhigendes, damit den ganzen Gemütszuſtand behaglich hebendes Spiel, das aber dem Rauchen gegenüber den Vorteil hatte, daß es die Luft nicht verdarb und die übrigen Anweſenden nicht beläſtigte. Die Piks beſtanden in Kapſeln, etwa in der Größe und Geſtalt einer kleinen Taſchenuhr, die an leichte Aluminiumſtäbe geſteckt und dadurch bequem hin und her bewegt wurden. Brachte man dieſe Kapſel, während man den Stiel in der Hand hielt, an die Stirn, ſo ging ein ſchwacher, angenehm erregender Wechſelſtrom durch den Körper, wodurch man ſich wohltuend erfriſcht fühlte. Die Bewegung der Hand und das Streichen der Stirn und Schläfen war ein ſehr anmutiger Zeitvertreib. Dabei zeigte ſich auf der Kapſel ein zartes Farbenſpiel je nach der Größe des Widerſtandes, den der Strom fand, und die Art der Berührung, die Wendungen des Piks boten eine reiche Abwechſelung der Beſchäftigung. Der Kenner wußte dieſe leichten Reize des Gefühls aufs feinſte zu variieren. Wegen der Grazie und Zierlichkeit der Bewegungen, mit denen Se und La die Piks zu handhaben pflegten, hatte Saltner dieſen Inſtrumenten den Namen Nervenfächer beigelegt. „Freut mich ſehr“, ſagte Jo, mit ſeinem Pik an die Stirn klopfend, „den Herrn Bat wieder wohlzuſehen. Hätt’s nicht gedacht, als wir Sie unter dem Ballon hervorholten. Habe leider wenig Zeit gehabt, mit Ihnen zu plaudern, hätte gern etwas über Ihre Luftfahrt gehört.“ „Dazu iſt hoffentlich noch Gelegenheit“, ſagte Saltner. „Fürchte nein“, erwiderte Jo. „Kommen nämlich, uns zu verabſchieden. Morgen geht’s heim.“ „Wie?“ fragte Saltner erſtaunt. Jo deutete mit dem Pik nach einer Stelle des Fußbodens und ſagte: „Nu.“ Saltner mußte ſich erſt beſinnen, daß Jo mit ſeiner Bewegung die Richtung nach dem Mars bezeichne, denn unwillkürlich ſtellte er ſich die Fahrt nach dem Mars immer als einen Aufſtieg gegen den Himmel vor. Aber der Mars befand ſich gegenwärtig unter dem Horizont, und dahin deutete Jo. „Sie ſollten mit uns kommen“, ſagte Jo lächelnd. „Das iſt doch noch ganz etwas anderes bei uns auf dem Mars wie hier auf der ſchweren Erde, wo man ſich genieren muß, vor die Tür zu gehen.“ „Ich danke“, erwiderte Saltner, „ich fürchte, auf dem Mars Sprünge zu machen, die mir nicht gut bekommen würden. Intereſſant wäre es ja freilich, Ihre wunderbare Heimat kennenzulernen, aber glauben Sie denn, daß ein Menſch bei Ihnen exiſtieren kann?“ „Gewiß könnte er das“, ſagte einer der anweſenden Martier, „und zwar viel beſſer, als wir auf der Erde fortkommen. Ich bin überzeugt, daß Sie ſich an die geringere Schwere bald gewöhnen würden und ebenſo an die dünnere Luft. Beide Umſtände kompenſieren ſich einigermaßen in der Wirkung auf den Organismus, und Sie müſſen wiſſen, daß die Luft bei uns relativ reicher an Sauerſtoff iſt als hier. Wie wäre es auch ſonſt möglich, daß die Bewohner beider Planeten eine ſo große Ähnlichkeit beſitzen?“ „Ich bin Ihnen ſehr verbunden für dieſes Kompliment“, antwortete Saltner, „indeſſen iſt unſere Expedition doch nicht auf einen ſo weiten Ausflug eingerichtet, und wir müſſen zunächſt daran denken, wieder nach Hauſe zu kommen.“ „Es wird Ihnen wohl etwas einſam hier werden“ miſchte ſich La in das Geſpräch. „Wie“, fragte Saltner überraſcht, „gehen Sie auch fort?“ „Morgen noch nicht, aber im Verlauf der nächſten — — ja, ich will es Ihnen lieber in Ihre Zeitrechnung nach Erdtagen überſetzen —, alſo in den nächſten vierzehn Tagen ungefähr werden wir faſt alle die Erde verlaſſen haben.“ „Aber davon höre ich das erſte Wort.“ „Weil wir überhaupt noch nicht von der Zukunft geſprochen haben —“ „Es iſt wahr, die Gegenwart war zu ſchön und zu reich —“ „Nun, werden Sie nicht melancholiſch! Und dann verſteht es ſich ja doch von ſelbſt, daß wir im Winter nicht hierbleiben, ausgenommen die Wächter.“ „Was für Wächter?“ „Wir erwarten ſie mit dem nächſten Fahrzeug vom Nu“, ſagte Jo. „Sie ſind unſre Ablöſung — nur zwölf Mann, die hier überwintern und die Inſel bewachen. Im Winter können wir unſre Arbeiten nicht fortſetzen, und die ganze Inſel zu heizen, das wäre denn doch zu koſtſpielig.“ „Und kommen Sie im Sommer zurück?“ „Wir oder andere.“ „Und ich denke, Sie bringen die Polarnacht nicht hier auf der Inſel zu, ſondern bei uns. Dort, wo wir auf dem Mars wohnen, haben wir dann gerade unſern herrlichen Spätſommer. Und wenn die Sonne hier am Nordpol wieder aufgeht, reiſen Sie vom Mars ab und kommen dann im Lauf Ihres Mai hier an. Das iſt gerade die rechte Zeit für den Pol — und dann werden Sie, denke ich, Ihre Freunde vom Mars zu Ihren Landsleuten zu führen wiſſen. Sie brauchen aber nicht jetzt ſchon mit Jo zu reiſen, wir verlaſſen die Erde erſt mit dem letzten Schiff.“ La hatte dies zu Saltner geſagt. Und als ſie ihn dabei ſo freundlich anſah, ſchien es ihm, als könne es gar nicht anders ſein, er müſſe mit nach dem Mars gehen. Aber was würde Grunthe dazu ſagen? Allerdings hatten weder Saltner noch Grunthe bisher mit den Martiern über ihre nächſte Zukunft geſprochen. Das hatte verſchiedene Urſachen in zufälligen Umſtänden. Der Hauptgrund war jedoch, wohl ohne daß die beiden Deutſchen ſich darüber klar wurden, daß die Martier bisher es abſichtlich vermieden hatten, ſich über dieſe Frage zu äußern. Sie hatten ſelbſt noch keinen Entſchluß gefaßt. Auf die erſte Lichtdepeſche nach dem Mars über die Auffindung der Menſchen hatte die Zentralregierung der Marsſtaaten geantwortet, daß man zunächſt die Fremdlinge beobachten und ausforſchen und dann über ſie Bericht erſtatten ſolle. Dieſer Bericht war vor kurzem abgegangen, die Antwort jedoch noch nicht eingetroffen. Deshalb hatten die Martier jede Hindeutung auf das weitere Schickſal ihrer Gäſte vermieden, und ſobald Grunthe und Saltner eine Frage in dieſer Hinſicht zu ſtellen oder einen Wunſch zu äußern verſuchten, waren ſie darüber mit einer ausweichenden Antwort hinweggegangen. Wenn aber die Martier auf irgendeine Frage nicht eingehen wollten, ſo war es für die Menſchen ganz unmöglich, ſie dahin zu bringen. Die Leichtigkeit, mit welcher ſie die Gedanken lenkten, und die Überlegenheit ihres Willens waren ſo groß, daß die Menſchen ihnen folgen mußten und dabei kaum merkten, daß ſie geleitet wurden. Aber Grunthe wie Saltner waren in der Tat noch ſo erfüllt von den Aufgaben, die ihnen auf der Inſel geſtellt waren, daß ſie die Pläne über die Fortſetzung ihrer Reiſe ſelbſt in ihren Geſprächen untereinander nur vorübergehend berührt hatten. Sie hatten ſich zwar vorgenommen, in den nächſten Tagen einen definitiven Entſchluß zu faſſen und zu gelegener Zeit mit den Martiern darüber zu reden, bis jetzt war es aber noch nicht dazu gekommen. Grunthe glaubte nämlich, daß ſie, falls nur die Erlaubnis der Martier erlangt war, jederzeit die Inſel ohne Schwierigkeit würden verlaſſen können, weil er nach einer allerdings nur vorläufigen Unterſuchung ſich für überzeugt hielt, daß der Ballon mit verhältnismäßig geringer Mühe ſich wieder herſtellen ließe. Mit dem größten Teil ihrer Ausrüſtung waren auch einige Reſervebehälter gerettet worden, die komprimierten Waſſerſtoff enthielten. Allerdings konnte derſelbe zu einer vollſtändigen Füllung des Ballons nicht ausreichen. Doch hoffte Grunthe, von den Martiern die Mittel zur genügenden Entwicklung des Gaſes zu erhalten. Er hatte bei ſeinen Studien auf der Inſel geſehen, daß die Martier über ſo gewaltige Mengen elektriſchen Stromes verfügten, daß er dadurch den Waſſerſtoff leicht aus dem Waſſer des Meeres erhalten konnte. Sollte ihm aber hierzu die Beihilfe verweigert werden, ſo war er entſchloſſen, den Ballon entſprechend zu verkleinern und mit dem Reſervevorrat an Gas und nur dem notwendigſten Gepäck die Heimreiſe anzutreten. Er hatte in der Bibliothek der Martier die Witterungsbeobachtungen gefunden, welche Jahre hindurch von ihnen am Nordpol ausgeführt waren. Daraus hatte er entnommen, daß während des Novembers regelmäßig andauernd nach Europa hinwehende Winde einzutreten pflegten, daß er aber früher keine Ausſicht hatte, günſtige Windverhältniſſe zu erwarten. Demnach mußte er ſich entſcheiden, ob er ſich jetzt, kurz vor Beginn der Polarnacht, unbeſtimmten atmosphäriſchen Verhältniſſen anvertrauen wollte, oder ob er mitten in der Polarnacht es wagen wollte, bei günſtigem Wind aufzuſteigen. Das letztere ſchien ihm das Empfehlenswertere zu ſein, da er bei gutem Wind hoffen durfte, in wenigen Tagen bewohnte Gegenden zu erreichen. Dieſe Überlegungen, welche Grunthe für ſich angeſtellt hatte, waren von ihm zwar Saltner gegenüber beiläufig erwähnt worden, doch hatte ſie dieſer, eben weil ſie die Zeit zur Ausführung noch nicht für gekommen hielten, zunächſt nicht weiter erwogen. Ihm war vorläufig die Gegenwart alles, und jetzt erſt ſtellten ihn Las Worte unmittelbar vor die Frage, was zu tun ſei, wenn die Martier faſt ſämtlich die Inſel verließen. Zugleich aber ſchien ihm im Augenblick eine ſo ſchnelle Trennung von ſeinen innig verehrten Gaſtfreunden und von La und Se insbeſondere als etwas kaum Mögliches. Indem ihm Grunthes Pläne momentan durch den Kopf ſchoſſen, fühlte er doch, daß er nicht ſofort eine Zuſage geben dürfe, und in ſeiner Verwirrung zögerte er mit der Antwort, während die Martier mit allerlei verlockenden Schilderungen Las Einladung unterſtützten. Zum Glück trat Grunthe jetzt ein, und die Zeremonie der Begrüßung mit den Martiern wiederholte ſich. Nur La, an welcher Grunthe nach Möglichkeit vorbeiſah, mußte ſich mit einem ſteif ausfallenden martiſchen Fingergruß begnügen. Sie lächelte zu Saltner hinüber, und ihr Blick ſchien ſagen zu wollen: „Wir werden ihn doch mitnehmen.“ Grunthe hatte bereits auf dem Weg von Hil gehört, daß morgen ein Fahrzeug nach dem Mars abgehe. „Wie viele Nume verlaſſen uns denn?“ fragte er. „Dreiundfünfzig, darunter fünf Damen“, antwortete Jo. „Dann iſt es wohl ein bedeutendes Fahrzeug? Wenn ich recht gehört habe, ſind ſelbſt Ihre größten Raumſchiffe nicht auf viel mehr berechnet.“ „Das iſt richtig. Auf mehr wie ſechzig können wir unſere Schiffe nicht gut einrichten, das Verhältnis zu den Richt-Bomben wird ſonſt zu ungünſtig. Aber der ‚Komet‘ iſt ein vorzügliches Fahrzeug und trägt gut ſeine ſechzig Perſonen — Sie haben alſo noch bequem Platz, und ich würde mich ſehr freuen, Sie mitzunehmen.“ „Sie ſind ſelbſt der Kommandant?“ fragte Grunthe. „Ich habe die Ehre, das Raumſchiff ‚Komet‘ zu führen, beſtimmt nach der Südſtation des Mars. Sie fahren darin ſicherer durch den Weltraum als in Ihrem Ballon durch die Luft der Erde. Alſo abgemacht, kommen Sie mit?“ „Daran iſt nicht zu denken“, ſagte Grunthe lächelnd. „Aber es würde mich ſehr intereſſieren, der Abfahrt beizuwohnen. Wann findet ſie ſtatt?“ „64,63“, erwiderte Jo. Grunthe ſah ihn fragend an. „Mittlere Marslänge“, fügte Jo hinzu. „Sie müſſen ſchon“, begann La, „den Herren alle Maßangaben in ihre irdiſche Rechnungsweiſe umrechnen. In unſre Meſſungsmethode können ſie ſich nicht ſo ſchnell hineinfinden. Morgen um 1,6 iſt die Abfahrt, das heißt nach Ihrer Stundenrechnung um drei Uhr. Sehen Sie ſich nur die Sache einmal an, Grunthe, Sie werden Luſt bekommen, bald ſelbſt eine Fahrt mitzumachen. In der nächſten Zeit geht jeden dritten Tag ein Schiff ab!“ „Der Mars“, fiel Jo ein, „ging ſechs Tage vor Ihrer Ankunft durch ſein Perihel — ich meine den Punkt, wo er der Sonne am nächſten ſteht —, und da er ſich gerade jetzt auch in der Erdnähe befindet — Sie wiſſen, daß die Oppoſition vor wenigen Tagen ſtattfand —, ſo gibt es keine günſtigere Reiſezeit. Aber ‚piken‘ Sie denn nicht?“ „Ich danke, niemals“, ſagte Grunthe, die angebotenen Piks zurückweiſend. Dabei ſtarrte er geradeaus und zog ſeine Lippen zuſammen. Er rechnete in der Eile die augenblickliche Entfernung von Mars und Erde aus. „Wie lange Zeit pflegen Sie denn zur Fahrt zu brauchen?“ fragte Saltner. „Das kommt ganz auf die Umſtände an. Bei günſtiger Stellung der Planeten läßt ſich die Reiſe auf dreißig Ihrer Tage und weniger reduzieren, ja wenn wir tüchtige Bombenhilfe geben, was freilich ſehr teuer wird, ſo könnte man bei ſo großer Planetennähe wie jetzt ſogar auf acht oder neun Tage herabkommen. Aber ich muß freilich bemerken, daß man eine ſolche Geſchwindigkeit von 90 bis 100 Kilometern in der Sekunde nur unter ganz beſonderen Umſtänden benutzen würde.“ „Ich begreife überhaupt noch nicht“, ſagte Grunthe, ſich wieder am Geſpräch beteiligend, „wie ſie Ihre Geſchwindigkeit und Richtung in verhältnismäßig ſo kurzer Zeit verändern können. Ich weiß, daß Sie Ihr Fahrzeug mehr oder weniger diabariſch machen, daß Sie alſo die Anziehung der Sonne ſchwächer oder auch gar nicht auf dasſelbe einwirken laſſen können. Bei der Abfahrt heben Sie die Gravitation ganz auf, um zunächſt genügend weit aus dem Anziehungsbereich der Erde zu kommen, nicht wahr?“ „Ganz richtig. Aber ſprechen Sie, bitte, weiter, damit ich ſehe, wie weit Sie mit den Prinzipien unſerer Raumreiſen vertraut ſind.“ „Wenn Sie abreiſen, verlaſſen Sie alſo die Erde und die Erdbahn in der Richtung ihrer Tangente mit einer Geſchwindigkeit von etwa 30 Kilometern in der Sekunde, denn das iſt die Geſchwindigkeit der Erde in ihrer Bahn, die Sie nach dem Beharrungsgeſetz beibehalten. Sie kommen dadurch in immer größere Entfernung von der Sonne. Wenn Sie nun die Gravitation wieder wirken laſſen, vielleicht nur ſchwach, ſo wird das denſelben Erfolg haben, als wenn Sie ſich mit der Geſchwindigkeit der Erde in ſehr großer Entfernung von der Sonne, zum Beiſpiel in der Entfernung des Uranus befänden, und die Bahn müßte dann eine hyperboliſche werden, Sie würden ſich auf einer Hyperbel von der Sonne entfernen.“ Jo machte ein Zeichen der Zuſtimmung. „Nun kann ich mir wohl denken“, fuhr Grunthe fort, „daß Sie durch geſchickte Kombinierung ſolcher Bahnen, indem Sie die Gravitation ſchwächen oder verſtärken, in das Anziehungsgebiet des Mars gelangen können. Aber ich verſtehe nicht, wie dies in ſo kurzer Zeit möglich iſt. Sie müſſen jedenfalls einen ſehr weiten Weg durchlaufen, und wenn Sie ſich von der Sonne entfernen wollen, ſo wird doch unter dem Einfluß der Gravitation Ihre Geſchwindigkeit immer kleiner, niemals aber größer.“ „Sie haben darin vollkommen recht“, erwiderte Jo. „Dies war der einzige Weg, der unſern Raumſchiffern in der erſten Zeit unſerer Weltraumfahrten zu Gebote ſtand. Sie hatten damals nur das Mittel der Gravitationsänderung, infolgedeſſen waren die Fahrten ſehr zeitraubend, mühſam und gefährlich. Man konnte unter Umſtänden Jahre brauchen, um von der Erde bis in die Nähe des Mars zurückzugelangen, und ein kleiner Fehler in der Berechnung oder eine unvorhergeſehene Störung konnte weitere Jahre koſten. Ja, wir haben damals noch manches Schiff verloren, von dem man nie wieder etwas gehört hat.“ „Und wieſo iſt das jetzt beſſer geworden?“ fragte Grunthe. „Sie ſcheinen noch nichts von der Speſchen Erfindung der Richtſchüſſe zu wiſſen“, bemerkte Jo. „Was iſt das?“ „Das iſt alles zugleich, was bei Ihren Schiffen Schraube, Steuer und Anker ſind. Wir können dadurch unſere Geſchwindigkeit vergrößern, verringern, vernichten und umkehren ſowie in jede beliebige Richtung lenken. Da es ſich dabei aber um koloſſalen Energieaufwand handelt, wie Sie ſich denken können — wir haben es ja mit Geſchwindigkeiten von durchſchnittlich 30 Kilometer zu tun, deren Quadrate hier in Anſatz kommen —, ſo benutzen wir ſie nur mit Maß. Die Gravitation arbeitet billiger.“ Grunthe ſchwieg. Es war ihm unheimlich, ſich dieſer Macht gegenüber zu fühlen, welche ſelbſt die Herrſchaft der Sonne im Weltraum zu bändigen wußte. „Wie in aller Welt iſt das möglich?“ fragte Saltner. „Sie haben ja im Raum keinerlei Widerſtand, wie unſre Schiffe im Waſſer. Können wir doch nicht einmal unſern Luftballon ohne Schleppſeile lenken.“ „Es fehlen Ihnen nur die nötigen Energiequellen und allerdings auch der nötige Platz zum Losſchießen, wie wir ihn im Weltraum zur Verfügung haben. Sehen Sie, ein ſolcher Schuß, man nennt ihn einen ‚Spe‘, entwickelt eine Energiemenge von ungefähr 500 Billionen Meterkilogramm, wenn ich richtig umgerechnet habe —“ „Es trifft ziemlich zu“, ſagte La, da Jo ſie fragend anſah. „Dadurch können wir alſo“, fuhr Jo fort, „einem Raumſchiff, das eine Maſſe von etwa einer Million Kilogramm beſitzt, eine Geſchwindigkeit von einem Kilometer in der Sekunde erteilen — wenn wir ſomit dreißig Spes anwenden, ſo iſt es möglich, die Geſchwindigkeit, die unſer Fahrzeug von der Erde mitnimmt, auf Null herunterzubringen. So ein Schuß wird ganz allmählich entladen, ſonſt könnte ja niemand den Ruck aushalten — immerhin bringen wir das Schiff binnen drei Stunden zum Stehen. Sie ſehen alſo, daß wir auf dieſe Weiſe an jeder beliebigen Stelle des Weltraums einfach haltmachen können. Wir heben die Anziehung der Sonne auf und heben die planetariſche Tangentialgeſchwindigkeit auf, und damit ſtehen wir ſtill, unverändert in unſrer Lage zu allen Körpern unſres Sonnenſyſtems. Hier können wir warten, ſo lange wir Luſt haben; wir ſtellen uns zum Beiſpiel auf die Marsbahn und laſſen den Planeten einfach herankommen. Aber das würde immer noch viel zu lange dauern. Wenn wir noch etwas mehr Bomben in paſſender Richtung anwenden, ſo können wir uns ſofort direkt auf den Planeten oder vielmehr auf den Punkt ſeiner Bahn hinbewegen, an welchem wir ihn am ſchnellſten antreffen. Natürlich nehmen wir dabei, ſo gut es ſich machen läßt, die Gravitation mit in Anſpruch, ſelbſtverſtändlich immer, wenn wir uns der Sonne zu nähern haben, alſo wenn wir vom Mars hierherfahren.“ Grunthe verharrte noch immer in ſeinem Schweigen. Er rechnete jetzt aus, welche Geſchwindigkeit wohl das Geſchoß bekommen müſſe, wenn durch den Rückſchlag beim Abfeuern das ganze Raumſchiff mit einer Geſchwindigkeit von einem Kilometer pro Sekunde zurückgeſchleudert werden ſolle. Schon begann das Geſpräch der Martier ſich anderen Gegenſtänden zuzuwenden, als er ſagte: „Ich kann natürlich in Ihre Worte keinen Zweifel ſetzen. Aber wenn Sie der Maſſe des Schiffs von einer Million Kilogramm eine Geſchwindigkeit von 1.000 Metern erteilen, ſo würde dies ja vorausſetzen, daß das Geſchoß ſelbſt eine ſo ungeheure Geſchwindigkeit erhielte, wie ſie auf keine Weiſe ſich erzeugen läßt.“ „Warum nicht?“ fragte Jo. „Und wenn auch“, unterbrach Saltner, „was nützt Ihnen denn das Abſchießen? Dadurch kann doch Ihr Schiff nicht bewegt werden?“ „Das ſchon“, berichtigte ihn Grunthe, „nur der Schwerpunkt des ganzen Syſtems kann nicht verrückt werden. Der Schwerpunkt von Geſchoß und Schiff behält ſeine Geſchwindigkeit, aber dort befindet ſich ja niemand, das Raumſchiff entfernt ſich von dieſem Schwerpunkt infolge des Rückſchlags, wie wir hören, um einen Kilometer in der Sekunde, das heißt, es bewegt ſich dann nur noch mit einer Geſchwindigkeit von 29 Kilometern vorwärts. Gleichzeitig aber muß das Geſchoß nach der entgegengeſetzten Seite mit einer ſolchen Geſchwindigkeit fliegen, daß das Produkt aus dieſer und der Maſſe des Geſchoſſes gleich iſt dem Produkt aus Maſſe und Geſchwindigkeit des Schiffs (in bezug auf den Schwerpunkt), das gibt in unſerm Fall die Zahl von tauſend Millionen. Es fragt ſich nun, welche Maſſe Ihre Geſchoſſe beſitzen —“ „Hundert Kilogramm“, ſagte Jo. „Dann würde ja“, ſagte Grunthe kopfſchüttelnd, „das Geſchoß eine Geſchwindigkeit von zehn Millionen Meter, das ſind zehntauſend Kilometer in der Sekunde bekommen — das iſt mir undenkbar!“ „Und dennoch iſt es ſo“, verſicherte Jo. „Ja, es iſt dies noch gar nicht die Grenze des Erreichbaren. Wir haben berechnet, daß ſich die Geſchwindigkeit bis über die Lichtgeſchwindigkeit hinaus muß ſteigern laſſen —“ „Sie wollen mich zum beſten haben —“ „Nicht im geringſten.“ „Durch die Entwicklung von Exploſionsgaſen?“ „Wer behauptet das? Das iſt natürlich nicht möglich. Aber durch die Exploſion des Weltäthers ſelbſt.“ Grunthe ſchüttelte nur den Kopf. „Ich las in Ihren Büchern“, fuhr Jo fort, „daß Sie Ihre Geſchoſſe durch die Entwicklung der Pulvergaſe mit Geſchwindigkeiten ſchleudern, welche größer ſind als die Geſchwindigkeit, mit der ſich der Schall in der Luft fortpflanzt. Nun — der Vergleich trifft zwar nicht vollſtändig zu, aber in der Hauptſache — warum ſollen wir nicht durch Entwicklung großer Äthervolumina Geſchwindigkeiten erzeugen, die größer ſind als diejenige, mit welcher ſich das Licht im Äther fortpflanzt? Es kommt nur darauf an, Apparate zu haben, die das leiſten.“ „Und dieſe haben Sie?“ „Allerdings. Wir können Ätherſpannungen erzeugen, die wir plötzlich entlaſten. Der kondenſierte Äther heißt ‚Repulſit‘. Unſere Geſchütze und Geſchoſſe beſtehen aus — ja, wie ſoll ich Ihnen das überſetzen? Übrigens kommt die Sache im Grunde darauf hinaus, große Elektrizitätsmengen unter koloſſalen Spannungen zu halten — und die Entdeckung hängt wieder mit derjenigen der Diabarie zuſammen.“ „Das iſt uns freilich jetzt nicht möglich, ſo ſchnell zu faſſen“, ſagte Grunthe. „Und Sie wollen die Geſchwindigkeiten noch ſteigern?“ „Wir hoffen bis auf fünf mal hunderttauſend Kilometer zu kommen. Wir überholen dann das Licht. Und wer auf einem ſolchen Geſchoß in den Weltraum reiſte, der würde zurückblickend die Zeiten der Vergangenheit auftauchen ſehen, denn er käme zu jenen Lichtwellen, die vor ſeiner Abreiſe den Planeten verlaſſen haben.“ „Ich danke Ihnen“, ſagte Grunthe verſtummend. „Übrigens“, ſetzte Jo noch hinzu, „iſt es für die Richtſchüſſe natürlich kein Vorteil, ſo große Geſchwindigkeiten zu wählen, denn der Energieverbrauch wächſt ja mit der Geſchwindigkeit im Quadrat. Wir würden viel beſſer fortkommen, wenn wir kleinere Geſchwindigkeiten anwendeten, aber dann würden die Maſſen der Geſchoſſe ſo groß werden müſſen, daß wir ſie nicht mitnehmen können. Tauſend Richtgeſchoſſe zu je hundert Kilo Maſſe machen ohnehin ſchon zehn Prozent unſrer geſamten Schiffsmaſſe aus.“ Es traten jetzt neue Gäſte ein, um ſich ebenfalls die Menſchen noch einmal anzuſehen, ehe ſie nach dem Mars abreiſten. Denn ſie wollten doch bei der Heimkehr auch etwas von den Eingeborenen der Erde zu erzählen haben. Ein Teil der Anweſenden erhob ſich und verabſchiedete ſich. Auch Jo ſtand auf. „Nun“, ſagte er, „ſchade, daß Sie nicht mit mir kommen wollen, doch wir ſehen uns morgen vor der Abreiſe.“ „Und auf dem Nu treffen wir uns alle bald wieder“, fügte La hinzu. „Wer weiß“, ſprach ſie neckend zu Jo, „ob wir Sie im ‚Meteor‘ nicht noch überholen und eher zu Hauſe ſind als Sie. Oß wird wahrſcheinlich den ‚Meteor‘ führen.“ „Da kennen Sie den alten Jo ſchlecht“, erwiderte Jo lachend. „Man fährt nicht fünfundzwanzig Jahre zwiſchen Mars und Erde, um ſich von ſolch jungem Springinsfeld überholen zu laſſen.“ „Sie ſind eben ein zu guter Lehrer für Oß geweſen, da iſt’s kein Wunder, daß er jetzt auch ſeine Sache verſteht.“ „Das tut er, gewiß, das tut er“, ſagte Jo, indem er La freundſchaftlich das Haar ſtreichelte. „Aber was will das jetzt ſagen — das heißt, Oß iſt ein tüchtiger Techniker, brillanter Abariker, weiß es — doch um die Überfahrt zu machen, dazu gehört heute nicht mehr viel, das kann man lernen. Ja, liebe La, vor — nun, Sie lebten wohl noch nicht, als ich meine erſte Fahrt als Lehrling machte, da war’s etwas anderes; da gab’s noch keine Außenſtation auf der Erde, von der aus man den Mars jederzeit ſehen und nach ihm telegraphieren konnte. Und wenn ſo ein Schiff zehn oder zwanzig Richtſchüſſe zum Anlegen mithatte, da galt es ſchon als beſonders fein ausgerüſtet. Da haben wir Dinge erlebt, wovon Ihr junges Volk keine Ahnung habt.“ „Erzählen Sie“, bat La, „bleiben Sie noch, Jo, Sie müſſen uns etwas erzählen. Sie haben es eigentlich längſt verſprochen. Setzen Sie ſich, die Bate müſſen es auch hören.“ 13. Das Abenteuer am Südpol Grunthe und Saltner hatten ſich inzwiſchen mit den übrigen Martiern unterhalten. Diesmal waren ſie recht gründlich nach allerlei Einrichtungen der Menſchen ausgefragt worden. Grunthe beſchrieb ihnen auf der Karte die Wohnplätze der verſchiedenen Raſſen und die Abgrenzungen der bedeutendſten Staaten. Sie waren ſehr erſtaunt zu hören, daß es große Gebiete der Erde gäbe, die man noch gar nicht oder ſehr wenig kenne, und daß ihre Einwohner keinerlei Einfluß auf die Geſchicke der ganzen Menſchheit ausübten. Bei den Martiern beſtehe zwar auch ein ſehr großer Unterſchied zwiſchen der Bildung der einzelnen Bewohner und Volksſtämme, aber gänzlich unziviliſierte Landſchaften gäbe es überhaupt nicht. Grunthe fragte nach der Anzahl der Marsbewohner und erfuhr zu ſeiner Überraſchung, daß ſie nicht weniger als dreitauſendeinhundert Millionen betrüge, alſo das doppelte der Zahl der Menſchen, auf einer viermal ſo kleinen Oberfläche zuſammengedrängt wie die der Erde. „Da können wir Ihnen einen Teil von uns überlaſſen“, ſagte einer der Martier ſcherzend. „Es würde Ihnen auf der Erde zu ſchwer werden“, erwiderte Saltner, dem der Gedanke eines Einfalls der Martier auf die Erde recht bedenklich erſchien. „Lieber kommen wir ein wenig zu Ihnen.“ „Aber erſt lernen Sie ordentlich balancieren“, ertönte eine Stimme aus der Luft. „Ich werde gleich einmal nachſehen.“ Es war Ses Stimme. Sie hatte die Klappe des Fernſprechers geöffnet und gerade Saltners Worte verſtanden. Gleich darauf erſchien ſie an der Tür. Um ſeine Geſchicklichkeit zu erweiſen, überſchritt Saltner den ‚Strich‘ und ging ihr vorſichtig entgegen. Sie lachte herzlich und rief, ihm die Hand entgegenſtreckend: „Es geht ſchon ganz gut, Sie haben Fortſchritte gemacht.“ Saltner ergriff die Hand und bückte ſich, um ſie an ſeine Lippen zu führen. Dieſe Verbeugung ging auch ganz gut vonſtatten, aber als er ſich aufrichten wollte, geſchah es zu plötzlich, und er lief Gefahr, nach hinten zu ſtürzen. Da er ſich über ſich ſelbſt luſtig machte, ſo zeigten auch die Martier ihre Heiterkeit über ſeine vorſichtigen Bewegungen und baten ihn dann, ihnen doch einige ſeiner Kraftproben zu zeigen, von denen ſie gehört hatten. Eben hatte er zwei der Martier mit Leichtigkeit in die Luft gehoben, als ſich La nach ihm umdrehte. „Was wollen Sie über dem ‚Strich‘?“ ſagte ſie ſcherzhaft drohend. Saltner ſprang ſchleunigſt einen Schritt zurück, hatte aber die beiden Herren vom Mars noch nicht niedergeſetzt, und in dem Augenblick, als er den ‚Strich‘ paſſierte, wurden ſie ihm zu ſchwer, ſo daß ſie ziemlich unſanft zur Erde kamen. Während er ſich entſchuldigte, rief La: „Alle an den Tiſch! Jo erzählt von ſeiner erſten Erdfahrt, bitte, bitte!“ Dem allgemeinen Drängen konnte Jo nicht widerſtehen. Auch auf dem Mars ſpinnt ein alter Seemann gern ein Garn. Er ſetzte ſich oben an den Tiſch. Se und La ſaßen dicht am ‚Strich‘ neben den beiden Deutſchen. Jo nahm bedächtig ein Pik, legte es an die Stirn, an das rechte und an das linke Auge, und ſah ſich dann noch einmal im Zimmer um. Se verſtand ihn. „Unter dem Tiſchrand“, ſagte ſie. „Greifen die Herren nur zu.“ Schmunzelnd zog Jo ein Mundſtück hervor und probierte das Getränk. „Ein feiner Tropfen“, ſagte er. Ein Teil der Martier und auch Saltner folgten ſeinem Beiſpiel. La lehnte ſich bequem zurück, Se nahm ihre chemiſche Handarbeit auf, und Grunthe zog ſein Notizbuch hervor, um ſich einige ſtenographiſche Aufzeichnungen zu machen. „War damals ſiebzehn Jahr alt“, begann Jo ſeine Erzählung. „Marsjahre“, ſagte La leiſe zur Erklärung. „— hatte eben meinen techniſchen Kurſus abſolviert, als ich mich beim Kapitän All meldete, der mit der ‚Ba‘, vierundzwanzig Perſonen, nach der Erde abgehen ſollte. Wollte mich eigentlich nicht mitnehmen, weil ich noch zu jung ſei, aber da im letzten Augenblick einer von der Mannſchaft verhindert wurde und kein andrer ſich gemeldet hatte, ſo kam ich mit. Fünf Monate waren wir unterwegs und hatten glücklich ſo manövriert, daß wir der Erde parallel flogen, genau in der Achſe über dem Südpol. Sie hatten Sommer dort unten, aber um den Pol herum war alles von dichten Wolken bedeckt. Wir ſahen auf der Erde nur ihre weiße, von der Sonne beglänzte Wolkenoberfläche, und wo ſie im Schatten verſchwand, ſpielten die Südlichter in rötlichen Streifen. Wir ließen uns ſinken und machten uns, als wir tief genug gekommen waren, ſo leicht, daß wir als Luftballon in der Atmoſphäre ſchwammen. Dann ging es durch die Wolken hinab, und wir kamen auch glücklich, leider aber mit einer Abweichung von ein paar Kilometern, auf den Pol. Nun, Sie wiſſen, auf dem Südpol iſt’s nicht ſo ſchön wie hier, ’s iſt ringsum Feſtland-Eis, eine Hochfläche von ein paar tauſend Metern, wie Sie’s hier nebenan haben — in — wie heißt das Ding?“ „Grönland.“ „Gut. Nun mußten wir aber das Schiff nach dem Pol ſchaffen, denn wir hatten das ſchwere Schwungrad für die Station, die wir vorbereiten ſollten, auszuladen. Deshalb war All ſehr ungehalten, daß er von der Erdachſe abgekommen war. Aber dieſelbe Urſache, die uns abgetrieben hatte, verhinderte uns, auch jetzt ans Ziel zu gelangen. Das war der herrſchende Wind. Ich ſagte ſchon, daß wir uns in der Atmoſphäre nicht anders wie einer ihrer Luftballons verhalten können. Wir können uns leichter machen als die Luft, aber ihren Strömungen unterliegen wir dabei ebenſo wie ihrem Widerſtand.“ „Verzeihen Sie“, begann Grunthe, „ich habe mich ſchon immer gewundert, gerade weil ſich Ihr Raumſchiff in der Atmoſphäre wie ein Luftballon handhaben läßt, und zwar mit dem wunderbaren Vorteil, weder Ballaſt noch Gas opfern zu müſſen, da Sie ſich nach Belieben leicht oder ſchwer machen können, ich habe mich gewundert, daß Sie nicht, nachdem Sie einmal am Pol die Erdgeſchwindigkeit gewonnen haben, einfach mit Ihren Raumſchiffen nach Europa oder den Vereinigten Staaten von Nordamerika gekommen ſind — kurzum, warum Sie ſo ängſtlich in der Befahrung unſres Luftmeers ſind.“ „Und ich“, erwiderte Jo, „habe mich allerdings auch gewundert, wie Sie ſich dieſen gebrechlichen Dingern in einer Atmoſphäre anvertrauen können, die ſo dicht und ſchwer iſt wie die Ihrige, und in welcher nach allen Richtungen die tollſten Stürme einherraſen.“ „Ich habe“, bemerkte La, „in einem der Bücher geleſen, die Sie mitgebracht haben, von den Entdeckungsreiſen der Menſchen auf der Erde. Da ſpricht ein Seefahrer ſeine Verwunderung darüber aus, daß die Eingeborenen in irgendeiner Inſelgruppe in ihren gebrechlichen Kähnen weite Fahrten unternehmen, an die er ſich in ſeinem großen Dampfſchiff nicht wagen würde, weil er die Gefahren der Tiefe nicht zu vermeiden weiß. Ähnlich mag es ſich wohl mit unſern Raumſchiffen und Ihren Luftballons verhalten. Bedenken Sie, daß wir Ihre Atmoſphäre noch ſehr wenig kennen —“ „Und vor allen Dingen“, fuhr Jo fort, „daß unſre Raumſchiffe, die aus Stellit beſtehen, nicht darauf eingerichtet ſind, den großen Druck Ihrer Luft und den Widerſtand, wenn wir nicht mit dem Wind fliegen, zu ertragen. Das Stellit iſt ſehr feſt in der Kälte des Weltraums, aber in der Wärme und Feuchtigkeit der Luft wird es ſchnell angegriffen. Außerdem ſind wir luftdicht durch unſre Kugel von außen abgeſchloſſen und können uns darum außerhalb derſelben an nichts wagen. Die Technik unſerer Luftſchiffahrt auf dem Mars läßt ſich auf der Erde aus verſchiedenen Gründen nicht anwenden. Sie dürfen ſich alſo nicht wundern, daß es uns bis jetzt noch nicht eingefallen iſt, unſre Raumſchiffe an unbekannte Gefahren zu wagen, durch die uns möglicherweiſe die Rückkehr abgeſchnitten worden wäre. Doch ſind bereits Verſuche geglückt, diabariſche Fahrzeuge mit Öffnungen herzuſtellen, und das, was uns noch fehlt, iſt eigentlich nur ein genügend widerſtandsfähiger Stoff für dieſelben. Aber auch hier ſteht die Abhilfe bevor, und dann fahren wir zu Ihnen.“ „Wenn Sie zu uns kommen“, ſagte La lächelnd zu Grunthe, „werde ich Ihnen mit Se eine Privatvorleſung über Raum- und Lufttechnik halten.“ „Dann fürchte ich leider, darauf verzichten zu müſſen, denn ich gedenke vorläufig hierzubleiben.“ „So werde ich Ihnen einen ausführlichen, ſchönen, gelehrten Brief ſchreiben, verlaſſen Sie ſich darauf!“ Grunthe verbeugte ſich mit zuſammengepreßten Lippen, und Jo fuhr fort: „Nun kurzum, wir hatten keine Wahl, wir mußten jetzt mit dem Raumſchiff nach dem Pol. Da nun aber das Wetter nicht beſſer wurde — das heißt, der Himmel war klar, aber die Luft blies vom Pol her —, ſo beſchloß All, den Verſuch zu wagen, uns nach dem Pol hinzuwinden. Wir hatten große Mengen von mit Lis durchzogenen Tauen mit. Dieſes Tau legten wir vom Schiff bis zum Pol aus, verankerten es dort gründlich und ſetzten mit der Winde an. Das Schiff wurde nur ſoweit leicht gemacht, daß es ſich gerade hob, ohne Gefahr, auf dem Eis aufzulaufen. Denn es zu ſchleifen durften wir nicht wagen, darauf iſt unſere Stellitkugel nicht eingerichtet. Die Arbeit ging natürlich langſam vorwärts, aber wir waren in vierundzwanzig Stunden doch einen Kilometer vorgerückt. Leider friſchte der Wind immer ſtärker auf und wurde böig. Bei den Stößen bog ſich die Kugel bedenklich an der Haftſtelle des Seiles, und All hielt es für nötig, die ganze Kugel in ein Netz zu faſſen. Es war eine furchtbare Arbeit, in dieſer Luft und Schwere die Seile über die fünfzehn Meter hohe Kugel zu ſpannen, und daß keiner von uns dabei verunglückt iſt, bleibt mir heute noch ein Rätſel. Todmüde ging es am dritten Tag wieder an die Winde. Eine Maſchine hatten wir leider nicht mit, wir mußten mit unſern eignen Kräften arbeiten. Am fünften Tag waren wir bis auf einen Kilometer heran. Wir arbeiteten immer vier Mann und wurden alle Stunden abgelöſt. Lieber machten wir den Weg hin und her zum Schiff, als daß wir uns ohne Erholung dem Druck der Schwere länger ausgeſetzt hätten. Zur Rückfahrt benutzten wir übrigens einen Segelſchlitten; das war unſre größte Freude, ſo der Ruhe mit Bequemlichkeit entgegenzufahren. Eben hatte ich mich mit meinen Kameraden aufgeſetzt, und in zwei Minuten waren wir bis auf die Hälfte des Weges zum Schiff herangekommen, das nicht höher als etwa zehn Meter über dem Eis ſchwebte. Die Strickleiter hing aus der Luke bis zum Boden herab, und in weiteren zwei Minuten hofften wir in unſren Hängematten zu liegen. Plötzlich ſehen wir von der Seite und halb nach vorn hin etwas Gelblich-Weißes herantrotten, zwei große vierfüßige Tiere, wie wir ſie noch nie geſehen hatten. Es waren, was Sie Eisbären nennen, aber damals wußten wir noch nicht, was das heißen will, wenn man ihnen waffenlos begegnet. Waffen hatten wir überhaupt nicht mit, nur die langen, mit Eiſenſpitzen verſehenen Stangen, mit denen wir unſern Schlitten dirigierten und ihm nachhalfen. Noch niemals war uns auf dieſer öden Erdfläche, außer einigen Vögeln, irgendein Tier begegnet. Von Raubtieren, die dem Numen gefährlich ſind, wußten wir überhaupt nichts als aus den alten Überlieferungen der Vorzeit, da es ſolche auf dem Mars noch gegeben haben ſoll. Aber als dieſe Beſtien, ſobald ſie uns erblickten, mit gierigen Augen auf unſern Schlitten zutrabten, dachten wir uns doch, daß die Sache nicht geheuer ſei. Wir konnten freilich nichts tun, als mit unſern Picken die Fahrt unſres Schlittens beſchleunigen, wobei wir dem Wind das Beſte überlaſſen mußten. Ließ der Wind einen Augenblick nach, ſo mußten uns die Bären den Weg abſchneiden. Es war eine fatale Situation, doch ſahen wir dieſelbe nicht als beſonders bedenklich an, da wir glaubten, ihnen mit unſern Stöcken gewachſen zu ſein. Wir waren jetzt nur noch hundert Meter von der Strickleiter entfernt, und man war bereits vom Schiff aus auf uns aufmerkſam geworden. All ſelbſt und zwei Mann, mehr hatten an der Luke nicht Platz, ſtanden mit Gewehren bereit, denn damit war die Expedition für alle Fälle verſehen. Sie wagten aber nicht zu ſchießen, weil das Schiff an dem langen Tau ſtark hin- und herſchwankte und die Bären jetzt ſo dicht an dem Schlitten waren, daß wir ſelbſt hätten getroffen werden können; ein ſicheres Zielen war ja nicht möglich. Zudem hatten wir auch noch keine Erfahrung, wie Luftwiderſtand und Schwere auf der Erde unſere Geſchoſſe ablenken. Das Telelyt war damals noch nicht für Handwaffen im Gebrauch. Ich ſtand vorn am Schlitten. Die Gefährten riefen mir zu, direkt auf die Strickleiter zu halten und ſie ſofort zu erfaſſen. Wir durften ja die Geſchwindigkeit des Schlittens nicht mäßigen. Es handelte ſich noch um Sekunden. Da ſtößt der Schlitten an irgendein kleines Hindernis und wird von ſeinem Weg abgelenkt. Ich fürchte, daß ich die Strickleiter verfehle, und renne den Stock ſo ſtark in das Eis, daß er mir aus der Hand geriſſen wird. Wir ſauſen an der Leiter vorbei. Da pfeift es über uns, und der eine Bär wälzt ſich in ſeinem Blut. Durch die Wendung des Schlittens hatte All zum Schuß kommen können. Der andere aber iſt unmittelbar am Schlitten. Unglücklicherweiſe ſtechen die beiden zuletzt Stehenden mit ihren Picken nach ihm. Der Bär iſt verwundet, aber mit einem Tatzenſchlag hat er den armen Tam vom Schlitten geriſſen. Er erfaßt ihn an ſeinen Kleidern und trabt mit ihm davon. Inzwiſchen war All mit einer Anzahl bewaffneter Leute die Leiter herabgeſtiegen, und wir hatten den Schlitten zum Stehen gebracht. Der Bär aber lief mit ſeiner Beute ſo ſchnell, daß All ihm nicht folgen konnte; Sie wiſſen ja, daß wir ſchwer an uns zu tragen haben, wenn wir uns auf der Erde bewegen ſollen. Zu ſchießen wagte All nicht um Tams willen; wenn auch dieſer nicht ſelbſt getroffen wurde, ſo wäre er doch verloren geweſen, ſobald der Bär nicht ſofort auf der Stelle tot war. Unſre Beſtürzung war groß. Wir ſuchten den Bären durch Schreien einzuſchüchtern, aber er kümmerte ſich um nichts. Die Entfernung zwiſchen ihm und uns vergrößerte ſich ſchnell. ‚Wir können ihn nicht ſtellen‘, rief All, ‚doch folgen müſſen wir ihm. Ich gehe ſelbſt, zwei Leute genügen zur Begleitung. Die andern zurück aufs Schiff!‘ Jetzt ſahen wir, daß der Bär die Richtung auf unſern Arbeitsplatz am Pol einſchlug. Unſre Gefährten an der Winde hatten ebenfalls den Vorgang bemerkt. Sie ſtellten die Arbeit ein und beratſchlagten offenbar, ob ſie ſich dem Schlitten anvertrauen oder auf das Gerüſt flüchten ſollten, das über der Winde erbaut war. Da der Bär ſich ſchnell näherte, ſo wählten ſie das letztere. Auch ſie ſuchten den Bär durch Lärm zu verſcheuchen, aber vergebens. Als All erkannte, daß der Bär auf die Arbeiter an der Winde zulief, hieß er jeden ſeiner Begleiter noch ein Gewehr mitnehmen, um ſie womöglich ihnen zuzuſtellen. All hatte noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als der Bär bereits bei der Winde ankam. Wir waren inzwiſchen, mit Ausnahme Alls und ſeiner Begleitung, in das Schiff zurückgekehrt und beobachteten von dort den Vorgang. Die Leute auf dem Gerüſt ärgerten offenbar den Bären. Er ließ Tam am Fuß des Gerüſtes liegen, ſetzte ſich auf die Hinterbeine und ſchlug ſeine Tatzen in die Winde ein, als wolle er ſie umreißen. Kaum hatte All bemerkt, daß Tam nicht mehr geſchleppt wurde, als er auf etwa fünfhundert Meter auf den Bären anlegte. Einen Augenblick zögerte er noch, um eine günſtigere Stellung abzuwarten. Da ſchien es, als wolle der Bär von der Winde ablaſſen und ſich wieder ſeiner Beute zuwenden. All drückte los. Eine Sekunde ſpäter ſahen wir den Bären zuſammenſtürzen. Mehr ſahen wir nicht. im Moment darauf erhielten wir einen Stoß, daß wir alle übereinander fielen. Als wir uns aufrafften, fanden wir das Raumſchiff um wenigſtens fünfzig Meter gehoben und vom Wind mit großer Geſchwindigkeit davongetrieben. Es war nicht anders denkbar, als daß Alls Kugel das dünne Tau zerſchnitten, der Druck des Windes es vollends zerriſſen hatte. Der erſte Steuermann übernahm das Kommando. Aber es war ſehr ſchwierig, etwas zu tun. Die Anker heraus und tiefer! Das Schiff ſtreifte in drohender Nähe des Eiſes hin. Wenn die Anker nicht bald faßten, ſo war keine Ausſicht, die Gefährten wiederzuſehen. Aber die Anker tanzten über die völlig glatte, hart gefrorene Fläche des Eiſes hin, ohne zu faſſen. Glücklicherweiſe leiſtete uns das lange Seil ausgezeichnete Dienſte, an welchem wir das Schiff nach dem Pol hinbugsiert hatten. Es diente uns jetzt als Schleppſeil, indem wir es in einer Länge von faſt tauſend Meter nachzogen. Von Minute zu Minute hofften wir über Spalten zu kommen, in denen es ſich vielleicht verfangen könne. Leider wurde der Wind immer ſtärker und ſteigerte ſich zum Sturm. Wir wußten aus der Karte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis wir zu der Stelle gelangten, an der das Eisfeld in ſteilem Abfall nach dem Meer hin abſtürzt. Vorher freilich mußten große Bruchſpalten kommen, und darauf ſetzten wir unſre Hoffnung. Faſt eine Stunde mochten wir ſo dahingeraſt ſein, ſchon ſahen wir in der Ferne das Meer auftauchen — da kamen auch die Spalten. Würde das Tau ſich verfangen? Die Anker nutzten uns nichts mehr, denn die Oberfläche des Eiſes wurde jetzt ſo unregelmäßig, daß wir uns höher erheben mußten, um nicht gegen einen Vorſprung geſchleudert zu werden, und die Ankerſeile waren nur kurz. Da, endlich gibt es einen Ruck, daß wir taumeln — doch die Fahrt geht wieder weiter — aber jetzt, jetzt halten wir an, das Seil hat ſich geſpannt! Doch was iſt das? Ein furchtbarer Windſtoß von oben drückt unſer Schiff nach dem Boden zu; da wir dem Sturm nicht mehr folgen, drängt er uns hinab, das Schiff prallt gegen den Boden und erhebt ſich aufs neue — noch ein ſolcher Stoß, und wir ſind verloren. Wir müſſen ſteigen, wir machen uns ſchwerelos und heben uns in die Höhe. Aber war die Hebung zu ſtark oder hat die veränderte Richtung das Seil aus der Spalte gelöſt — kurzum, es gibt nach, wir ſchnellen in die Höhe, das Seil hängt frei herab, und wir folgen wieder dem Sturm — wir ſchweben über dem Abſturz des Gletſchers, vor uns das wütende, mit Eisſchollen erfüllte Meer. — Jetzt blieb nichts übrig, als nach oben zu entfliehen, in höhere Schichten der Atmoſphäre. Wir wußten aus der Karte, daß wir eine breite Meeresbucht zu überfliegen hatten, jenſeits deren ſich hohe feuerſpeiende Berge erheben. Schon ſahen wir von unſrer Höhe ihre Rauchwolken am Horizont. Wir fliegen immer direkt nach Norden auf einem Meridian, der in der Richtung nach der großen Inſel hinläuft, die Sie, wie ich aus Ihrer Karte geſehen habe, Neuſeeland nennen. An Landung konnten wir nicht mehr denken, wir mußten hinauf. Aber dazu mußten wir noch eine ſchwere Arbeit vollbringen, an die ich nicht gern denke. Das Netz um unſer Schiff mit dem langen Seil mußte fort. Denn was außerhalb unſrer Kugel iſt, können wir nicht diabariſch machen, es hätte unſre Bewegung im Raum gehindert. Ich war der Jüngſte, ich mußte in der untern Luke hängend das Seil kappen; dann wurden von oben die Verbindungen des Netzes gelöſt, und ich hatte die Aufgabe, die Seile nach unten zu ziehen. Dabei herrſchte hier oben eine Kälte, daß das Queckſilber gefror. Glücklicherweiſe behalten die Lisſeile ihre Geſchmeidigkeit, ſonſt wäre die Arbeit unmöglich geweſen. Ich wundere mich noch heute, daß ich nicht abgeſtürzt bin, denn ich mußte in der Erdſchwere arbeiten. Endlich war auch das geſchehen. Die Luken wurden geſchloſſen, und wir ließen die Erde hinter uns.“ 14. Zwiſchen Erde und Mars Jo tat einen Zug aus ſeinem Mundſtück und fuhr dann in ſeiner Erzählung fort. „Was war nun zu tun? Nach kurzer Ruhepauſe verſammelte uns der erſte Steuermann, Mitt hieß er, der ſpäter die berühmte Umſchiffung des Jupiter ausführte, zu einer Beratung. Sollten wir verſuchen, noch einmal die Erdachſe zu gewinnen und nach dem Pol zurückzukehren? Sollten wir die Unſeren ihrem Schickſal überlaſſen und die Heimreiſe nach dem Mars antreten? Wir hatten den vierten Teil unſerer Mannſchaft und den Kapitän verloren. Es war natürlich, daß wir zu ihnen zurückwollten. Aber es war auch nicht leicht. Eine nochmalige Landung und eine zweite Abfahrt von der Erde verlangten einen ſolchen Aufwand von Energie und vor allem von Richtſchüſſen, daß die Gefahr vorlag, dadurch unſre Rückkehr nach dem Mars überhaupt in Frage zu ſtellen. Trotzdem wurde beſchloſſen umzukehren, nachdem Mitt eine Berechnung gemacht und gefunden hatte, daß wir unter günſtigen Umſtänden gerade auskommen könnten. Wären wir nämlich nach dem Mars gegangen und wäre von dort ſofort ein neu ausgerüſtetes Schiff nach der Erde geſchickt worden, ſo hätte doch erſt im nächſten Frühjahr den Zurückgebliebenen Hilfe gebracht werden können. Daß ſie aber den Polarwinter auf der Erde nicht überſtehen konnten, war gewiß. Alle dieſe Überlegungen, insbeſondere die genauere Berechnung und ihre wiederholte Prüfung, hatten längere Zeit in Anſpruch genommen. Seitdem wir die Atmoſphäre der Erde verlaſſen und in der Richtung der Tangente der Erdbahn uns bewegten, mochten etwa ſechs Stunden vergangen ſein. Obwohl wir in dieſer Zeit einen Weg von über 600.000 Kilometern zurückgelegt hatten, waren wir doch von der Erde ſelbſt, die ja in gleicher Richtung auf ihrer Bahn hinlief, noch kaum 1.500 Kilometer entfernt. Wenn wir uns jetzt volle Schwere gaben, konnten wir ſie in kurzer Zeit wieder erreichen, und es kam darauf an, uns durch einen mäßigen Korrekturſchuß eine ſolche ſeitliche Geſchwindigkeit zu erteilen, daß wir nach dem Pol gelangten. Die äußere Kugelhülle unſeres Schiffes, in welcher ſich die innere Kugel faſt ohne Reibung nach jeder Richtung drehen kann, hatte natürlich durch die Abenteuer, die wir bei der Abfahrt und in der Atmoſphäre erlebten, eine ſtarke Rotation erhalten. Wir hatten bereits zu unſerm großen Mißbehagen bemerkt, daß der Apparat nicht richtig funktionierte, welcher die innere Kugel in ihrer Gleichgewichtslage zu halten hatte, indem wir fortwährend Schwankungen durch die äußere Kugel erlitten. Bis jetzt war jedoch noch keine Zeit geweſen, dem Übelſtand abzuhelfen. Nun aber kam es darauf an, die Rotation der äußeren Kugel ſowohl wie die Schwankungen der inneren vollſtändig zu hemmen. Es war dies einerſeits wünſchenswert, um eine genaue Aufnahme unſerer Lage zu machen, obwohl dieſer Zweck allenfalls auch durch Momentphotographie erreicht werden kann; andererſeits war es durchaus notwendig für die genaue Abgabe des Richtſchuſſes, der durch das Ventil an der Außenſeite der äußeren Kugel gelöſt wird. Denn wenn dieſer auch nur um geringe Differenzen fehlerhaft wird, ſo können daraus Abirrungen vom Weg entſtehen, die nur ſchwer wieder zu korrigieren ſind, für uns aber, die wir keine Kraft zu verſchwenden hatten, verhängnisvoll werden konnten. Als wir nun das Schiff einer genauen Beſichtigung unterwarfen, ſtellte ſich zu unſerm nicht geringen Schrecken heraus, daß der Winddruck während der Verankerung und das Aufſchlagen des Schiffes Formveränderungen der äußeren Kugel bewirkt hatten, die eine umſtändliche Reparatur erforderten. Bevor dieſe nicht fertiggeſtellt war, durften wir keine Schwere geben und überhaupt kein Manöver ausführen. Und dieſe Reparatur nahm leider, das war zu ſehen, einige Tage in Anſpruch. Während dieſer Zeit mußten wir auf unſrer gradlinigen Bahn verharren, die uns auf Strecken von der Erde entfernte, welche dem Quadrat der Zeit proportional waren. Aber es war auf dieſer Reiſe, als wenn uns nichts gelingen ſollte. Ein neuer Mißſtand trat auf. Der Mond der Erde näherte ſich der Stellung, in welcher die Erde Vollmond hat. Unglücklicherweiſe entfernten wir uns alſo von der Erde gerade in der Richtung auf den Mond zu. Dies wäre ja für uns ziemlich gleichgültig geweſen, wenn wir in der Nähe der Erde, wenigſtens am erſten Tag unſrer Fahrt, unſere Umkehr hätten bewerkſtelligen können. Nach Ablauf des dritten Tages aber mußten wir, ſobald wir uns der Gravitation unterwarfen, in den Anziehungsbereich des Mondes ſtatt in denjenigen der Erde geraten. Konnten wir alſo unſere Reparatur nicht vorher beendigen, ſo hatten wir nur die Wahl, unſere Richtſchüſſe auf gut Glück bloß zur Verringerung unſrer Geſchwindigkeit zu verſchwenden oder uns in ſo weite Entfernung von der Erde hinaustragen zu laſſen, daß ſich unſere Rückkehr auf lange verzögern mußte. Und wer weiß, ob wir dann unſere Gefährten noch lebend angetroffen hätten? Wir arbeiteten alſo in fieberhafter Eile an der Herſtellung des Schiffes, um möglichſt bald einen ſichern Richtſchuß abgeben zu können. Und wirklich, im Verlauf des dritten Tages war es gelungen, die Kugeln zeigten keine merkliche Drehung mehr. Es war die höchſte Zeit; noch wenige Stunden, und wir hätten den Einfluß des Mondes bekämpfen müſſen. Jetzt konnten wir es noch wagen, uns ſchwerzumachen und der Anziehung der Erde nur durch einen ſchwachen Korrekturſchuß nachzuhelfen. Die Diabarität wurde aufgehoben. Mit höchſter Spannung warteten wir die nächſte Beobachtung ab. War in der früheren Berechnung irgendein kleiner Fehler vorgekommen, ſo konnte es ſein, daß wir nach dem Mond ſtatt nach der Erde fielen. Noch ſtand er über uns, mit ſeiner glänzenden Scheibe einen beträchtlichen Teil des Himmels verdeckend, denn ſein Durchmeſſer erſchien 26mal ſo groß wie hier von der Erde aus. Deutlich unterſchieden wir jede Einzelheit an ſeiner Oberfläche. Die rieſigen Ringgebirge lagen wie zum Greifen vor uns. Die langgeſtreckten Lavafelder, durch die tiefſchwarzen Schatten breiter Riſſe unterbrochen, glänzten blendend im Sonnenlicht. Unter uns, bereits merklich kleiner als der Mond, ſchwebte die Erde als matte Scheibe, vom Schimmer des Mondlichts erleuchtet; nur eine ſchmale Sichel zeigte ſich im Strahl der Sonne. Wenn wir uns von der Sonne, die nahe neben der Erde ſtand, abwendeten, glänzten überall am tiefſchwarzen Firmament die Sterne in leuchtender Pracht. Es war ein herrlicher Anblick, aber wir achteten nicht darauf. Wir warteten nur, ob unſere Kugel beginnen würde, ſich zu drehen, das heißt, den Boden unter unſern Füßen dem Mond zuzuwenden; dies wäre das Zeichen geweſen, daß wir dem Mond und nicht mehr der Erde tributär waren. Noch näherten wir uns dem Mond, da er noch immer ein wenig vor uns in unſerer Richtung ſtand. Noch überwog die Anziehung der Erde, doch war ſie von der des Mondes ſo geſchwächt, daß wir kaum einen Zug nach dem Boden bemerkten; wir mußten uns verhalten wie im ſchwereloſen Feld. Die Sorge um unſere Gefährten ließ es uns jeden Augenblick erſcheinen, als begönnen die Gegenſtände ſich zu erheben, als wollte unſre innere Kugel ſich drehen. Aber noch immer ſchwebte der Mond über uns. Endlich hatte Mitt ſeine Beobachtung beendet. ‚Wir kommen durch‘, ſagte er. ‚Wir ſinken.‘ Alle atmeten auf. Noch eine Viertelſtunde, und die Erdſchwere machte ſich wieder geltend. Die Inſtrumente ließen deutlich erkennen, daß wir uns der Erde wieder zu nähern begannen. Nun kam es darauf an, den paſſenden Richtſchuß zur Korrektur unſres Falls abzugeben. Wir hätten zwar damit warten können, bis wir der Erde näher waren. Aber je eher wir es taten, um ſo weniger Energie brauchten wir aufzuwenden. Denn wenn erſt unſre Fallgeſchwindigkeit größer geworden war, ſo mußte die Kraft auch um ſo ſtärker ſein, welche unſre Richtung zu verändern vermochte. Mit größter Sorgfalt wurde die Bombe gewählt, die äußere Kugel in die berechnete Stellung gebracht und die Entladung durch Verbindung mit dem Chronometer im richtigen Moment bewirkt. Die Reaktion war ſchwach, und wir ſchwankten nur wenig auf unſern Plätzen. In wenigen Minuten war alles vollbracht, was wir vorläufig tun konnten. Todmüde ſuchten wir unſere Lagerſtätten auf, denn Ruhe hatte es bis jetzt für uns nicht gegeben. Ich hatte einige Stunden feſt geſchlafen, als ich durch ein allgemeines Stimmengewirr aufgeweckt wurde. Ich eilte in den Außenraum, und das erſte, was mir in die Augen fiel, war der veränderte Anblick des Mondes. Er war kleiner geworden, wir entfernten uns alſo von ihm; das beruhigte mich. Aber ſeine erleuchtete Fläche zeigte eine Abplattung, das heißt, wir ſahen auf ein Stück der nicht erleuchteten Mondkugel, das meiner Anſicht nach größer war, als es hätte ſein dürfen, wenn wir nach der Erde zu fielen. Schnell begab ich mich nach der unteren Seite, und hier ſah ich, daß auch die Erde entſchieden an Größe abgenommen hatte. Wir entfernten uns alſo von beiden Himmelskörpern, und zwar, wie ſich ſogleich herausſtellte, in einer nahezu kreisförmigen Ellipſe, deren Ebene mit der der Erdbahn faſt einen rechten Winkel bildete. Wie dies geſchehen konnte, iſt bis heute unaufgeklärt geblieben. Daß es nicht eher bemerkt wurde, daran trug der Mann ſchuld, welcher die Wache hatte und aus Übermüdung eingeſchlafen war. Sonſt hätte er ſehr bald am Richtungszeiger den Fehler bemerken müſſen, und dann hätte noch ein Korrekturſchuß angebracht werden können. Jetzt aber war unſere Entfernung von der Erde bereits ſo groß geworden, daß wir unſere Richtung faſt hätten umkehren müſſen, um die Erde wieder zu erreichen. Das durften wir bei unſerm geringen Vorrat an ſtarken Richtſchüſſen nicht tun. Einige von Ihnen wiſſen vielleicht, daß Mitt nach unſrer Rückkehr auf den Mars ſeines Fehlers wegen zur Verantwortung gezogen wurde. Es konnte ihm aber kein Verſehen nachgewieſen werden, und er wurde freigeſprochen. Die Rechnungen wurden ſämtlich aufs genauſte geprüft, und es blieben nur zwei Erklärungen übrig. Es war möglich, daß nach dem Verlaſſen der Erdatmoſphäre wegen der mangelhaften Beſchaffenheit unſres Schiffes die erſte Ortsbeſtimmung fehlerhaft geweſen iſt und dieſer Fehler auf die Beurteilung unſrer Richtung oder Geſchwindigkeit nachgewirkt hat. Infolgedeſſen wäre der Korrekturſchuß unrichtig abgegeben worden. Es konnte aber auch die Beobachtung als richtig vorausgeſetzt und der Rechnung durch die Hypotheſe genügt werden, daß wir, ohne es zu wiſſen, während des Schlafs der Wache durch einen unbekannten kosmiſchen Körper abgelenkt worden ſind, den wir, obgleich er ziemlich groß geweſen ſein muß, nachträglich nicht bemerkten, weil er bereits in den Erdſchatten getreten war. Nun, wie dem auch ſein mochte, wir konnten nicht mehr zur Erde zurück. Unſre Niedergeſchlagenheit können Sie ſich denken. Sie wurde noch größer, als wir erkannten, wie es mit unſrer Rückkehr zum Mars beſchaffen ſei. Gingen wir in unſrer Bahn weiter, ſo kamen wir nach einem halben Erdenjahr wieder der Erde ſo nahe, daß wir ſie hätten erreichen können. Aber dann hatte der Südpol Winter, und wir wären dort verloren geweſen. Der gewöhnliche Weg nach dem Mars war uns zum Unglück durch einen großen Kometen verſperrt, deſſen Anziehungsbereich wir berückſichtigen mußten. Ein zweiter Weg — Sie müſſen bedenken, daß wir unſre Richtung und Geſchwindigkeit nicht ſo oft und beliebig ändern konnten wie heutzutage —, ein zweiter Weg hätte uns bis in die Nähe der Aſteroidenbahnen geführt, und das iſt ſo, als wenn Sie auf dem Meer zwiſchen unbekannten Klippen ſegeln wollten. Denn wenn wir auch damals ſchon gegen 2.000 dieſer kleinen Planeten kannten, ſo gibt es doch noch unzählige, die ſo klein ſind, daß wir ſie noch nie geſehen haben, kleiner als unſre Kugel, aber genügend, um uns in Grund und Boden zu bohren, wenn wir auf einen treffen. Außerdem hätte auch dieſer Weg ſo lange Zeit in Anſpruch genommen, daß es fraglich wurde, ob unſer Proviant dazu ausreichte. Alle übrigen Wege waren noch weiter und mußten deshalb verworfen werden. Der Mars ſtand, wie ich bemerken will, hinter der Sonne, denn ſeit unſrer Abreiſe von ihm war ein halbes Erdenjahr vergangen. Mitt hatte uns das Reſultat ſeiner Berechnungen mitgeteilt und ſich dann zu neuen Prüfungen in ſeine Kajüte zurückgezogen. Wir ſaßen in uns gekehrt da, jeder machte ſich mit dem Gedanken vertraut, unſren lieben Nu nicht wieder zu betreten. Einer der Gefährten äußerte ſich endlich dahin, man ſolle die jetzige Bahn einhalten, nach einem halben Jahr die Erde zu treffen ſuchen, dieſe aber am Nordpol anlaufen. Da alsdann dort Sommer wäre ſo würden wir wahrſcheinlich eins unſrer Schiffe antreffen, von dem wir genügende Vorräte bekommen könnten, um im nächſten Südſommer nach dem Südpol zurückzukehren. Die Hoffnung freilich, unſre Gefährten noch zu retten, mußten wir wohl aufgeben, immerhin aber konnten wir auf dieſe Weiſe unſre Rückkehr nach dem Mars ſichern, ſelbſt für den Fall, daß wir kein Schiff daſelbſt antrafen. Wir konnten ja dann die günſtigſte Stellung zur Reiſe abwarten und fanden auf alle Fälle einige Vorräte in den Depots. Dieſer Plan fand allſeitigen Beifall, und wir ſchickten uns eben an, den Kapitän zu rufen, um ihm unſre Vorſchläge zu machen, als dieſer mit glänzenden Augen unter uns trat und rief: ‚Freunde, wollen wir in ſechzig Tagen auf dem Mars ſein?‘ Wir ſprangen auf und umringten ihn. Alle wollten wir näheres hören. Nun —“ Jo unterbrach ſich und warf einen Blick auf die Uhr. „Pik und Spe!“ rief er. „iſt das ſchon ſpät geworden! Nun, ich will ſchnell ein Ende machen!“ „O bitte, bitte, es iſt noch Zeit.“ „Kurz und gut! Mitt hatte den kühnen Plan erdacht, in einer rückläufigen Hyperbel mit kurzer Periheldiſtanz quer über die Erdbahn weg auf den Mars zu ſtoßen. Er ſetzte uns das kurz auseinander. Allerdings mußten wir unſre Richtſchüſſe bis auf einen letzten, zum Landen beſtimmten Notvorrat daran wagen. Nur eine Gefahr war dabei, und deshalb wollte Mitt nicht ohne unſere Einwilligung handeln — wir kamen der Sonne in einer Weiſe nahe, wie es noch kein Raumſchiffer gewagt hatte, und es fragte ſich, ob wir die Strahlung würden aushalten können. Auch der Plan, auf der Erde am Nordpol anzulegen, ſchien Mitt ſehr erwägenswert, und lange wurde hin und her überlegt, was zu tun ſei. Aber Sie wiſſen ja, in jedem rechten Raumſchifferherzen ſteckt die Luſt, das Ungewohnte zu wagen, wenn es einigermaßen ausſichtsvoll iſt. Den Gefährten konnten wir in dieſem Südpol-Sommer doch nicht mehr helfen, und ſo wurde beſchloſſen, die kühne Hyperbelfahrt zu verſuchen. Nun, Gott war gnädig, wir ſind heimgekommen. Aber die zwei Tage, die wir um die Sonnennähe jagten, die möchte ich nicht wieder erleben. Ich habe manches durchgemacht — ſolche Glut noch nicht. Wir konnten unſre äußere Stellitkugel nur dadurch vor dem Schmelzen bewahren, daß wir ſie ſchnell rotieren ließen; ſo ſtrahlte ſie die auf der einen Seite empfangene Hitze auf der andern wieder aus — weiß nicht, bekomme ſogleich einen wahren Merkursdurſt, wenn ich daran denke!“ Damit tat Jo einen tiefen Zug aus ſeinem Mundſtück und erhob ſich. „Schade, ſchade, daß Sie morgen ſchon fortgehen!“ ſagte La zu Jo. „Von der Sonnennähe müſſen Sie uns noch einmal erzählen!“ „Wenn’s einmal recht kalt iſt!“ „Und All? Hat man nichts mehr von ihm gehört?“ fragte Grunthe. „Nichts! Auch bei wiederholten Beſuchen des Südpols hat man keine Spuren mehr gefunden, keine Aufzeichnungen. Und nun, Gott befohlen! Auf Wiederſehen morgen vormittags!“ Jo ſchüttelte den Deutſchen die Hände, und alle Martier wiederholten die Begrüßung. Dann zogen ſie ſich zurück. Nur La und Se blieben noch einige Minuten und redeten ihren Gäſten zu, ihre Reiſe nicht im Winter zu wagen, ſondern mit ihnen nach dem Mars zu gehen. „Laſſen Sie ſich durch Jos Erzählung nicht bange machen“, ſagte La lächelnd. „Wir nehmen jetzt ſoviel Richtſchüſſe mit, daß wir allen Hinderniſſen ſchleunigſt ausweichen können. Die Gefahr lag ja früher darin, daß man auf der Erdoberfläche landen und von dort abreiſen mußte; jetzt aber haben wir auf beiden Planeten Stationen außerhalb der Atmoſphäre.“ „Solche Beſorgniſſe würden uns nicht abhalten“, ſagte Grunthe ernſt. „Wir hoffen ja ſpäter mit der Hilfe Ihrer Landsleute auf den Mars zu reiſen.“ „Und was hält Sie denn ab, ſchon jetzt mit uns zu kommen?“ fragte Se. „Die Pflicht“, erwiderte Grunthe. La und Se ſchwiegen einen Augenblick. Dann ſagte Se mit einem Blick auf Saltner: „Es gibt auch eine Pflicht gegen die Freunde.“ „Die Pflicht der Dankbarkeit gegen unſre Retter wird mir ſtets heilig bleiben“, ſagte Grunthe, „aber im Falle des Widerſtreits entſcheidet die ältere —“ „Oder die höhere“, fiel La ein, „und das werden wir ſchon noch unterſuchen.“ „Das wiſſen Sie ja“, ſagte Saltner herzlich, „daß ich nichts lieber täte, als mit Ihnen zu gehen, wohin’s auch immer wäre.“ „Mit wem denn?“ ſcherzte La. „Wir wohnen leider auf dem Mars dreitauſend Kilometer voneinander.“ „Das iſt nicht ſo ſchlimm“, erwiderte Saltner. „Sie haben dort gewiß ſo ſchnelle Beförderungsmittel, daß man einen Tag hier und einen da ſein kann. Und das hat auch ſeine guten Seiten.“ „Das iſt reizend“, rief Se. „Sie paſſen ausgezeichnet auf den Mars. Wenn wir Sie nun beim Wort nehmen?“ Se und La warfen ſich einen Blick des Einverſtändniſſes zu. Dann faßten ſie jede einen ſeiner Finger und ſagten gleichzeitig: „Gebunden.“ Saltner machte ein etwas verdutztes Geſicht, da er nicht recht wußte, was das bedeuten ſollte. „Wieſo?“ fragte er. „Was ſoll das ſein?“ „Ein Spiel!“ rief La, und beide ſahen ihn ſo ſonderbar und freundlich an, daß ihm ganz ſeltſam ums Herz wurde. „Gehen’s“, ſagte er etwas verlegen, „Sie wollen mich gewiß zum beſten haben. Was muß ich denn jetzt tun?“ „Das wird ſich ſchon finden. Recht liebenswürdig ſein müſſen Sie!“ ſagte Se. „Und jetzt gute Nacht! Sie müſſen morgen zeitig aufſtehen, eigentlich ſchon heute, der Flugwagen nach der Außenſtation geht um ein Uhr.“ „Auf Wiederſehen morgen am abariſchen Feld!“ rief La. Und beide nickten ihm freundlich zu, grüßten Grunthe und ſchwebten mit ihrem leichten, gleitenden Schritt nach der Tür. Die Wolke glühender Funken wogte um Se, und über den ſchlanken Formen ihres Halſes ſchimmerte der zarte Regenbogen ihres Haars. Über Las Haupt glänzte es wie ein Heiligenſchein, und aus ihren tiefen Augen fiel ein langer Blick auf Saltner zurück. Dann ſchloß ſich die Tür. Die Feen der Inſel waren verſchwunden. Saltner ſtand noch lange ſtumm und blickte nach der geſchloſſenen Tür. Was meinten ſie wohl? Wie ſollte er ſie verſtehen? Und welche von beiden — — Dann drehte er ſich auf dem Abſatz herum und pfiff leiſe vor ſich hin. „Das iſt geſcheit“, ſagte er, „die ſcheinen halt nicht eiferſüchtig. Aber — am Ende iſt das gar nicht ſehr ſchmeichelhaft für mich. Wer kann ſich auch gleich bei den Feen auskennen? Kommen Sie, Grunthe, wir wollen ſoupieren.“ Die beiden Männer zogen ſich in ihr Zimmer zurück, aßen zu Abend und ſprachen dabei hin und her über die Frage, ob ſie imſtande ſein würden, dem Wunſch der Martier zu widerſtehen und am Pol zurückzubleiben. „Ich ging ſchon gern hin“, ſagte Saltner endlich, „aber von Ihnen geh ich nicht, alter Freund. Und nun ſehen Sie zu, was Sie durchſetzen.“ 15. 6.356 Kilometer über dem Nordpol Grunthe und Saltner ruhten noch in ihren Betten, als bereits im abariſchen Feld ein reges Leben herrſchte. Die Martier, welche das Raumſchiff beſteigen ſollten, begaben ſich in Abteilungen von je vierundzwanzig Perſonen nach der Außenſtation. So viele faßte der Flugwagen, der den Verkehr von der Inſel nach dem Abgangspunkt der Raumſchiffe vermittelte, nach jenem in der Höhe von 6.356 Kilometern über dem Pol ſchwebenden Ring. Es waren alſo, um die Reiſenden und diejenigen ihrer Freunde, die ſie bis an das Schiff begleiten wollten, nach dem Ring zu befördern, drei Flugwagen erforderlich. Der Aufſtieg nahm ungefähr eine Stunde in Anſpruch, und da ſich niemals mehr als ein Wagen im abariſchen Feld befinden durfte, ſo verließ der erſte Wagen ſchon am frühſten Morgen, richtiger noch in der konventionellen Schlafenszeit, denn die Sonne ging ja nicht auf noch unter, die Inſelſtation. Dies war nach der Tageseinteilung, welche die Martier für den Nordpol der Erde feſtgeſetzt hatten, um 11,6 Uhr, nach mitteleuropäiſcher Zeit ungefähr um 11 Uhr vormittags, eine Stunde vor dem Aufſtehen, wie es ſonſt auf der Inſel üblich war. Diesmal mußten Grunthe und Saltner freilich etwas früher ihre Ruhe unterbrechen, denn der dritte Flugwagen, der ſie nach der Außenſtation bringen ſollte, verließ die Inſel gegen 0,6 Uhr, um eine Stunde vor der Abfahrt des Raumſchiffes am Ring zu ſein. Die Martier waren ſchon faſt vollſtändig in der Abfahrtshalle am abariſchen Feld verſammelt, als Grunthe und Saltner ankamen. Die meiſten der Anweſenden waren ihnen bereits bekannt, und alle begrüßten ſie aufs liebenswürdigſte. Auch Hil, der Arzt, hatte ſich eingefunden. Da die Menſchen zum erſtenmal eine Fahrt im abariſchen Feld machten — wenn man die unfreiwillige in ihrem Luftballon nicht mitrechnen wollte —, ſo war es ihm von größtem wiſſenſchaftlichem Intereſſe, ihr Verhalten dabei zu beobachten. Auch konnte man ja nicht wiſſen, ob nicht vielleicht unter den ungewohnten Bedingungen, denen die Menſchen hier ausgeſetzt waren, ſeine Hilfe vonnöten würde. Indeſſen wußten ſich Grunthe und Saltner ſchon ganz geſchickt zu benehmen, als ſie die auf Marsſchwere geſtellte Vorhalle betraten. Zu ihrer Verwunderung ſahen ſie, daß die Martier die Pelzkragen nicht mehr trugen, in denen ſie den Weg über die Inſel zurückgelegt hatten, ſondern ſich in ihrer gewöhnlichen Zimmertoilette befanden. Hil forderte ſie auf, ebenfalls ihre Mäntel abzulegen, da ſie nun bis zu ihrer Rückkehr nicht mehr ins Freie kämen. Wagen und Ringſtation ſeien ſelbſtverſtändlich künſtlich erwärmt. Vergeblich ſah ſich Saltner nach La und Se um. Schon ertönte das Signal zum Einſteigen, als La eilig hereinkam und die Anweſenden begrüßte. Ihre Blicke flogen alsbald zu Saltner, der ſich ihr noch ſchnell näherte und ihr die Hand reichen wollte. Sie aber legte beide Hände auf ſeine Schultern und ſah ihm zärtlich in die Augen. Die Begrüßung überraſchte ihn, er mußte ſich einen Augenblick ſammeln, denn er wußte, daß dieſe Form des Willkomms nur unter ganz naheſtehenden Freunden oder Liebenden üblich war und ungefähr die Bedeutung eines Kuſſes unter den Menſchen beſaß. Aber ihre Blicke gaben ihm ſchnell den Mut, ſie zu erwidern, und zu ſeiner großen Freude glückte es ihm, ihre Schultern mit ſeinen Händen zu berühren, ohne zu hoch in die Luft zu greifen, und ſie auch wieder zu entfernen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Nur das roſig ſchimmernde Haar ſtreiften ſeine Finger, und er fühlte dieſe Berührung wie ein leiſes Überſpringen elektriſcher Funken. Schon beſtiegen die übrigen den Flugwagen. Hil geleitete Grunthe hinein. La faßte Saltner an der Hand, um ihn beim Hinaufſteigen der ungewohnten Stufen ins Innere des Wagens zu unterſtützen. Ehe er dieſelben betrat, blickte er noch einmal zurück, um nach Se zu ſchauen, ob ſie nicht käme. „Heute nicht“, ſagte La, ſeinen Gedanken erratend, „morgen ſehen Sie ſie wieder. Heute müſſen Sie mit mir vorliebnehmen.“ Es war keine Zeit zu Erklärungen. Der Wagen wurde geſchloſſen. Dies geſchah, indem der außenſtehende Beamte die Falltür hob, durch welche die Reiſenden in das Innere des Wagens geſtiegen waren. Der Boden bildete jetzt die ebene, mit weichen Teppichen belegte Fläche eines geräumigen Zimmers. Die Decke war gleichfalls eben, während der ganze Wagen äußerlich die Geſtalt einer vollkommenen Kugel beſaß. In den beiden Segmenten, welche durch Boden und Decke gebildet waren, befand ſich je ein Wagenführer, die beide durch Signale mit der untern wie mit der oberen Station verkehrten. Nirgends zeigte ſich ein Fenſter, von der Außenwelt war nichts zu ſehen. Eine Anzahl von Kugeln, welche an unſichtbaren Lisfäden von der Decke herabhingen, verbreitete ein angenehmes Licht. Die Deutſchen ſahen hier zum erſtenmal die künſtliche Beleuchtung der Martier durch fluoreszierende Lampen, die nur aus abſolut luftleer gemachten, durchſcheinenden Kugeln beſtanden und infolge der ſchnellen Wechſelſtröme leuchteten, welche von dem mittleren Teil der Wagenwand ausgingen. In dieſem befand ſich auch der Heizapparat. Das Zimmer hatte im Grundriß die Geſtalt eines Quadrats, ſo daß zwiſchen ſeinen Wänden und der Kugel noch Raum für einige kleinere Gelaſſe blieb. Die Ausſtattung war die bei den Martiern übliche mit einem feſten Tiſch in der Mitte, der zugleich als Büffet diente. Nur dadurch unterſchied ſie ſich von der eines gewöhnlichen Geſellſchaftszimmers, daß ſich ringsum an den Wänden auffallende Geſtelle hinzogen, deren Zweck Grunthe nicht zu erraten vermochte. Er war geneigt, ſie für Turngeräte zu halten, und etwas Ähnliches waren ſie auch. Eigentümlich waren ferner die Stühle, ſämtlich mit Seitenlehnen und Leiſten an den Füßen verſehen. Dieſe Stühle konnte man zwar, infolge einer beſonderen Mechanik, nach Verlangen hin- und herſchieben, nicht aber vom Boden aufheben. Kaum war der Wagen verſchloſſen, als ein zweites Signal ertönte. Schnell ſuchte ſich jeder der Martier eines der Geſtelle am Rand des Zimmers und begab ſich in dasſelbe. Grunthe und Saltner wurden angewieſen, wie ſie ſich dabei zu benehmen hätten. Sie ſteckten die Füße in ſchuhartige Vorſprünge am Boden, ſo daß ſie nicht ausgleiten konnten, ſtemmten ſich mit den Armen feſt an den zur Seite befindlichen Griffen und lehnten ſich mit dem Rücken an die gepolſterte Wand, während der Kopf zwiſchen weichen Kiſſen wie in einer Grube ruhte. „Nun bin ich nur neugierig, was das ſoll“, ſagte Saltner. „Hoffentlich brauchen wir nicht zwei Stunden lang hier als Mumien zu ſtehen.“ „Es dauert nicht lange“, ſagte einer der Martier. „Halten Sie ſich ganz feſt“, fügte La hinzu, „von dem Augenblick, in welchem die tiefe Glocke erklingt und das Licht ſich verdunkelt, bis es wieder hell wird, und rühren Sie ſich ja nicht.“ „Ich folge blindlings —“ „Warum —“ Grunthe wollte etwas fragen. Da erſcholl das Signal. Das Licht wurde ſo ſchwach, daß man eben nur noch die Stellen ſah, wo die Lampen hingen. Es erfolgte ein dumpfer Knall. Die Inſaſſen der Kugel erlitten eine leichte Erſchütterung und fühlten ſich kräftig gegen den Boden gedrückt. Unter die Kugel war nämlich ein Behälter mit ſtark komprimierter Luft gebracht worden, durch deren Entſpannung der Flugwagen mit einer Geſchwindigkeit von 30 Metern pro Sekunde in dem abariſchen Feld aufwärtsgeſchleudert wurde. Gleichzeitig wurde die Schwere im Feld vollſtändig kompenſiert. Während bisher die Schwerkraft innerhalb der Kugel, der Gewohnheit der Martier entſprechend, immer noch ein Drittel der Erdſchwere betragen hatte, war ſie jetzt gänzlich aufgehoben. Das Gefühl, welches die Menſchen ergriff, war nicht unangenehm und keineswegs ſtark, ähnlich wie in einem Bad, nur daß die Berührungsempfindung des Waſſers fehlte. Man gewöhnte ſich ſchnell daran und gewahrte nur einen ſchwachen Blutandrang nach dem Kopf. Die Lampen wurden wieder hell, und ein Teil der Martier kam vorſichtig aus den Geſtellen hervor. Sie machten ſich das Vergnügen, in dem abſolut ſchwereloſen Raum durch einen leichten Stoß gegen den Boden bis zur Decke in die Höhe zu ſchwingen und ſich von dort wieder abzuſtoßen oder eine Zeitlang ohne jede Unterſtützung völlig frei in der Luft zu ſchweben. Saltner hätte dies gern auch einmal probiert, aber La riet ihm dringend, ſein Geſtell noch nicht zu verlaſſen, da es längerer Übung bedürfe, ehe man ſich in dem ſchwereloſen Raum geſchickt bewegen könne. Dagegen forderte ſie zwei Damen, welche die Fahrt mitmachten, zu einem kleinen Tänzchen auf, und die drei graziöſen Figuren ſchwebten nun, indem ſie mit geſchickten Bewegungen ſich vom Boden und den Wänden abſtießen, Hand in Hand um das Zimmer. In ihren wehenden Schleiern glichen ſie den Elfen des Märchens, die in der Mondnacht ihren luftigen Reigen führen. Darauf zogen ſie ſich wieder auf ihre Plätze zurück. Grunthe nahm ſein Fernrohr aus der Taſche, ſtreckte die Hand aus und öffnete ſie dann. Das Fernrohr blieb frei in der Luft ſchweben, ohne zu fallen. Er konnte es ſich nicht verſagen, ſelbſt einmal zu verſuchen, wie es ſich ohne Schwere gehe, und trat aus ſeinem Geſtell. Sobald er aber dasſelbe losgelaſſen und den Fuß zum erſten Schritt erhob, verlor er das Gleichgewicht und focht mit Händen und Füßen in der Luft herum, ohne wieder auf den Boden kommen zu können. Es ſah ungeheuer poſſierlich aus, wie der ernſte Mann hin- und herſtrampelte, und Saltner war ſehr froh, daß er Las Rat gefolgt war, ſich nicht von ſeinem feſten Punkt fortzuwagen. Erſt durch Hilfe einiger Martier kam Grunthe wieder auf den Boden zu ſtehen und wurde in ſein Geſtell zurückgeführt. „Es ſchadet nichts“, ſagte er, „man muß alles verſuchen.“ Jetzt erſcholl ein neues Signal, worauf alle ſich ſchleunigſt in ihre Geſtelle begaben. Gleich darauf wurde es ganz dunkel bis auf den matten Schimmer einer Lampe, welche genau die Mitte des Zimmers einnahm. Doch reichte ihr Schein nur aus, ihre Stelle zu bezeichnen, nicht aber, irgendwelche andere Gegenſtände zu erkennen. „Was kommt denn nun?“ fragte Saltner. Hil antwortete ihm. „Bis jetzt“, ſagte er, „ſind wir ohne Schwere durch den gegebenen Anſtoß mit gleichmäßiger Geſchwindigkeit geſtiegen, und zwar ſechs Minuten lang. Wir haben dadurch eine Höhe von ungefähr 10.000 Metern erreicht. Die Luft iſt hier dünn genug, daß wir eine größere Geſchwindigkeit annehmen können. Das Feld wird jetzt überkompenſiert, das heißt, die ‚Gegenſchwere‘ überwiegt nun die Schwere, und wir ‚fallen‘ nach oben, nach dem Ring zu. Sie werden bald merken, daß unſere Geſchwindigkeit ſtark zunimmt, denn unſer Fall nach dem Ring beſchleunigt ſich natürlich raſch.“ In der Tat bemerkten Grunthe und Saltner bald dasſelbe Gefühl, welches ſie bei ſehr beſchleunigtem Fallen des Ballons zu haben pflegten. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Füßen entzogen. „Was iſt denn das?“ rief Saltner. „Wir ſtürzen ja ab!“ „Freilich fallen wir“, lachte La, „aber nach oben, das heißt, von der Erde fort.“ „Ich fühle doch, daß der Boden unter den Füßen ſich ſenkt.“ „Ganz richtig, aber wo, glauben Sie, daß die Erde ſich befindet?“ „Nun, doch unter uns!“ „Fehlgeſchoſſen! Sie ſtehen jetzt auf dem Kopf wie ein Antipode. Die Erde iſt über Ihrem Scheitel, unſre Füße ſind dem Ring der Außenſtation zugekehrt, wohin jetzt die Richtung der Fallkraft hinweiſt.“ „Ach, liebſte La, wollen Sie mich denn vollſtändig verdreht machen?“ Als Antwort hörte er ihr leiſes Lachen. Es wurde wieder hell. Nichts im Zimmer hatte ſich verändert. Die Martier verließen nun ihre Geſtelle und bewegten ſich wie gewöhnlich im Zimmer. Auch Grunthe und Saltner bemerkten, daß ſich das eigentümliche Gefühl des Fallens ziemlich verloren hatte. Doch kam dies nur daher, daß ſie ſich daran gewöhnt hatten. Tatſächlich flog die Kugel mit immer größerer Geſchwindigkeit auf ihr Ziel zu, von der Erde fort, und dieſe Geſchwindigkeit ſollte ſich allmählich bis auf die koloſſale Zahl von gegen zweitauſend Meter in der Sekunde ſteigern. Der untere Teil der Kugel, unter dem Fußboden, war beſchwert, ſo daß ſich die Kugel je nach der Richtung der Fallkraft immer mit dem Boden des Zimmers nach unten einſtellte. Dieſe Drehung hatte ſich ſofort vollzogen, als das Feld überkompenſiert wurde und die Beſchleunigung nach oben begann. Aber die Inſaſſen hatten gar nichts davon bemerkt, da ſie feſt in ihren Geſtellen ruhten und die Wirkung der Schwere im Anfang ſo gering war, daß es zu ihrer Aufhebung keiner merklichen Muskelkraft bedurfte. Sie ſtanden jetzt, im Vergleich zu ihrem Aufenthalt am Pol, tatſächlich auf dem Kopf; im Vergleich zu der auf ſie wirkenden Anziehungskraft befanden ſie ſich jedoch in der normalen Lage; ſie ſtanden auf ihren Füßen. Immerhin mußten ſich Grunthe und Saltner vorſichtig bewegen, da das Feld nur um ein Drittel der Erdſchwere überkompenſiert war, das heißt ſo, daß die Inſaſſen der Kugel unter einer anziehenden Kraft ſtanden, wie ſie ſie auf dem Mars gewohnt waren. Die Menſchen zogen es daher vor, ſich auf den Seſſeln am Tiſch niederzulaſſen und dort zu bleiben. Es fehlte nicht an Unterhaltung mit den Martiern, die jetzt zu ihren Piks gegriffen hatten. Hil hatte ſich überzeugt, daß die Menſchen die Schwereloſigkeit leicht ertrugen. Saltner ſaß Hand in Hand mit La in vertraulichem Geſpräch. Niemand kümmerte ſich um ſie. Eine halbe Stunde etwa nach der Abfahrt von der Erde mußten die Inſaſſen des Wagens auf das gegebene Signal noch einmal ihre Plätze in den ſeitlichen Verſchlägen einnehmen. Der Wagen hatte jetzt ſeine größte Geſchwindigkeit erreicht und über die Hälfte ſeines Weges zurückgelegt. Es kam nunmehr darauf an, ſeine Geſchwindigkeit zu vermindern und ſo zu regulieren, daß er gerade innerhalb des Ringes zur Ruhe kam. Dies geſchah, indem man die Erdſchwere wieder wirken ließ. Dieſe beſaß jedoch in dieſer Höhe nicht mehr die volle Stärke wie am Pol, ſondern war nur noch etwa ſo groß wie auf dem Mars, ja auf dem Ring ſelbſt betrug ſie nur ein Viertel der unten herrſchenden Schwere. Der Wagen glich jetzt einem Körper, den man mit großer Geſchwindigkeit in die Höhe geworfen hat und der ſich nun mit abnehmender Geſchwindigkeit dem höchſten Punkt ſeiner Bahn nähert. Der Fußboden des Wagens mußte ſich demnach wieder der Erde zuwenden, und dieſe Drehung wartete man bei verdunkeltem Wagen in den ſchützenden Geſtellen ab. Den übrigen Teil der Fahrt über konnte man ſich nach Belieben im Wagen bewegen, nur kurz vor der Ankunft wurden die Geſtelle wieder aufgeſucht. Denn der letzte Teil des Weges mußte mit gleichmäßiger, nicht ſehr bedeutender Geſchwindigkeit zurückgelegt werden, um das Anhalten des Wagens im richtigen Zeitpunkt zu regulieren. Dazu aber war es notwendig, dieſe Strecke abariſch, ohne jede Schwere zu durchlaufen, bis das Wiedereinſtellen der Schwere in der letzten Sekunde den Wagen anhielt. Man bemerkte kaum das Anhalten des Wagens, ſo allmählich war es geſchehen. Das Fallnetz hatte ſich unter ihm geſchloſſen und war nach der Befeſtigung des Wagens wieder entfernt worden. Die Tür im Boden wurde geöffnet. Ehe die Reiſenden den Wagen verließen, verſahen ſich alle mit Schutzbrillen für die Augen, da hier oben das direkte Sonnenlicht durch keine Atmoſphäre gemildert war und alle Gegenſtände, auf die es traf, in blendendem Glanz erſcheinen ließ, während ſich die Schatten tiefſchwarz abhoben. Nun trat man in die mittlere Galerie des Ringes. Die Martier durchſchritten dieſelbe und begaben ſich ſogleich durch die Tür, welche die Überſchrift trug ‚Vel lo nu‘ — ‚Raumſchiff nach dem Mars‘ —, nach der oberen Galerie, über welcher das Raumſchiff ruhte. Grunthe und Saltner dagegen wurden von Hil und La zunächſt durch eine andere Tür nach der unteren Galerie geleitet, und zwar nach derjenigen, welche den Ring auf ſeiner äußeren Seite umzog. Eine zweite ſolche untere Galerie umgab den Ring auf der inneren Seite und enthielt die Apparate, durch welche das abariſche Feld kontrolliert wurde. Hier befanden ſich auch die Arbeitsräume der Ingenieure. Um nach der äußeren Galerie durch einen Verbindungsweg zu gelangen, mußte man zunächſt die innere durchſchreiten, und La begrüßte ihren Vater Fru, dem die Leitung der Außenſtation oblag. Die äußere, ſechs Meter breite Galerie ſprang noch etwa zwei Meter über die Seitenwand des Ringes vor, ſo daß man an dieſer vorüber in die Höhe blicken konnte. Sie diente als Ausſichtsraum, von welchem aus der Blick auch nach der inneren Seite des Ringes frei war, ſo daß man nach unten den ganzen Horizont beherrſchte. Ihrer vollen Länge nach hatte man nach Art eines Balkons eine Brüſtung angebracht, ſo daß man glaubte, von dieſem erhabenen Standpunkt aus direkt ins Freie zu ſehen. Tatſächlich war man durch den vollkommen durchſichtigen Stoff der Außenwand vom luftleeren, eiſigen Weltraum geſchieden. Aber die in weiten Zwiſchenräumen ſich folgenden Träger dieſer Galerie hinderten ebenſowenig die Ausſicht wie der weiter oberhalb ſich drehende durchbrochene Schwungring. Die Stelle, an welcher Grunthe und Saltner mit ihren Begleitern die Galerie betraten, lag von der Sonne abgewendet, ſo daß die Strahlen derſelben, trotz ihres niedrigen Standes, durch die ganze Breite des über der Galerie befindlichen Ringes abgeblendet wurden. Sie ſtanden in einer geheimnisvollen Dämmerung, die nur durch den Reflex des Mondlichtes auf dem einen Rand der Galerie und durch denjenigen des Erdlichtes an der Decke über ihnen erhellt wurde. Tiefſchwarz lag der Himmel ringsum, über ihnen, an den Seiten, zu ihren Füßen; auf dem ſchwarzen Grund glänzten die Sterne in nie geſchauter Klarheit, ohne zu funkeln, als tauſend ruhig leuchtende Punkte. Im erſten Augenblick glaubten die Forſcher in einen tiefen See zu blicken, in welchem der Himmel ſich ſpiegele. Dann erſt erkannten ſie, daß ſie zu ihren Füßen einen großen Teil der Sternbilder des ſüdlichen Himmels vor ſich hatten. Denn ihr Blick beherrſchte den Himmel bis zu ſechzig Grad unter den Horizont des Nordpols. In der Mitte zu ihren Füßen ſchwebte die Erde als eine glänzende Scheibe. Sie hatte die Geſtalt des zunehmenden Mondes kurz nach ſeinem erſten Viertel, doch erblickte man auch den von der Sonne nicht beleuchteten Teil, da ihn das Licht des Mondes in einen ſchwachen Schimmer hüllte. Die ganze Scheibe der Erde erſchien unter einem Geſichtswinkel von ſechzig Grad und erfüllte ſomit gerade den dritten Teil des Himmels unterhalb des Horizontes. Die Schattengrenze ſchnitt das Eismeer in der Nähe der Jeniſſeimündung, ſo daß der größte Teil Sibiriens und die Weſtküſte Amerikas im Dunkel lagen. Hell glänzten die Gletſcher an der Oſtküſte Grönlands im Schein der Mittagsſonne, und als ein ſtrahlender weißer Fleck hob ſich Island aus den dunklen Fluten des Atlantiſchen Meeres. Der weſtliche Teil des Ozeans und der amerikaniſche Kontinent waren nicht zu erkennen. Über ihnen ruhte eine nur ſelten unterbrochene Wolkenſchicht, deren obere Seite die Sonnenſtrahlen in blendendem Weiß zurückwarf, ſo daß ihr Anblick ohne die ſchützenden Augengläſer unerträglich geweſen wäre. Dagegen lag die Karte von ganz Europa, wenigſtens in ſeinem nördlichen Teil, in günſtigſter Beleuchtung vor den entzückten Blicken. Unter dem Einfluß eines ausgedehnten Hochdruckgebiets war die Luft dort völlig klar und rein, ſo daß man die nördlichen Inſeln und Halbinſeln und die tief eingeſchnittenen Meeresbuchten deutlich erkannte. Weiterhin verſchwammen die Formen der Ebenen in einem bläulich-grünlichen Luftton, aber als feine helle Linien blitzten für ein ſcharfes Auge die Ketten der Alpen und ſelbſt des Kaukaſus auf. In matterem Licht ſchimmerte der Rand des beleuchteten Teils der Scheibe, und nur an der Schattengrenze bezeichneten einige helle Lichtpunkte den Untergang der Sonne für die Schneegipfel des Tianſchan und des Altai. In tiefem Schweigen ſtanden die Deutſchen, völlig verſunken in den Anblick, der noch keinem Menſchenauge bisher vergönnt geweſen war. Noch niemals war es ihnen ſo klar zum Bewußtſein gekommen, was es heißt, im Weltraum auf dem Körnchen hingewirbelt zu werden, das man Erde nennt; noch niemals hatten ſie den Himmel unter ſich erblickt. Die Martier ehrten ihre Stimmung. Auch ſie, denen die Wunder des Weltraums vertraut waren, verſtummten vor der Gegenwart des Unendlichen. Die machtvollen Bewohner des Mars und die ſchwachen Geſchöpfe der Erde, im Gefühl des Erhabenen beugten ſich ihre Herzen in gleicher Demut der Allmacht, die durch die Himmel waltet. Aus der Stille des Alls ſprach die Stimme des einen Vaters zu ſeinen Kindern und füllte ihre Seelen mit andächtigem Vertrauen. La hatte Saltners Hand ergriffen, ſanft lehnte ſie ſich an ſeine Schulter, und mit der Rechten auf den hellſten der Sterne weiſend, der unterhalb des Horizonts des Pols leuchtete ſagte ſie leiſe: „Dort iſt meine Heimat.“ Saltner zog ſie an ſich und ſprach: „Und dort meine Erde, iſt ſie nicht ſchön?“ Grunthe holte ſein Relieffernrohr hervor und trat dicht an den inneren Rand der Galerie, welcher den Blick auf den Nordpol geſtattete. Auch ihn hatte die Erinnerung an die ſo greifbar nahe vor ihm ausgebreiteten und doch ſo unerreichbaren fernen Lande ſeiner Heimat weichgeſtimmt. Aber er wollte nichts wiſſen von dem, was La und Saltner ſich zu ſagen hatten. Ihn beſchäftigte jetzt, nachdem das Überwältigende des erſten Eindrucks vorüber war, vor allem der Gedanke, wie er es ermöglichen könne, die Reiſe über die Eisfelder und Meere des Polargebiets zurückzulegen. Und er wollte die günſtige Gelegenheit benutzen, von hier oben den Weg zu überblicken, den er auf den Karten der Martier ſchon wiederholt ſtudiert hatte. Ein kleiner dunkler Fleck direkt unter ihm ſtellte das Binnenmeer am Pol vor, und mit ſeinem Glas konnte er die Inſel in der Mitte desſelben erkennen. Er wandte ſich mit einer Frage an Hil, der ihn an eine andere Stelle der Galerie führte. „Sie können hier“, ſagte er, „die Erde bequemer mit einem unſrer Apparate betrachten, der Ihnen eine hundertfache Vergrößerung gibt. Später ſollen Sie im Laboratorium unſer großes Fernrohr mit tauſendfacher Annäherung kennenlernen.“ La blickte lange nach der Erde hinab. Dann ſagte ſie in ihrer langſamen, tiefen Sprechweiſe: „Größer und ſchöner mag eure Erde ſein, aber ich müßte dort ſterben in eurer Schwere. Und ſchwer wie die Luft ſind eure Herzen. Ich aber bin eine Nume.“ Sie ließ das ſchützende Augenglas herabfallen und wendete ihm voll das Geſicht zu. In ihrem Blick flammte wieder jene unbeſchreibliche Überlegenheit, welche den Menſchenwillen brach. Aber es war nur ein Moment. Dann wechſelte der Ausdruck ihrer Züge, ihre Wimpern ſenkten ſich über die Sterne ihrer Augen, und Saltner fühlte, wie ein Strom von Wärme ihrem Antlitz entſtrahlte, das ſie nun zur Seite wandte. Vom Zauber ihrer Nähe hingeriſſen, beugte er ſich ihr entgegen und drückte ſeine Lippen auf ihren Hals. La zuckte zuſammen. Schon fürchtete Saltner, ſie beleidigt zu haben, aber ſie wandte ſich mit einem glücklichen Lächeln und duldete ſeinen Kuß auf ihren Mund. „Geliebte La“, flüſterte er, „wie glücklich machſt du mich! Iſt es denn möglich, du Wunderbare, daß ein armer Menſch eine Nume lieben darf?“ Sie ſah ihn freundlich an und antwortete: „Ich weiß es nicht, was ihr Liebe nennt und was ein Menſch darf. La aber darf dem Menſchen nicht zürnen, ohne den ſie den Nu nicht wiederſehn würde — — doch, mein Freund —“, und ihr Blick wurde ernſt, „— vergiß nicht, daß ich eine Nume bin.“ „Aber ich liebe dich!“ „Ich will es nicht verbieten, nur vergiß niemals —“ „Das verſtehe ich nicht, wenn ich nur dein ſein darf —“ „Die Liebe der Nume macht niemals unfrei“, ſagte La. „Und wenn du mich lieb haſt —“ „Wie Nume lieb haben. Und du mußt wiſſen, wenn ſie es tun, daß dies niemand etwas angeht als ſie ſelbſt, und daß —. Ich weiß es auf deutſch nicht recht zu ſagen —“ „Auf martiſch verſteh ich’s ganz gewiß nicht, aber ich weiß —“, und Saltner zog ihre Hand an ſeine Lippen, „— ich weiß, daß du —“ Seine beredten Schmeichelworte wurden durch die Annäherung Hils unterbrochen. „Wenn wir vor dem Abgang noch einen Blick in das Schiff werfen wollen“, ſagte er, „ſo iſt es jetzt Zeit.“ „Schon?“ rief La. „Wir haben die Erde noch gar nicht durchs Fernrohr betrachtet.“ „Das können wir noch vor der Rückfahrt.“ „Aber dann iſt es vielleicht in Deutſchland ſchon Abend“, ſagte Saltner, „ich möchte doch gern —“ „Durchaus nicht“, erwiderte Hil. „In einer halben Stunde iſt alles vorüber, und dann haben Sie erſt ein Viertel nach drei Uhr. — Aber laſſen Sie uns jetzt eilen!“ 16. Die Ausſicht nach der Heimat Die vier Beſucher des Ringes begaben ſich über die mittlere Galerie nach der Treppe zur oberen. Hier gelangten ſie in die weite Halle, von welcher aus die Abfahrt der Raumſchiffe ſtattfand. Das rege Leben, das hier geherrſcht hatte, begann ſich jetzt zu beruhigen. Denn die Einſchiffung der Abreiſenden war vollendet, und ihre Begleiter verließen ſoeben das Schiff. Die Luke ſollte geſchloſſen werden. Hil mit ſeiner Begleitung hatte ſich doch verſpätet, und ſo mußten Grunthe und Saltner ſich diesmal darauf beſchränken, das Raumſchiff von außen zu betrachten. Sie tröſteten ſich damit, daß in drei Tagen bereits eine neue Abfahrt ſtattfände; überdies feſſelte ſie der Anblick, der ſich ihnen darbot, zur Genüge. Die rieſige Halle beſaß einen Radius von 60 Meter. An ihrer Decke, und zwar rings um den Rand herum, befanden ſich kreisförmige Einſchnitte. Auf fünf von ihnen ruhte je ein Raumſchiff, ſo daß das untere Segment desſelben in die Halle hineinragte und von hier aus zugänglich war. Der überwiegende Teil jedes Raumſchiffs befand ſich natürlich oberhalb der Decke nach außen, wodurch die Halle, wenn man ſie von oben her hätte betrachten können, wie von fünf Rieſenkuppeln gekrönt erſchienen wäre. Bei vollbeſetzter Station hätten ſich acht Kuppeln über der Halle erhoben. Die Martier waren imſtande, acht Raumſchiffe gleichzeitig auf der Station zu halten. Die vorhandenen fünf Schiffe ſollten in dreitägigen Zwiſchenräumen die Station verlaſſen; ſie vermochten ſämtliche anweſende Martier fortzufahren, ſo daß alſo der Aufenthalt der Martier auf der Inſel in fünfzehn Tagen beendet ſein mußte. Man konnte durch die vollſtändig durchſichtige Decke die Außenſeite der Schiffe genau betrachten. Sie ſtellten vollkommene Kugeln dar, die mit ihrem größten Umfang noch weit über den Rand der Galerie hinausragten. Auch nicht der geringſte Vorſprung, nicht die kleinſte Unebenheit war an ihnen zu entdecken. Die äußeren Hüllen dieſer Kugeln waren durchſichtig. Man erblickte hinter ihnen die innere Kugel, den eigentlichen Schiffsraum, von welchem aus eine Reihe von Öffnungen in den Zwiſchenraum zwiſchen beiden Kugeln hineinführte. Dieſer über zwei Meter breite Raum trug in regelmäßiger Anordnung allerlei Gerüſte, die den verſchiedenen Zwecken der Raumfahrt dienten. Jetzt waren ſie zum größten Teil von den Martiern beſetzt, die mit ihren Freunden in der Abfahrtshalle noch Abſchiedsgrüße austauſchten. An der tiefſten Stelle der Kugel befand ſich ein abgegrenzter Raum, der die Kommandobrücke bildete. Hier erſchien jetzt Jo. Er warf einen Blick auf die Apparate, die rings um ſeinen Platz angeordnet waren. Dann grüßte er mit einer Handbewegung in die Halle hinein und drückte auf einen Knopf. In dieſem Augenblick leuchtete zu ſeinen Füßen auf der Innenſeite der durchſichtigen Kugel das Bild eines Kometen und der Name des Schiffes, das der ‚Komet‘ hieß, in bläulichem Fluoreszenzlicht auf. Dies war das Zeichen, daß der ‚Komet‘ bereit war, ſeine Reiſe anzutreten. Man hatte ſchon vorher die ganze Galerie, die ſich um ihre vertikale Achſe drehen ließ, für die Abfahrt paſſend eingeſtellt. Genau in der Sekunde, in welcher dieſe ſtattfinden ſollte, mußte der Punkt der Galerie, wo das Schiff ſich befand, von der Sonne abgewendet ſtehen. Denn ſobald das Schiff bei ſeiner Abfahrt völlig ſchwerelos gemacht wurde, bewegte es ſich in der Tangente der Erdbahn. Da aber die Erde gleichzeitig in ihrer Bahn fortlief, ſo hatte dies zur Folge, daß das Schiff in bezug auf die Erde ſich auf einer Linie entfernte, welche genau von der Sonne fortwies. Nach dieſer Richtung hin alſo mußte die Bahn frei ſein. Die Sonne hatte den niedrigen Stand von gegen ſieben Grad über dem Horizont, die Bewegung wich ſomit von der horizontalen wenig ab. Die Martier im Innern der Abfahrtshalle fuhren jetzt auf Schienen eine eigentümliche Hebemaſchine unter das Schiff. Sie beſtand in einem oben offenen, unten geſchloſſenen Zylinder, welcher dazu diente, das Schiff aus ſeinem Lager zu heben und gleichzeitig die Öffnung der Abfahrtshalle luftdicht zu ſchließen. Der Zylinder wurde in die Höhe geſchraubt und hob dadurch auf ſeinem oberen Rande das faſt ſchon ſchwerelos gemachte und darum leicht bewegliche Schiff empor. Als das Schiff ſo hoch gebracht war, daß ſein tiefſter Punkt höher ſtand als das Dach der Halle, wurde der Hebungszylinder angehalten. Auf ein gegebenes Zeichen mußte er herabfallen und damit das Schiff freigeben. Der entſcheidende Augenblick nahte. Die vollkommene Diabarie des Schiffes mußte genau in dem berechneten Moment eintreten, wenn nicht die Dispoſition der ganzen Raumreiſe dadurch verändert werden ſollte. Jo hatte ſeinen Blick auf die Uhr gerichtet, während ſeine Hand den Griff des diabariſchen Apparats umfaßt hielt. Mit größter Aufmerkſamkeit beobachtete ihn der Ingenieur im Innern der Halle, um das Zeichen zum Fallen des Stütz-Zylinders zu geben. Jetzt blickte Jo hinab und drückte auf den Griff. Zugleich ſank der Zylinder nach unten. Die rieſige Kugel ſchwebte, vollſtändig frei, dicht über dem Dach der Halle. Die Martier im Schiff und in der Halle ſchwenkten grüßend Hände und Tücher. Mit angehaltenem Atem folgten Grunthe und Saltner dem wunderbaren Schauſpiel, das ſo gar keine Ähnlichkeit mit dem Aufſtieg eines Luftballons hatte. Es ſchien den Menſchen, als müßte die freiſchwebende Rieſenmaſſe ſie im nächſten Augenblick zerſchmettern. In den erſten Sekunden bemerkte man kaum, daß das Raumſchiff ſich bewege, denn die Abweichung von der Erdbahn, welche in der erſten Sekunde nur 3 Millimeter beträgt, ſteigt nach 10 Sekunden erſt auf 30 Zentimeter. Nach einer Minute aber war die Entfernung ſchon auf 11 Meter gewachſen. Die Kugel paſſierte jetzt den Rand der Galerie und ſchwebte frei über der unendlichen Tiefe, 6.300 Kilometer hoch über der Erde. Selbſt die geübten Luftſchiffer Grunthe und Saltner überkam ein beängſtigendes Gefühl, als ſie das Schiff ſo ganz langſam, ohne jede bemerkbare Triebkraft, über den Abgrund ziehen ſahen. Schon wuchs die Entfernung merklicher. Nach zwei Minuten war es 44, nach drei Minuten 100 Meter entfernt, und immer mehr verſchwanden die wehenden Tücher. Genau in der Richtung der Sonnenſtrahlen, ſanft nach unten geneigt, hart am Rand des — übrigens im leeren Raum nicht ſichtbaren — Schattens des Ringes zog das Schiff hin. Die Kugel wurde ſichtlich kleiner; nach zehn Minuten hatte ſie einen Abſtand von 1.100 Metern erreicht. „Es iſt nun hier weiter nichts mehr zu ſehen“, ſagte Hil zu Saltner. „Wenn es Ihnen recht iſt, werfen wir jetzt einen Blick auf die Erde durch unſern großen Apparat.“ „Wie lange kann man den ‚Komet‘ noch erblicken?“ fragte Grunthe. „Mit dem Fernrohr“, erwiderte Hil, „können wir ihn ſo lange ſehen, bis er Richtſchüſſe gibt und durch den Erdſchatten geht. Wie mir Jo ſagte, beabſichtigt er dies zu tun, ſobald er 1.000 Kilometer von hier entfernt iſt. Das wird in 5 Stunden der Fall ſein. Nachher entfernt er ſich natürlich mit viel größerer Geſchwindigkeit, weil er von der Erdbahn abbiegt.“ „Kann man die Löſung der Richtſchüſſe von hier beobachten?“ „Davon ſehen Sie gar nichts. Ich will Ihnen jetzt etwas Intereſſanteres zeigen, und Sie ſollen mir mancherlei erklären.“ In der inneren auf der Unterſeite des Ringes befindlichen Galerie traf die kleine Geſellſchaft auf Las Vater, der erſt jetzt Saltner und Grunthe freundlich begrüßte, da er bisher zu ſehr mit der Expedition des Schiffes beſchäftigt geweſen war. Hil bat um Erlaubnis, das große Inſtrument der Station benutzen zu dürfen. Fru erklärte ſich gern bereit, ſelbſt die Einſtellung zu übernehmen. „Aber du mußt die ganz ſtarke Vergrößerung anwenden“, ſagte La ſchmeichelnd zu ihrem Vater, „der arme Bat hier möchte einmal ſehen, wo er zu Hauſe iſt.“ „Und die neugierige La auch, nicht wahr? Nun, du weißt, es kommt alles auf die Beleuchtung an.“ Es geſellten ſich noch einige andere Martier hinzu, die ebenfalls die Gelegenheit wahrnehmen wollten, ſich die Erde von ihren Bewohnern erklären zu laſſen. „Ach“, ſagte Saltner leiſe zu La, „das wird eine große Geſellſchaft, da werden wir wohl nicht viel zu ſehen bekommen.“ „Warte nur ab“, antwortete ſie ebenſo, „das wird gerade hübſch. Du weißt ja gar nicht, wie man bei uns ins Fernrohr ſieht.“ Man ſammelte ſich vor einer geſchloſſenen Tür. „Sie denken vielleicht“, ſagte La, „daß bei uns jeder für ſich durch ein Rohr guckt. O nein, das iſt viel bequemer.“ Fru öffnete die Tür. Man trat in ein vollſtändig verdunkeltes Zimmer, das nur künſtlich durch eine Lampe beleuchtet war. Die eine Wand war rein weiß, alle übrigen ſchwarz angeſtrichen. Man gruppierte ſich vor der weißen Wand, im Vordergrund La, Saltner und Grunthe als Gäſte neben ihr. Hinter den Zuſchauern befand ſich ein Geſtell mit verſchiedenen Apparaten und Meßinſtrumenten, von welchem aus ſchwarz angeſtrichene Rohre nach der Decke liefen. Hier ſtellte ſich Fru auf. Das Licht verloſch. Nur die Schrauben und Skalen der Apparate phosphoreszierten in ſchwachem Eigenlicht. Als Fru den Verſchluß des Suchers öffnete, projizierte ſich auf der Wand ein Teil des ſüdlichen Sternenhimmels, und nach einigen Verſchiebungen erſchien das Bild der Erde, nicht vergrößert, aber ſehr ſcharf in allen Umriſſen. Es nahm faſt die ganze Fläche der Wand ein, und man konnte deutlich die Abnahme der Beleuchtung an der Schattengrenze beobachten, die jetzt ſchon etwas weiter nach Weſten gerückt war. Zum Glück zeigte ſich der Himmel über Deutſchland ganz klar, ſo daß Fru nicht zweifelte, die ſtärkſte Vergrößerung anwenden zu können. Fru erſuchte Grunthe, ihm auf dem Bild an der Wand die Stelle zu bezeichnen, an welcher ungefähr die Hauptſtadt ſeines Landes zu ſuchen ſei. Grunthe deutete auf einen Punkt in Norddeutſchland und Fru ſtellte nun den Projektionsapparat ſo ein, daß dieſer Punkt genau in die Mitte des Bildes kam. Jetzt wandte er hundertfache Vergrößerung an, um die Stadt Berlin erkennen zu laſſen. Die Entfernung von der Außenſtation bis nach Berlin betrug 8.600 Kilometer; bei der angewandten Vergrößerung wurden alſo die Gegenſtände bis auf 86 Kilometer nahegerückt, und es war ſomit möglich, Ausdehnungen von etwa hundert Meter Länge zu unterſcheiden und bei beſonders heller Beleuchtung auch noch kleinere. Der Kreis an der Wand, der jetzt freilich ſehr viel lichtſchwächer erſchien, zeigte ſich von bräunlichen und grünlichen Streifen und Vierecken bedeckt, die an zahlreichen Stellen von dunkleren, unregelmäßigen Flecken unterbrochen waren; jene waren die bebauten Felder, dieſe die dazwiſchen liegenden Wälder und Seen. Grunthe hatte richtig geſchätzt. An der rechten Seite des Bildes waren die ausgedehnten Seen der Havel bei Potsdam unverkennbar, links erſchien noch der Lauf der Oder bei Frankfurt auf dem Bild. Eine verwaſchene Stelle nach rechts unten zeigte die von Rauch erfüllte Atmoſphäre der Millionenſtadt an. Dieſe wurde nun in die Mitte der Projektion gebracht und nochmals um das Zehnfache vergrößert. Dadurch rückte die Stadt bis auf kaum neun Kilometer an den Standpunkt des Beſchauers heran. Es war, als ob man ſie aus einem dreitauſend Meter über dem Nordende der Stadt ſchwebenden Luftballon betrachtete, nur freilich bei einer außerordentlich matten Beleuchtung. Der auf der Wand abgebildete Kreis umfaßte in Wirklichkeit einen Durchmeſſer von zehn Kilometern. Dem Mangel an Licht, welcher eine Folge der Projektion bei ſtarker Vergrößerung war, konnten die Martier durch eine ihrer genialen Erfindungen abhelfen; ſie ſchalteten in den Gang der Lichtſtrahlen ein ſogenanntes optiſches Relais ein. Die Strahlen paſſierten dabei eine Vorrichtung, durch welche ſie neue Energie aufnahmen, und zwar jede Farbengattung genau Licht derſelben Art und im Verhältnis ihrer Helligkeit. Dadurch erhielt das ganze Bild, ohne ſeinen Charakter zu verändern, die erforderliche Lichtſtärke. Eins aber konnte freilich nicht entfernt werden — der über der ganzen Stadt lagernde Dunſt und Qualm. Die Felder nördlich von der Stadt und ein Teil der Vororte waren zu erkennen. Man bemerkte die feinen Linien, von einem Rauchwölkchen gekrönt, welche die der Hauptſtadt zuſtrebenden Eiſenbahnzüge vorſtellten. Das Häuſermeer ſelbſt aber verſchwamm in einem grauen Nebel, über den nur die Türme und Kuppeln der Kirchen hervorragten. Deutlich erkannte man den Reflex der Sonne an dem Dach des Reichstagsgebäudes und an der Siegesſäule. Grunthe und Saltner hatten natürlich ſchon öfter Gelegenheit gehabt, bei ihren Geſprächen mit den Martiern die wichtigſten geographiſchen und politiſchen Aufklärungen über die Menſchen zu geben. Sie würden noch beſſeres Verſtändnis dafür gefunden haben, wenn nicht die Inſelbewohner als Techniker hauptſächlich mathematiſch-naturwiſſenſchaftlich gebildet geweſen wären, ſo daß ihre hiſtoriſchen Kenntniſſe nur der allgemeinen Bildung der Martier entſprachen. So wußten dieſe bloß im allgemeinen zu ſagen, daß ihnen die Einrichtungen der Erde auf dem Standpunkt zu ſtehen ſchienen, den man auf dem Mars als Periode der Kohlenenergie bezeichnete. Sie lag für die Geſchichte der Martier um mehrere hunderttauſend Jahre zurück. Raſſen, Staaten und Stände in heißem Konkurrenzkampf um Lebensunterhalt und Genuß, die ethiſchen und äſthetiſchen Ideale noch nicht rein geſchieden von den theoretiſchen Beſtimmungen, der Energieverbrauch ganz auf das Pflanzenreich angewieſen, ob dieſe Energie nun von der Landwirtſchaft aus den lebenden oder von der Induſtrie aus den begrabenen Pflanzen, den Kohlen, gezogen wurde. „Woher kommen dieſe Nebel über Ihren großen Städten?“ fragte einer der Martier. „Hauptſächlich von der Verbrennung der Kohle“, erwiderte Grunthe. „Aber warum nehmen Sie die Energie nicht direkt von der Sonnenſtrahlung? Sie leben ja vom Kapital ſtatt von den Zinſen.“ „Wir wiſſen leider noch nicht, wie wir das machen ſollen. Übrigens ſind die Kohlen doch nur zurückgelegte Zinſen, die unſere geehrten Vorfahren im Tierreich nicht aufzehren konnten.“ „Die Wolken ſind häßlich, man kann ja nichts deutlich ſehen“, ſagte La. „Ich wünſchte“, ſprach Hil mehr für ſich als zu den andern, „wir hätten bei uns einen Teil Ihrer Wolken. Welch gewaltige Waſſerbecken haben Sie auf der Erde!“ „Es iſt aber hier an der Stadt wirklich nichts zu ſehen“, bemerkte Fru. „Die Luft iſt zu unruhig in größerer Höhe über der Stadt, wir bekommen keine klaren Bilder.“ „Laſſen Sie uns einmal meine Heimat ſchauen“, rief Saltner. „Bitt’ ſchön! Da iſt die Luft klar wie auf dem Mars.“ „Das wollen wir ſehen“, ſagte La. „Aber Heimweh dürfen Sie nicht bekommen.“ „Ich will Ihnen ſagen, wie Sie reiſen müſſen. Drehen Sie einmal ſo, daß wir nach Weſten kommen —“ „Wie weit iſt es bis nach Ihrer Heimat?“ „Von Berlin? Nun ſo ſiebenhundert Kilometer oder etwas mehr werden’s wohl ſein.“ „Nun, da kommen wir doch raſcher zum Ziel, wenn wir erſt noch einmal die hundertfache Vergrößerung nehmen und dann einſtellen. So, jetzt dirigieren Sie. Das Bild faßt nunmehr hundert Kilometer im Durchmeſſer.“ „Alſo weſtlich bitte — aber nicht zu ſchnell, ſonſt erkenn ich nichts. Das iſt Potsdam, nun weiter —. Das iſt die Elbe — meinen Sie nicht, Grunthe? Das dort muß Magdeburg ſein — halt! Nun immer direkt ſüdlich.“ Fru ließ die Karte von Deutſchland über die Tafel wandern. Der Harz, die Hügel- und Waldlandſchaften Thüringens und des fränkiſchen Jura zogen ſchnell vorüber, die bayeriſche Hochebene beherrſchte das Bild. „Das dort muß München ſein, da iſt’s ſchön!“ rief Saltner. „Bitte, machen Sie einmal groß. Und dann erſt weiter, dann kommen die Alpen.“ Fru ſtellte den Apparat wieder auf tauſendfache Vergrößerung und ſchaltete das optiſche Relais ein. Die Hauptſtadt Bayerns zeigte ihre Kuppeln. „Jetzt dachte ich doch wirklich einen Augenblick“, rief La, „dort eine Frau zu erkennen. Aber das müßte ja eine ſeltſame Rieſin ſein.“ „Das iſt ſie auch“, ſagte Saltner lachend. „Es iſt die Bildſäule der Bavaria, die Sie ſehen.“ „Bavaria? Wodurch hat ſich die Frau ſo verdient gemacht, daß man ihr Bildſäulen ſetzt? Hat ſie ein Problem gelöſt?“ „Die Bierfrage“, ſagte Saltner. „Die Bildſäule ſtellt die Perſonifikation eines unſrer Staaten vor“, erklärte Grunthe. „Warum nehmen Sie aber dazu nicht einen Mann?“ fragte La wieder. „Das hätte Grunthe auch ſicher getan, wenn er gefragt worden wäre“, neckte Saltner. „Ich denke“, ſagte Grunthe, „es iſt Zeit weiterzureiſen.“ „Nun immer weiter nach Süden!“ rief Saltner. Die Vorberge der Alpen erſchienen im klaren Licht der Nachmittagsſonne. Ein dunkler Bergsee erfüllte die Wand, dahinter erhoben ſich die Spitzen der bayeriſchen Alpen — „Der Walchenſee!“ rief Saltner. „Das iſt ſchön — ſo ſchön gibt es nichts bei uns —“, ſagte La. „Wartens nur“, rief Saltner, der jetzt alles um ſich und beinahe ſelbſt La vergaß. „Es kommt noch ſchöner. Nun drehens nur langſam!“ Es war ein wunderbares Wandelpanorama, das ſich jetzt entfaltete. Je höher die Gebirgswelt anſtieg, um ſo klarer und reiner wurde die Luft und damit die Schärfe der Bilder. Man betrachtete das Gebirge aus einer Entfernung von neun Kilometern und unter einem Neigungswinkel von annähernd zwanzig Grad, alſo wie aus einer Höhe von dreitauſend Metern, doch ſo, daß man unter dieſer Neigung ſtets einen Umkreis von zehn Kilometern Durchmeſſer vor ſich hatte, entſprechend einem Flächenraum von achtzig Quadratkilometern. So ſah man jetzt gerade den Nordabfall der Karwendelwand vor ſich, aber man blickte darüber hinweg auf die dahinterliegenden Gebirgsketten. Alles dies erſchien im höchſten Grade plaſtiſch, genau wie ein Relief der Gegend; denn das Fernrohr wirkte durch ſeine Konſtruktion wie ein Stereoskop. So ſchob ſich die Gegend nach und nach vor den Blicken der Zuſchauer vorüber, als ob dieſelben in einem Luftballon ſchnell darüber hinſchwebten. Der Einſchnitt des Inntals wurde paſſiert, und nun leuchteten hell im Sonnenſtrahl die Ferner der Ötztaler Alpen. Fru war bei der Drehung des Fernrohrs nach Weſten abgewichen. Wieder erblickte man den ſchmalen Streifen eines tief eingeſchnittenen Tales, und dahinter erſchien eine herrliche Berggruppe, alle Gipfel mit glänzendem Weiß bedeckt. „Was iſt denn das“, rief Saltner, „da ſind wir von der Richtung abgekommen. Das iſt der Ortler! Nun müſſen Sie wieder nach Oſten drehen — ſo — immer weiter! Sehen Sie, immer an dieſem Streifen hin, das iſt nämlich das Etſchtal, und jetzt können Sie gerad hineinſchauen, hier ſchwenkt es nach Südoſt ab. Noch immer weiter, bis es ganz nach Süden geht — da — da ſchaun Sie hin — ah, wie ſchade, aus dem Tal ſteigt die Luft ſo unruhig in die Höhe, aber die Etſch können Sie durchſchimmern ſehn. Und jetzt, ganz langſam, noch ein bißchen, hier, die Berge am linken Ufer, hier iſt’s wieder klar — nun bitte, halt!“ Er beugte ſich ganz dicht vor, daß der Schatten ſeines Kopfes auf die Wand fiel und die andern nicht mehr gut ſehen konnten. „Da, da iſt’s“, rief er jubelnd, „ich kann’s deutlich erkennen. Das iſt die alte Burg, links daneben liegt das Haus, mein Haus — Jeſus Maria — ich kann’s wahrhaftig ſehen, wie ein kleines, weißes Pünktchen! Da wohnt mein Mutterl.“ Jetzt beugte auch La ſich vor. „Wo?“ fragte ſie. Mit der Spitze einer Nadel bezeichnete Saltner den Punkt. Ihre Köpfe berührten ſich. Lange betrachtete La die Gegend, als wollte ſie ſich jede Einzelheit einprägen. Saltner trat beiſeite. „Ich hab nun genug geſchaut, mir tun die Augen weh“, ſagte er und zog ſich auf einen der Stühle zurück. Er bedeckte die Augen mit der Hand und ſaß ſchweigend. La ſetzte ſich neben ihn und drückte leiſe ſeine Linke. Nach längerer Pauſe, während deren Fru die Schattengrenze der Erde betrachten ließ, die jetzt ſchon bis an den Ural vorgerückt war, ſagte La zu Saltner: „Du möchteſt wohl jetzt den Mars nicht mehr ſehen?“ „Warum nicht?“ entgegnete Saltner. „Ich will ihn auch liebgewinnen — aber du mußt verzeihen! Es iſt ein biſſen viel auf einmal, was jetzt durch meinen dummen Menſchenverſtand geht.“ „Ja, ihr armen Menſchen“, ſagte La, „es wird wohl noch ein Weilchen dauern, eh ich recht begreife, wie es in ſolchem Kopf ausſieht. Die Heimat liebhaben und die Eltern und die Freunde, das iſt gut. Und was gut iſt, wie kann das traurig machen?“ „Wenn man es nicht hat —“ „Nicht hat? Wie kann man das nicht haben, was doch nur vom Willen abhängt? Wer kann dir die Treue nehmen, die du für recht hältſt? Dieſe Liebe haſt du doch, ob hier oder dort, weil du ſie ſelbſt biſt.“ „Aber La, kennt ihr Nume die Sehnſucht nicht?“ „Die Sehnſucht? Siehſt du, du törichter Lieber, was wirfſt du doch durcheinander! Alſo biſt du gar nicht gut aus reinem Willen, ſondern dich treibt das Verlangen nach dem Beſitz. Und aus dieſem Widerſtreit biſt du traurig. Oh, was ſeid ihr für Wilde!“ „So würdeſt du dich nie nach mir ſehnen?“ „Nach dir? Das iſt doch ganz etwas anderes. Ich hab dich doch nicht lieb, weil es Pflicht iſt, weil es gut iſt, ſondern lieb hab ich dich, weil es ſchön iſt zu lieben und geliebt zu werden. Deine Nähe wünſche ich, wie ich den Ton des Liedes wünſche, um mich an ſeiner Schönheit zu erfreuen — aber nein, das iſt auch noch nicht richtig, du könnteſt denken, das ſei nur ein Mittel zur äſthetiſchen Luſt — nein, ſo brauch ich deine Liebe und Nähe, wie der Künſtler die eigne Seele braucht, um das Schöne zu ſchaffen. — Ach, ich komme mit eurer Sprache nicht zurecht. Ihr ſprecht von Liebe in hundertfachem Sinn. Ihr liebt Gott und das Vaterland und die Eltern und die Kinder und die Gattin und die Geliebte und den Freund, ihr liebt das Gute und das Schöne und das Angenehme, ihr liebt euch ſelbſt, und das ſind doch abſolut verſchiedene Zuſtände des Gemüts, und immer habt ihr nur das eine Wort.“ „Ich will dich ja ohne alle Worte lieben, du kluge La —“ Sie blickte tief in ſeine Augen und ſprach: „Wie nennt ihr das, was niemals wirklich iſt, was man nur in der Phantaſie ſich vorſtellt, und indem man es ſich vorſtellt, iſt das Glück wirklich in uns? Wie nennt ihr das?“ Saltner zauderte mit der Antwort, und La fuhr fort: „Und das, was man wollen muß, ob es auch nicht glücklich macht, und was im Wollen erfreut, wenn es auch nicht wirklich wird, wie nennt ihr das?“ „Ich glaube“, erwiderte Saltner, „das erſte nennen wir ſchön, und das zweite gut.“ „Und wenn ihr eine Frau liebt, rechnet ihr das zum Schönen oder zum Guten?“ Es kam zu keiner Antwort. „Was iſt das?“ hörte man plötzlich Fru laut rufen. Eine Bewegung entſtand bei den Martiern. Sie drängten ſich nahe an die Wand und hefteten ihre Augen auf eine beſtimmte Stelle des Bildes, das ſoeben vom Fernrohr projiziert wurde. Grunthe hatte Fru gebeten, ihm die Einrichtung des Apparats zu erklären. Hierbei hatte Fru die Schrauben hin und her gedreht, das Bild der Erde war nicht mehr im Geſichtsfeld, zahlloſe Sterne liefen infolge der Umdrehung der Erde über den projizierten Teil des Himmels. Jetzt ſetzte Fru, weiter demonſtrierend, das Uhrwerk in Gang, welches das Fernrohr der Erdbewegung entgegen drehte, ſo daß die Sterne auf dem Bild ſtillſtanden. Fru warf einen Blick auf den Teil des Himmels, der ſich zufällig eingeſtellt hatte. Es war ein Stückchen der ‚ſüdlichen Krone‘, das ſich abbildete. Verwundert blickte er ſchärfer hin. Er kannte die Stelle zu genau, als daß ihm nicht ein Stern hätte auffallen ſollen, der ſich ſonſt nicht hier befand. Einer der Aſteroiden konnte es nicht ſein. Er änderte die Einſtellung ein wenig und erkannte daran, daß der fragliche Körper ſich in verhältnismäßig großer Nähe befinden müſſe. Dies hatte ihn zu dem lauten Ausruf veranlaßt. Aufmerkſam prüften alle den Lichtpunkt, der ſich deutlich von den Bildern der Fixſterne als eine kleine rötliche Scheibe unterſchied. „Es iſt ein Schiff!“ rief endlich einer der Martier. „Der ‚Komet‘?“ fragte Grunthe. „Das iſt nicht möglich“, ſagte Fru. „Es iſt der ‚Glo‘! Kein Zweifel, er iſt an ſeiner roten Farbe kenntlich, es iſt das Staatsſchiff.“ „Die Ablöſung!“ hieß es in den Reihen der Martier. „Und Inſtruktionen von der Regierung“, rief Fru. „Wie lange Zeit braucht das Schiff noch bis zur Ankunft?“ fragte Grunthe. „Darüber können noch Stunden vergehen. Aber trotzdem muß ich leider um Entſchuldigung bitten, daß ich Ihnen heute den Mars nicht mehr zeigen kann. Ich hoffe, es wird nächſtens Gelegenheit dazu ſein. Denn ich muß ſofort die Vorbereitungen zur Landung treffen. Und deshalb, ſo leid es mir tut, muß ich auch den Flugwagen früher als beabſichtigt hinabgehen laſſen. Sie müſſen alſo die Güte haben, ſich zur Rückfahrt nach der Inſel bereitzuhalten.“ Fru verabſchiedete ſich herzlich von Grunthe, Saltner und La, und dieſe wie die übrigen Martier begaben ſich nach der Abfahrtsſtelle der Flugwagen, um auf die Inſel zurückzukehren. 17. Pläne und Sorgen Als Saltner am folgenden Morgen in Grunthes Zimmer trat, fand er dieſen bereits eifrig mit Schreiben beſchäftigt. „Schon ſo fleißig?“ fragte Saltner. „Sie haben wohl noch nicht einmal gefrühſtückt?“ „Nein“, ſagte Grunthe, „ich warte auf Sie. Ich habe nicht ſchlafen können und unſere Lage nach allen Seiten hin erwogen. Wir haben Wichtiges zu beſprechen.“ Beide pflegten, ohne ſich um die martiſche Sitte des Alleinſpeiſens zu bekümmern, ihre Mahlzeiten gemeinſchaftlich in ihren Privatzimmern einzunehmen. Hier bot ſich ihnen faſt die einzige Gelegenheit, ſich völlig ungeſtört auszuſprechen. „Nun“, ſagte Saltner, nachdem ſie ſich aus den Automaten die Teller und Becher gefüllt hatten, die zu ihrer Reiſeausrüſtung gehörten — denn es war ihnen bequemer, nach europäiſcher Art zu ſpeiſen —, „nun, ſchießen Sie los, Grunthe! Ich höre.“ Grunthe ſah ſich um, ob die Klappen des Fernſprechers geſchloſſen ſeien. Dann ſagte er leiſe: „Ich habe die Überzeugung, daß ſich unſer Schickſal heute entſcheiden wird. Und nach allem, was ich aus den Geſprächen der Martier entnommen habe, insbeſondere geſtern bei der Rückfahrt, erwartet man, daß das Staatsſchiff den Befehl mitbringen wird, uns nach dem Mars zu transportieren.“ „Ich glaube, Sie haben recht“, erwiderte Saltner. „Soweit ich mit La darüber geſprochen habe, ſieht ſie es als beſtimmt an, daß wir beide mit nach dem Mars gehen, und wir werden wohl ſchließlich einfach dazu gezwungen werden.“ Grunthe ſah ſtarr geradeaus. Dann ſprach er langſam: „Ich gehe nach Europa zurück.“ Seine Lippen zogen ſich zu einer geraden Linie zuſammen. Sein Entſchluß war unabänderlich. Saltner blickte ihn erſtaunt an. „Na“, ſagte er, „ich gebe zu, daß wir alle Kräfte daranzuſetzen haben, unſrer Inſtruktion nachzukommen, das heißt, nach Auffindung des Nordpols auf dem kürzeſten Wege heimzukehren. Und wenn ich auch eine Reiſe nach dem Mars in ſchöner Geſellſchaft nicht ſo übel fände, ſo habe ich doch einen gewiſſen Horror vor Balancierkünſten und insbeſondere vor dieſen furchtbar fetten Speiſen — ich denke noch mit Entſetzen an die flüſſige Butter oder was es war, das wir neulich zum Frühſtück erhielten — und bei dem Klima bleibt einem ja nichts übrig, als früh, mittags und abends ein Pfund Fett zu verſchlingen —“ Grunthe runzelte die Stirn. „Ja, Ihnen tut das nichts, Sie wiſſen ja nie, was Sie eſſen —“, er klopfte ihn auf die Schulter. „Seien Sie nicht böſe, ich kann es nur nicht leiden, wenn Sie dieſes fürchterlich ernſte Geſicht machen. Aber ohne Scherz, was ich ſagen wollte, iſt dies: Wie ſtellen Sie ſich denn das vor, gegen den Willen der Martier von hier fort- oder woanders hinzukommen, als wo man Sie freundlichſt hinkomplimentiert?“ „Der Gewalt muß ich weichen“, erwiderte Grunthe. „Aber verſtehen Sie, nur der Gewalt. Ich werde mich ihr indeſſen zu entziehen ſuchen.“ „Denken Sie die Nume zu überliſten?“ „Ich würde ſelbſt das verſuchen, wenn ſie wirklich Gewalt brauchten, denn ich würde dann meinen, mich im Zuſtand der Notwehr zu befinden. Aber nach alledem, was ich von ihnen weiß, glaube ich nicht, daß ſie ſo unwürdig und barbariſch handeln. Sie werden nur keine Rückſicht auf uns nehmen und uns dadurch in die Lage verſetzen, ihnen freiwillig auf den Mars zu folgen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich habe mir überlegt, ſie werden uns nicht mit Gewalt einſchiffen; das wäre ein Bruch des Gaſtrechts. Aber ſie werden uns nicht erlauben, länger auf der Inſel zu bleiben, als bis dieſelbe für die Winterſaiſon geräumt wird. Und das kann man ihnen nicht verdenken, wenn ſie uns nicht im Winter hierlaſſen wollen, während die Wirte ſelbſt bis auf ein paar Wächter das Haus verlaſſen. Und ſomit werden wir vor die Alternative geſtellt werden, entweder mit nach dem Mars zu ziehen oder die Heimreiſe mit unzulänglichen Mitteln bei Beginn des Polarwinters und wahrſcheinlich bei widrigen Winden anzutreten. Und das iſt es, was ich Ihnen ſagen wollte. Wir müſſen auf dieſen Fall vorbereitet ſein und genau wiſſen, was wir wollen; und ich muß wiſſen, wie Sie darüber denken. Denn ich bin überzeugt, daß der heutige Tag nicht ohne Ultimatum vorübergeht.“ „Das iſt eine kitzlige Sache, liebſter Freund. Unter dieſen Umſtänden könnte es ſicherer ſein, auf dem kleinen Umweg über den Mars nach Berlin oder Friedau zurückzukehren. Nehmen Sie an, wir kommen glücklich über das Eismeer und geraten nicht in einen der Ozeane, aber wir gelangen nach Labrador oder Alaska oder nach Sibirien oder ſonſt einer dieſer lieblichen Sommerfriſchen — wenn wir dann überhaupt wieder herauskommen, ſo iſt doch vor dem Sommer an keine Heimkehr zu denken; und für den Sommer haben uns die Martier ja ſowieſo verſprochen, uns wieder herzubringen.“ „Die Gefahren kann ich leider nicht leugnen, aber wir müſſen ſie auf uns nehmen. Es iſt doch immer die Möglichkeit vorhanden, daß wir nach Hauſe kommen oder wenigſtens bis zu einem Ort, von welchem aus wir Nachricht geben können. Und das ſcheint mir das Entſcheidende. Wir dürfen nichts unterlaſſen, die Kunde von der Anweſenheit der Martier am Pol den Regierungen der Kulturſtaaten zu übermitteln, ehe jene ſelbſt in unſern Ländern eintreffen. Man muß in Europa wie in Amerika vorbereitet ſein.“ Saltner nickte nachdenklich. „Wenn wir unſre Brieftauben noch hätten! Aber die armen Dinger ſind alle ertrunken.“ „Sehen Sie“, fuhr Grunthe noch leiſer fort, „ich fürchte, wir können die Sachlage nicht ernſt genug nehmen. Wir haben eine wiſſenſchaftliche Pflicht; in dieſer Hinſicht könnte man vielleicht ſagen, daß wir ein Recht hätten, die ſicherſte Heimkehr zu wählen, auch daß der Beſuch des Mars eine ſo unerhörte Tat wäre, daß ſie die Übertretung unſerer Inſtruktion entſchuldigen könnte, obwohl ſie dies für mein Gewiſſen nicht tut. — Bitte, laſſen Sie mich ausſprechen. Wir haben aber nach meiner Überzeugung außerdem eine politiſche und kulturgeſchichtliche Pflicht, wenn man ſo ſagen darf, die uns zwingt, alles daranzuſetzen, ſelbſt den geringſten Umſtand auszunutzen, der uns eine Chance bietet, der Ankunft der Martier zuvorzukommen. Wer garantiert Ihnen, was die Vereinigten Staaten des Mars beſchließen, wenn ſie erſt im vollen Beſitz der Nachrichten über die Erdbewohner ſind? Und ſelbſt, wenn ſie uns Wort halten, durch welche unbekannten Einflüſſe können ſie uns nicht verhindern, das zu tun, was für die Menſchen das Richtige wäre? Wenn wir erſt zugleich mit ihnen in Europa ankommen, wenn die Regierungen überraſcht werden, iſt es vielleicht zu ſpät, die geeigneten Maßregeln zu treffen.“ „Ich hätte unſre Stellung nicht für ſo verantwortlich gehalten“, ſagte Saltner. „Und ich ſage Ihnen“, ſprach Grunthe weiter, „nach reiflicher Überlegung — Sie wiſſen, daß ich keine Phraſen mache — iſt es mir klar geworden, daß, ſolange die Menſchheit exiſtiert, von dem Entſchluß zweier Menſchen noch niemals ſo viel abgehangen hat wie von dem unſrigen.“ Saltner fuhr in die Höhe. „Das iſt ein großes Wort —“ „Ein ganz beſcheidenes. Wir ſind durch Zufall in die Lage verſetzt worden, einen Funken zu entdecken, der vielleicht einen Weltbrand entfacht. Unſere Entſcheidung gleicht nicht der des Machthabers, der über Völkerſchickſale beſtimmt, ſondern der des Soldaten, der ſein Leben aufs Spiel zu ſetzen hat, um eine wichtige Meldung zur rechten Zeit zu überbringen. Sie werden mir zugeben, daß es noch niemals für die ziviliſierte Menſchheit ein bedeutungsvolleres Ereignis gegeben hat, als es die Berührung mit den Bewohnern des Mars ſein muß. Die Europäer haben ſo viele Völker niederer Ziviliſation durch ihr Eindringen vernichtet, daß wir wohl wiſſen können, was für uns auf dem Spiel ſteht, wenn die Martier in Europa Fuß faſſen.“ „So wollen Sie überhaupt verhindern, daß die Martier in Europa aufgenommen werden?“ „Wenn ich es könnte, würde ich es tun. Aber wir ſind einfache Gelehrte, wir haben keine politiſchen Entſcheidungen zu fällen. Und eben darum dürfen wir unter keinen Umſtänden auf eigene Fauſt den Martiern die Hand bieten, dürfen nicht mit ihnen zugleich nach Europa gelangen, ſondern wir müſſen verſuchen, den Großmächten die Nachricht von dem Bevorſtehenden ſo zeitig zu bringen, daß ſie ſich über ihr gemeinſames Vorgehen entſchließen können, ehe die Luftſchiffe der Martier über Berlin und Petersburg, über London, Paris und Washington ſchweben.“ „Um Gottes willen, Sie ſehen die Sache zu tragiſch an. Die paar hundert Martier werden uns nicht gleich zugrunde richten; und wenn ſie uns gefährlich werden, iſt es immer noch Zeit, ſie wieder hinauszuwerfen. Aber es iſt doch viel wahrſcheinlicher, daß wir ſie als Freunde aufnehmen und den unermeßlichen Vorteil ihrer überlegenen Kultur für uns ausbeuten.“ „Die Frage iſt zu ſchwer, um ſie jetzt zu diskutieren, und wir eben müſſen dafür ſorgen, daß ſie an den entſcheidenden Stellen zur rechten Zeit erwogen werden kann. Nur unterſchätzen Sie ja nicht die Macht der Martier. Denken Sie an Cortez, an Pizarro, die mit einer Handvoll Abenteurer mächtige Staaten zerſtörten. Und was will die Kultur der Spanier gegenüber den Mexikanern oder Peruanern bedeuten im Vergleich zu dem Fortſchritt von Hunderttauſenden von Jahren, durch welchen die Martier uns überlegen ſind? Das eben iſt meine größte Sorge, daß man dieſe Überlegenheit überall unterſchätzen wird, wenn nicht wir, die wir das abariſche Feld und die Raumſchiffe geſehen haben, ſoviel an uns iſt, darüber Aufklärung verbreiten.“ „Sehen Sie nicht zu ſchwarz, Grunthe?“ „Ich will es von Herzen hoffen. Aber das ſage ich Ihnen als meine Überzeugung: Mit dem Augenblick, in welchem das erſte Luftſchiff der Martier über dem Luſtgarten erſcheint, iſt das deutſche Reich ein Vaſall, der von der Gnade der Martier, vielleicht von der Gnade irgendeines untergeordneten Kapitäns lebt, und ſo alle übrigen Staaten der Erde.“ „Daran habe ich noch nicht gedacht.“ „Was wollen Sie gegen dieſe Nume tun? Ich will gar nicht von ihrer moraliſchen Überlegenheit und ihrer höheren Intelligenz reden; durch dieſe werden ſie wahrſcheinlich Mittel finden, uns nach ihrem Willen zu lenken, ehe wir es merken. Denken Sie allein an ihre techniſche Übermacht.“ „Man wird ihnen ihre Luftſchiffe, die übrigens noch gar nicht fertig ſind, einfach mit Granaten entzweiſchießen, oder man wird ſie auf der Erde, wo ſie nur kriechen können, gefangennehmen.“ „Das kann vielleicht mit der erſten Abteilung geſchehen, die zu uns kommt; aber der Mars hat doppelt ſoviel Bewohner als die ganze Erde. Das zweite Luftſchiff würde uns vernichten. Lieber Saltner, Sie haben vorgeſtern gehört, was Jo von der Raumſchiffahrt erzählte. Durch ihre Repulſitſchüſſe erteilen die Martier einer Maſſe, die auf der Erde zehn Millionen Kilogramm wiegt, Geſchwindigkeiten von 30, 40, ja bis 100 Kilometern. Wiſſen Sie, was das heißt? Leute, die das können, werden aus Entfernungen, wohin kein irdiſches Geſchütz trägt, ganz Berlin in wenigen Minuten in Trümmer legen, falls ſie dies wollen. Die Europäer können dann einmal erleben, was ſie ſonſt an den Wohnſtätten armer Wilden getan haben. Freilich werden die Martier zu edel dazu ſein. Sie hätten es wohl auch nicht nötig. Sie können die Schwerkraft aufheben. Was nützt uns die größte, tapferſte, glänzend geführte Armee, wenn auf einmal Bataillone, Schwadronen und Batterien zwanzig, dreißig Meter in die Luft fliegen und dann wieder herunterfallen? Ich weiß, ich werde die Regierungen nicht überzeugen, aber die Pflicht habe ich, unſre Erfahrungen mitzuteilen. Schon die Freundſchaft der Martier halte ich für gefährlich, ihre Feindſchaft für verderblich. Kommen ſie vor oder mit uns zu den Menſchen, ſo werden ſie dieſelben ſo für ſich einnehmen, daß unſere Warnung, unſere Beſchreibung ihrer Macht zu ſpät kommt. Deshalb iſt mir der Entſchluß gereift, daß unſere Abreiſe ſo bald wie möglich vor ſich geht. Ich werde ſofort zur Inſtandſetzung des Ballons ſchreiten.“ „Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ich Ihnen dabei helfe.“ „Das nehme ich natürlich an. Aber es iſt eine andere Frage, Saltner — es iſt vielleicht richtiger, daß ich allein zurückgehe, während Sie die Studien auf dem Mars fortſetzen.“ „Das iſt unmöglich, allein können Sie nicht —“ „Doch, ich kann ſogar beſſer allein zurück. Der Ballon iſt kaum noch für zwei Perſonen tragfähig. Fahre ich allein, ſo kann ich mich auf viel längere Zeit verproviantieren, ich gewinne dadurch an Wahrſcheinlichkeit, bis in bewohnte Gegenden zu gelangen. Beobachtungen will ich jetzt natürlich nicht mehr machen, alſo genügt eine Perſon vollſtändig zur Leitung des Ballons. Und andererſeits iſt es vielleicht von größter Wichtigkeit zu erfahren, was die Martier inzwiſchen vorgenommen haben —“ „Nein, Grunthe, ich kann und will mich nicht von Ihnen trennen.“ „Ich ſage Ihnen, es wird das beſte ſein. Überlegen Sie ſich die Sache. Und nun an die Arbeit.“ Sie räumten unter ihrem Gepäck auf. Die Klappe des Fernſprechers erklang. Saltner wurde in das Sprechzimmer gerufen. „Sehen Sie zu“, rief ihm Grunthe nach, „daß Sie unſern Ballon herausbekommen. Wie ich bemerkt habe, hat man ihn unter Verſchluß gebracht, was auch ganz vernünftig war. Laſſen Sie ihn auf das Inſeldach hinaufſchaffen.“ Saltner hatte geſtern mit La nicht mehr ungeſtört ſprechen können. Es war den ganzen Abend über viel Beſuch im gemeinſamen Zimmer geweſen, man erwartete eine Nachricht über die Landung des Staatsſchiffes. Doch hatte man ſich trennen müſſen, ehe eine ſolche eingelaufen war. Daß Se nicht mehr zum Vorſchein gekommen war, hatte Saltner kaum bemerkt. Der Gedanke an La erfüllte ihn ganz, und dennoch ſagte er ſich ſelbſt, daß er in ſeinem Liebesglück nur einen Traum ſehen dürfe, dem jeden Augenblick ein unerwartetes Erwachen folgen könne. Aber warum nicht träumen? Dieſen Feen gegenüber konnte er, der ‚arme Bat‘, gewiß kein Unglück anrichten, ſie würden ihn aufwachen laſſen, wann ſie wollten. Doch wie hätte er ihnen widerſtehen können? Es war ihm wie eine Enttäuſchung, daß er jetzt nicht La, ſondern Se im Sprechzimmer vorfand. Sie begrüßte ihn mit derſelben Liebenswürdigkeit und Vertraulichkeit wie geſtern La, doch aber wieder anders, ihrem lebhafteren Weſen entſprechend. Und als er nach den erſten Minuten der Unterhaltung neben ihr ſaß, zog es ihn mit ſo unwiderſtehlicher Macht zu ihr hin, daß er ſein Gefühl gegen La gar nicht von dem gegen Se zu unterſcheiden wußte. Nur einen neuen, eigentümlichen Reiz hatte es durch die Veränderung der Perſönlichkeit gewonnen. Wunderſamerweiſe war es ihm nun gar nicht möglich, nach La zu fragen, und Se erwähnte ihrer mit keinem Wort. Aber er konnte es nicht unterlaſſen, ihr zu ſagen, wie glücklich es ihn mache, neben ihr zu weilen, ihr ins Auge zu ſehen und ihre Stimme hören zu dürfen. Sie ließ ihn ausreden und antwortete dann mit einem hellen Lachen, das aber durchaus nichts Beleidigendes für ihn hatte. „Das freut mich ja ſehr“, ſagte ſie, „daß wir nun ſo gute Freunde geworden ſind. Sie haben mir gleich von Anfang an gut gefallen. Es iſt merkwürdig, ihr Menſchen ſeid ſo ganz anders, und doch — oder vielleicht darum habt ihr etwas, wodurch man ſich zu euch hingezogen fühlt.“ Saltner ergriff ihre Hand. „Freilich kennt man euch auch noch zu wenig. Vielleicht verdient ihr gar nicht —“ „Ich hoffe, liebſte Freundin, mich werden Sie immer bereit finden, ihnen zu dienen.“ „Daran zweifle ich gar nicht“, lachte Se, „man weiß nur nicht, ob Sie nicht einmal vergeſſen, daß wir Nume doch in vielem anders denken —“ „Es iſt nicht ſchön, mich ſogleich daran zu erinnern, daß ich armer Menſch es gewagt habe —“ „Sie verſtehen mich nicht, Sal, wie könnt’ ich mich überheben wollen? Nur — doch das führt zu nichts, jetzt auseinanderzuſetzen, was erſt erfahren ſein will. Ich bin ja auch zu ganz anderem Zweck hierhergekommen. Obwohl aus wirklicher Freundſchaft“, ſetzte ſie hinzu. Jetzt erſt fiel es Saltner wieder aufs Herz, vor welch wichtiger Entſcheidung er ſtünde. Er wurde ſehr ernſt. Er wußte nicht, was er zuerſt ſagen ſollte. Se kam ihm zuvor. „Sie wiſſen, daß der ‚Glo‘ angekommen iſt?“ fragte ſie. „Iſt er ſchon gelandet?“ „Dieſe Nacht. Er bringt wichtige Nachrichten für Sie mit. Und deshalb bin ich hierhergekommen.“ „Sie wollen mir einen Rat geben, liebe Se? Und Sie werden uns Ihre Hilfe nicht verſagen?“ „Soweit ich darf. Amtlich habe ich nichts erfahren, ſonſt wäre ich nicht hier. Aber was jedermann bei uns weiß, darf ich auch Ihnen ſagen. Machen Sie ſich darauf gefaßt, daß Sie mit uns nach dem Nu reiſen.“ Saltner ſchwieg nachdenklich. „Ich habe ſo etwas erwartet“, ſagte er dann. „Ich bin in einer fatalen Lage.“ „Sie machen ein erſchrecklich böſes Geſicht“, ſagte Se, indem ſie ihm mit ihrer Hand freundlich über die Stirn ſtrich. „Ich weiß ja ſchon, daß Sie ſehr gern mit uns kämen und doch Ihren Freund nicht verlaſſen wollen. Aber er wird auch mit uns kommen.“ „Das wird er nicht“, platzte Saltner heraus. „Das heißt“, fuhr er fort, „wenn Sie uns mit Gewalt zwingen —“ „Zwingen? Wie meinen Sie das?“ „Nun, Sie ſind die Stärkeren. Sie können uns einfach als Gefangene auf Ihr Schiff bringen.“ „Können? Ich weiß nicht, ich verſtehe Sie nicht recht, liebſter Freund. Man kann doch immer nur das, was nicht Unrecht iſt. Ihre Sprache iſt ſo unklar. Sehen Sie dieſen Griff? Sie ſagen, ich kann ihn drehen, und meinen, ich habe die phyſiſche Möglichkeit dazu. Wenn ich aber drehe, ſo verſinkt der Seſſel unter Ihnen, und ſo kann ich ihn nicht drehen, das heißt, ich kann es nicht wollen. Dieſe moraliſche Möglichkeit oder Unmöglichkeit können Sie auch nicht anders ausdrücken. Könnte es denn bei Ihnen vorkommen, daß Sie Menſchen aus dem Waſſer erretten und ihnen dann das Leben nehmen? Und die Freiheit, iſt das nicht noch ſchlimmer?“ „Ich weiß nicht“, ſagte Saltner, „wie man bei uns verfahren würde, wenn Europäer auf einer Inſel in einem fremden Weltteil, wo noch keine ziviliſierte Macht Fuß gefaßt hat, ein reiches Goldlager entdeckten und, um dasſelbe zu ſichern, eine Befeſtigung anlegten; wenn dann Kundſchafter der Eingeborenen in dieſe Befeſtigung gerieten — ich weiß nicht, ob wir uns nicht das Recht zuſchreiben würden, dieſe Wilden um unſerer eigenen Sicherheit willen an der Rückkehr zu verhindern. Das ſcheint mir ungefähr die Lage zwiſchen Ihnen und uns. Vielleicht würden wir auch ſagen, wir ſchicken dieſe Leute wieder zurück, damit ſie uns als Boten und Vermittler dienen; aber erſt führen wir ſie nach Europa, damit ſie unſere ganze Machtfülle kennenlernen und ihren heimatlichen Häuptlingen ſagen, daß dieſe unſern Kanonen nicht würden widerſtehen können; und wir entlaſſen ſie erſt, wenn unſre Befeſtigungen ſoweit fertig ſind, daß wir von dort aus die ganze Inſel beherrſchen und wir Herren der Lage ſind.“ Se nickte ernſthaft. „Sie erkennen die Sachlage ganz richtig“, ſagte ſie. „Ich glaube, daß wir unſer Verhältnis zu Ihnen in der Tat ſo auffaſſen, nur mit dem Unterſchied, daß wir dieſe Kundſchafter nicht gegen ihren Willen feſthalten können.“ „Dann iſt doch die Sache ſehr einfach — wir reiſen eben ab.“ „Nein, nein — ſo einfach iſt das nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich es Ihnen klarmachen ſoll. Sie verſtehen unter ‚Willen‘ allerlei Gemütskräfte, die bloß individuelle Triebe ſind; dieſe können wir bezwingen, gegen dieſen Willen können wir Sie feſthalten. Zum Beiſpiel, ich binde Ihnen mit dieſem Schleier wieder die Hände. Nun wollen Sie fort, weil Sie gern etwas Intereſſanteres tun möchten, als hier zu ſitzen. Daran kann ich Sie verhindern.“ „Dazu brauchten Sie mich gar nicht zu binden.“ „Oder es entſtände draußen ein Lärm, Sie erſchrecken plötzlich, Ihre Sinne verwirren ſich, und Sie wollen deshalb fort — daran hindert Sie dieſer Knoten. Nun, wenn Sie in dieſer Weiſe fort wollen, nur weil es Ihnen lieber iſt, heimzukehren als auf den Mars zu gehen, dann wird man Sie hindern. Wenn aber nicht Ihr individueller Wille, ſondern Ihr ſittlicher Wille im Spiel iſt, Ihre freie Selbſtbeſtimmung als Perſönlichkeit, oder wie Sie das nennen, was wir als Numenheit bezeichnen — dann gibt es keine Macht, die Sie hindern kann. Sehen Sie, liebſter Freund“, fuhr ſie fort und löſte den Knoten, den ſie im Spiel geſchlungen, „das wollte ich Ihnen ſagen. Ihr Wille iſt nichts gegen den unſern, nur das Motiv des Willens gilt. Gibt es eine gemeinſame Beſtimmung der ſittlichen Würde zwiſchen Numen und Menſchen, ſo werden Sie Freiheit haben; gibt es für Menſchen nur Motive der Luſt, ſo werden Sie uns nie widerſtehen. Ich weiß ja nicht, wie Ihr Bate im Grunde ſeid. Und noch dies. Glauben Sie niemals, Sal, daß ich an Ihrer Neigung zweifle, aber vergeſſen Sie nicht, daß ich eine Nume bin; Liebe darf niemals unfrei machen. Und daran denken Sie!“ „Ich will“, ſagte Saltner. „Aber ſehen Sie, das eben iſt für uns Menſchen das Schwere und dem einzelnen oft unmöglich, dieſe Trennung zu vollziehen, die Ihnen ſelbſtverſtändlich iſt. Unſer Denken vermag nicht immer Neigung und Pflicht auseinanderzuhalten, oft erſcheint die eine im Gewand der andern. Was darf ich um Ihretwillen tun, was bin ich Ihnen ſchuldig und was darf ich nicht mehr tun? Sie Glücklichen haben gelernt, wie Götter ins eigene Herz zu ſchauen, wir armen Menſchen aber wenden uns in ſolchen Fällen an unſer Gefühl. Wir nennen es zwar Gewiſſen, ſittliches Gefühl, weil es das umfaßt, was uns allen als Menſchen gemeinſam ſein ſoll. Aber als Gefühl bleibt es doch immer ſo eng verwachſen mit dem Einzelgefühl, daß wir nur zu leicht für Pflicht halten, was im Grunde Neigung iſt; und wenn nicht unſre Neigung, vielleicht die Neigung, die Gewohnheit unſres Stammes, unſrer Zeitgenoſſen. Und wir tun aus beſter Abſicht das Unrechte. Auch der Indianer folgt ſeinem Gewiſſen, wenn er den Feind ſkalpiert. Wir irren, weil wir blind ſind.“ „Sie miſchen ſchon wieder einen anderen Irrtum dazwiſchen, Sal. Nicht darauf kommt es an, ob wir das Richtige treffen, ſondern darauf, ob wir aus den richtigen Motiven wollen. Wer das kann, beſitzt Numenheit. Wenn der Indianer den Feind ſkalpiert, ſo wird er von der höheren Geſittung eines Beſſeren belehrt oder vernichtet. Aber dies trifft nur ſeinen Irrtum, nämlich die Folgen, die daraus in der Welt entſtehen. Doch die Heiligkeit ſeines Willens bleibt unberührt, wenn er lieber zugrunde geht, als das aufgibt, was er für ſittliche Pflicht hält. Sie brauchen alſo nicht darum zu ſorgen, ob Sie bei Ihrer Entſcheidung das Richtige treffen in dem, was Sie tun, ſondern nur, ob Ihr Motiv rein iſt in dem, was Sie wollen.“ „Das meinte ich ja; eben auch darin können wir uns täuſchen. Se, ich muß Ihnen gegenüber ganz offen ſein. Wir wollen, daß unſere Mitmenſchen von dem Beſuch der Martier nicht überraſcht werden; dieſe Überraſchung zu verhüten, halten wir für unſere Pflicht. Wir irren vielleicht darin, daß wir den Menſchen damit zu nützen glauben; aber unſer Motiv iſt rein. Meinen Sie es nicht auch ſo?“ „Ganz richtig.“ „Aber damit iſt es nicht entſchieden, wie ich zu handeln habe. Und hier ſpielt unſere theoretiſche Unwiſſenheit in die ethiſche Frage hinein. Wenn nun zum Beiſpiel einer von uns allein den Erfolg leichter erreichte, hätten wir nicht die Pflicht uns zu trennen? Und wenn nicht, iſt es nicht Pflicht, daß wir zuſammenhalten auf alle Fälle? Wie alſo ſoll ich hier entſcheiden, was meine Pflicht erfordert?“ „Aber Sal! Ich hatte mich ſchon gefreut, daß Sie auch ſo vernünftig reden können, und nun urteilen Sie wieder wie ein Wilder!“ „Sie ſind grauſam, Se!“ „Was reden Sie denn da von Pflicht? Das iſt doch einzig eine Frage der Klugheit. Was Ihre Klugheit erfordert, das können Sie fragen. Die Pflichtfrage iſt ſchon längſt mit dem Willen entſchieden, nur das Klügſte hier zu tun. Die dürfen Sie gar nicht mehr in Betracht ziehen.“ „Wenn ich mit Ihnen nach dem Mars ginge und mein Freund allein nach Europa, und er verunglückte unterwegs, würde ich mir nicht immer Vorwürfe machen, daß ich nicht mit ihm gegangen bin? Würde man mich nicht pflichtvergeſſen nennen?“ „Was die Menſchen tun würden, weiß ich nicht und geht mich auch nichts an. Sie aber können ſich höchſtens den Vorwurf machen, unklug gehandelt zu haben.“ „Alſo meinen Sie, ich müßte ihn begleiten?“ „Das habe ich nicht geſagt. Ich habe nur unter Ihrer Vorausſetzung geſprochen, daß er mit Ihnen ſicherer reiſe. Das iſt aber doch erſt zu unterſuchen.“ „Was raten Sie mir?“ „Zunächſt die Entſcheidung der Martier abzuwarten. Sie wiſſen ja noch gar nicht, ob Ihnen die Mittel zur Abreiſe gewährt werden können. Erſt wenn Sie dieſe Mittel kennen, vermögen Sie zu entſcheiden, ob Ihre Begleitung entbehrlich iſt. Und wenn ſie entbehrlich iſt, ſo würde ich mich ſehr freuen, Sie mit zu uns zu nehmen.“ „Ich rechne auf Ihre Hilfe. Laſſen ſie unſern Ballon auf das innere Inſeldach ſchaffen!“ „Das geht nicht, bevor Sie die Erlaubnis der Regierung haben —“ „Und die Ihrige würde ich erhalten? Ich meine, Sie würden mich nicht für unwürdig Ihrer Freundſchaft halten, wenn ich Ihrem Wunſch nicht entſpräche, nach dem Mars —“ „Was habe ich Ihnen geſagt, Saltner? Das wäre keine Liebe, die unfrei machte.“ „Se, wie glücklich machen Sie mich!“ Saltner ergriff zärtlich ihre Hände. „Jetzt ſind Sie wieder der alte Saltner! Kaum iſt die Angſt von ihm genommen, ich könnte ihm böſe werden, wenn er etwas Vernünftiges tut, ſo iſt er wieder ſeelenvergnügt. Und ich habe wirklich geglaubt, Sie wären ſo ernſthaft, weil es ſich um Ihre Pflicht handelt —“ „Das iſt nicht Ihr Ernſt, Se, Sie kennen mich beſſer!“ „Gar nicht kennt man euch Menſchen! Wozu denn überhaupt erſt traurig? Was wollen Sie übrigens über dem Strich?“ „Sehen Sie, Se, Sie ſind auch nicht vollkommen — ich meine, nicht ſo abſolut vollkommen —“ „Ich begreife!“ „Sie haben gar nicht gemerkt, daß ich ſchon eine Viertelſtunde lang neben Ihnen ſitze — ich habe geſtern das Balancieren gründlich gelernt.“ „Ach, geſtern! Bei La?“ „Ja, ſagen Sie, was iſt das? Wo iſt ſie heute? Wo waren Sie geſtern? Was iſt das mit dem Spiel, von dem Sie ſprachen? Ich bitte Sie, Se —“ Aber ſeine weiteren Fragen wurden abgeſchnitten. Ra, der Leiter der Station, trat in das Zimmer. Er hatte eine amtliche Mitteilung zu machen. Der Regierungskommiſſar, welcher mit dem ‚Glo‘ angekommen war, ließ Grunthe und Saltner zu einer offiziellen Konferenz bitten, um drei Uhr. Er würde ſich vorher beehren, den Herrn ſeine private Aufwartung zu machen. Saltner erklärte ſich natürlich bereit. Er werde ſofort ſeinen Freund benachrichtigen. Schnell verabſchiedete er ſich von Ra und Se. „Ein ganz ehrliches Spiel!“ flüſterte Se ihm zu, als ſie ihm die Hand zum Abſchied reichte. „Und nun Kopf oben! Einſchüchtern brauchen Sie ſich nicht zu laſſen!“ Eilig teilte Saltner das Weſentlichſte aus ſeiner Unterredung mit Se Grunthe mit und benachrichtigte ihn von dem bevorſtehenden Beſuch. Kaum hatte Grunthe Zeit gefunden, ſeine Toilette einigermaßen in Ordnung zu bringen, als auch die Deutſchen ſchon gebeten wurden, ſich im Empfangszimmer einzufinden. Faſt gleichzeitig mit ihnen trat der Kommiſſar, von Ra geleitet, ein. Seine Perſönlichkeit machte auf Grunthe und Saltner einen tiefen Eindruck. Er war größer als alle Martier, die ſie bisher geſehen hatten, und überragte ſogar um ein weniges noch die lange Geſtalt Grunthes. Ein ſtattlicher weißer Bart gab ihm ein ehrwürdiges Ausſehen. Seiner Haltung und ſeinem Blick war zu entnehmen, daß man es mit einem vornehmen Mann zu tun hatte, der gewohnt war, ſowohl zu repräſentieren als zu dirigieren. Aber aus ſeinen großen dunklen Augen ſprach ein Vertrauen erweckendes Wohlwollen, man war überzeugt, daß dieſer Mann bei ſeinen Anordnungen niemals an ſich ſelbſt dachte, ſondern nur an das Wohl derer, die er zu vertreten hatte. Ill, dies war ſein Name, zeigte ſich bis in alle Einzelheiten über die bisherigen Vorgänge auf der Inſel unterrichtet. Er bat um Entſchuldigung, daß er ſich ſeiner Mutterſprache bedienen müſſe und erkundigte ſich in der liebenswürdigſten Weiſe nach dem perſönlichen Wohlergehen der Gäſte. Insbeſondere ſprach er in warmen Worten ſein Bedauern über das Verſchwinden des Leiters der Expedition aus. Es ſchien ihm unbegreiflich, daß man keine weiteren Spuren von Torm gefunden habe, und er meinte, daß das Binnenmeer und womöglich ſeine Umgebung noch einmal genauer durchſucht werden müſſe. Er kam dann auf die Methode zu ſprechen, wie ſich die Deutſchen das Martiſche angeeignet hätten, und nun flocht er einige ſehr intereſſierte Fragen nach Ell ein, wie alt er ſei, woher er ſtamme, wie Grunthe ihn kennengelernt habe, wo er jetzt lebe. Grunthe antwortete ausführlich, ſoweit er vermochte. Ell mochte etwa gleichaltrig mit ihm ſein, einige dreißig Jahre. Er ſei in Südauſtralien geboren, wo Ells Vater große Beſitzungen gehabt habe. Seine Mutter ſei eine in Auſtralien eingewanderte Deutſche geweſen. Nach dem Tod der Eltern habe ſich Ell nach Deutſchland begeben, um ſeine Studien, die ſich hauptſächlich auf Aſtronomie und techniſche Fächer bezogen, fortzuſetzen. Damals, vor etwa zehn Jahren, habe ihn Grunthe in Berlin kennengelernt und viel mit ihm verkehrt, obwohl Ell ſtets ein fremdartiges und zurückhaltendes Weſen eigen war. Kurze Zeit darauf war Ell plötzlich verſchwunden, man hörte nichts von ihm und nahm an, er ſei in ſeine auſtraliſche Heimat zurückgekehrt. So verhielt es ſich auch. Seit etwa vier Jahren war Ell wieder in Deutſchland erſchienen. Er hatte ſein jedenfalls bedeutendes Vermögen flüſſig gemacht und ſich in Mitteldeutſchland eine Privatſternwarte erbaut, auf der er ſich mit Vorliebe Marsbeobachtungen widmete. Hier hatte Grunthe eine Zeitlang bei ihm gearbeitet und bei dieſer Gelegenheit Torm kennengelernt. Ell war es geweſen, der durch eine großartige Geldſpende die Errichtung der Abteilung für wiſſenſchaftliche Luftſchiffahrt ermöglicht und Torm an ihre Spitze gezogen hatte. Der Sitz derſelben war Friedau, eine mitteldeutſche Reſidenz, die durch ihre wiſſenſchaftlichen Inſtitute berühmt iſt. Nachdem ſich Ill noch die Lage von Friedau und die der Privatſternwarte Ells genau hatte beſchreiben laſſen, brach er das Geſpräch ab. irgendwelche Fragen nach den bevorſtehenden Ereigniſſen wurden nicht berührt, und Ill verabſchiedete ſich bald mit dem Wunſch, daß die Verhandlungen, zu denen er die Herren erwartete, zur beiderſeitigen Befriedigung verlaufen möchten. Nach dem Fortgang der Martier zogen ſich Grunthe und Saltner in ihre Zimmer zurück und beſprachen noch einmal die Sachlage; Grunthe brachte ihre Anſichten zu Papier. Beide aber ſahen jetzt der Verhandlung mit beſſerer Zuverſicht entgegen. 18. Die Botſchaft der Marsſtaaten Punkt drei Uhr öffnete ſich die Tür, die das Zimmer der Gäſte mit dem Konferenzſaal verband, und der Vorſteher Ra lud Grunthe und Saltner mit einer höflichen Handbewegung zum Eintreten ein. Sie ſtutzten beim erſten Anblick des Saales, denn derſelbe erſchien vollſtändig verändert. Um Platz zu gewinnen, hatte man die Grenze der Schwere bis dicht an die Tür gerückt, durch welche die Menſchen den Saal betraten, und die Tafel in der Mitte entſprechend verlängert, ſo daß nur die beiden Plätze am untern Ende des Tiſches, die ſich aber jetzt nahe der Tür befanden, noch innerhalb des Gebietes der Erdſchwere lagen. Der ganze übrige Teil des Raumes war von feſtlich gekleideten Martiern erfüllt, die ſich beim Eintritt der Gäſte erhoben. Nachdem Ra an ſeinen Seſſel am oberen Ende der Tafel neben dem Präſidenten Ill gelangt war, gab dieſer ein Zeichen mit der Hand, und alle nahmen wieder ſchweigend Platz. Grunthe und Saltner folgten ihrem Beiſpiel. Durch die geöffneten Fernſprechklappen des Saales ertönte eine leiſe Muſik, wie ſie die Menſchen noch nie vernommen hatten. Sie bewirkte eine feierliche, aber zugleich freudig erhebende Stimmung. Es herrſchte vollſtändige Ruhe, während deren Grunthe und Saltner die Verſammlung erwartungsvoll muſterten. Das Tageslicht war durch dichte Vorhänge abgeſchloſſen. Die ſehr helle, aber für menſchliche Augen zu ſtark ins Bläuliche ſchimmernde Beleuchtung ging von der Decke aus, deren Arabesken in fluoreszierendem Schein glühten. Am Ende des Zimmers war das große Banner des Mars in ſelbſtleuchtenden Farben entfaltet. Es zeigte auf ſchwarzem Grund den Planeten als eine weiße Scheibe, die in der Mitte einen Kranz trug; bei näherer Betrachtung konnte man darin die Symbole der 154 Staaten des Mars unterſcheiden. Vor dem Banner, an der Spitze der Tafel ſaß zwiſchen den beiden erſten Beamten Ra und Fru der Kommiſſar der Marsſtaaten Ill, an den Seiten reihten ſich die Vorſteher der einzelnen Abteilungen der Station an. Seitlich von der Haupttafel, in der Mitte des Zimmers, war ein phonographiſcher Apparat aufgeſtellt, der von einer Dame bedient wurde. Auf der andern Seite ſaßen La und eine zweite Martierin vor ihren Schreibmaſchinen als Schriftführerinnen. Der übrige Raum des Zimmers war dicht von Martiern und Martierinnen erfüllt, die der öffentlichen Verhandlung beiwohnen wollten. Auch Se befand ſich unter ihnen und hatte ſich in der Nähe Saltners niedergelaſſen, der ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Das Lächeln, mit welchem Saltner anfänglich die Verſammlung überflog, verſchwand bald unter dem Eindruck der Muſik und der Haltung der ſchweigenden Martier. Alle trugen heute über ihrer anſchließenden metalliſch glänzenden Rüſtung einen leichten, in maleriſchen Falten geworfenen Mantel. Ihre Blicke waren ruhig und ernſt, aber erfüllt von einem freudigen Stolz; ſie fühlten ſich als die freien Mitglieder ihrer großen und mächtigen Gemeinſchaft, die ſie zum erſten Mal den Menſchen in ihrem feſtlichen Glanz zeigten. Sie wußten, daß ſie heute nicht nur als Wirte ihren Gäſten, ſondern als Vertreter der Numenheit den Männern gegenüberſtanden, die für ſie die Vertreter der Menſchheit waren. Und dieſes Bewußtſein, das den ganzen Charakter der Verſammlung beherrſchte, wirkte ſehr bald auf Grunthe und Saltner zurück; ſie fühlten, wie ſie der übermächtigen Gegenwart der Martier in ihrem Willen zu erliegen drohten. Grunthe preßte die Lippen zuſammen und ſtarrte auf ſein Notizbuch, das er krampfhaft in der Hand hielt, um ſich dem Einfluß zu entziehen, den das Äußerliche der Verſammlung auf ihn machte. Nur wenige Minuten hatte die muſikaliſche Einleitung gedauert. Jetzt erhob ſich Ill. Abſolute Stille herrſchte im Saal, als er ſeine großen, ſtrahlenden Augen auf die Verſammlung richtete und dann wie in weite Ferne blickte. Darauf ſprach er klangvoll die einfachen Worte: „Den wir im Herzen tragen, Herr des Geſetzes, gib uns deine Freiheit.“ Wieder erfolgte eine Pauſe, in welcher jeder mit ſich ſelbſt beſchäftigt war. Jetzt ließ ſich Ill auf ſeinem Stuhl nieder und begann: „Geſandt bin ich, Grüße zu bringen den Numen von der Heimat, Grüße vom Nu und ſeinem Bund!“ „Sila Nu!“ hallte der gedämpfte Gegengruß der Martier durch den Saal. „Grüße vom Nu auch den Bewohnern der leuchtenden Ba, des benachbarten Planeten, den Menſchen, die wir zum erſten Mal heute in der Feſtverſammlung zu ſehen uns freuen. Eine alte Sehnſucht zog uns Nume durch den Weltraum hinüber zum lichten Abendſtern, und es gelang uns Fuß zu faſſen auf der Erde. Aber noch immer war es uns verſagt, diejenigen kennenzulernen, die dieſen mächtigen Planeten beherrſchen als vernünftige Weſen. Da kam zu uns vor wenigen Wochen die erſte frohe Kunde, daß zwei willkommene Gäſte unſerer Station am Pol genaht, daß die erſten ziviliſierten Bewohner der Erde entdeckt ſeien. Ausführliche Lichtdepeſchen meldeten uns bald, was wir bisher wohl vermutet, aber doch aus direkter Anſchauung nicht gekannt hatten, daß unſer Nachbarſtern bewohnt iſt von hochgebildeten Völkern, mit denen wir uns verſtändigen können in den Aufgaben der Kultur. Eine unbeſchreibliche Aufregung ging auf dieſe Nachricht durch die verbündeten Staaten des Mars. Die öffentliche Meinung drang darauf, keine Zeit zu verlieren, unſern Brüdern auf der Erde die Hand zu reichen. Und da der Winter auf dieſem Nordpol bevorſteht, der unſre Verbindung unterbricht, ſo beſchloß der Zentralrat des Nu, ohne die Ankunft der Raumſchiffe abzuwarten, ſich in direkten Verkehr mit den Bürgern der Erde zu ſetzen. Wir ſchätzen es von unermeßlicher Wichtigkeit für die beiden Planeten, welche allein im ganzen Sonnenſyſtem in der Art und der Kultur ihrer Bewohner ſich berühren, daß dieſe in gemeinſamem Einverſtändnis ihre Intereſſen fördern. Das erſte Zuſammentreffen mit den hier anweſenden Vertretern der Menſchheit halten wir daher für einen Akt von höchſter kulturgeſchichtlicher Bedeutung. Wir ſehen darin den erſten Schritt zum unmittelbaren Verkehr mit den Regierungen der Erde, von denen uns gegenwärtig noch techniſche Schwierigkeiten trennen, die wir indeſſen bald zu überwinden hoffen. In gerechter Würdigung der Wichtigkeit dieſer erſten Begegnung und um bei dieſer Gelegenheit zugleich zu zeigen, welch hohen Wert die Marsſtaaten auf die freundſchaftlichen Beziehungen mit den Staaten der Erde legen, endlich um von ſeiten der Nume in feierlicher Handlung die ganze Menſchheit bei der erſten Begrüßung zu ehren, hat der Zentralrat beſchloſſen, eines ſeiner Mitglieder in eigener Perſon auf die Erde zu ſenden.“ Eine allgemeine Bewegung gab ſich bei dieſen Worten unter den Zuhörern zu erkennen. Man ſah ſich erwartungsvoll an, leiſe Fragen flogen herüber und hinüber. Grunthe warf Saltner einen Blick zu, und dieſer flüſterte: „Sie behalten recht.“ Er blickte nach Se hinüber, aber ihre Augen waren auf Ill gerichtet. Dieſer erhob langſam und feierlich die rechte Hand und ſprach: „Kraft des Amtes, das der Wille der Nume mir übertragen hat, enthülle ich das heilige Symbol der Numenheit als das Zeichen des Geſetzes in Vernunft und Arbeit, dem wir gehorchen.“ Die Martier erhoben ihre Augen in andächtigem Aufblick nach einem Punkt, den Ills Hand ihnen zu weiſen ſchien. Vergebens ſtrengten Grunthe und Saltner ſich an, das zu erblicken, was alle andern ehrfurchtsvoll erſchauten. Sie vermochten nichts wahrzunehmen, wo die Wiſſenden in würdevollem Schweigen einer geheimnisvollen Erſcheinung huldigten, die ihnen den Gedanken ihres Weltbürgertums repräſentierte. Der Schauer des Unbegreiflichen erfaßte das Gemüt der Menſchen. Grunthe ſtarrte auf die ehrwürdige Geſtalt, und wieder kam die Erinnerung an Ell über ihn. Saltner fühlte ſich von dem Eindruck der ganzen Szene wie berauſcht, er merkte, daß er die Gewalt über ſeine Entſchlüſſe verlieren würde, und richtete einen hilfeſuchenden Blick auf Se. Da ließ Ill ſeine Hand ſinken, und die Martier begannen wieder ſich zu bewegen. Nach kurzer Pauſe hob Ill ein Schriftſtück in die Höhe und begann: „Vernehmen Sie, Nume und Menſchen, den Beſchluß des Zentralrats.“ Jetzt blitzte Ses Auge zu Saltner hinüber. Inſtinktiv verſtand er die Mahnung. Er ſtieß Grunthe an und flüſterte: „Reden Sie, ehe er lieſt!“ Aber auch dieſer hatte ſchon begriffen, daß er ſofort handeln müſſe, und war bereits aufgeſprungen. Alles dies vollzog ſich momentan in der kurzen Pauſe, während deren Ill das Schriftſtück entfaltete, und ehe er zu leſen begann, rief Grunthe: „Ich bitte ums Wort!“ Er hatte in der Erregung deutſch geſprochen. Seine laute Stimme tönte grell über den Saal, im Gegenſatz zu dem auch in der feierlichen Rede halblauten Organ der Martier. Die ganze Verſammlung wandte ſich unwillig nach Grunthe um, und Ill warf einen erſtaunten Blick auf ihn. „Ich bitte ums Wort“, wiederholte Grunthe jetzt in der Sprache der Martier. „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie erſuche, mich vor der Verleſung des Beſchluſſes eines hohen Zentralrats der Marsſtaaten zu hören, und ich bitte im voraus um Verzeihung, wenn ich aus Unkenntnis der Sprache mich vielleicht nicht völlig angemeſſen auszudrücken vermag.“ Ill nickte langſam mit dem Haupt. „Es liegt kein Grund vor“, ſagte er, „unſern Gäſten das Wort zu verweigern, wenn ich auch Ihre Antwort erſt nach der Verleſung erwartet habe.“ „Ich aber und mein Freund“, fiel Grunthe ſchnell ein, „wir beantragen, die Verleſung zu unterlaſſen; wir proteſtieren gegen die Verleſung; wir fühlen uns nicht als kompetent, Beſchlüſſe des Zentralrats der Marsſtaaten entgegenzunehmen.“ Auf den Geſichtern der Martier malte ſich deutlich das Erſtaunen über dieſe unerwartete Erklärung. Es herrſchte ein bedeutſames Schweigen. Keinerlei Urteil machte ſich geltend. Die Mißbilligung des kühnen Eingriffs, welchen ein armſeliger Bat ſich gegen die Beſchlüſſe der höchſten Behörde des Mars erlaubte, ſtritt bei den Martiern mit der Achtung vor der Entſchiedenheit dieſes offenen Bekenntniſſes, doch überwog bei den meiſten ein Gefühl des Mitleids. Dieſe armen Menſchen wußten offenbar nicht, was ſie ſich erlaubten; man konnte ſie wohl nicht ernſt nehmen. Nur die nächſten Freunde der Deutſchen ermutigten ſie durch ihre beipflichtenden Blicke. Ill richtete ſein ruhiges Auge auf Grunthe und Saltner, der ſich ebenfalls erhoben hatte, und fragte: „Wollen die Menſchen ihren Proteſt begründen?“ „Ich will es“, ſagte Grunthe ſofort. „Ich fühle tief die große Ehre, welche die Vertreter des Mars durch ihr freundliches Entgegenkommen den Bewohnern der Erde erweiſen. Auch ich bin überzeugt, daß die Berührung der Bewohner dieſer beiden großen Kulturplaneten ein weltgeſchichtliches Ereignis erſten Ranges ſein wird. Und mein Freund und ich ſind allen Numen, denen wir bisher zu begegnen das Glück hatten, den herzlichſten Dank ſchuldig für die Rettung vom Untergang und für die gaſtfreundliche Aufnahme in ihrer Kolonie. Wir werden das nie vergeſſen.“ „Niemals“, ſagte hier Saltner dazwiſchen. Bei dieſen warm geſprochenen Worten wurden die Blicke der Martier freundlicher. Grunthe fuhr ſogleich fort: „Als Menſchen ſprechen wir auch unſern ehrerbietigen Dank der Regierung der Vereinigten Staaten des Mars aus für die Beachtung, welche ſie den Mitgliedern der Tormſchen Polarexpedition zuteil werden läßt, indem ſie durch ihren Repräſentanten in eigener Perſon uns eine Botſchaft entbieten will. Aber dieſe Ehre müſſen wir ablehnen. Wir ſind nicht Vertreter irgendeiner Regierung. Wir haben kein Recht, diplomatiſche Erklärungen entgegenzunehmen oder abzugeben. Wir ſind einfache Privatleute, die in ihrer Heimat keine andere Geltung haben, als ihr Ruf als Gelehrter ihnen verſchafft, und dieſe iſt nach den Sitten unſrer Heimat in politiſcher Hinſicht verſchwindend. Und ſelbſt wenn wir uns als Boten betrachten wollten, die ihrer Regierung eine Mitteilung zu überbringen hätten, ſo habe ich zu betonen, daß, wie dem Herrn Repräſentanten bekannt ſein wird, außer dem Deutſchen Reich noch fünf andre europäiſche Großmächte, außerdem die Vereinigten Staaten von Nordamerika die politiſche Macht über die Erde in Händen haben, daß wir demnach nicht in der Lage ſind, für die Staaten der Erde Aufträge zu übernehmen.“ Hierauf ſprach Ill, da Grunthe eine kleine Pauſe machte, mit unveränderter Höflichkeit, aber ſehr überlegen: „Die Worte unſeres werten Gaſtes ſagen uns nichts Neues. Sie haben keinen Einfluß auf die mitzuteilende Botſchaft, und es wäre daher einfacher geweſen, dieſelbe erſt anzuhören, da ſie ſich allein auf die beiden hier anweſenden Perſonen unſerer Gäſte bezieht.“ Grunthe biß die Lippen aufeinander. Er ärgerte ſich über die Zurechtweiſung, zumal er auf den Geſichtern der Martier wieder das mitleidige Lächeln erſcheinen ſah. Er rief daher etwas erregter: „Wir müſſen es aber auch für unſre Perſonen ablehnen, irgendwelche Beſtimmungen ſeitens der Regierung des Mars entgegenzunehmen, und zwar aus formellen Gründen. Wir dürfen es prinzipiell nicht geſchehen laſſen, daß die Regierung des Mars hier irgendwelche offizielle Anordnungen treffe über die Bürger eines Staates der Erde. Über unſer Tun und Laſſen kann nur diejenige Regierung Verordnungen geben, auf deren Gebiet wir uns befinden. Wir ſtehen aber hier auf der Erde, nicht auf dem Mars. Und wenn Sie hier die Flagge der Marsſtaaten entfaltet haben, ſo können wir derſelben doch nur eine dekorative, aber keine ſtaatsrechtliche Bedeutung zuſprechen. Mit welchem Recht Sie hier eine Niederlaſſung begründet haben, darüber mögen die Regierungen der Erde beſtimmen, es iſt nicht unſeres Amtes; aber unſeres Amtes iſt es, dagegen zu proteſtieren, daß auf Grund dieſer noch nicht anerkannten Niederlaſſung Rechte über uns ausgeübt werden.“ „Kann mir der Herr Redner vielleicht ſagen“, fiel Ill ein, „auf dem Gebiet welches Erdenſtaates wir uns ſeiner Anſicht nach hier befinden?“ Das war eine heikle Frage. War der Nordpol ſchon von einer ziviliſierten Macht in Beſitz genommen? Grunthe wich der Frage aus, er ſagte ſchnell: „Jedenfalls nicht im Gebiet der Marsſtaaten. Auf der Erde gibt es bis jetzt keine völkerrechtlich anerkannte Anſiedlung der Martier.“ Die Blicke der Martier waren drohend geworden. Ill richtete ſich hoch auf und ſprach mit leuchtenden Augen und erhobener Stimme: „Meines Wiſſens gibt es keine Organiſation der Staaten der Erde, mit welcher wir über den Beſitz des Nordpols verhandeln könnten, oder wenigſtens war eine ſolche Verhandlung bisher nicht möglich. Wir ſind an dieſer Stelle des Sonnenſyſtems die erſten Ankömmlinge geweſen, wir alſo beſtimmen über dieſelbe. Es gibt kein interplanetariſches Recht, wonach die Beſitzergreifung von Gebieten ſich auf einen einzelnen Planeten beſchränken müſſe. Die Nume ſind die einzigen Weſen, welche zwiſchen den Planeten verkehren; ſie ſchaffen damit das Recht dieſes Verkehrs. Kraft dieſes Rechtes hat die Regierung der Marsſtaaten Beſitz von dieſem Teil der Erde ergriffen. Kraft deſſen gilt hier das Geſetz des Mars. Und kraft dieſes Geſetzes und des Beſchluſſes des Zentralrats vom 603. Tag des Jahres 311770 werde ich hiermit den Beſchluß vom gleichen Tag verkünden.“ Grunthe fühlte, wie ihm das Herz pochte. Er vermochte nichts zu erwidern. Die Menſchen waren geſchlagen, ihr erſter Verſuch der Oppoſition gegen die Übermacht der Martier war geſcheitert. Sie mußten die Befehle der Regierung des Mars anhören, auf ihrem eigenen Planeten, an der Stelle, welche ſie zuerſt von den Menſchen erreicht hatten. Und das Schlimmſte war, daß beide, Grunthe wie Saltner, ihre Widerſtandskraft erlahmen fühlten. Gegen dieſen Willen, der aus den großen Augenſternen des Repräſentanten leuchtete, der ſich in den Blicken der ganzen Verſammlung widerſpiegelte, vermochten ſie nicht aufzukommen. Und ſchon begann Ill, die kurzen Worte vorzuleſen, welche über ihr Schickſal beſtimmen ſollten. Er las: „Der Zentralrat des Nu, im Namen der Vereinigten Staaten des Mars, hat beſchloſſen, wie folgt: Die beiden an der Station des Mars auf dem Nordpol der Erde angelangten Menſchen, namens Grunthe und Saltner, ſtehen unter dem Schutz der Marsſtaaten. Die Freiheit ihrer Perſon, ihres Verkehrs und Eigentums wird ihnen gewährleiſtet im geſamten Gebiet des Mars. Sie werden eingeladen, innerhalb ſechs Tagen nach Verleſung dieſer Botſchaft auf einem der Raumſchiffe der Erdſtation ſich nach dem Mars zu begeben. Sie ſind Gäſte der Marsſtaaten, denen jede Förderung zuteil werden ſoll, Einrichtungen und Geſinnungen der Nume zu ſtudieren. Sie werden erſucht, im Frühjahr der Nordhalbkugel der Erde nach derſelben zurückzukehren, um alsdann eine nach den Hauptſtädten der Erde aufbrechende Expedition zu begleiten. Der Repräſentant Ill wird mit der Überbringung dieſer Botſchaft nach der Erde beauftragt. Gezeichnet Del. Em. An.“ Die Martier ließen ſich auf ihren Sitzen nieder, auch Grunthe und Saltner ſanken in ihre Seſſel. 19. Die Freiheit des Willens Nach der Verleſung der Botſchaft faltete Ill das Dokument zuſammen und ſprach mit liebenswürdigſter Miene: „Nachdem die Menſchen den Willen des Zentralrats vernommen haben, darf ich annehmen, daß ſie der Einladung und dem Erſuchen der Martier Folge leiſten werden. Ich bitte Sie daher, Ihre Vorbereitungen ſo treffen zu wollen, daß Sie mit dem am fünften Tag von heute abgehenden Schiff Ihre Reiſe antreten können.“ Da weder Grunthe noch Saltner ſogleich antwortete, erhob ſich Ra und hielt eine verſöhnliche Rede. Aus dem Inhalt der Botſchaft, führte er aus, würden ſich die Gäſte gewiß überzeugt haben, daß ſie gar keinen Grund hätten, gegen die Verleſung zu proteſtieren. Er wüßte wohl, daß man ihnen mit der Reiſe nach dem Mars ein ungewöhnliches und anſtrengendes Unternehmen zumute. Er verſtünde, daß ſie es vorziehen würden, alsbald in ihre Heimat zurückzukehren. Dies — und damit deckte er offen ihre Motive auf — wäre wohl auch der eigentliche Grund des Proteſtes geweſen, da die Menſchen die Einladung nach dem Mars erwartet und ſich der Verlegenheit hätten entziehen wollen, ſie abzulehnen. Und dann ſtellte er ihnen die Reiſe und den Aufenthalt auf dem Mars in verlockenden Farben vor. Grunthe und Saltner wußten nicht recht, ob ſie dieſe Rede zu ihren Gunſten deuten dürften, da ſie die Schwäche ihres Proteſtes enthüllte und ganz geeignet ſchien, ihnen die Ablehnung zu erſchweren. Aber Saltner erkannte an dem ſtillen Lächeln in Ses Zügen, daß Ra ihnen tatſächlich zu Hilfe kommen wollte, daß er ſie wohl nur warnen wollte, neue Fehler zu begehen. In der Tat ſchloß er mit den Worten: „Der Zentralrat garantiert Ihnen volle Freiheit. Er kommandiert Sie nicht nach dem Mars, er lädt Sie ein; er befiehlt nicht, daß Sie uns nach Europa geleiten ſollen, er erſucht Sie darum. Er ſetzt dabei voraus, daß es keine berechtigten ethiſchen Motive gibt, weshalb Sie dieſen Wünſchen nicht nachkommen ſollten, und er erwartet daher, daß Sie ihnen Folge leiſten.“ Während Grunthe finſter vor ſich hinblickte und darüber nachſann, in welche Form er ſeine Weigerung kleiden ſollte, erhob ſich Saltner. Obwohl er ſich ſagte, daß er mit ſeinen Worten den Entſchluß der Martier nicht würde ändern können, wollte er doch verſuchen, etwas Näheres über ihre Pläne zu hören, und die Ablehnung der Einladung aus Zweckmäßigkeitsgründen motivieren. Er legte dar, daß der Beſuch auf dem Mars gegenwärtig für beide Teile keine beſonderen Vorteile biete. Sein Freund und er hätten bereits vollſtändig die Überzeugung von der Macht und Leiſtungsfähigkeit der Martier gewonnen. Was ſie vom Mars wüßten, wäre ſchon ſo viel, daß ſie Mühe haben würden, es ihren Mitbürgern begreiflich zu machen. Es wäre daher ſicherlich das beſte, wenn ſie ſogleich in ihre Heimat zurückkehrten, um den Erdbewohnern ihre Erfahrungen mitzuteilen und ſie durch die Preſſe allmählich auf das Erſcheinen der Martier vorzubereiten. Das gegenſeitige Verſtändnis zwiſchen Mars und Erde würde auf dieſe Weiſe am ſicherſten gefördert; die Überraſchung durch die Bewohner des Mars könnte die Erdbewohner, bei ihrer mangelhaften Kenntnis der Verhältniſſe auf dem Mars, vielleicht zu falſchen Maßregeln verleiten, unter denen alsdann beide Teile zu leiden hätten. Deswegen müßten ſie darauf dringen, nach Europa zurückzukehren, ehe die Martier dahin kämen. Sie zu begleiten, könnte für die Martier jedenfalls von viel geringerem Nutzen ſein. Im übrigen wäre es ihnen, den Menſchen, vom größten Intereſſe, zu erfahren, welche Vorteile eigentlich die Martier ſich vom Verkehr mit der Erde verſprächen und was ſie etwa von den Menſchen zu erlangen wünſchten. Die Martier hatten unter wachſender Aufmerkſamkeit zugehört. Ills Antlitz war wieder ernſter geworden. Nachdem er die Mitteilung des Zentralratsbeſchluſſes durchgeſetzt, hatte er geglaubt, daß die Menſchen nicht länger wagen würden, ſich zu weigern. Aus Saltners Worten erkannte er jedoch, daß es keinen Sinn mehr hätte, den eigentlichen Kernpunkt der Frage zu verſchleiern. Die Deutſchen hatten offenbar die Abſicht der Martier durchſchaut, eine Warnung der Großmächte zu verhindern. Der Hilfe der Menſchen bedurften die Martier nicht; aber ſie wollten bei dem erſten Beſuch in den ziviliſierten Staaten der Erde ſogleich in einer Weiſe auftreten, die ſie zum unbedingten Herren der Situation machte. Die Vorbereitungen dazu waren ſchon in viel höherem Maß getroffen, als Grunthe und Saltner wußten. Ihre Landung am Nordpol und die Kenntnis, welche die Martier dadurch von den ziviliſierten Staaten der Erde erhielten, hatte den Zentralrat nur in der Anſicht beſtärkt, daß man mit den Bewohnern der Erde in ſehr ernſthafter Weiſe zu rechnen haben würde und daß alles darauf ankäme, ſich bei der erſten Begegnung keine Blöße zu geben. Dies wäre aber ſehr leicht möglich geweſen, wenn die Erdbewohner zu früh erfuhren, mit welchen Schwierigkeiten die Martier auf der Erde zu kämpfen hatten. Dieſe zu heben war daher ihr Hauptaugenmerk bei den Vorbereitungen zur Expedition und zugleich der Grund ihrer langen Verzögerung geweſen. Nun hatte der Zentralrat beſchloſſen, die Vorbereitungen aufs äußerſte zu beſchleunigen, ehe die Beſitznahme des Nordpols auf der Erde bekannt wurde, und vorläufig die Rückkehr der Menſchen zu verhindern. Doch konnte er ſich dazu nach der ſittlichen Weltanſchauung der Martier keiner Mittel bedienen, die das Recht der Perſönlichkeit der Menſchen verletzt hätten. Es wäre unter der Würde der Martier geweſen, wenn ſie ſich hinter Vorwänden hätten verſtecken wollen, nachdem der Verſuch, die Menſchen durch bloße Autorität zu leiten, geſcheitert war. Ill ſagte daher: „Es iſt allerdings unſre Abſicht, den Erdſtaaten unſre Ankunft nicht eher bekanntwerden zu laſſen, als bis dieſelbe wirklich erfolgt. Und zwar aus demſelben Grund, welcher unſere Gäſte wünſchen läßt, das Entgegengeſetzte herbeizuführen und die Erdſtaaten vorzubereiten. Wir fürchten, daß gerade die lückenhaften Nachrichten, welche ſie durch die hier anweſenden Menſchen erhalten würden, ſie dazu veranlaſſen könnten, falſche Maßregeln zu ergreifen und unſer gegenſeitiges Verſtändnis zu erſchweren. Denn wenn Sie auch, meine Herren Gäſte, mancherlei von unſerer äußeren Macht kennengelernt haben, ſo kennen Sie doch noch zu wenig die Grundſätze unſres Handelns, um Ihre Freunde belehren zu können, wie ſie ſich gegen uns zu verhalten haben. Die traurigſten Mißverſtändniſſe ſind leicht möglich. So müſſen wir denn darauf beſtehen, daß Sie uns zuerſt nach dem Mars begleiten, da wir, unmittelbar vor Beginn des Polarwinters, noch nicht in der Lage ſind, mit Ihnen zuſammen nach Europa aufzubrechen.“ „Ich bin dem Herrn Repräſentanten ſehr dankbar“, erwiderte Saltner, „daß er uns ſo offen die Gründe des hohen Zentralrats für ſeine Botſchaft dargelegt hat. Sie konnten uns aber nicht überzeugen, um ſo weniger, da wir über die eigentlichen Abſichten der Martier gegen die Erdbewohner nicht näher unterrichtet wurden. Wir müſſen daher darauf beſtehen, nach der Heimat zurückzukehren, um den Unſrigen Gelegenheit zu geben, ſich ihrerſeits ſchlüſſig zu machen, wie ſie den Martiern zu begegnen haben.“ Ill entgegnete ziemlich ſcharf. „Nach dem, was wir ſoeben gehört haben“, ſagte er, „ſcheinen uns die anweſenden Menſchen wenig geeignet, ihren Landsleuten als Berater zu dienen, wie ſich letztere gegen uns verhalten ſollen. Wenn Sie ihnen vielleicht zu raten gedenken, unſerm Aufenthalt auf der Erde Schwierigkeiten entgegenzuſetzen, ſo würden Sie eben das erreichen, was wir zu vermeiden hoffen, Mißtrauen und Spannungen zwiſchen den Bewohnern beider Planeten, während wir ein friedliches Verhältnis zu gemeinſamer Arbeit anſtreben. Die Menſchen haben von uns nichts zu befürchten, ſobald ſie gelernt haben werden, uns zu verſtehen. Wir bedürfen der Erdbewohner nicht; wir kommen zu ihnen, um ihnen die Segnungen unſrer Kultur zu bringen. Ich bin überzeugt, daß auch wir im Eintauſch der Produkte der Erde viel Neues und Nützliches gewinnen werden. Aber das wirtſchaftliche Bedürfnis welches uns außer dem allgemeinen wiſſenſchaftlichen Intereſſe nach der Erde trieb, erfordert nicht die Beteiligung der Menſchen. Wir können es vollauf hier am Nordpol befriedigen, und ich ſtehe nicht an, es Ihnen zu ſagen, was wir von der Erde holen wollen, damit Sie Ihre Mitbürger und Regierungen über unſre Abſichten beruhigen. Wir wollen nichts anderes als Luft und Sonne, atmoſphäriſche Luft und Strahlung, die Sie ja in ausreichendem Maß beſitzen und die niemand gehört. Wir haben ſie bereits reichlich exportiert und werden ſie weiter exportieren. Was uns aber nun veranlaßt, die Menſchen ſelbſt aufzuſuchen, das ſind Beweggründe rein idealen Charakters. Es iſt nicht möglich, ſie Ihnen, als Menſchen, hier in Kürze zum Verſtändnis zu bringen. Wir ſind Nume. Wir ſind die Träger der Kultur des Sonnenſyſtems. Es iſt uns eine heilige Pflicht, das Reſultat unſrer hunderttauſendjährigen Kulturarbeit, den Segen der Numenheit, auch den Menſchen zugänglich zu machen.“ Grunthe machte eine ungeduldige Bewegung. Er wollte ſprechen, aber Ill fuhr fort: „Fürchten Sie nichts für Ihre Überzeugung und ihre Freiheit. Ihre Freiheit werden wir achten, denn ſie iſt die Grundbedingung zur Numenheit. Die Kultur kann nicht aufgedrängt und nicht geſchenkt werden, denn ſie will erarbeitet ſein. Aber zu dieſer Arbeit kann man erzogen werden. So war es auch auf Ihrem Planeten; die vorgeſchrittenen Nationen haben die barbariſchen zur Kulturarbeit erzogen. Dazu bieten wir nun vermöge unſrer ſo viel älteren Erfahrung uns Ihnen als Lehrer an. Weiſen Sie uns nicht in falſchem Stolz zurück. Nachdem einmal die Erde von uns betreten iſt, läßt ſich die Berührung der beiden Planetengeſchlechter nicht vermeiden. Sie iſt eine Notwendigkeit. Erwecken Sie alſo nicht erſt die Täuſchung, als könnte die Menſchheit unſrem Einfluß ſich entziehen. Vertrauen Sie unſern Maßregeln und bewahren Sie die Menſchen vor dem Fehler, uns aufgrund kurzſichtiger menſchlicher Überlegungen Schwierigkeiten zu bereiten, die nur zum Nachteil für ſie ausſchlagen könnten. Erfahren die Menſchen von unſerer Ankunft, ohne zugleich dem vollen Gewicht unſres unmittelbaren Einfluſſes ausgeſetzt zu ſein, ſo begehen ſie ſicherlich eine Torheit. Auch Ihr Rat, meine Herren Gäſte, würde ſie nicht davor bewahren, zumal Sie uns ſelbſt Ihre Einflußloſigkeit eingeſtanden. Überlaſſen Sie uns alſo ganz allein die Verantwortung für die Geſtaltung der Verhältniſſe, indem Sie ſich dem entſchieden ausgeſprochenen Wunſch des Zentralrats fügen.“ Grunthe fühlte aufs neue, daß er der Macht dieſer Gründe zu unterliegen drohte. Hatte er ſich zunächſt aufgebäumt gegen die ſtolze Sprache des Martiers, ſo mußte er ſich jetzt doch fragen, ob er nicht durch eine Warnung das Schickſal der Menſchen nur verſchlimmern würde. Was konnten ſie gegen die Martier tun? Ihnen feindlich begegnen? Es wäre ja wohl das Klügſte geweſen, ſich der Verantwortung zu entziehen und den Martiern zu folgen. Aber nein! Das Klügſte hatte er nicht zu tun, ſondern ſeine Pflicht. Und es war ihm kein Zweifel, daß er die Verantwortung nicht übernehmen durfte, ſein Vaterland ohne Nachricht zu laſſen. Er erhob ſich in tiefem Ernſt. Er ſah weder Ill noch die Martier an, ſondern heftete ſein Auge vor ſich auf den Tiſch. Seine Lippen zogen ſich feſt zuſammen. Dann öffnete er ſie mit einem feſten Entſchluß. Er warf einen Blick auf Saltner. Auch dieſer hatte in ſich verloren mit ähnlichen Gedanken geſeſſen. Als Grunthe ihn anſah, ſagte er leiſe: „Ablehnen.“ Grunthe begann. Erſt ſtockend und leiſe. Allmählich hob ſich ſeine Stimme. „Wir ſind als Menſchen nicht ſo eingebildet“, ſagte er, „daß wir glauben, von einer älteren Kultur nicht lernen zu können. Es kann ein hohes Glück ſein, den Martiern zu folgen. Es kann auch unſer Unglück ſein. Ich wage darüber nicht zu entſcheiden. Und eben darum, weil ich nicht darüber entſcheiden kann, darf ich, ſoviel an mir liegt, nicht zugeben, daß mein Verhalten einer Entſcheidung gleichkommt; die Menſchen, die Erdbewohner, müſſen ſich eine Meinung bilden können. Dies zu ermöglichen, iſt meine Pflicht. Dadurch iſt meinem Freund und mir unſere Handlungsweiſe klar und deutlich vorgeſchrieben. Unſre Inſtruktion lautet dahin, nach Erreichung des Nordpols ſo ſchnell als möglich nach Hauſe zurückzukehren. Schon dies verbietet uns, auf Ihre Aufforderung einzugehen. Doch es könnten Zweifel entſtehen, ob nicht unſer kürzeſter Weg über den Mars führe. Dieſe Zweifel erledigen ſich nun durch unſere gegenſeitige Ausſprache. Sie wollen uns nicht vor Ihrer eigenen Ankunft bei den Unſeren heimkehren laſſen. Das müſſen wir verhüten. Es iſt keine Frage der Klugheit, es iſt eine Frage des Gewiſſens. Mag daraus entſtehen, was da wolle, wir müſſen unſre ganze Kraft und unſer Leben einſetzen, um die Nachricht von der Ankunft der Martier auf der Erde ſofort in die Heimat zu bringen. Dies erfordert die Pflicht gegen das Vaterland und gegen die Menſchheit. Jedes weitere Wort iſt überflüſſig. Mein Freund und ich werden mit Hilfe unſres von Ihnen geborgenen Ballons ſobald als möglich abreiſen. Wenn Sie wirklich jene erhabene Geſinnung der Nume beſitzen, nach der die Freiheit der Perſönlichkeit unbedingte Achtung erfordert, ſo erwarte ich von Ihnen, daß Sie uns Ihre Beihilfe zu unſrer Abreiſe nicht verſagen. Wir bitten, uns zu entlaſſen.“ Grunthe und Saltner, der ſich ebenfalls erhoben hatte, verließen ihre Plätze und wandten ſich nach der Tür. Tiefes Schweigen herrſchte in der Verſammlung der Martier. Die meiſten blickten finſter vor ſich hin, nur die näheren Freunde der Menſchen zeigten ihnen durch ihre Mienen, daß ſie ihr Verhalten billigten. Saltner ſah im Fortgehen, daß ihm Se freundlich mit den Augen folgte, während er von La vergeblich noch einen Blick zu erhaſchen ſuchte. Schon hatte Grunthe die Tür geöffnet. Niemand hielt die beiden auf. Sie verließen den Saal. Die Martier ſetzten ihre Beratung fort. Sie waren in ihrer Majorität ſichtlich durch den Mißerfolg verſtimmt, ja es wurden Stimmen laut, ob man die Menſchen nicht auch gegen ihren Willen zur Reiſe nach dem Mars zwingen könne. Der junge Kapitän Oß warf die Frage auf, ob nicht den Menſchen das Recht der Perſönlichkeit abzuſprechen ſei, da ſie nicht das genügende Verſtändnis für das Weſen der Numenheit gezeigt hätten. La blickte ihn ſehr erſtaunt an, und Fru erhob ſich darauf, um dieſen Vorwurf zurückzuweiſen. Daß ſie die Fähigkeit gehabt hatten, ihren Willen gegen den der Martier zu behaupten, ſei der genügende und allerdings einzig mögliche Beweis dafür, daß ihnen die Selbſtbeſtimmung der ſittlichen Perſon zukomme. Man könne ſie alſo nicht zur Mitreiſe zwingen, ja man müſſe ſogar ihrer Abreiſe jetzt jede Unterſtützung angedeihen laſſen. Ill entſchied dahin, daß die Frage nach dem Recht der Menſchen auf freie Entſchließung nicht mehr zur Diskuſſion ſtehen könne, da der Zentralrat ihnen dasſelbe bereits zugeſichert habe. Dagegen brauche man nicht ſoweit zu gehen, ihre Rückreiſe geradezu zu fördern, wenn man ſie auch nicht verhindern könne. Man müſſe aber wohl oder übel ſich damit abfinden, daß die Menſchen von der Anweſenheit der Martier früher erführen, als die urſprüngliche Abſicht war. Andrerſeits jedoch läge ihm auch ſehr viel daran, wenigſtens einen der Menſchen nach dem Mars mitzunehmen, damit dieſer den Martiern ſpäter als Augenzeuge dienen könne. Dies könne indeſſen nur mit ſeiner freien Einwilligung geſchehen. Dazu bemerkte Ra, vielleicht würde ſich Saltner zur Mitreiſe bereit erklären, wenn man dafür Grunthe die vollſtändige Sicherheit der Heimkehr gewährleiſten könne. Aber eine ſolche Garantie könne man doch wohl nicht übernehmen. Ill ſagte darauf nach kurzem Beſinnen: „Ich glaube die Gewähr übernehmen zu können, Grunthe nach Europa zu bringen, und zwar, wenn es ſein müßte, binnen vierundzwanzig Stunden.“ Bei der Mehrzahl der Martier erweckte dieſe Äußerung das lebhafteſte Erſtaunen. Wie konnte man Grunthe die Rückkehr garantieren? Hätte man dann nicht ſelbſt ſogleich nach Europa aufbrechen können? Ill ließ ſich zunächſt überzeugen, daß Grunthe und Saltner von der weiteren Verhandlung nichts vernehmen könnten. Sie hatten ſich bereits an die Arbeit an ihrem Ballon gemacht und befanden ſich auf dem Dach der Inſel, wo ſie genügenden Raum hatten, um den Ballon einer Unterſuchung zu unterziehen. Man hatte ihnen denſelben ohne weiteres zur Verfügung geſtellt, da auch die im Dienſt befindlichen Beamten durch den Fernhörer von dem Reſultat der Verſammlung bereits unterrichtet waren. Ill ließ nun die Klappen der Fernſprecher ſchließen und den phonographiſchen Apparat außer Tätigkeit ſetzen. Geſpannt lauſchten die Martier den näheren Mitteilungen, welche ihnen Ill jetzt über die Fortſchritte machte, die in der Vorbereitung der Expedition nach Europa geglückt waren. Sie hatten bisher von den mit Ill auf dem ‚Glo‘ angekommenen Martiern nur im allgemeinen gehört, daß auf dem Mars neue wichtige Entdeckungen in bezug auf die Luftſchiffahrt gelungen ſeien. Die ſchleunige Abſendung des ‚Glo‘ hatte vornehmlich den Zweck, dieſe neuen Entdeckungen und Apparate in der Atmoſphäre der Erde, für welche ſie berechnet und konſtruiert waren, praktiſch zu erproben, um alsdann bis zum Frühjahr den Bau zahlreicher Luftſchiffe für die Erde auszuführen. Die Überbringung der Botſchaft des Zentralrats war mit dem Transport dieſer neuen Apparate verbunden worden. Andernfalls hätte man ſich wahrſcheinlich damit begnügt, ſie durch den Lichttelegraphen zu übermitteln oder die Ankunft des nächſten Raumſchiffs von der Erde vor der Abſendung abzuwarten. Aber die letzten Tage des Sonnenſcheins am Nordpol mußten ausgenutzt werden, um Erfahrungen über die Brauchbarkeit der neuen Erfindung zu machen. Ill gab nun Aufklärungen über ſeine weiteren Abſichten. Daran ſchloß ſich eine längere Beratung der Martier, ſo daß die Feierſtunde herangekommen war, als die Martier auseinandergingen. * * * Grunthe und Saltner kehrten ſehr entmutigt von ihrer Tagesarbeit zurück. Die Unterſuchung des Ballons hatte ergeben, daß er in ſeiner urſprünglichen Geſtalt nicht wieder herſtellbar ſei. Glücklicherweiſe waren die Ventile und das Netzwerk unverletzt. Vom Stoff des Ballons war jedoch ein großer Teil unbrauchbar geworden. Der Reſt konnte indeſſen ausreichen, einen kleineren Ballon zuſammenzunähen, vorausgeſetzt, daß die Martier bei dieſer Arbeit ihre Hilfe leiſten wollten, denn die beiden Gelehrten allein hätten damit nicht zuſtande kommen können. Aber die Tragkraft dieſes Ballons, bei dem man Proviant und Ballaſt ſehr reichlich mitnehmen mußte, um auf eine lange Fahrt gerüſtet zu ſein, hätte dann nicht ausgereicht, um beide Forſcher aufzunehmen. Grunthe kam deshalb wieder auf ſeinen Plan zurück, allein abzureiſen und Saltner die Fahrt nach dem Mars mitmachen zu laſſen. Vielleicht, ſo meinte er, würden die Martier ihnen ihre Hilfe bei der Herſtellung des Ballons nicht verſagen, wenn ſie ihnen inſoweit entgegenkämen, daß wenigſtens einer von ihnen ihre Einladung nach dem Mars nachträglich annähme. Endlich dürfe man die Chance nicht aus der Hand geben, daß, wenn der Ballon verunglücke, wenigſtens Saltner ſeine Erfahrungen auf dem Umweg über den Mars nach Europa bringe, wiewohl dies dann freilich nicht vor Ankunft der Martier geſchehen könne. Saltner überzeugte ſich ſchließlich, daß dieſer Ausweg in der Tat der vorteilhafteſte ſei, da unter den gegebenen Verhältniſſen ein Luftſchiffer die Fahrt ſicherer zurücklegen könne als zwei. Perſönlich war er ja überhaupt nicht abgeneigt, die Martier zu begleiten. Auch Grunthe wäre, was ſeinen Forſchereifer anbetraf, gern nach dem Mars gegangen, aber einer von ihnen mußte notwendig als Bote nach Europa. Freilich hatte ſich auch Saltner zu dieſer gefährlichen Fahrt erboten, aber es verſtand ſich von ſelbſt, daß Grunthe, als der erfahrenere Luftſchiffer, die Fahrt unternahm. So beſchloſſen denn beide, am nächſten Morgen mit den Martiern in dieſem Sinn zu verhandeln. Für heute war die Verkehrsſtunde ſchon vorüber. 20. Das neue Luftſchiff Grunthe erwachte aus einem unruhigen Schlummer und ſah nach der Uhr. Sie zeigte auf 9,6, das entſprach nach mitteleuropäiſcher Zeit ein Uhr früh; es war alſo noch mitten in der konventionellen Nacht. Er legte ſich daher wieder auf ſein Lager zurück. Während er ſich ſeinen Gedanken hingab, vernahm er ein eigentümliches Ziſchen. Es unterſchied ſich deutlich von dem leichten, gleichmäßigen Rauſchen des Meeres, das in den Schlafräumen nur ſchwach durch die Stille der Nacht hörbar war. Auch ſchien es aus der Luft herzukommen, nahm erſt zu, um dann allmählich ſchwächer zu werden und ſchließlich zu verſchwinden. Nach einiger Zeit begann das Ziſchen wieder, kam aber deutlich von einer andern Seite her. Sollten es Windſtöße ſein, die ſich um die Inſel erhoben? Aber auf dieſe Weiſe hätten ſie ſich wohl nicht geäußert. Als ſich das Geräuſch mehrfach wiederholte, ſtand Grunthe auf, und die Läden der Decke ſchoben ſich, als ſein Fuß den Boden berührte, an einer Stelle automatiſch beiſeite. Ein ſchräger rötlicher Sonnenſtrahl ſchlich ſich in das Zimmer, und ein Streifen des Himmels wurde ſichtbar. Es war alſo noch immer klares Wetter, nur ſtand die Sonne bereits ſo tief, daß ſie nur ſchwach durch die Atmoſphäre hindurchdrang. Plötzlich verdunkelte ſich der ſichtbare Streifen des Himmels auf einen Moment, es war, als ob ein großer Gegenſtand mit namhafter Geſchwindigkeit über die Inſel fortgeflogen wäre. Zugleich war das Ziſchen beſonders laut geworden. Da das Zimmer keine ſeitlichen Fenſter hatte, konnte Grunthe keinen Rundblick gewinnen. Er wußte aber, daß man an einigen Stellen die Hartglasbedachung der Decke öffnen konnte. Nur mußte man dazu die genügende Höhe erreichen, um bis zur Decke zu gelangen. Eine Leiter hatte er nicht zur Verfügung, er wollte deshalb zunächſt verſuchen, ob er nicht durch die Fenſter des Sprechzimmers eine genügende Ausſicht finden könne. Zu ſeiner Überraſchung fand er die Verbindungstür von außen geſperrt. Dies ließ darauf ſchließen, daß bei den Martiern etwas im Werk ſei, wobei ſie von den Menſchen nicht beobachtet zu werden wünſchten. Um ſo mehr ſteigerte ſich bei Grunthe das Verlangen, ſeine Wißbegier zu befriedigen. Er betrachtete ſorgfältig die Decke in der Nähe der Luken und erkannte, daß ſich dort verſchiedene, zu den Apparaten der Martier gehörige Haken befanden, an denen man ſehr gut Stricke befeſtigen konnte. Solche waren zur Genüge an den Körben vorhanden, die zur Ausrüſtung des Ballons gedient hatten und in ſeinem Zimmer lagerten. Aus einem der leeren Körbe und zwei Seilen ließ ſich eine Art ſchwebendes Trapez herſtellen, das, an der Decke angehängt, geſtatten mußte, den Kopf bis über das Dach zu erheben. Aber wie hinaufkommen? Er entſchloß ſich, Saltner zu wecken. Der räſonnierte eben ein wenig über die nächtliche Störung, als ſich das Ziſchen in der Entfernung wieder hören ließ. Nun ſprang er mit einem Satz in die Höhe und fuhr in ſeine Kleider. Auf Grunthes Schultern ſtehend, gelang es ihm, zwei Seile an der Decke zu befeſtigen, und nun war es nicht mehr ſchwer, einen Beobachtungspoſten einzurichten. Vorſichtig ſteckten die beiden indiskreten Beobachter ihre Köpfe aus der Luke und wandten ſich nach der Richtung, in welcher ſich jetzt deutlich, aber in der Ferne, ein gleichmäßiges leiſes Sauſen vernehmen ließ. Zu ihrem grenzenloſen Erſtaunen ſahen ſie, daß dieſes Geräuſch von einem rieſigen Vogel herzurühren ſchien, der mit ausgebreiteten Schwingen in ruhigem Segelflug durch die Luft glitt und in geringer Höhe über dem Waſſer rings um die Inſel ſchwebte. Jetzt näherte er ſich derſelben und ſchoß mit raſender Geſchwindigkeit vielleicht zwanzig Meter über dem Dach der Inſel hinweg. Trotz der kurzen Zeit, in welcher die beiden Männer den ſeltſamen Vogel beobachten konnten, ſahen ſie doch, daß er weder Kopf noch Füße beſaß. Sein langgeſtreckter Körper hatte die Geſtalt einer nach vorn und hinten koniſch zulaufenden Zigarre, am hinteren Ende befand ſich ein langer, flacher Schwanz als Steuerruder. Natürlich war den Beobachtern ſofort klar, daß ſie eine neue Erfindung der Martier vor ſich hatten, ein den Verhältniſſen der Erde angepaßtes Luftſchiff. Die Martier ſtellten damit Übungen und Verſuche an, wobei ſie von den Menſchen nicht beobachtet ſein wollten. Das Luftſchiff entfernte ſich, kehrte dann in einem kurzen, eleganten Bogen um, brauſte zurück und hielt plötzlich direkt über der Inſel an. Man konnte beobachten, wie der ganze Schiffskörper in Schwingungen geriet, als der äußerſt ſchnelle Flug binnen drei Sekunden zum Stillſtand kam. Und nun geſchah etwas noch Merkwürdigeres. Die Flügel und das Steuerruder waren plötzlich verſchwunden. Etwa zehn Meter über dem Dach der Inſel, aber ſo weit vom Standpunkt der beiden Deutſchen entfernt, daß ihre eben nur aus der Luke hervorblickenden Köpfe kaum bemerkt werden konnten, ſchwebte der Schiffskörper frei in der Luft. Seine Länge mochte etwa zehn, ſein Durchmeſſer gegen vier Meter betragen. Das Material zeigte dasſelbe glasartige Ausſehen wie die Raumſchiffe der Martier, geſtattete aber keine Durchſicht. Den Boden wie das Verdeck bildeten zwei glatte, nach oben und unten gewölbte Schalen, zwiſchen denen ein nur vorn und hinten geſchloſſener, etwa meterhoher Streifen freiblieb. Durch denſelben konnte man beobachten, daß das Luftboot von zwölf Martiern bemannt war. Jetzt ſenkte ſich das Boot auf das Dach der Inſel langſam herab, wo es ohne Verankerung liegenblieb. Die Beſatzung ſtieg aus, und andere Martier traten an ihre Stelle. Nur die beiden Männer, die an den beiden Enden des Bootes ſich befunden hatten, nahmen ihre Plätze wieder ein. Sie waren Grunthe und Saltner unbekannt, und dieſe ſchloſſen daher, daß es die mit dem ‚Glo‘ angekommenen Konſtrukteure des neuen Luftſchiffes ſeien, die hier die Martier mit der Behandlung des Bootes bekannt machten. Die Galerien der Inſel waren von zuſchauenden Martiern beſetzt, doch konnte man dieſe von dem tiefen Standpunkt Grunthes und Saltners aus nicht erblicken; auch der untere Teil des Luftſchiffes blieb ihnen verborgen, und ſie konnten die Bemannung nur in dem Augenblick ſehen, in welchem ſie das Schiff verließ oder betrat, was durch das Verdeck desſelben zu geſchehen ſchien. Ein neues Manöver begann. Ohne Flügel und Steuer, horizontal liegend, ſtieg das Boot mit zunehmender Geſchwindigkeit ſenkrecht in die Höhe. Da war kein Luftballon ſichtbar, keine Schraube, kein Flügelſchlag hob es. In wenigen Minuten war es ſo hoch geſtiegen, daß es dem bloßen Auge nur als ein Pünktchen mit Mühe wahrnehmbar erſchien. Plötzlich vergrößerte ſich der Punkt ſchnell. Das Schiff ſtürzte herab. Aber jetzt entfaltete es ſeine Flügel und ſein Steuer, und wie ein rieſiger Raubvogel ſauſte es in weitem Kreis um die Inſel, ſtreifte faſt an der Meeresoberfläche hin und erhob ſich dann wieder in einer Spirale. Dabei wurden offenbar Signale mit den Martiern der Inſel gewechſelt, die aber für Grunthe nicht verſtändlich waren. Man ſah nun, daß das Schiff ſeine Flügel verkürzte oder zurücklegte, das Steuer ſtellte ſich gerade, eine weiße Dampfwolke brach aus dem Hinterteil des Schiffes hervor, der ein kanonenſchußartiger Knall und ein gewaltiges Brauſen folgte — das Boot ſchoß ſchräg aufwärts ſteigend wie aus einem Geſchütz geſchleudert in die Ferne und war nach weniger als einer Minute in der Richtung des zehnten Meridians dem Auge entſchwunden. Aus der Bewegung, welche ſich jetzt auf der Inſel bemerkbar machte, ſchloſſen Grunthe und Saltner, daß das Schiff eine Fernfahrt angetreten habe und fürs nächſte nicht wieder zu erwarten ſei. Sie verließen daher ihren unbequemen Poſten und zogen ſich in ihr Zimmer zurück, jedoch entſchloſſen, die Rückkehr des Schiffes zu erwarten. Zu dieſem Zweck wollten ſie ſich im Wachen ablöſen. Dieſe Mühe hätten ſie ſich freilich ſparen können, wenn ſie gewußt hätten, wie weit das Schiff ſeine Aufklärungsfahrt ausdehnen ſollte. Es wurde erſt in der folgenden Nacht von den Martiern zurückerwartet. Die Verſuche der Martier waren vollſtändig gelungen. Ihre auf dem Mars in Berückſichtigung der terreſtriſchen Verhältniſſe ausgeführten Konſtruktionen bewährten ſich in überraſchender Weiſe. Sie waren nun im Beſitz eines Luftſchiffs, welches ſie nach Belieben in der Erdatmoſphäre lenken konnten und mit welchem ſie ſelbſt einem Sturm zu widerſtehen vermochten. Was die Menſchen ſo lange vergeblich angeſtrebt hatten, die Techniker des Mars hatten es in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht. Allerdings beſaßen ja die Martier vor allem ein Mittel, ſich in die Luft zu erheben, das den Menſchen fehlt, die Anwendung der Diabarie. Der Fortſchritt der Luftſchiffahrt bei den Menſchen war früher immer daran geſcheitert, daß man das aeroſtatiſche und das dynamiſche Luftſchiff nicht in geeigneter Weiſe verbinden konnte. Wandte man den Luftballon an, um Laſten in die Höhe zu heben, ſo mußte der Apparat rieſige Dimenſionen annehmen, und es war dann unmöglich, ihn gegen die Windrichtung zu bewegen, weil er dem Wind eine zu große Angriffsfläche bot oder nicht genügend widerſtandsfähig gegen ſeinen Druck gemacht werden konnte. Wählte man aber die dynamiſche Form des Luftſchiffs, wobei durch Schrauben oder Flügel die Erhebung bewerkſtelligt wurde, ſo fehlte es an Maſchinen, um die erforderliche große Kraft zu entwickeln; denn um dies zu leiſten, mußten die Maſchinen ſelbſt zu ſchwer werden. Dieſen Schwierigkeiten waren nun die Martier dadurch enthoben, daß ſie diabariſche Fahrzeuge zu bauen vermochten, das heißt Fahrzeuge, für welche die Anziehungskraft der Erde nahezu ganz aufgehoben werden konnte. Bei der Luftſchiffahrt geſchah dieſe Aufhebung natürlich nicht ſo vollſtändig wie bei der Raumſchiffahrt, ſondern nur ſoweit, daß das Gewicht des Schiffes ſamt ſeinem Inhalt geringer wurde als das Gewicht der von ihm verdrängten Luft. Nach dem archimediſchen Geſetz mußte es dann in der Luft in die Höhe ſteigen, und, je nachdem man ſeine Schwere vergrößerte oder verkleinerte, konnte man es ſenken oder heben. Man bedurfte dazu keiner Rieſenballons und keiner Ballaſtmaſſen. Das Probeſchiff der Martier wog mit ſeinem ganzen Inhalt etwa fünfzig Zentner und beſaß eine Luftverdrängung von über hundert Kubikmeter. Es genügte alſo eine Erniedrigung des Gewichts bis auf fünf Prozent des eigentlichen Betrages, das heißt bis auf 125 Kilogramm, um zu bewirken, daß das Schiff in der Nähe der Erdoberfläche ſchwebte, denn ſoviel beträgt hier ungefähr das Gewicht der verdrängten hundert Kubikmeter Luft. Was aber die Martier bisher verhindert hatte, ſich mit ihren Raumſchiffen in die Atmoſphäre zu wagen, war die mangelhafte Widerſtandsfähigkeit des Stellits. Es galt ſomit für die Martier vor allem, einen Stoff zu finden, der ſich diabariſch machen ließ und dabei doch die genügende Feſtigkeit beſaß, um eventuell nicht nur den gewaltigen Druck eines Sturmwindes auszuhalten, ſondern auch mit großer Geſchwindigkeit gegen die Luft anzufliegen. Das war jetzt gelungen. Das neue Luftſchiff vermochte einer mit 400 Metern Geſchwindigkeit gegen dasſelbe bewegten Luftmaſſe Widerſtand zu leiſten, ohne eine ſchädliche Verbiegung ſeiner Umhüllung zu erleiden. Dieſer Stoff führte den Namen Rob. Diabarie und Rob fanden nun ihren dritten Verbündeten zur Vollendung der Aerotechnik in einer Modifikation des Repulſit. Man konnte natürlich in der Luft der Erde nicht wie im leeren Raum Repulſitbomben ſchleudern. Aber man hatte dafür eine Vorrichtung erſonnen, den kondenſierten Äther des Repulſits ſo allmählich zu entſpannen, daß man den unmittelbaren Rückſtoß zur Fortbewegung benutzen konnte. So bedurfte es keiner Schrauben oder Flügel, die nicht nur viel Raum einnahmen, ſondern auch leicht der Havarie ausgeſetzt waren; man ſchoß ſich direkt durch Reaktion, wie eine Rakete, durch die Luft. Die beiden großen Flügel und das Steuer, welche das neue Luftſchiff trug, konnten unter Umſtänden gänzlich zuſammengeſchoben und eingezogen werden; ſie dienten nur dazu, um das Gleichgewicht bei plötzlicher Änderung der Richtung zu bewahren und um nicht die großen Vorteile zu verlieren, welche der Segelflug bei günſtigem Wind darbietet. Ill hatte das Schiff vom Mars mitgebracht und ſich jetzt von ſeiner Tauglichkeit überzeugt. Die Verſuche geſchahen in der Nacht, das heißt während der Schlafenszeit, weniger, weil man die neuen Erfolge vor den Menſchen verbergen wollte, als weil man bei einem etwaigen Mißerfolg keinerlei Zeugen zu haben wünſchte. Immerhin beabſichtigte Ill nicht, die Menſchen in die Fortſchritte einzuweihen, welche die Martier gemacht hatten; da aber noch weitere Übungen angeſtellt werden ſollten und man höchſtens noch auf zwei Wochen Tageslicht rechnen konnte, ſo lag ihm ſelbſt daran, Grunthe, wenn dieſer auf ſeiner Weigerung beharren ſollte, möglichſt ſchnell von der Inſel zu entfernen. Die Aufklärungsfahrt des Luftſchiffs in der Richtung nach Europa hing mit dieſer Abſicht zuſammen. Es ſtellte ſich heraus, daß mit Anwendung des Repulſits Geſchwindigkeiten von 200 Metern in ruhiger Luft mit Leichtigkeit erreicht werden konnten. Man bewegte ſich dabei in Höhen von ungefähr zehn Kilometern, bei einer Luftverdünnung, welche allerdings von Menſchen nur bei künſtlicher Sauerſtoffatmung ertragen werden konnte, den Martiern aber, wenn ſie nur von Zeit zu Zeit etwas Sauerſtoffzuſchuß erhielten, keine beſonderen Beſchwerden verurſachte. Heftige Luftſtrömungen konnten hier die Geſchwindigkeit des Luftſchiffs wohl zeitweiſe um die Hälfte ſteigern oder mindern, im Mittel jedoch vermochte man in der Stunde ſiebenhundert Kilometer zurückzulegen. Auf dieſe Weiſe konnte man vom Nordpol nach Berlin in ſechs Stunden gelangen. Als die Lichtdepeſche über das Gelingen dieſer Probefahrten nach dem Mars gelangte, bewilligte der Zentralrat die Mittel zum Bau von hundertvierundvierzig Erd-Luftſchiffen, welche bis zum nächſten Erd-Nordfrühjahr fertigzuſtellen ſeien — — — — Es war noch früh am Tage, und Saltner wollte ſich eben von ſeinem Poſten, auf dem er vergeblich nach der Rückkehr des Luftſchiffes ausgeſchaut hatte, nach dem Dach der Inſel begeben, um Grunthe bei der Arbeit am Ballon zu helfen, als er in das Sprechzimmer gerufen wurde. Dort erwartete ihn La. Der kühle Ernſt, welchen ſie geſtern gezeigt hatte, die fremde Haltung war verſchwunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen, in der ganzen hinreißenden Anmut ihres Weſens ſchwebte ſie ihm entgegen und begrüßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die ihn wehrlos machte. Sie zog ihn neben ſich auf einen Sitz und ſagte, ſeine Hand haltend: „Sei nur nicht gar ſo verwundert, Sal, heute iſt wieder mein Tag, und was geſtern war, geht uns nichts an. Oder haſt du ſchon vergeſſen —?“ „Wie könnte ich! Aber ich begreife nur nicht —“ „Aber liebſter Freund, das iſt doch ganz einfach! Haben wir uns lieb?“ „La!“ „Und hab ich dir nicht ſchon geſagt, Liebe darf nicht unfrei machen? Und haſt du nicht auch Se lieb?“ „Ich bitte dich.“ „Ich weiß es, und es iſt ein Glück, ſonſt dürften wir uns ſo nicht ſehen.“ „Was ihr für ſeltſame Sitten habt!“ „Können wir uns gehören für immer? Kannſt du dauernd auf dem Mars leben oder ich auf der Erde? Oder irgendwo zwiſchen den Planeten? Und was hat das überhaupt mit der Liebe zu tun? Das ſind ganz andere Fragen. Wir aber wollen uns der Schönheit freuen und des Glücks, das wir im freien Spiel des Gefühles genießen. Liebteſt du mich allein, du wäreſt bald unfrei, über dich herrſchte die Leidenſchaft, der das Herzeleid folgt, und ich müßte mich dir entziehen. Wohl gibt es ein Glück zwiſchen Mann und Frau, das kein Spiel iſt, ſondern Ernſt; doch davor ſtehen viele Prüfungen, und ob es möglich iſt zwiſchen Nume und Menſch, das weiß noch niemand. Und damit wir nicht vergeſſen, daß Liebe ein Spiel iſt, dürfen wir nicht ganz allein es führen, und doch allein, wann wir wollen. Und nun zerbrich dir nicht den törichten Kopf! Ich habe dir etwas Ernſtes zu ſagen.“ „Noch etwas Ernſteres? Ich werde Mühe haben, mich in das eine zu finden. Aber es iſt wahr, allgemeineres dürfen wir nicht über unſerem — Spiel vergeſſen.“ „Ich glaube, du verſtehſt mich noch immer nicht — Spiel heißt doch Kunſtwerk, ein Trauerſpiel iſt auch ein Spiel, nur daß man nicht ſelbſt dabei umkommt, ſondern der Held, mit dem man fühlt. Und den Wert unſeres Gefühls ſetzen wir nicht herab, nein, wir machen ihn reiner und höher, wenn wir ihn in die Freiheit des Spiels, in das Reich des ſelbſtgeſchaffenen ſchönen Scheines erheben. — Du Tor! Iſt dieſer Kuß ein Schein? — Nein, Schein iſt nur, daß ich damit die Freiheit meines Selbſt verliere. Und nun höre! Du kommſt mit uns auf den Mars, damit du endlich einmal verſtändig wirſt.“ „Sprichſt du ſo als meine geliebte La? Dann muß ich dir zeigen, daß ich dein gelehriger Schüler bin, indem ich meine Freiheit bewahre. Du weißt, warum ich nicht mit euch kommen kann.“ „Ich weiß es, und du biſt brav, und ich hab dich darum nur lieber. Ihr wart geſtern Männer. Aber wenn wir nun die Bedingung erfüllen, daß ihr eure Nachrichten überbringen könnt, wenn wir einem von euch die Mittel zur Heimkehr verſchaffen, will dann nicht der andere mit uns kommen?“ „Und wer ſoll der andere ſein?“ „Das wird ſich ja finden. Doch im Ernſt, ich bin beauftragt, bei euch anzufragen, ob ihr darauf eingehen wollt. Sobald ſich einer von euch beiden bereiterklärt, nach dem Mars mitzugehen, ſchaffen wir den andern ſofort in ſeine Heimat.“ „Merkwürdig! Und ich wollte euch heute denſelben Vorſchlag machen. Es hat ſich gezeigt, daß der Ballon nur eine Perſon wird tragen können, das muß natürlich Grunthe ſein. Wollt ihr uns eure Hilfe leihen, den Ballon herzuſtellen, ſo daß Grunthe abreiſen kann, ſo bin ich bereit, mit euch nach dem Mars zu gehen.“ „Das iſt herrlich, liebſter Freund, dafür muß ich dir danken. Und wegen des Ballons mache dir keine Sorge — wir haben einen ſichereren Weg nach Deutſchland —“ „Das Luftſchiff?“ „Ihr habt gelauſcht?“ „Geſehen. Und damit wollt Ihr uns — aber dann könnte ich ja auch mit zurück?“ „Nein, das iſt Bedingung. Du mußt mit uns kommen —“ „Ach, La, ich ſträube mich ja nicht.“ „So komm, wir wollen mit Ra und deinem Freund ſprechen.“ „Aber zuvor dürfen wir wohl noch ein wenig hier plaudern?“ * * * Es war ſieben Uhr, zwei Stunden nach Feierabend, als das Luftſchiff von ſeiner Fahrt zurückkehrte. Nachdem Ill den erſtatteten Bericht mit großer Zufriedenheit entgegengenommen hatte, wurde das Schiff ſofort zu einer neuen Fernfahrt in Bereitſchaft geſetzt. Grunthe und Saltner hatten ſich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen, als das Schiff ankam, und daher nichts mehr von demſelben bemerkt. In einer Unterredung mit Ill und Ra hatte Grunthe eingewilligt, die Fahrt auf dem Luftſchiff der Martier anzutreten. Er bereitete ſich darauf vor, indem er alle Gegenſtände zuſammenpackte, die er mitzunehmen wünſchte. Man hatte ihm Gepäck im Gewicht von einem Zentner bewilligt, und außer ſeinen Büchern und Inſtrumenten packte er noch eine Anzahl Kleinigkeiten ein, welche ſeinen Landsleuten die Induſtrie der Martier verdeutlichen ſollten. Darauf legte er ſich zur Ruhe. Am folgenden Morgen, am zweiten Tag nach der Beratung mit den Martiern, hatten Grunthe und Saltner eben ihr Frühſtück beendet, und Saltner hatte ſich nach dem Sprechzimmer begeben, als Hil bei Grunthe eintrat. Dieſer war damit beſchäftigt, ſeine Effekten auf einen Platz zuſammenzuſtellen. „Das iſt Ihr Gepäck?“ fragte Hil. „Wünſchen Sie ſonſt noch etwas mitzunehmen?“ „Nichts weiter — es iſt alles vollſtändig und wird das Gewicht von einem Zentner nicht überſchreiten.“ „So ſind Sie alſo reiſefertig?“ „Ganz und gar — Sie ſehen, ich bin ſogar ſchon in meinem Reiſeanzug, und da liegt mein Pelz. Wann ſoll die Fahrt beginnen?“ „Sehr bald, vielleicht ſchon in dieſer Stunde. Haben Sie Ihrem Freund noch etwas mitzuteilen?“ „Nein, wir haben uns hinreichend ausgeſprochen, hier ſind ſeine Briefe und Tagebücher für die Heimat.“ „Sie wären alſo bereit, ſogleich aufzubrechen?“ „Ich bin bereit.“ Hil trat dicht an ihn heran und faßte ſeine Hände, als wollte er ſich verabſchieden. Dabei ſah er ihm feſt in die Augen. Grunthe fühlte ſich von dieſem Blick eigentümlich betroffen. Er konnte die Augen nicht fortwenden, und doch begann die Umgebung vor ſeinen Blicken zu verſchwimmen. Er ſah nur noch die großen, glänzenden Pupillen des Arztes. Dieſer legte ihm jetzt langſam die Hände auf die Stirn und ſagte bedeutſam: „Sie ſchlafen!“ Grunthe ſtand ſtarr, bewußtlos, mit offenen Augen. Hil drückte leiſe ſeine Augenlider herab und winkte mit dem Kopf rückwärts. Zehn Martier, die ſich bereitgehalten hatten, traten ein. Sechs von ihnen nahmen Grunthe behutſam in die Arme, legten ihn auf ein Tragbett und ſchafften ihn aus dem Zimmer. Die vier andern folgten mit dem Gepäck. Grunthe wurde in das Luftſchiff gebracht und ſorgfältig in ſeinen Pelz gehüllt. Das Rohr des Sauerſtoffbehälters wurde in ſeinen Mund geführt. Wenige Minuten darauf erhob ſich das Luftſchiff ſenkrecht in die Höhe. Nachdem es tauſend Meter geſtiegen war, ſchloſſen ſich die ſeitlichen Öffnungen. Der Reaktionsapparat ſpielte. Schräg aufwärts ſchoß es in der Richtung des zehnten Meridians nach Süden. Ra begab ſich zu Saltner in das Sprechzimmer und ſagte: „Wundern Sie ſich nicht, daß Sie Ihren Freund nicht mehr vorfinden werden. Ich hoffe, daß wir Ihnen bald die Nachricht ſeiner glücklichen Ankunft in der Heimat melden können. Wir hielten es für notwendig, die Abreiſe zu beſchleunigen.“ Saltner ſprang an das Fenſter. Fern am Horizont leuchtete ein ſchwaches Dampfwölkchen auf, um alsbald zu verſchwinden. Er war jetzt der einzige Europäer am Nordpol. Se trat zu ihm. „Seien Sie guten Muts, lieber Freund“, ſagte ſie. „Morgen geht unſer Raumſchiff nach dem Nu!“ 21. Der Sohn des Martiers Auf der Nordſeite der Stadt Friedau dehnt ſich ein langgeſtreckter Hügelrücken. Sorgſam gepflegte Gärten ziehen ſich an ſeinen Abhängen in die Höhe, aus deren Grün ſchmucke Villen hervorlugen. Vom Gipfel hernieder glänzt über den Baumkronen eines parkartigen Gartens ein weißes Landhaus, das ein erhöhter Kuppelbau auf den erſten Blick als eine Sternwarte erkennen läßt. Der wunderbar klare Septembertag, an dem die Beſucher jenes über dem Nordpol ſchwebenden Ringes mit ihrem tauſendmal vergrößernden Projektionsfernrohr die Karte von Deutſchland durchmuſterten, neigte ſich ſeinem Ende zu. Sein mildes Licht lag über den zierlichen Gärten Friedaus, in denen großblumige Georginen den Roſenflor verdrängten, über den alten Bäumen des weiten fürſtlichen Parks, der vom Fuß des Hügels beginnend faſt die ganze Stadt umzog, und ſpiegelte ſich dort im ruhigen Waſſer des Teiches. Den breiten Kiesweg, welcher vom Hügel herab zwiſchen den Vorgärten der Villen nach dem Eingang des Parkes führte, ſchritt in Gedanken verloren der Beſitzer jener Privatſternwarte. Im Schatten der Bäume angelangt, nahm er den weichen hellfarbigen Filzhut ab, und man ſah, daß volles graues Haar ſeinen Kopf bedeckte. Aber es war nicht ergraut von der Laſt des Alters, es hatte ſtets dieſe Farbe gehabt. Unter der hohen Stirn leuchteten zwei mächtige tiefdunkle Augen. Sie waren jetzt nicht mehr ſinnend zur Erde gerichtet, ſondern ſpähten erwartungsvoll durch die Gänge des Parkes. Zwiſchen den Büſchen am Ufer des Teiches ſchimmerte ein heller Sonnenſchirm. Beim Geräuſch der nahenden Schritte erhob ſich von einer Bank unter dem Schatten einer breitäſtigen Linde eine anmutige Frauengeſtalt in eleganter Sommerkleidung. Der nachdenkliche Ernſt, der über ihren feinen Zügen gelegen hatte, wich einem freundlichen Lächeln, als ſie jetzt Ell entgegentrat, und in ihren dunkelblauen Augen blitzte es auf wie von einem ſtillen Glück, als ſie ihm die Hand reichte. „Verzeihen Sie“, ſagte Ell, indem er an ihrer Seite den Parkweg am Ufer des Teiches entlangwandelte, „ich habe mich verſpätet, natürlich ohne meine Schuld.“ „Auch ich bin eben erſt gekommen“, erwiderte Isma Torm. „Ich habe Beſuch gehabt. Frau Anton hat mir ſehr weiſe Reden gehalten. Sie konnte gar kein Ende finden.“ „Ich kann es mir denken, aber machen Sie ſich nichts daraus. Sie können tun, was Sie wollen, den Menſchen werden Sie es doch nicht recht machen.“ Isma ſeufzte leiſe. „Sie ſehen, ich bin doch gekommen!“ Ell dankte ihr durch einen Blick. „Es iſt die einzige Stunde am Tag, Isma, in der einmal der Weltärger verſchwindet und ich frei und glücklich bin.“ „Und Ihre Arbeit?“ „Selbſt dieſe iſt nicht frei von Enttäuſchung. Beſchränktheit und Engherzigkeit, wohin Sie ſehen. Sie wiſſen, daß ich mich über Kampf und Streit nicht beklage, denn das iſt die Form, wodurch wir weiterkommen. Aber dieſe Unfähigkeit, das Ziel zu ſehen, dieſer Eigenſinn, daß die Dinge nicht auch anders gingen!“ „Was hat Sie denn heute geärgert, Ell? Schütten Sie nur das Herz aus.“ „Es iſt ja nichts Neues. Sie wiſſen, daß ich mich vor Jahresfriſt entſchloſſen habe, meine Theorie der Gravitation zu veröffentlichen. Grunthe redete mir zu, obwohl er ſagte, es wird niemand begreifen.“ „Ich erinnere mich ſehr gut. Es war —“ „Ja damals —“ „Und damals ſagten Sie, das wäre Ihnen ganz gleichgültig.“ „Das iſt auch wahr. Was meine Perſon angeht, meinen Ruhm oder wie Sie es nennen wollen, das iſt mir auch ganz gleichgültig. Aber um der Sache willen tut es mir leid. Was die Menſchheit dadurch verliert, das ſchmerzt mich, und ich ſehe, daß ihr ſo nicht zu helfen iſt. Erſt wird das Buch totgeſchwiegen, die Gelehrten wiſſen nicht, was Sie damit anfangen ſollen, dann kommt einer und behauptet, das wäre eine phantaſtiſche Hypotheſe, durch nichts bewieſen. Dabei habe ich aufgrund meiner Theorie das ſogenannte Drei-Körper-Problem gelöſt und die Richtigkeit bis auf die Hundertſtelſekunden an der Störung der Marsmonde nachgewieſen. Aber glauben Sie, daß ein einziger Aſtronom meine Methode der Rechnung verſtanden hat?“ „Ko Bate“, ſagte Isma lächelnd. „Das wollten Sie doch wohl ſagen? Wahrſcheinlich haben Sie ſich nicht klar genug ausgedrückt.“ „Allerdings, ich hätte darüber ein beſonderes Buch ſchreiben müſſen — ich glaubte nicht, daß man ſo ſchwerfällig ſein würde. Ich habe die Methode gar nicht ſelbſt erfunden, ſondern ſchon in meinem achtzehnten Jahr von meinem Vater erlernt —“ „Aber warum haben Sie das alles ſo lange geheimgehalten?“ „Sie ſehen ja, daß es noch immer zu früh iſt. Könnten die andern mit mir in der gleichen Richtung weiterarbeiten, man würde auch techniſch zu Reſultaten kommen, die eine ganz neue Welt eröffnen müßten. Ach, dann würden wir vielleicht einmal frei von dieſer ſchweren Erde.“ „Immer wieder dieſelbe Sehnſucht. Es iſt ja doch hier ganz leidlich. Sie müſſen Geduld haben. Und dies hat Sie heute verſtimmt und aufgehalten?“ „Dies weniger. Heute waren es praktiſche Sachen, Ärger mit den Behörden. Das iſt eine Schwerfälligkeit — vornehmlich drüben im Nachbarſtaat —, ein Reglementieren — alles muß in eine Schablone gepreßt werden. Und das hat mich mißmutig gemacht, ganz beſonders, weil es auch Sie angeht.“ „Mich? Iſt etwas vorgefallen?“ fragte Isma ängſtlich. „Nein, ich meine unſere Luftſchifferſtation. Man will ſie verſtaatlichen, neben die militäriſche unter das Kriegsminiſterium ſtellen, wahrſcheinlich dann auch von hier fort verlegen. Jedenfalls verlangt man eine Staatsaufſicht — obwohl der Staat noch nicht einen Pfennig dazu gegeben hat.“ „Aber warum denn?“ „Ich glaube, man traut mir nicht. Im Falle eines Krieges will man wohl Sicherheiten haben. Sie wiſſen, die Abteilung iſt eine internationale Gründung. Ich ſelbſt habe meine beſonderen Anſichten über Patriotismus.“ „Ich bitte Sie, Ell, Sie ſind doch ein Deutſcher. Im Kriegsfall müſſen wir uns ſelbſtverſtändlich zur Verfügung ſtellen — aber, wer wird denn an Krieg denken. Ach, machen Sie mir nicht noch mehr Sorge!“ „Ich bin ein Deutſcher mit meinen Sympathien, ſtaatsrechtlich bin ich es nicht, man kann mich alſo im Notfall ausweiſen. Die Sache iſt doch ſo — Deutſchland oder Frankreich oder England, irgendeine Nation oder ein Staat iſt ja kein Selbſtzweck; Selbſtzweck kann nur die Menſchheit als Ganzes ſein. Die einzelnen Völker und Staaten ſind Mittel, im gegenſeitigen Wettbewerb die Idee der Menſchheit zu erfüllen. Wenn nun einmal der Staat, dem ich angehöre, durch ſeinen Erfolg nicht das zweckentſprechende Mittel wäre in Rückſicht auf die Idee der Menſchheit, ſo wäre es unmoraliſch, wenn ich als freie Perſönlichkeit mich nur darum für ihn entſchiede, weil ich ihm viel verdanke. Die ethiſche Forderung iſt eine andere. Aber bei den Menſchen wird immer nach dem unmittelbaren Gefühl entſchieden, und das nennt man dann Patriotismus und hält für Pflicht, was doch bloß Neigung iſt.“ Isma blieb ſtehen. „Aber dann“, ſagte ſie langſam, „mit welchem Recht gehen wir hier ſpazieren? Iſt das auch Pflicht?“ „Gewiß, wenn ſie auch mit der Neigung zuſammenfällt. Sie werden ſich ſelbſt doch nicht danach beurteilen, was die Friedauer für richtig halten?“ „Nein“, ſagte Isma, indem ſie lächelnd zu ihm aufblickte, „kommen Sie ruhig mit durch die Stadt. Glauben Sie nicht, daß wir bald eine Nachricht erwarten können?“ „Die Depeſche von Spitzbergen ſagt uns, daß die Fahrt am 17. Auguſt angetreten iſt. Es iſt wohl möglich, daß in den nächſten Tagen eine Nachricht eintrifft.“ „Sie ſind noch immer guten Muts?“ „Ich hoffe zuverſichtlich. Glauben Sie mir, ich hätte Ihrem Mann nicht ſo aufrichtig zugeredet, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß ihm die Expedition in beſonderer Weiſe glücken wird.“ „Ell, Sie denken noch an irgend etwas Unerwartetes; ich bitte Sie, ſeien Sie offen, fürchten Sie eine beſtimmte Gefahr?“ „Nichts, was zu fürchten iſt, ich verſichere Sie, Isma! Etwas Unerwartetes vielleicht, aber nichts zu fürchten!“ „O bitte, was denken Sie? Ich habe ſchon oft bemerkt, daß Sie mir noch etwas verſchweigen.“ „Wahrhaftig, Isma, ich verſchweige Ihnen nichts, was ich weiß, aber verlangen Sie nicht, daß ich Vermutungen Ausdruck gebe, die vielleicht völlig nichtig ſind. Ich ſetze eine große Hoffnung auf die glückliche Wiederkehr der Expedition, und ich rechne mit Sicherheit darauf. So ſicher, daß ich mir größte Mühe gebe, eine Stellung für Saltner ausfindig zu machen. Denn was ſoll er dann tun, wenn er zurückkehrt? Und ſehen Sie, das hat mich auch heute gekränkt — glauben Sie, daß die Regierung den Mann anſtellt, der eine ſo ruhmvolle Expedition mitmacht? Er iſt ja ein Ausländer und hat ſeine Prüfungen nicht bei uns abgelegt!“ „Laſſen Sie ihn nur erſt zurück ſein. Mich beunruhigt dieſes Unerwartete, wie Sie es nennen.“ „Wirklich, es iſt nur eine Art Ahnung, daß uns mit der Auffindung des Nordpols mehr gegeben werden wird als eine geographiſche Entdeckung.“ „Das müſſen Sie mir noch erklären.“ „Vielleicht bald. Aber heute haben wir noch nicht einmal von Ihnen geſprochen. Was haben Sie getan, geleſen, erfahren?“ „Herzlich wenig. Die Polarkarte habe ich wieder einmal ſtudiert.“ Im lebhaften Geſpräch durchſchritten ſie die belebteren Teile der Anlagen. Hinter den Bäumen ſank die Sonne, rot und golden leuchtete der Abendhimmel. Öfter begegneten ſie jetzt Spaziergängern. Den meiſten waren ſie bekannt, man grüßte die beiden höflich, aber hinterher drehte man ſich um und ſah ihnen nach. Man warf ſich Blicke zu oder ziſchelte eine Bemerkung. „Sie haben gut ſpazierengehen“, näſelte ein kleiner Herr mit breitem, ſchnüffligem Geſicht ſeinem Begleiter zu, „er hat den Mann nach dem Nordpol geſchickt.“ „Das iſt die Torm“, ſagte ein junges Mädchen. „Jeden Tag geht ſie mit dem Doktor Ell hier vorüber.“ Die Friedauer waren ſehr ſtolz darauf, daß alle Zeitungen von ihrer Nordpolexpedition erfüllt und die Lebensbeſchreibungen ihrer Mitbürger überall zu leſen waren. Darum waren ſie glücklich, auch über ſie reden zu können. Sie taten es nach Herzensluſt in ihrer menſchenfreundlichen und liebevollen Weiſe und um ſo mehr, je weniger ſie von ihnen wußten. Ell und Isma hatten die Anlagen verlaſſen und waren in eine der breiten mit Vorgärten vor den Häuſern verſehenen Alleen hineingeſchritten. Sie ſtanden vor der Tormſchen Wohnung. Ell hatte ſchon Isma die Hand zum Abſchied gereicht, und beide zögerten nur noch einen Augenblick, ſich zu trennen. Da öffnete ſich die Haustür und ein Telegraphenbote kam ihnen entgegen. „Guten Abend, Frau Doktor“, ſagte er. „Da treff ich Sie ja noch. Es war oben niemand zu Hauſe.“ Isma griff nach dem Telegramm. Sie riß es auf. „Von ihm! Aus Hammerfeſt!“ rief ſie fieberhaft. „Das iſt die Brieftaubenſtation“, ſagte Ell. Es dunkelte ſchon. Sie konnte die Buchſtaben nicht mehr recht erkennen. Die Leute ſahen ihr von den Fenſtern aus zu. „Kommen Sie mit hinauf, Ell“, ſagte ſie. „Die Sache iſt nicht ſo kurz. Das iſt eine Ausnahme, heute dürfen Sie kommen!“ Isma eilte voran. Als Ell in das Wohnzimmer trat, ſtand ſie ſchon unter der elektriſchen Lampe und las das Telegramm. Ihren Hut, der ihr das Licht nahm, hatte ſie herabgeriſſen. „Da“, ſagte ſie, Ell das Papier reichend. „Er lebt! Er iſt geſund! Leſen Sie, leſen Sie vor. Ich werde nicht daraus klug.“ Sie ließ ſich in einen Seſſel ſinken und begann ihre Handſchuhe abzuſtreiten. Ell warf einen Blick auf das Telegramm. Seine Hände bebten ſichtlich. Er ſetzte ſich. „Um Gottes willen, Ell, was iſt — Sie zittern —“ „Nicht aus Sorge, nein, nein — es war nur ein Augenblick der Überraſchung. Hören Sie, Isma.“ Er las: „Hammerfeſt, 5. September, 3 Uhr 8 Minuten. Soeben Brieftaube mit dem Stempel ‚Ballon Pol‘ zurückgekehrt, brachte folgende Nachricht: Frau Isma Torm, Friedau, Deutſchland. 19. Auguſt, 5 Uhr 34 Minuten M.E.Z., nachmittags. Alle geſund. Nach dreißigſtündiger direkt nördlicher, günſtiger Fahrt ſchweben wir über dem Pol. Gewirr von Inſeln in meiſt eisfreiem, nicht ſehr ausgedehntem Baſſin. Kleine, kreisrunde Inſel, etwa fünfhundert Meter Durchmeſſer, von unbekannten Bewohnern als Pol markiert, trägt unerklärliche Apparate. Ihre Oberfläche enthält im größten Maßſtab ſtereographiſche Polarprojektion der Nordhalbkugel bis gegen den dreißigſten Breitengrad. Bewohner nicht ſichtbar. Da Landung nicht ratſam, ſetzen wir Reiſe fort. Innigſten Gruß. Torm.“ Ell las die Depeſche noch einmal ſorgfältig durch, während Isma ihn erwartungsvoll anſah. Dann ſprang er auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Auch Isma hatte ſich erhoben. „Wir ſetzen die Reiſe fort! Das heißt, wir kommen wieder — nicht wahr, Ell, das heißt es doch? Es iſt gelungen? O Gott ſei Dank!“ „Ja, es iſt gelungen“, ſagte Ell bedeutungsvoll. Isma trat auf ihn zu und ergriff ſeine beiden Hände. „Ich danke Ihnen, lieber Freund“, ſagte ſie, ihre tränenfeuchten Augen zu ihm aufſchlagend, „ich danke Ihnen, es iſt Ihr Werk!“ Er zog ſie ſanft an ſich, ſie lehnte weltvergeſſen ihren Kopf an ſeine Schulter. „Isma!“ ſagte er. Seine Lippen berührten ihre Stirn. Sie ſchüttelte leiſe den Kopf und trat zurück. „Setzen Sie ſich“, ſagte ſie. „Und nun ſprechen Sie, erklären Sie mir — das Rätſelhafte, das Unerwartete —“ „Es iſt da.“ „Aber was bedeutet es — ich verſtehe nicht, ich bin ganz verwirrt. Iſt es eine Gefahr?“ „Es bedeutet — Isma, Sie werden es nicht glauben wollen, was es bedeutet — für uns alle. Wie ſoll ich es Ihnen ſagen?“ Er zog ſeinen Seſſel an den ihrigen und ergriff ihre Hand. „Was iſt Ihnen?“ fragte ſie, ihn ängſtlich anblickend. „Es bedeutet, daß die Bewohner des Planeten Mars auf dem Nordpol der Erde gelandet ſind. Es, bedeutet, daß ſie mit ihren Apparaten und Maſchinen feſten Fuß auf der Erde gefaßt haben. Es bedeutet, daß die Erde, die Menſchheit binnen kurzem unter ihrer Leitung ſtehen wird — daß ein goldenes Zeitalter des Glückes und des Friedens die Not der Menſchheit ablöſen ſoll — und daß wir es erleben!“ Seine Stimme hatte ſich gehoben, er hatte mit Begeiſterung geſprochen, ſeine Augen flammten tief, groß, dunkel und hafteten wie in weiter Ferne. Isma wußte nicht, was ſie denken ſollte. „Ell“, ſagte ſie ſchüchtern, „ich bitte Sie, Sie können in dieſer Stunde nicht ſcherzen — wie ſoll ich das verſtehen?“ „Es iſt die Wahrheit.“ Es war mit einem Ausdruck geſprochen, daß ein Zweifel nicht möglich war. Isma ſchwieg. Sie lehnte ſich zurück und ſtrich das lichtbraune Haar aus der ſchmalen Stirn. Dann faltete ſie ihre Hände und ſah ihn bittend an. „Hören Sie, Isma, geliebte Freundin“, ſprach Ell langſam, „hören Sie, was noch niemand weiß, noch niemand wiſſen durfte, und was ihnen manches erklären wird, das Ihnen an mir rätſelhaft war. Es iſt eine lange Geſchichte.“ Er verfiel in Schweigen. „Erzählen Sie“, bat ſie innig. „Sie bleiben über Abend — ich kann heute nicht allein ſein, und andere mag ich heute nicht ſehen — ich muß alles wiſſen.“ Ell erzählte. Er ſprach vom Mars, von ſeinen Bewohnern, von ihrer Kultur, ihrer Güte, ihrer Macht. Er erklärte, wie ſie zur Erde zu gelangen hofften, um die Menſchheit ihrer Kultur, der Numenheit, entgegenzuführen, wie er ſein Leben lang auf die Nachricht gehofft habe, daß der Pol im Beſitz der Martier ſei, wie er hauptſächlich darum die Polarforſchung und Ausrüſtung der Expedition betrieben habe. Und nun habe er keinen Zweifel mehr. Isma hatte ihm ſchweigend zugehört. Ihre Faſſungskraft ſchien zu Ende. Als er ſchwieg, ſagte ſie: „Sie erzählen ein Märchen, ein ſchönes Märchen. Ich würde das alles für ein Märchen halten, wäre nicht die Depeſche, und wären Sie nicht mein lieber, treuer Freund. So muß ich Ihnen glauben, obwohl ich nicht begreife, woher Sie das alles wiſſen und warum Sie niemals davon geſprochen haben. Wenn Sie es wußten, was am Pol zu erwarten war, ſo mußten Sie doch meinen Mann darauf vorbereiten.“ Ell lächelte jetzt. „Das hab ich auch“, ſagte er, „ſoweit ich durfte. Ich wußte ja nicht, ob meine Vermutung eintreffen würde, alſo durfte ich auch nicht davon ſprechen. Denn eben haben Sie ſelbſt geſagt, daß Sie mir ohne die Depeſche nicht geglaubt hätten. Man hätte mir nicht geglaubt, man hätte mich für einen Narren gehalten, und ich hätte meine ganze Tätigkeit diskreditiert. Aber ich habe für alle Fälle geſorgt. Erinnern Sie ſich der drei Flaſchen Champagner, die Sie durch Saltner in den Korb ſchmuggeln ließen? Sie gingen durch meine Hände. Unter denſelben befindet ſich ein von mir entworfener Sprachführer — deutſch und martiſch —, der beim Zuſammentreffen mit den Marsbewohnern am Pol, auf das ich hoffte, gefunden werden mußte.“ Isma reichte ihm lächelnd die Hand und ſagte kopfſchüttelnd: „Und nun ſagen Sie mir das eine und Hauptſächlichſte. Woher konnten Sie alles das wiſſen — wenn es wirklich wahr iſt?“ „Sie ſollen auch dies wiſſen. Mein Vater war ein Nume. Er war kein Engländer, wie es hieß, kein auf der Erde Geborener. Ich ſtamme väterlicherſeits von den Bewohnern des Mars.“ Isma ſah ihn ſprachlos an. Sie konnte nicht zweifeln. Das Fremdartige ſeines Weſens, ſelbſt ſeiner Erſcheinung, das ſie anfänglich abgeſtoßen, ſpäter ſo viel ſtärker gefeſſelt hatte, als ſie ſich ſelbſt geſtehen mochte — alles wurde ihr auf einmal erklärlich. Das Mädchen erſchien an der Tür. „Kommen Sie“, ſagte ſie. „Wir wollen uns wenigſtens zu Tiſch ſetzen, es iſt Zeit. Ich muß aber noch mehr hören, viel mehr.“ „Wie oft haben wir Sie geneckt“, ſagte Isma bei Tiſch, „wenn Sie hier bei uns ſaßen und von den Marsbewohnern phantaſierten. Es iſt mir nie der Gedanke gekommen, daß Sie Ihre Erzählungen ernſt meinen könnten.“ „Ich habe mich auch gehütet, es ſo erſcheinen zu laſſen. Dann ſäße ich wohl im Irrenhaus. Und doch iſt es ſo. Ich werde Ihnen die Aufzeichnungen meines Vaters zeigen, wenn Sie wieder einmal auf meinen Berg ſteigen. Und das meiſte weiß ich aus ſeinem eigenen Mund. Sie ſehen mich ungläubig an?“ „Seien Sie nicht böſe — ich glaube Ihnen, aber es will mir noch nicht in den Kopf, das Unerhörteſte, was je geſchehen iſt — und mir, mir ſoll es begegnen —“ „Zwiſchen uns ſoll ſich nichts ändern, Isma! Aber ich hoffe, Ihnen jetzt erſt ganz zeigen zu können, wie lieb ich Sie habe. Meine Pläne ſind groß.“ „Laſſen Sie mich nur erſt das Vergangene verſtehen. Ihr Vater —“ „Mein Vater hieß All. Er war Kapitän des Raumſchiffes ‚Ba‘, das heißt ‚Erde‘, mit dem er bereits mehrere Fahrten nach dem Nordpol wie nach dem Südpol der Erde gemacht hatte, als er infolge eines Unglücksfalls mit ſechs Gefährten auf dem Südpol zurückgelaſſen wurde. Als das Schiff in den nächſten Tagen nicht zurückkehrte, wußten ſie, daß ſie vor dem nächſten Frühjahr keine Hilfe zu erwarten hatten. Den Polarwinter am Südpol zu durchleben, war unmöglich. Unter unſäglichen Strapazen ſchleppten ſie ſich nach Norden bis an das Meeresufer. Mein Vater allein gelangte dort an, die übrigen waren den Anſtrengungen erlegen. Es glückte ihm, von einem verſpäteten Walfiſchjäger aufgenommen zu werden. Man hielt ihn für einen Schiffbrüchigen, der den Verſtand verloren hatte. Er aber benutzte die Zeit der Überfahrt nach Auſtralien, um die Sprache zu erlernen, ohne daß die Seeleute es wußten. Man brachte ihn in ein Hoſpital. Durch unerſchütterliche Energie gewöhnte er ſich an die Erdſchwere und machte ſich mit menſchlichen Verhältniſſen vertraut. Dann gewann er Freunde, die ihm die Mittel gaben, ſeine techniſchen Kenntniſſe zu verwerten. Einige Erfindungen, die auf dem Mars längſt bekannt waren, machten ungeheures Aufſehen. Es dauerte nicht lange, ſo war mein Vater ein reicher Mann. Er lernte meine Mutter kennen, die als deutſche Erzieherin in einem engliſchen Haus lebte. So wurde ich in deutſcher Bildung aufgezogen. Außer meiner Mutter und mir erfuhr niemand das Geheimnis der Herkunft meines Vaters. Aber in mir pflegte er den Stolz, als Sohn eines Martiers teilzuhaben an der Numenheit. Immer habe ich den roten Planeten als meine eigentliche Heimat betrachtet, und einmal auf ihn zu gelangen, war mein Jugendtraum. Aber mein Vater ſtarb, ehe ich das zweiundzwanzigſte Jahr erreichte, ohne daß den Menſchen eine Nachricht vom Mars gekommen war. Und das Vermächtnis meines Vaters — meine Mutter war noch vor ihm dahingegangen — ſtellte mir eine größere Aufgabe: die Erde den Martiern zu erſchließen, die Menſchheit teilnehmen zu laſſen am Segen der martiſchen Heimat. Ich ging nach Deutſchland, ich ſtudierte und lernte den ganzen Jammer dieſes wilden Geſchlechtes kennen an der Stelle, wo die höchſte Ziviliſation des Planeten ſich zeigen ſoll. Auch ein großes, herrliches Glück trat mir entgegen, aber es ſollte mir nicht beſchieden ſein. Ich lernte Isma Hilgen kennen —“ „Sie wiſſen —“ „Ja, ja, Isma, Sie haben recht gehabt damals. Sie wären unglücklich geworden, wie ich es war. Ich ging nach Auſtralien zurück. Aber meine Pläne, die Martier am Nordpol aufſuchen zu laſſen, konnte ich nur von Europa aus verfolgen. Ich kaufte mich hier an — das andere wiſſen Sie.“ Sie reichte ihm die Hand über den Tiſch hinüber. „Ich nehme Sie bei Ihrem Wort“, ſagte ſie herzlich, „zwiſchen uns ſoll ſich nichts ändern. Nein, ich fange an, vieles zu verſtehen, was mich manchmal von Ihnen zurückſchreckte. Wie konnte ich mir anmaßen, Ihnen das ſein zu können, was Sie bei den Menſchen ſuchten?“ „Ich habe Sie niemals mehr geliebt, als wenn Sie mich für wandelbar hielten.“ „Laſſen Sie — wir dürfen jetzt nicht von uns ſprechen. Was werden Sie zunächſt tun?“ „Das Telegramm muß natürlich veröffentlicht werden. Ich nehme es gleich mit. Aber die Aufklärung, welche ich Ihnen gegeben habe, bleibt vorläufig unter uns. Die Preſſe wird ſogleich ihre Zweifel, Vermutungen und weiſen Bemerkungen laut werden laſſen. Dann gebe ich den Hinweis auf die Martier als eine Hypotheſe, ganz vorſichtig, nur um vorzubereiten.“ „Aber ſind Sie denn auch Ihrer Sache ganz ſicher? Ich meine, daß es wirklich Ihre Landsleute ſind, die ſich am Pol befinden?“ „Ich habe keinen Zweifel. Ich kann Ihnen noch etwas ſagen, was ich ſelbſt erſt ſeit einigen Tagen weiß. Es wird ſicherlich ebenfalls öffentlich zur Sprache kommen, ſobald die Nachricht von der Expedition bekannt wird. Sie müſſen wiſſen — mein Vater hat es mir erklärt —, daß die Martier nur am Nordpol oder am Südpol auf der Erde landen können. Ihre Raumſchiffe ſuchen, ſobald ſie der Grenze der Atmoſphäre ſich nähern, genau in der Richtung der Erdachſe heranzukommen. Es iſt aber für ſie gefährlich, in die Atmoſphäre einzudringen. Deswegen ging man auf Anregung meines Vaters mit dem Plan um, in der Verlängerung der Erdachſe außerhalb der Atmoſphäre eine Station zu errichten, auf welcher die Schiffe bleiben und von der aus man dann auf andere Weiſe nach unten gelangt — ich erkläre Ihnen das ein andermal genauer, auch weiß ich ja nicht, ob die Pläne ſo ausgeführt worden ſind, wie ſie damals, vor mehr als vierzig Erdenjahren, beſtanden. Sicherlich aber haben die Martier in irgendeiner Weiſe ihre Abſicht durchgeſetzt und eine Außenſtation gegründet. Danach habe ich mit meinem Inſtrument geſucht, aber nur einmal einen Lichtpunkt bemerkt, den ich für die Station halten konnte, da er ſich nicht mit den übrigen Sternen um die Weltachſe drehte. Ich habe ihn ſeitdem nicht wieder finden können, obgleich ich die Stelle genau gemeſſen hatte; aber das wundert mich auch nicht, denn die Martier werden ſchon dafür ſorgen, daß die Station möglichſt wenig Licht ausſtrahlt, und es ſind gewiß nur vereinzelte Stunden, in denen die Station einmal auf ſo große Entfernung — ich berechne ſie auf gegen 9.000 Kilometer — ſichtbar wird. Nun wurde vor einigen Tagen von der Zentralſtation für Kometen in Kiel ein Telegramm verſendet, daß in Helſingfors ein Stern entdeckt wurde, der kein Stern ſein kann, weil er am Umlauf des Himmels nicht teilnimmt und doch nicht im Pol ſteht, dagegen genau im Meridian in 36 Grad Höhe. Daraus läßt ſich leicht berechnen, daß ſich auf der Erdachſe, genau in der Entfernung des Erdradius über dem Pol, ein leuchtender Körper befinden muß. Allerdings konnte dieſer wegen leichten Nebels, vielleicht auch, weil er ſchwächer leuchtend wurde, bisher nicht wiedergefunden werden, aber die Angabe ſtimmt genau mit meiner früheren Beobachtung. Ein Körper, der an dieſer Stelle über dem Nordpol ſtillſteht, kann gar nichts anderes ſein als die geplante Station der Marsbewohner; eine andere Erklärung iſt undenkbar. Dieſe Entdeckung wird meine Hypotheſe beſtätigen, ſobald ſie bekannt werden wird. Man hat ſie nur von Helſingfors aus mit ſo großer Vorſicht weitergegeben, weil man keine Erklärung dafür weiß und daher an eine Täuſchung denken mußte. Wir werden alſo vorbereitet ſein, wenn die Expedition zurückkommt —“ „Wann, wann glauben Sie, daß dies möglich iſt?“ „Jeden Tag, jede Stunde kann die Nachricht eintreffen, daß ſie bewohnte Gegenden erreicht haben, ja —“ Ell unterbrach ſich und ſann nach. „Sie wollten noch etwas ſagen, Ell! Sie wollten ſagen, es müßte ſchon Nachricht da ſein, wenn alles gut gegangen? Nicht wahr?“ „Allerdings, es könnte ſchon Nachricht da ſein, aber es iſt auch durchaus kein Grund zur Beunruhigung, daß ſie noch nicht da iſt. Bedenken Sie — wir haben heute den fünften — alſo ſiebzehn Tage, nachdem die Expedition den Pol verlaſſen hat — ſie können in Gegenden gelandet ſein, von denen aus ein Bote Wochen braucht, um die nächſte Telegraphenſtation zu erreichen.“ Isma preßte die Hände an ihre Stirn. „Es iſt ſo ſeltſam“, ſagte ſie nachdenklich, „wie ſehnte ich mich nach einer Nachricht, alle Gedanken gingen um die Expedition — und nun, nachdem Sie mir dies geſagt haben, dies Ungeheuerliche, das uns bevorſteht — wie ſchrumpft das alles zuſammen, was Menſchen tun. Ach, Ell, es iſt eigentlich Unrecht —“ „Durfte ich länger ſchweigen?“ „Nein, mein Freund, ich danke Ihnen ja doch — aber — Sie müſſen mir noch mehr ſagen, vom Mars —. Sie müſſen mich lehren —“ „Was Sie wollen, Isma.“ „Doch nicht heute — es iſt ſchon ſpät.“ „Wirklich, in der zehnten Stunde. Ich muß Sie verlaſſen. Aber auf Wiederſehen! Morgen wie gewöhnlich?“ „Wie gewöhnlich — wenn nicht — — Nein doch, wir haben zu viel zu ſprechen — kommen Sie hierher —“ „Ich gehe jetzt auf die Redaktion und zur Poſt, das Telegramm ſteht morgen in allen Zeitungen, Sie werden den ganzen Tag über von Beſuchen belagert ſein.“ „Dann flüchte ich lieber —. Ich komme hinaus zu Ihnen, bald nach Tiſch. Ich will martiſch lernen“, ſetzte ſie mit einem halb komiſchen Seufzer hinzu. „Ach, Ell, was werden die nächſten Zeiten bringen?“ „Großes für die Menſchen!“ war ſeine ernſte Antwort. Ell ging. 22. Schnelle Fahrt Auf die Veröffentlichung der Depeſche Torms folgten heiße Tage für Isma. Glückwünſche, Anfragen und Beſuche, teilnahmsvolle und neugierige, drängten ſich. Einige Zeitungen ſchickten ihre Reporter, um ihren Leſern möglichſt genau die Anſicht von Frau Torm über die Zuſtände auf dem Nordpol auseinanderzuſetzen. Soweit Isma die Beſuche nicht ablehnen konnte, beſchränkte ſie ſich darauf zu ſagen, ſie teile die Vermutungen, welche Friedrich Ell ſogleich am Tag nach dem Erſcheinen des Telegramms in der Voſſiſchen Zeitung ausgeſprochen habe. Über die Möglichkeit einer Beſiedelung des Pols durch die Marsbewohner erhob ſich ein heftiger Streit in den Tagesblättern. Ein großer Teil des Publikums fand die Ausſicht höchſt intereſſant, welche ſich für einen Verkehr mit den Martiern eröffnete. Andere hätten am liebſten die ganze Depeſche für Schwindel erklärt; da dies aber nicht anging, behaupteten ſie, Torm müſſe ſich jedenfalls getäuſcht haben. Es wäre ja möglich, daß es Bewohner des Mars gebe, ſie könnten aber nicht auf die Erde gelangen. Und ſelbſt wenn ſie das könnten, ſo wäre nicht einzuſehen, warum ſie nicht nach Berlin oder Paris kämen, ſondern ſich das Vergnügen machten, eine Rieſenerdkarte am Nordpol zu konſtruieren. Ein berühmter Phyſiker erklärte es als abſolut unmöglich, daß menſchenähnliche Weſen jemals von einem Planeten nach dem andern durch den Weltraum hindurchdringen könnten. Darauf ſtellte ein Geologe eine höchſt geiſtreiche Hypotheſe auf, derzufolge ſich notwendigerweiſe am Pol ein Vulkan bilden müſſe, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Teil des Erdinnern herausquelle. Die Lavaablagerungen ſeien infolge einer zufälligen Ähnlichkeit von Torm für eine Karte gehalten worden. Endlich erklärte ſich der Redakteur der ‚Geographiſchen Mitteilungen‘ dahin, daß es keinen Zweck habe, Vermutungen aufzuſtellen, weil man überhaupt erſt weitere Nachrichten abwarten müſſe. Der Mann hatte recht, fand aber am wenigſten Beifall. Die Friedauer fühlten ſich mehr wie je befriedigt. Die Beachtung, welche ihre Stadt in der ganzen Welt fand, gab eine erhabene Veranlaſſung, um Gloſſen über Frau Torm daran zu knüpfen, wenn ſie ihr in der Nähe der Ellſchen Beſitzung begegneten oder Ell an ihrer Seite durch die Gänge des Parkes wandelte; das taten ſie zwar ſchon ſeit Jahren, aber jetzt war es doppelt ſchön, noch dieſes Privatwiſſen über das allgemeine hinaus zu haben. Isma ſelbſt kümmerte ſich darum nicht. Mehr wie je war ihr das Urteil der Menſchen gleichgültig geworden, während ihr der tägliche Verkehr mit Ell allein einigermaßen Beruhigung gewähren konnte. Ell hatte ſie ſchon geliebt und um ſie geworben, als ſie noch als Isma Hilgen bei ihrer früh verwitweten Mutter in Berlin lebte. Damals hatte ſie ſeine Bewerbung zurückgewieſen. Die Neigung des ſeltſamen Mannes konnte ſie zwar nicht unberührt laſſen, aber von der Fremdartigkeit ſeines Weſens war ſie immer wieder abgeſtoßen worden. Als ſie mit Torm ſich verlobte, war Ell in die Fremde gegangen. Nach ſeiner Rückkehr hatte er ſich ihr in uneigennützigſter Freundſchaft genähert. Sie wußte, daß er ſie liebte, und ſie ahnte die Kämpfe, die er im ſtillen mit ſeiner Leidenſchaft führte. Aber ſie hing an ihrem Mann mit inniger Zuneigung, und ſie hatte Ell bald im Anfang geſagt, daß daran eine Änderung niemals eintreten würde. Damals gab er ihr das Verſprechen, daß ſie niemals durch ihn eine Störung ihres Glückes, ja nur eine trübe Stunde erfahren ſolle. Und dies Verſprechen hatte er die Jahre hindurch gehalten. Wohl hatte manche andere ſein Intereſſe gewonnen, und obwohl Isma ſein gutes Recht dazu anerkannte, hatte ſie ſich dann doch eines ſchmerzlichen Gefühls nicht erwehren können. Aber ſie wollte ſich über ihr Gefühl keine Rechenſchaft geben. Sie wußte, daß er ihrer Nähe, ihrer Freundſchaft und ihres Glückes bedurfte, und jene ſeltſame Abſtraktionsgabe, das Erbteil der Martier, in ſeiner Vorſtellung ſein Gefühl zu trennen von den harten Pflichten der Wirklichkeit, ermöglichten es Ell, als ein treuer und aufopfernder Freund ihr zu dienen. So herrſchte zwiſchen beiden ein unbedingtes Vertrauen, das Isma die volle Sicherheit gab, auch ſein Freundſchaftsverhältnis mit Torm könne unter ihrem Verkehr nicht leiden. Zum Glück waren alle in der Lage, über das Gerede derer, die ſie nicht kannten, die Achſeln zucken zu können. Es war am achten September, am dritten Tag nach der Ankunft des Tormſchen Telegramms. Gegen Abend hatte Ell ſeinen gewohnten Spaziergang mit Isma gemacht, die über das Ausbleiben jeder weiteren Nachricht lebhaft beunruhigt war. Auch Ell war es ſchwer geworden, ihr Mut zuzuſprechen. Denn er ſagte ſich, daß man allerdings eine Nachricht hätte erwarten dürfen. Die Expedition hatte eine Anzahl Brieftauben mit, und man mußte annehmen, daß ſie alsbald über die weitere Richtung ihrer Reiſe eine Depeſche abſenden würde. Doch die geflügelten Boten konnten auf dem weiten Wege leicht verunglücken. Es ließ ſich zunächſt gar nichts tun als geduldig warten. Eine milde Spätſommernacht lag über der Stadt, alles in tiefe Dunkelheit begrabend. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ein leichter Wolkenſchleier verhüllte das Sternenlicht. Regungslos ſtreckten die hohen Bäume ihre dichtbelaubten Zweige aus und deckten mit undurchdringlicher Finſternis die Raſenplätze, die ſich zwiſchen ihnen auf dem Hügel hinbreiteten, wo Ell ſeine Warte erbaut hatte. Es war ſchon ſpät, und nur aus der hohen geöffneten Tür, die von Ells Arbeitszimmer nach der weinumlaubten Veranda führte, ſchimmerte noch Licht. Von dort ging eine Freitreppe in den Garten. Ell war an ſeinem Schreibtiſch mit einer Arbeit beſchäftigt, die er ſchon ſeit Jahren betrieb, einer Darſtellung der Verhältniſſe der Marsbewohner und einer Anleitung, ihre Sprache zu erlernen. Er wollte dieſe Bücher in dem Augenblick veröffentlichen, in welchem die erſten Martier mit den Menſchen zuſammenträfen. In ſeine Arbeit vertieft, vernahm er nicht, daß langſame Schritte über den Kiesweg des Gartens ſich nahten, daß jemand die Treppe der Veranda erſtieg. Erſt als der Tritt auf der Veranda ſelbſt erklang, drehte er ſich um. In der Tür ſtand die Geſtalt eines Mannes. „Wie kommen Sie in den verſchloſſenen Garten?“ fuhr Ell auf, indem er nach der Waffe auf ſeinem Schreibtiſch griff. Seine vom Licht des Arbeitstiſches geblendeten Augen konnten nicht ſogleich erkennen, wen er vor ſich habe. „Ich bin es!“ ſagte eine ihm wohlbekannte Stimme. Ell zuckte zuſammen und ſprang empor. Er faßte mit den Händen nach ſeinem Kopf. „Eine Halluzination“, war ſein Gedanke. Die Geſtalt trat näher. Ell wich zurück. „Ich bin es wirklich, Herr Doktor, es iſt Karl Grunthe.“ „Grunthe!“ rief Ell. „Iſt es möglich? Wo kommen Sie her?“ „Direkt vom Nordpol, den ich heute gegen Mittag verließ.“ Ell hatte ihm die Hände entgegengeſtreckt. Bei dieſen Worten trat er wieder zurück. „Ich will Ihnen etwas ſagen, Grunthe“, begann er. „Ich bin bei der Arbeit eingeſchlafen, ich träume — Sie können es ja nicht ſein. Das ſehen Sie doch ein. Das Tor iſt ja auch verſchloſſen, Sie können nicht über die Mauer klettern.“ Grunthe trat jetzt auf ihn zu. Er ſchüttelte ihm die Hände. „Glauben Sie’s!“ ſagte er. „Sie träumen nicht, Sie wachen. Es iſt, wie ich ſage. Erlauben Sie mir ein Glas Waſſer, richtiges, friſches Quellwaſſer, das habe ich vermißt. Hier, trinken Sie auch. Kommen Sie, ſetzen Sie ſich. Ich will Ihnen alles erklären. Aber ſo ſchnell geht das nicht.“ Ell faßte Grunthe an den Schultern und ſchüttelte ihn. Er lachte. Dann ſetzte er ſich und ſtarrte Grunthe noch einmal an. Grunthe zog ſeine Uhr und verglich ſie mit dem Chronometer in Ells Zimmer. „Keine Abweichung“, ſagte er. „Sie ſind es doch, Grunthe!“ rief Ell. „Jetzt glaube ich es. Verzeihen Sie, aber nun bin ich wieder klar. Um Gottes willen, ſprechen Sie, ſchnell! Wo iſt Torm?“ „Torm iſt nicht zurückgekehrt“, ſagte Grunthe langſam, indem ſich die Falte zwiſchen ſeinen Augen vertiefte. Ell ſprang wieder auf. „Er iſt verunglückt?“ „Ja.“ „Tot?“ „Wahrſcheinlich. Der Ballon wurde in die Höhe geriſſen. Wir verloren das Bewußtſein. Als wir wieder zu uns kamen, war Torm verſchwunden. Er iſt bis jetzt nicht wiedergefunden worden.“ „Bis jetzt? Das heißt, Sie haben noch eine Hoffnung?“ „Auch der Fallſchirm fehlte, es iſt möglich, daß er ſich damit gerettet hat — aber ſehr unwahrſcheinlich. Wohin ſollte er gekommen ſein?“ Ell trat an die Tür und ſtarrte in die Nacht, wortlos — dann drehte er ſich plötzlich um. „Und Sie, Grunthe?“ rief er. „Und Saltner?“ „Wir wurden von den Bewohnern der Polinſel gerettet. Mich brachten ſie hierher in einem Luftſchiff. Saltner iſt noch am Pol, er reiſt morgen auf den Mars. Da ſind ſeine Briefe, da ſein Tagebuch.“ Er legte zwei Päckchen auf den Tiſch. „So ſind ſie da?“ fragte Ell faſt jubelnd. „Sie ſind da. Wir haben Ihren Sprachführer gefunden. Und wenn Sie ſich gefaßt haben, ſo kommen Sie mit mir. Ich bin nicht allein, meine Begleiter ſind hier.“ „Wo? Wo?“ „Auf dem mittleren Raſenplatz neben dem Sommerhäuschen liegt das Luftſchiff. Man erwartet Sie!“ Ell wollte hinausſtürzen. Die Füße verſagten ihm. Er ſetzte ſich wieder. „Ich kann noch nicht. Bitte, erzählen Sie mir erſt noch etwas. Dort ſteht Wein, geben Sie mir ein Glas!“ Grunthe holte den Wein. Dann ſchilderte er kurz ihr Schickſal am Pol, die Aufnahme bei den Martiern, die Station des Ringes. Allmählich wurde Ell ruhiger. Er holte eine Laterne. „Gehen wir!“ ſagte er. Grunthe nahm die Laterne. Sie durchſchnitten die dunkeln Gänge des Gartens. An dem bezeichneten Raſenplatz angekommen, blieb Grunthe ſtehen und erhob die Laterne. Ein dunkler Körper zeigte ſich undeutlich in der Mitte des Platzes. Grunthe gab die Loſung: „Bate. Grunthe it Ell.“ Darauf ſetzte er in der Sprache der Martier hinzu: „Wir ſind vollſtändig ungeſtört und ſicher. Sie können Licht machen.“ Seit dem Tod ſeines Vaters hatte Ell kein martiſches Wort mehr vernommen. Die Laute berührten ihn überwältigend. Jetzt ſollte er den Numen, den Stammesgenoſſen des Vaters entgegentreten. Ein mattes Licht durchglänzte den Bau des Luftſchiffs und ließ eine Falltreppe erkennen, welche auf das Verdeck führte. Ell folgte dem vorankletternden Grunthe. Oben erwartete ſie der wachhabende Steuermann und geleitete ſie in das Innere des Schiffes hinab. „Warnen Sie den Herrn“, ſagte er zu Grunthe, „wir haben Marsſchwere.“ „Ich danke“, verſetzte Ell, „ich paſſe auf.“ Der Steuermann ſah den martiſch redenden Menſchen verwundert an, ging aber ſchweigend voran. Sie durchſchnitten einen ſchmalen Gang, zu deſſen beiden Seiten die Mannſchaften in Hängematten nach ihrer anſtrengenden Fahrt ausruhten, und befanden ſich vor der Tür der Kajüte. Sie öffnete ſich. Der Steuermann trat zurück; Grunthe und Ell ſtanden in dem hellerleuchteten Raum. Ell ſchrak zuſammen und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, da er ſeine Bewegungen der geringen Schwere noch nicht anzupaſſen vermochte. Von Grunthe geſtützt, ſtarrte er ſprachlos mit weitgeöffneten Augen auf die hohe Geſtalt, die ihm gegenüberſtand. „Vater“, wollte es ſich auf ſeine Lippen drängen — — „Mein Freund, Dr. Friedrich Ell“, ſagte Grunthe vorſtellend. „Der Herr Repräſentant der Marsſtaaten, Ill.“ „Ill re Ktohr, am gel Schick — Ill, Familie Ktohr aus dem Geſchlechte Schick“, ſagte Ill mit Betonung, indem er Ell ſcharf beobachtete. Auch ihm klopfte das Herz, er ſah ſeine Vermutung beſtätigt. „Ich bin“, ſetzte er hinzu, „der jüngſte Bruder des Kapitän All, der im Jahre —“ „Mein Vater!“ rief Ell. „Er war mein Vater! Und ſo ſah er aus, nur gebeugter vom Druck —“ Ill ſchloß ſeinen Neffen in die Arme und ließ ihn dann ſanft auf den Diwan gleiten. „Ich dachte es mir“, ſagte er, „als die erſte Nachricht zu uns kam, daß ein Ell auf der Erde unſre Sprache kenne. Darum erbot ich mich freiwillig hierherzugehen, als einer von uns den Auftrag übernehmen ſollte. Laß dich noch einmal anſehen! Welch ein Glück, dich zu finden! Und nicht bloß für uns. Nun habe ich die Hoffnung, daß ſich die Planeten verſtehen werden.“ * * * Stunden vergingen, und noch immer ſaßen der Oheim und ſein Neffe in der Kajüte des Raumſchiffes in eifrige Beſprechungen vertieft. Grunthe hatte ſich ſogleich nach der Erkennungsſzene zurückgezogen. Er war nach Torms Arbeitszimmer gegangen. Das Bedürfnis nach Schlaf fühlte er nicht, denn faſt während der ganzen Fahrt hatte er in Schlummer gelegen. Erſt in der Abenddämmerung hatte man ihn geweckt. Er ſah unter ſich das Häuſermeer von Berlin, welches das Luftſchiff in weitem Bogen umkreiſte. Man ließ ſich jetzt Erklärungen von ihm über die Bedeutung der hervorragenden Gebäude geben und dann den Weg nach Friedau zeigen, das man von Berlin aus mit dem Luftſchiff in 25 Minuten erreichen konnte. Man hatte jedoch im Dunkeln zu der Fahrt abſichtlich eine Stunde gebraucht. Längere Zeit nahm dann die Landung in Anſpruch, weil dieſe ganz langſam und geräuſchlos vor ſich gehen ſollte. Die Martier wollten dabei nicht bemerkt werden, um nicht während ihrer Anweſenheit im Land irgendwie die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Sie wußten ja nicht, ob man ſie nicht bei der Abfahrt ſtören könnte, und wollten auf alle Fälle jeden Konflikt vermeiden. Ob ſie dagegen bei ihrer freien Fahrt in der Luft zufällig einmal geſehen wurden, darauf kam es ihnen jetzt nicht mehr an. Nachdem ſie Grunthe zurückgebracht, mußte es ja doch bekannt werden, daß ſie da waren und mit ihren Luftſchiffen über die Erde fuhren. Nur ihre volle Freiheit wollten ſie nicht aufs Spiel ſetzen. Grunthe hatte ſich in Torms Zimmer die Zeitungen der letzten Wochen zuſammengeſucht. Es war ihm ein Bedürfnis, ſich über die Vorgänge bei den Menſchen während der Zeit ſeiner Abweſenheit zu unterrichten. Aber wie engherzig und beſchränkt kam ihm jetzt alles vor! Und dennoch, er war entſchloſſen, das Mögliche zu tun, um den Einfluß der Martier abzuwehren. Die erſten Spuren der Dämmerung zeigten ſich im Oſten, als Ell mit fieberhaft leuchtenden Augen wieder eintrat. „Sind ſie ſchon fort?“ fragte Grunthe, ſich erhebend. „Noch nicht.“ „Aber es wird bald hell.“ „Ill bleibt noch bis zur Nacht. Ich ſoll ihn begleiten, er will über die Hauptſtädte Europas einen Überblick gewinnen. Aber ich kann heute früh noch nicht fort. In der Sache iſt es eigentlich nicht recht zu zögern, aber ich kann nicht.“ „Sie dürfen freilich jetzt nicht fort. Wir müſſen die Reſultate der Expedition bekanntmachen. Sie ſind dabei unentbehrlich.“ „Wir haben uns ſchon geeinigt. Ich will nur eben Anordnung treffen, daß heute niemand im Garten zugelaſſen wird. Auf den alten Schmidt können wir vertrauen, er wird die Tür geſchloſſen halten und wie ein Cerberus wachen. Mein Oheim iſt mit dem Ruhetag einverſtanden, den die Mannſchaft wie er ſelbſt nötig hat. Jetzt will er mir nur einmal die Leiſtungsfähigkeit des Luftſchiffs bei größter Geſchwindigkeit zeigen. Die Luft iſt ganz ſtill. Wir wollen uns Wien betrachten. In einer Stunde, noch vor Sonnenaufgang, ſind wir zurück. Wir fahren jetzt nach Oſten, über Wien wird es ſchon hell genug ſein. Kommen Sie mit, wir können die Zeit zum Erzählen benutzen. Nachher frühſtücken wir zuſammen.“ Er ſprach in großer Aufregung und ſuchte dabei nach ſeinem Mantel. „Sie brauchen weiter nichts mitzunehmen“, ſagte Grunthe. „Pelze ſind im Schiff. Inſtruieren Sie nur Schmidt, daß er niemand einläßt. Ich aber will lieber hierbleiben.“ Ell weckte den Kaſtellan. Es dürfe niemand in den Garten. Auch die Sternwarte bleibe heute geſchloſſen. In beſonderen Fällen oder wenn Bekannte kämen, ſolle man ihn ſelbſt rufen. Er verlaſſe ſich auf ſein unbedingtes Schweigen über alles, was er etwa Außergewöhnliches ſehe. Der alte Mann, der ſchon ſeinem Vater gedient hatte und mit Ell nach Deutſchland gekommen war, verſprach ſein Beſtes. Seine Frau, welche auch die häusliche Bedienung für Ell führte, kam niemals über ihr eigenes kleines Gemüſegärtchen, das außerhalb der Gartenmauer lag, hinaus. Von ihr war keine Störung zu befürchten. Ell begab ſich nach dem Raſenplatz. Das Luftſchiff war zur Abfahrt bereit. Die Lichter wurden gelöſcht. Geräuſchlos hob es ſich ſenkrecht in die Höhe. Die Stadt lag im Schlummer, niemand bemerkte den dunkeln Körper, der in wenigen Augenblicken in der Dämmerung entſchwunden war. Ell ſaß ſtumm in ſeinen Pelz gehüllt und blickte durch die Robſcheiben dem ſchnell emporſteigenden Frührot entgegen. „Ein neuer Tag“, ſagte er leiſe, „wirklich ein Tag! Ich fliege! O heiliger Nu!“ Aber ſie, Isma, was würde ſie ſagen? Er vergaß ſeine Umgebung. Das Herz krampfte ſich ihm ſchmerzhaft zuſammen. Wie ſollte er ihr das Schreckliche mitteilen? Da ihm alles geglückt, da ſeine höchſte Sehnſucht erfüllt, ſeine Heimat wiedergefunden war, da ſollte ihr das Lebensglück entriſſen werden? Er ſuchte ſich in ihre Seele zu verſetzen und vermochte es nicht. Er trauerte um den Freund, und inniges Mitgefühl mit der Freundin drängte die Tränen in ſein Auge. Er ſah ſie die ſchmalen Hände ringen, er ſah, wie ihre großen dunkelblauen Augen ſtarr wurden. Er hätte ſein Leben dafür gegeben, dieſen Schmerz ihr abzunehmen, ihr den Verlorenen zu retten und wiederzubringen. Es war ausſichtslos. Was vermochte er für ſie zu tun? Und in allem Schmerz konnte er es nicht hindern, daß es wie eine leiſe Hoffnung ihn durchzog, ob es ihm nicht möglich ſei, ihr das entſchwundene Glück zu erſetzen. Er drängte den Gedanken zurück. Er dachte an ſeine nahen, großen Aufgaben. Aber die nächſte war ja doch — ſie zu benachrichtigen. Eine Frage Ills riß ihn aus ſeinen Grübeleien. Zur Rechten erglänzte die Kette der Alpen im Licht der aufgehenden Sonne. Das Luftſchiff breitete ſeine Schwingen aus und umkreiſte, ſich tiefer ſenkend, in weitem Bogen die Kaiſerſtadt an der Donau. Drei-, viermal ſtrich es bis dicht über den Spitzen der Türme hin, dann erhob es ſich wieder und floh vor den Strahlen der Morgenſonne nach Nordweſten. Es erreichte Friedau, noch bevor der erſte Sonnenſtrahl die Kuppel der Sternwarte, des höchſten Punktes der Umgebung, vergoldete, und ließ ſich langſam auf den Raſenplatz nieder. Einige Arbeiter, die aufs Feld gingen, liefen herzu, aber da ſie das Schiff hinter den Bäumen des Gartens verſchwinden ſahen, ſetzten ſie ihren Weg wieder fort. Sie waren gewohnt, die Übungsballons der Luftſchiffer bei Friedau aufſteigen zu ſehen, und wunderten ſich daher nicht weiter, daß einmal ein ſo ſonderbarer Ballon hier niederging. 23. Ismas Entſchluß Um dieſelbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem Schlummer geweckt. Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las ſie: „Hammerfeſt, den 9. September. Brieftaube ‚Ballon Pol‘ brachte folgende Nachricht: Frau Isma Torm. Friedau. Deutſchland, 21. Auguſt, 2 U. 30 Min. nachm. M.E.Z. Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe geriſſen. Ich verlor das Bewußtſein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke ſchnell abſtürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch ſtärkſte Erleichterung zu retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar. Ich verließ den Ballon mit dem Fallſchirm, konnte Brieftauben mitnehmen. Ich fiel langſam durch Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab, konnte mich auf Feſtland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos und fand ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben. Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbeſorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften. Torm.“ Sie klammerte ſich an die letzten Worte. „Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbeſorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.“ Aber wo? Wo? Jenſeits unzugänglicher Meere und Eiswüſten, kurz vor Beginn der ewigen Nacht, angewieſen auf das Mitleid einiger armſeliger Eskimos! Der Ballon geſcheitert — die gehofften, ſtolzen Reſultate verloren! Wie konnte er heimkehren — und wann? Und ſie — ſie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum ſorgte, ſie allein zurückzulaſſen. War ſie nicht mitſchuldig an ſeinem Unglück? Hatte ſie nicht zu ſehr dem Freund vertraut, der des Gelingens ſo ſicher ſchien? Eine furchtbare Angſt erfaßte ſie. Hätte ſie ihn nicht beſchwören müſſen, das gefährliche Unternehmen um ihretwillen zu unterlaſſen? Sie hatte ſich eingebildet, der großen Sache, der Wiſſenſchaft mutig das Opfer ihres häuslichen Glückes zu bringen, aber nun kam es über ſie wie eine ſchreckliche Anklage — hätte ſie den Mut auch gehabt, wenn nicht Ell ſie gebeten hätte? Wenn ſie nicht dem Freund zuliebe, dem ſie das eine Lebensglück verſagt, nun zur Erreichung ſeines innigſten Wunſches ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer angenommen war? Sie ſchauderte zuſammen. Nein, nein, ſie wollte nicht mutlos ſein. Das durfte ſie ſich ja ſagen, ſie hatte ſich nie verhehlt, daß ſie jeden Augenblick auf das Schlimmſte gefaßt ſein mußte. Aber was ſie dann tun würde? Das hatte ſie niemals ſich zur vollen Klarheit gebracht. Jetzt mußte es ſein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe möglich war — es gab von den Menſchen nur einen, der hier helfen konnte. O, er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn. Eine Stunde ſpäter zog ſie die Klingel an dem großen eiſernen Gitter, das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von der Straße abſchloß. „Iſt der Herr Doktor ſchon zu ſprechen?“ fragte ſie den öffnenden Kaſtellan. Der Alte nahm ſein Käppchen ab und kratzte ſich verlegen hinter dem Ohr. „Ei, ei, die Frau Doktor ſind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich einmal fragen. Kommen Sie nur inzwiſchen herein. Es iſt freilich — Hm! —“ „Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor ſofort ſprechen, es ſind wichtige Nachrichten angekommen.“ Der Alte ſchlurfte ins Haus. Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den erſten Mitteilungen zu geben ſei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde. Er ſprang auf und warf die Feder weg. „Führen Sie die gnädige Frau ſogleich in die Bibliothek.“ „Es ſind wichtige Nachrichten da, ſagte die Frau Doktor.“ Mit dieſen Worten ging der Kaſtellan ab. „Sie hat Nachrichten!“ rief Ell erbleichend. „Und ſie kommt ſelbſt, um dieſe Zeit! Woher kann ſie es wiſſen?“ Er ſtürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an. Er mußte ſich erſt ſammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber das Herz ſchlug ihm. Sein Geſicht war bleich und übernächtig. Isma ſtand mitten im Zimmer und ſtützte ihre Hand auf den großen Tiſch, der mit aufgeſchlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt war. Sie fand keine Worte. „Isma“, ſagte er, „Sie haben — was wiſſen Sie?“ Sie brach in Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte ſie an ſeiner Schulter. Er führte ſie an das Sofa. „Faſſen Sie ſich, liebſte Freundin, faſſen Sie ſich!“ „Ich weiß nicht, was ich tun ſoll“, ſagte ſie unter Tränen. Sie zog die Depeſche aus ihrer Taſche und reichte ihm das zerknitterte Papier. Ell las. Er atmete tief auf. „Gott ſei gedankt!“ rief er aus tiefſtem Herzen. Isma ſprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn. ihre Augen wurden ſtarr. Sie drohte zuſammenzubrechen. „Was iſt Ihnen, Isma?“ „Ich — ich —“, ſagte ſie, die Hand auf das Herz preſſend, „ich habe wohl nicht recht verſtanden — oder — oder — ſagten Sie nicht —?“ „Gott ſei Dank, ſagte ich, denn Ihr Mann iſt gerettet.“ „Gerettet?“ „Ja, hier ſteht es ja.“ „Gerettet?“ „Ihre Nachricht iſt jünger als die meinige, iſt von ihm ſelbſt“, fuhr Ell fort. „Ich aber empfing dieſe Nacht durch Grunthe die Nachricht, daß der Ballon abgeſtürzt und Ihr Mann verſchwunden ſei. Ich glaubte ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma — aber was iſt Ihnen?“ Isma ergriff ſeine Hände. „O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!“ Er ſah ſie erſtaunt an. „Sie halten ihn für gerettet?“ rief ſie, indem ihr das Blut in die Wangen ſtieg. „Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie ſoll er gerettet werden?“ „Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt iſt und im Schutz der Eskimos ſteht, ſo droht ihm unmittelbar keine Gefahr.“ „Aber der Winter?“ „Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es iſt gewiß keine angenehme Ausſicht, aber wie viele Forſcher haben ſchon einen Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und darauf war er, mußten wir alle gefaßt ſein, daß ein ſolcher Unfall eintrat. Nein, Isma, liebſte Freundin, ängſtigen Sie ſich nicht. Wir werden dafür ſorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols nach ihm geſucht wird. Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht. Er hat ja noch Tauben. Sehen Sie —“, er ſtreichelte ihre Hand und verſuchte zu lächeln, „verzeihen Sie mir, aber die Depeſche, die Ihnen nur Trauriges meldete, für mich war ſie eine Erlöſung. Alles, was Grunthe und Saltner von Ihrem Mann wußten, beſtand darin, daß er aus dem Ballon verſchwunden war, als ſie von ihrer Ohnmacht erwachten. Der Fallſchirm wurde im Meer gefunden, von Torm keine Spur. Sie können ſich denken, Isma, was ich in Ihrer Seele fühlte, wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir ſah. Da atmete ich auf, als ich Ihre Depeſche las. Nach dem, was ich wußte, iſt es vielleicht die beſte Nachricht, die ſich überhaupt erhoffen ließ. Ich brauche nicht zu ſagen, wie ſehr ich den Unfall Ihres Mannes bedauere; Sie aber dürfen ſtolz ſein. Er hat ſich ſelbſt geopfert und die Gefährten dadurch gerettet. Alle Reſultate der Expedition ſind geborgen, ſelbſt meine kühnſten Hoffnungen erfüllt.“ Isma ſtarrte in die Ferne. Das Schickſal Torms nahm noch alle ihre Gedanken in Anſpruch. „Und iſt Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?“ fragte Ell. „Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?“ „Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es verdanken, hat nichts von alledem? Den langen Winter — ach, wohl noch ein Jahr. — Iſt es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich, etwas für ihn zu tun?“ Ell ſah ſie ſchmerzlich enttäuſcht an und ſchüttelte nur den Kopf. Sie verſtand ſeinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog ihr Geſicht, und ſie ſchlug ihre großen, ſanften Augen wie bittend zu ihm auf. Sie ſah entzückend aus. Ell wendete ſich ab, er konnte den Anblick nicht länger ertragen. Isma legte ihre Hand auf ſeinen Arm. „Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund“, ſagte ſie herzlich. „Erzählen Sie mir! Ich ſehe ja ſelbſt ein, daß ich mich in Geduld faſſen muß. Aber es hätte mich ſo glücklich gemacht, ſogleich etwas tun zu können.“ Ell ſchwieg noch immer. Er ſtützte den Kopf in ſeine Hand. „Ich hab Sie darum nicht weniger lieb“, ſagte Isma einfach. Beide ſahen ſich tief in die Augen. Ell ſprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann blieb er vor Isma ſtehen. „Ich dachte einen Augenblick — eine Möglichkeit, aber nein, es geht nicht. Es geht nicht.“ Er ſetzte ſich ihr gegenüber. „Hören Sie zu“, ſagte er. „Was ich Ihnen jetzt ſage, wird Ihnen unglaublich erſcheinen. Aber die Beweiſe ſollen Sie ſelbſt ſehen. Grunthe iſt hier. Und Saltner iſt auf der Reiſe nach dem Mars. Oben in meinem Garten liegt ein Luftſchiff der Martier. Mein Oheim Ill, der Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die Fahrt nach dem Pol dauert ſechs Stunden —“ „Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!“ rief Isma zurückweichend, die gefalteten Hände nach ihm ausſtreckend. In ihren Augen malte ſich Angſt. Sie fürchtete für ſeinen Verſtand. War das ſeine fixe Idee, die jetzt mit ihren Wahnvorſtellungen zum Ausbruch kam? Er ſtand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos ſitzen. Nur wenige Augenblicke, dann ſprang ſie auf. Grunthe trat in das Zimmer. Er machte ſeine ſteife Verbeugung. Isma ſtarrte auf ihn wie auf eine Erſcheinung. „Leſen Sie dieſe Depeſche“, ſagte Ell zu Grunthe. „Frau Torm hat ſie heute früh empfangen.“ Grunthe las, ſah noch einmal nach dem Datum, und ſagte dann: „Das iſt eine ſehr günſtige Nachricht, unter den einmal vorhandenen Umſtänden.“ „Und nun bitte, Grunthe“, rief Ell, „tun Sie mir den Gefallen und geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebniſſe. Kommen Sie, ſetzen wir uns.“ Grunthe ſprach in ſeiner knappen, faſt trockenen Weiſe. Da war nichts übertrieben, keine Vermutungen, kein ſubjektives Urteil, alles klar wie ein mathematiſcher Beweis. Isma ſaß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es überkam ſie wie ein Gefühl der Ehrfurcht. „Und nun ich hier bin“, ſchloß Grunthe, „darf ich keine Minute verſäumen, den Bericht fertigzuſtellen. Wir haben alle unſre Kräfte anzuſtrengen, das zu beweiſen, was uns niemand wird glauben wollen. Ich darf daher wohl auf Entſchuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt wieder zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick ſchenken?“ ſetzte er zu Ell gewendet hinzu. Er verbeugte ſich gegen Isma und wollte gehen. Da ſprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit zuſammengekniffenen Lippen ſtehenblieb. „Iſt es wahr“, fragte ſie, „das Luftſchiff liegt noch draußen?“ „Gewiß.“ „Und in ſechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?“ Grunthe nickte beſtätigend. „Ich bin heute früh ſelbſt in einer Stunde nach Wien und wieder zurückgefahren“, ſetzte Ell hinzu. „Ich danke Ihnen“, ſagte Isma zurücktretend. „Entſchuldigen Sie mich auf einen Augenblick — ich bin ſogleich wieder hier“, ſagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer verließ. Sie nickte ſchweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftſchiff. In ſechs Stunden konnte man am Nordpol ſein — nur ſechs Stunden! So lange braucht der Schnellzug nach Berlin. Das iſt eine Spazierfahrt. Sechs Stunden nur trennten ſie von Hugo. — — Wenn das Glück günſtig war, wenn das Schiff die richtige Bahn beſchrieb, ſo mußte man ihn bemerken, ſo konnte man ihn aufnehmen und zurückbringen — noch heute konnte er in Friedau ſein — Ach, aber ihn ſcheiden die Wüſten des Eiſes, die unzugänglichen Meere, die noch kein Forſcher zu durchqueren vermochte — dort ſitzt er in der kläglichſten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht, ohne Tat — in ewiger Nacht trauernd und ſich ſehnend nach der Heimat, umgeben von den Gefahren des furchtbaren Winters. — — Und hier daheim, hier reifen die Früchte ſeiner kühnen Fahrt, hier drängt ſich von Stunde zu Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier vollzieht ſich das Unerhörte, noch nie Geweſene — von den Sternen ſteigen die Götter herab, um die Menſchen zu laden zu ihrem ſeligen Wandel — hier, in dieſer Stadt, in dieſem Hauſe wird ein neues Zeitalter geboren, und er weiß nichts davon, kann nicht teilnehmen an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt, an dem Höchſten, was erlebt wurde und was ihr Herz ſo erwartungsvoll ſchlagen macht — und ſie muß es allein erleben — Und vielleicht nur ſechs Stunden — Allein — den ganzen Winter allein in ſolcher Zeit, wo Seele zu Seele gehört — allein? Ja, wenn ſie allein wäre! Aber der Freund? Wo bleibt er? Er iſt länger draußen aufgehalten, aber er wird kommen — er wird kommen ſo wie heute, dann jeden Tag, der einzige Vertraute, mit dem ſie alles teilen muß, was das Herz bewegt — mit ihm wird ſie allein ſein, der ihr ſo wert iſt, ſo lieb, und nun vor ihr ſteht in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer höheren Welt, zu dem ſie aufblickt — — Nein, nein! Sie will nicht allein ſein, und nicht allein mit ihm — Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach der geſchloſſenen Tür und glaubt ſeine Stimme zu hören. Sie blickt nach der Uhr — und der Gedanke läßt ſie nicht los: Nur ſechs Stunden! In ſechs Stunden kann alles entſchieden ſein — Ja, wenn ſie mitfahren könnte, durch die Lüfte reiſen nach dem Reich des Eiſes, wo er weilt — ſie würde ihn finden, ſie würde ihn ausſpähen, wo er ſich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der Hütte von Schnee — bis in die Gletſcherſpalte würde ihr Auge dringen — ſie ſchauerte zuſammen. Vielleicht ſchon lag er — ſie mochte das Schreckliche nicht denken. Dieſe furchtbare Ungewißheit — nein, das konnte, das wollte ſie nicht ertragen. Und die Fragen, die ewigen, und das Mitleid — und das höhniſche Ziſcheln, ob ſie ſich wohl tröſtet — — oh! Sie ſtampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft zuſammen. Dann ſtand ſie ſtill wie ein Bild aus Stein. Und nun wußte ſie es. Sie atmete tief auf. Die Starrheit löſte ſich. Ihr Entſchluß war gefaßt. Nur ſechs Stunden! Das Luftſchiff zog ſie mit magiſcher Gewalt an. Sie wollte fort, ſie wollte an den Pol, ſie würde ihn finden, den Verlorenen, ſie, Isma Torm. Wenn es ein Unrecht war, daß ſie um des Wunſches des Freundes willen den Mann nicht zurückhielt, ſo mochte dies ihre Buße ſein, und die ſeinige! Sie ſetzte ſich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe. Es war das Richtige, es mußte ſo ſein. Isma erhob ſich und ſchritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus derſelben entgegentrat. Er ſtutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angſt aus ihren Zügen war verſchwunden. Sie ſtand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren tiefblauen Augen ſprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer hingeriſſen hatte. Auf ihren Lippen lag es wie ein leiſes Lächeln. „Ell“, ſagte ſie — ſie ſtockte einen Augenblick wie verlegen „bei Ihrer Freundſchaft, wenn Sie mich liebhaben —“ „Isma!“ „Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“ „Was Sie wollen!“ „Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in ſeinem Luftſchiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt, wenn wir Hugo gefunden haben — ja, ja — ich werde ihn finden, wenn ich mit dem Luftſchiff ihn ſuchen darf — o, weigern Sie ſich nicht —“ Sie faßte ſeine Hände und ſah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in ihre Augen. „Und — kommen Sie ſelbſt mit!“ ſetzte ſie hinzu. Ell fand nicht ſogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet. „O Isma, Isma“, rief er endlich. „Was verlangen Sie? Dieſe Reiſe iſt nichts für Sie. Die Nume werden ſelbſt ſuchen, ſie ſuchen ſchon, und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.“ „Ich werde es. Was ſind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde ſehen, wo andere nicht hinblicken. Es ſind nur ſechs Stunden — ſo nahe —, und ich ſoll hier müßig ſitzen — den Gedanken ertrage ich nicht —“ „Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann ich nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menſchheit auf den Beſuch der Martier vorzubereiten. Was ich ſeit Jahren erwartet, ich muß nun die Konſequenzen ziehen —“ „Es handelt ſich vielleicht nur um wenige Tage.“ „Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken verſprochen. Und dann muß ich wahrſcheinlich nach Berlin.“ „Dann bin ich alſo ganz allein“, ſagte Isma leiſe. „Nein, nein — ich komme bald wieder.“ Isma wandte ſich ſchweigend ab. Dann kehrte ſie plötzlich zurück und ſagte faſt hart: „Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie nicht fortkönnen, laſſen Sie mich allein mitgehen. Laſſen Sie mich hingehen, Ell!“ Ell kämpfte mit ſich. Mit düſtern Blicken ſtarrte er durchs Fenſter. „Wo iſt das Schiff?“ fragte Isma. „Ich will die Nume bitten, ſie werden einer verlaſſenen Frau nicht abſchlagen, was der einzige Freund ihr nicht gewähren will.“ „Isma, ſeien Sie vernünftig!“ „Das Vernünftige iſt die Pflicht. Und dies iſt der einzige Weg, ſie zu erfüllen.“ „Und meine Pflicht iſt die Verſöhnung der Planeten. Dagegen muß das Geſchick des einzelnen zurücktreten.“ „Darum eben gehe ich allein.“ „Das werde ich nie zugeben.“ „Ich will“, ſagte Isma finſter. „Ich will zu meinem Mann.“ Ell ſtöhnte. Er ſah, wie ſie entſchloſſen der Tür zuſchritt. Sie drehte ſich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz. „Bleiben Sie, Isma“, rief er. „Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in der Macht der Menſchen ſteht und der Nume!“ „Nehmen Sie mich mit!“ „Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von ſeiner Entſcheidung ab.“ Ell brachte Isma zu ſeinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt, ihre Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell ſie zu der ſeinigen gemacht hätte. Denn Ill verſtand nicht deutſch, Ell mußte daher die Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichſter Teilnahme begegnete, verſprach ſofort, daß nach ſeiner Rückkehr mit Hilfe des Luftſchiffes die ſorgfältigſte Durchforſchung des arktiſchen Gebietes vorgenommen werden ſolle, ſo lange die Martier dazu noch Zeit hätten. Dazu wäre er ohnehin entſchloſſen geweſen, und nur die Zurückführung Grunthes und die Aufſuchung Ells hätten zuvor erledigt werden müſſen. Übrigens würde ſchon jetzt nach Torm geſucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich zu weiteren Reiſen nicht verwendbar, in Dienſt geſtellt werde. Er ſähe daher nicht ein, wozu es notwendig ſei, daß Ell oder gar Isma zu dieſem Zweck ihm an den Pol folgen ſollten. Erſterer wäre jetzt in Deutſchland nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darſtellung der Reſultate der Expedition zu unterſtützen. Man würde ihn auch jedenfalls ſeitens der Regierung zu Rate ziehen. Ell gab dies gern zu; es war ja vollſtändig ſeine Anſicht. Er ſagte, daß er nur den innigſten Wunſch von Frau Torm vertrete. Isma brachte nun ſelbſt ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills Gegenwart. Ell, der jetzt erſt hörte und im übrigen erriet, was Isma zur Reiſe antrieb, fühlte ſeinen Widerſtand gebrochen. Er unterſtützte nunmehr ihre Bitten und wollte ſie unter keinen Umſtänden verlaſſen. Er ſtellte daher Ill vor, daß ſich ſeine Reiſe wohl mit ſeinen Pflichten gegen die Martier vereinen laſſe, da ſie doch nicht länger als acht bis zehn Tage dauern würde. Denn gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht, vor ihrer Abreiſe nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma zurückbringen. In dieſer Zeit aber ſei er um ſo eher entbehrlich, als ſich die erſte Aufregung über das Erſcheinen der Martier erſt einigermaßen legen müſſe, ehe es zu ernſthaften Entſchlüſſen der Regierungen kommen könne. Bis dahin ſei er wieder zu Hauſe; inzwiſchen reiche Grunthe vollſtändig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es ſtehe alſo dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier ſich der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau und zurück zu machen. Das aber ſei doch in zwölf Stunden erledigt. Ell führte dies, hin und wieder von ſeinem Oheim unterbrochen, in eifriger Rede aus. Isma hörte dem Geſpräch, von dem ſie kein Wort verſtand, geduldig zu. Sie erſchrak, wenn ſie aus Ills Augen auf eine ablehnende Antwort ſchließen zu müſſen glaubte. Jetzt aber lächelte Ill und ſagte: „Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder herzubringen, iſt für uns kein Hindernis. Perſönlich würde es mich ſehr freuen, dich bei mir zu haben, und ſogar ſachlich könnte es von Vorteil ſein, da Fälle denkbar ſind, in denen wir unſer Schiff verlaſſen müſſen, um das Land zu betreten; und dann würdeſt du mit den Eskimos, die wir mitnehmen werden, mehr leiſten können als wir. Ich wundere mich aber, warum du für den Wunſch der Frau Torm ſo eifrig eintrittſt, der eigentlich nur einer Stimmung, man möchte faſt ſagen, einer Einbildung entſpringt.“ „Sie hegt nun einmal den Wunſch“, erwiderte Ell etwas verlegen, „ſie hält die Reiſe für ihre Pflicht, und es iſt der einzige Troſt, den ich ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunſch zu erfüllen ſuche.“ Ill blickte ſeinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. „Du liebſt dieſe Frau.“ Ell ſchwieg. „Und du willſt ſie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten wiederzugeben?“ „Ja.“ „So machſt du ihren Wunſch zu dem deinen?“ „Vollſtändig.“ „Ich möchte dir deine erſte Bitte nicht abſchlagen. Aber es iſt noch ein prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abweſenheit von hier für kurze Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein unglücklicher Zufall eintreten, der uns verhindert, hierher zurückzukehren. Deine Abweſenheit könnte ſich auf den ganzen Winter ausdehnen. Dann übernehmen wir eine furchtbare Verantwortung. Das Verſtändnis zwiſchen den Planeten ſteht auf dem Spiel.“ „Ich weiß es. Es iſt der Gedanke, der mich zuerſt der Bitte von Frau Torm widerſtehen ließ, der mich in Konflikt mit mir ſelbſt brachte. Aber gerade, weil wir nicht allwiſſend ſind, dürfen wir einen ſolchen Umſtand nicht in die Berechnung ziehen; er iſt nur als Zufall zu behandeln; ich kann morgen tot ſein, auch wenn ich nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich habe mich nun einmal um Ismas willen entſchloſſen; was daraus wird, muß ich mit meinem Gewiſſen abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle, weißt du.“ „Sonſt hätte dein Wunſch für uns nicht exiſtiert.“ „So aber, da es ſich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens handelt, dürfen wir auch nicht vergeſſen, daß mit der größeren Wahrſcheinlichkeit unſre Reiſe das Verſtändnis zwiſchen den Planeten fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er durch die Nume hierhergebracht wird, ſo haben wir das Zutrauen der Menſchen und ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen, als ſie ſelbſt durch mein Fernſein verloren werden könnten. Ich glaube alſo, daß wir im Intereſſe der Planeten ſelbſt wirken, wenn wir Torm ſuchen. Dieſer Grund iſt mir allerdings erſt jetzt eingefallen.“ Ill lächelte wieder. „Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch ſie eine Zeugin, die uns von Nutzen ſein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen Vorſchlag machen, das Äußerſte, was ich zugeben kann. Ich beurlaube dich von der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze ich unſern Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus nicht erſt hierher zurück, ſondern gehe ſogleich von dort nach Norden. Wollt Ihr alſo mit, ſo müßt ihr — wir haben heute, nach eurer Zeitrechnung —?“ „Den 9. September.“ „Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit uns aufzubrechen.“ Ell ſprang in die Höhe. Er dankte Ill und ſagte freudig zu Isma: „Wir dürfen mit. Aber wir müſſen übermorgen reiſefertig ſein.“ Und mit ernſterem Ausdruck ſetzte er hinzu: „Wollen Sie nicht lieber von Ihrem Vorhaben abſtehen? Sie können gewiß ſein, daß die Nume alles tun werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!“ Isma ſtand einen Augenblick unſchlüſſig. Sie ſah ſich in der Kajüte des Luftſchiffes um, in welcher ſie ſaßen. Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete ſich je eine Tür. „Hier ſind noch zwei Kabinen, je für einen Gaſt“, ſagte er. „Sie werden es etwas eng, aber ſonſt ganz bequem haben. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß ihr meine Gäſte ſeid“, ſetzte er zu Ell gewendet hinzu. Isma verſtand nicht ſeine Worte, aber ſeine Handbewegung. Sie ſtreckte Ill ſchüchtern ihre Hand entgegen, die er zwiſchen die ſeinigen nahm. „Ich danke Ihnen“, ſagte ſie, „von ganzem Herzen.“ Dann wandte ſie ſich zu Ell. Sie ſah ihn mit einem Blick an, dem er nicht widerſtehen konnte. „O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es Ihnen nie vergeſſen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, ſo danke ich ihnen, denn unter dieſen Fremden allein — es iſt mir alles ſo beängſtigend — und keiner verſteht mich — aber mit Ihnen — o Ell, ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um Sie verdient.“ Mit Tränen in den Augen reichte ſie ihm die Hände. „Alſo übermorgen.“ „Noch eins“, ſagte Ill, „eine Bedingung, die ich machen muß. Unſere Nachforſchungen werden am 12. September beginnen. Sie müſſen aber am 20. unter allen Umſtänden aufhören. Sind wir bis dahin nicht glücklich geweſen, ſo müſſen Sie es tragen. Am Morgen des 21. September ſetzt Sie dieſes Schiff wieder hier ab. Und ſo Gott will, ſchon früher und — zu dreien.“ Ell überſetzte Isma die Worte. „Gott ſei uns gnädig!“ ſagte ſie leiſe. „Und wie iſt es mit der Reiſe nach den Hauptſtädten?“ fragte Ell. „Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und Angaben ſchon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über Paris nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf Stunden zurücklegen. Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur hier breche ich ungeſehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir wieder hierher zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze Bevölkerung auf den Hals ziehen und vielleicht ernſtliche Schwierigkeiten haben, wenn man von unſerm Hierſein wüßte. Dagegen werden wir unſere Fahrt, wenn wir erſt jenſeits der Alpen ſind, und dann in Frankreich und England, zum Teil abſichtlich langſam und möglichſt vor aller Augen ausführen. Die Menſchen ſollen ſehen, was wir können, ſie werden dann Grunthe eher glauben. Auf irgendeinem unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige Stunden ungeſtört Mittagsruhe halten. Paris, London, Amſterdam, Brüſſel beſuchen wir im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug iſt, landen wir wieder hier. Und nun beſorge deine Geſchäfte und bereite alles vor.“ Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an ſeinem Arm. „Sie muten ſich zuviel zu, liebſte Freundin.“ „Nein, nein“, ſagte ſie. „Ich weiß, was ich kann. Es iſt nur die ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff — aber ich werde mich daran gewöhnen. Es iſt ſchon wieder beſſer in der freien Luft.“ „Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der Marsſchwere zu ſein brauchen.“ „Das iſt ja alles gleichgültig. Nun will ich nur ſchnell nach Hauſe. Sie können ſich denken, daß ich viel zu tun habe“, ſagte ſie mit ſchwachem Lächeln. „Warten Sie, ich will einen Wagen holen laſſen.“ „Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem Parkpförtchen laſſen? Dann ſpare ich Weg.“ „Gewiß, ich habe den Schlüſſel hier.“ Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er zu einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwiſchen neun Uhr geworden. Isma zog den Schleier vor das Geſicht. Noch ein herzlicher Händedruck, und ſie ſchritt ſchnell den Weg nach der Stadt hinab. Zwei Herren begegneten ihr, die ſie ſcharf anſahen und ſich dann etwas zuflüſterten. Ell war noch einen Augenblick ſtehen geblieben und hatte ihr nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die beiden Spaziergänger herangekommen. „Ach, guten Morgen, Herr Doktor“, ſagte der eine mit näſelnder Stimme. „Was macht der Nordpol?“ „Schon ſo früh intereſſanten Beſuch gehabt? Wie?“ ſagte der andere. „Wohl ſehr beſorgt um den Herrn Gemahl?“ Ell ſah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein Wort zu ſagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erſchrocken zurück, und aus Ärger über ſeine eigene Verlegenheit rief er Ell protzig nach: „Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?“ Ell drehte ſich um. „Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts angeht, wird man nicht fragen dürfen. Adieu.“ „Ich bitte doch, ſoll das vielleicht eine Zurechtweiſung ſein? Dann möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.“ „Tun Sie, was Sie wollen“, ſagte Ell. „Ich habe keine Zeit.“ Er ſchloß die Tür hinter ſich und ging zu Grunthe zurück. 24. Die Lichtdepeſche Sobald die Redaktion der erſten Berichte beendet war, begab ſich Grunthe nach dem Miniſterium, um ſeine Anweſenheit in Friedau und die vorgelegten Dokumente beglaubigen zu laſſen. Von dort trug er die Depeſchen ſogleich nach dem Telegraphenamt. Die Beamten hatten ihn verwundert angeſtarrt. Einige Friedauer erkannten ihn unterwegs und verſuchten, ihn auszuforſchen. Aber auf alle Fragen hüllte er ſich in Schweigen, und ſo gelang es ihm, noch ziemlich ohne Aufſehen nach der Sternwarte zurückzugelangen, während ſich in der Stadt bereits das Gerücht von der Rückkehr der Expedition und wunderbare Fabeln von den Bewohnern des Mars verbreiteten. Noch ehe Grunthe zurückkehrte, erhielt Ell den Beſuch eines ihm befreundeten Oberlehrers des Friedauer Gymnaſiums, Dr. Wagner. Der elegant gekleidete Herr trat mit einem etwas gezwungenen Lächeln ein und ſagte, nach der erſten Begrüßung verlegen ſein Schnurrbärtchen drehend: „Ich habe da einen etwas fatalen Auftrag, den ich aber nicht ablehnen konnte. Weil wir uns ja kennen, dachte ich, ich könnte die Sache am beſten beilegen. Weißt du, du haſt da heute früh mit dem Herrn von Schnabel —“ Ell machte eine abwehrende Bewegung. „Na ja“, ſagte Wagner, „es iſt ein nicht ſehr angenehmer Herr, hä, außerdem ſo etwas“ — er klopfte mit dem Finger an die Stirn — „ſeinerſeits taktlos und dabei furchtbar empfindlich. Du haſt ihn ja wahrſcheinlich ganz mit Recht abfallen laſſen, aber er fühlt ſich von dir brüskiert, und ich ſoll da eine Art von Erklärung fordern.“ „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Ell lächelnd, „ich habe ihm verwieſen, naſeweiſe Bemerkungen zu machen über Dinge, die ihn nichts angehen. Ich habe ihn vielleicht etwas ſchroff behandelt, aber einerſeits hat er es verdient, andrerſeits hatte ich den Kopf wirklich mit wichtigeren Dingen voll, als ſie die Neugier von Herrn Schnabel erregen. Wenn es ihn tröſtet, ſo ſage ihm, daß mir nichts ferner gelegen hat als ihn beleidigen zu wollen.“ „Hm — ich weiß nicht, ob ihm das genügen wird, er verlangt, daß du deine Äußerungen formell zurücknimmſt.“ „Ich habe nichts zurückzunehmen, da ich nur die Wahrheit geſagt habe, er muß ſich alſo ſchon an der Erklärung genügen laſſen, daß ich ihn nicht beleidigen wollte. Eine Unhöflichkeit iſt noch keine Beleidigung. Wenn er ſich aber ſeiner Fragen wegen entſchuldigen will, ſo bin ich auch bereit, wegen der unhöflichen Form meiner Antwort um Entſchuldigung zu bitten. Ich dächte, die Angelegenheit wäre erledigt.“ „Ich fürchte“, ſagte Wagner verlegen, indem er aufſtand, „es werden ſich da wohl noch weitere Folgen daran knüpfen. Ich kenne ja deine Anſichten über dergleichen Affären, ich bin auch ganz deiner Meinung, aber, hä, in meiner Stellung, ich muß da Rückſichten nehmen, weißt du, du wirſt mir’s alſo zugutehalten — ich wollte nur vermitteln und werde ihm zureden. Wenn es nur nützt! Er wird dir wohl da noch einen Kartellträger ſchicken.“ „Er ſoll ſich nur die Mühe ſparen, ich würde den Herrn an die Luft ſetzen. Aber ich danke dir für deine Bemühung. Alſo, wie geſagt, erkläre ihm in aller Form, daß mir jede Abſicht einer Beleidigung ferngelegen hat, daß ich mir aber das Recht vorbehalten müßte, mir unberufene Fragen zu verbitten, und er ſich in bezug hierauf zunächſt ſelbſt zu entſchuldigen hätte. Und nun entſchuldige du auch mich, alter Freund, du wirſt heute noch merkwürdige Dinge von mir hören.“ Wagner wollte weiter fragen, aber Ell verabſchiedete ſich freundſchaftlich, und Wagner ging kopfſchüttelnd ab. Schon eine Stunde ſpäter — Grunthe war eben zurückgekommen, und Ell wollte ſich mit ihm zu Tiſch ſetzen — Ill hatte die Einladung abgelehnt, er wollte ruhen —, erſchien der Kartellträger des Herrn von Schnabel und überbrachte Ell eine Forderung. Der Herr, ein junger Aſſeſſor, hatte ſich ſeines Auftrages kaum in feierlichſter Weiſe erledigt, als Ell ihm mit blitzenden Augen entgegentrat und ihn anfuhr: „Wie können Sie ſich unterſtehen“, rief er, „mich durch eine derartige Zumutung zu beleidigen? Wofür halten Sie mich? Bin ich ein raufluſtiger Bruder Studio oder ein pflichtvergeſſener Narr? Ich bin ein Mann, der ſeine Arbeitskraft ernſten Dingen ſchuldet. Übrigens bedauere ich Sie“, ſagte er milder, „Sie haben ſich jedenfalls nicht klargemacht, was Sie tun. Ich wünſche von der Sache nichts mehr zu hören.“ Der Aſſeſſor wollte auffahren, aber auf eine Handbewegung Ells machte er kehrt und verließ das Zimmer. Ell ſetzte ſich mit Grunthe zu Tiſch. „Das wird auch Zeit“, ſagte er, noch etwas erregt von dem letzten Auftritt, während er ſeine Serviette entfaltete, „daß mit dieſem Unfug einmal aufgeräumt wird. Das iſt ſo einer von den Punkten, in denen die Martier keinen Spaß verſtehen. Ich will hoffen, daß es nicht zu Konflikten kommt.“ * * * Im Lauf des Nachmittags wurden von allen Zeitungen, nicht bloß in Deutſchland, ſondern in ganz Europa, Extrablätter ausgegeben. „Neues vom Nordpol!“ — „Die Bewohner des Mars auf der Erde!“ — „In ſechs Stunden vom Nordpol!“ So und ähnlich lauteten die Ausrufe auf den Straßen. Man riß ſich die Blätter aus der Hand. Vom Erlös für dieſelben hätte man allein eine neue Nordpolexpedition ausrüſten können. Die Blätter enthielten zuerſt die Depeſche Torms an Isma. Sodann folgten ein knapper Bericht Grunthes über die weiteren Erlebniſſe der Expedition und kurze Angaben über die Martier und ſeine Heimkehr. Endlich eine Beſtätigung der letzteren durch Ell und die Beglaubigung ſeitens des fürſtlichen Staatsminiſteriums in Friedau, daß Grunthe die im Bericht erwähnten Dokumente und Effekten perſönlich vorgelegt habe. Nur eines war mit Stillſchweigen übergangen, nämlich daß ſich das Luftſchiff noch in Friedau befinde. Dagegen war die Abſtammung Ells kurz erwähnt worden, weil ſie dazu dienen konnte, das Unbegreifliche einigermaßen der menſchlichen Vorſtellungskraft näherzurücken. Ein ausführlicher ſchriftlicher Bericht war noch vormittags an den Reichskanzler abgegangen. Am Abend ſchon traf eine telegraphiſche Depeſche ein, durch welche Grunthe und Ell erſucht wurden, ſich ſobald als möglich mit allen Beweisſtücken perſönlich in Berlin einzuſtellen. Se. Majeſtät habe ſofortigen Bericht eingefordert. Eine Stunde ſpäter erhielt Grunthe ein Glückwunſch-Telegramm des Kaiſers, ebenſo Frau Torm eine in ſehr liebenswürdiger Form ausgeſprochene Beileidsbezeugung, in welcher das Vertrauen auf die glückliche Heimkehr ihres Gatten ausgedrückt war. Von dem Augenblick an, in welchem die Extrablätter ausgegeben wurden, war die Sternwarte Ells von Beſuchern beſtürmt. Das Läutwerk des Telephons kam ſo wenig zur Ruhe wie die Türklingel, und bald häuften ſich Telegramm auf Telegramm, Glückwünſche und Anfragen. Da dies vorauszuſehen war, hatte Ell einige ſeiner perſönlichen Freunde in Friedau gebeten, ihn zu unterſtützen. Sie ordneten die Eingänge der Depeſchen und empfingen die Beſuche. Ell und Grunthe ließen ſich nicht ſehen. Beide trafen die Vorbereitungen zu ihren Reiſen. Grunthe mußte allein nach Berlin gehen, was ihm nicht ſehr angenehm war. Ell gab ihm die fertiggeſtellten Manuskripte mit. Ein Berliner Verleger hatte ihm bereits telegraphiſch einen hohen Preis geboten für alles, was er über die Martier ſchreiben wolle. Ell verlangte das Zehnfache und erhielt es ſofort zugeſtanden, da der Verleger wußte, daß man von London aus das Zwanzigfache geben würde. Ell beſtimmte das Honorar für die Teilnehmer der Expedition. Isma hatte auf Ells Rat ihre Beſorgungen ſogleich am Vormittag gemacht, ſoweit ſie dazu in die Stadt gehen mußte. Denn es ließ ſich erwarten, daß ſie keine Ruhe mehr finden würde, ſobald die Nachricht bekannt geworden ſei. Sie fühlte ſich zu angegriffen, um die ſich drängenden Beſuche anzunehmen, fand aber ebenfalls einige Freundinnen, die ihr dieſe Mühe abnahmen und ſich ein Vergnügen daraus machten, ihr ſpezielles Wiſſen immer wieder aufs neue mitzuteilen. Von ihrer Abſicht, zu verreiſen, ſagte ſie nichts. Nur ihrem Mädchen teilte ſie mit, daß ſie in den nächſten Tagen auf etwa eine Woche von Friedau fortgehen würde; ſie konnte ihr vertrauensvoll die Wohnung überlaſſen. Am folgenden Tag reiſte Grunthe frühzeitig, bald nachdem ſich das Luftſchiff der Martier unbemerkt entfernt hatte, nach Berlin ab. Die Flut der Anfragen bei Ell nahm noch zu. Es kamen jetzt auch auswärtige Beſucher, und nicht alle durfte er abweiſen. Vor dem Gittertor der Sternwarte ſtand den ganzen Tag über eine Menge Neugieriger und guckte in den Hof, als ob dort etwas zu ſehen wäre. Gegen Abend verließ Ell durch die Parkpforte ſein Grundſtück und begab ſich zu Isma, um ſie zu fragen, ob er ihr noch irgendwie behilflich ſein könne. Isma dankte. „Es iſt ja nur eine kurze Reiſe“, ſagte ſie wehmütig lächelnd. Man verabredete, daß ſie am andern Morgen frühzeitig an der Parkpforte ſein ſolle. Ihren kleinen Handkoffer konnte das Dienſtmädchen tragen. Auf dem Rückweg beſorgte Ell noch einigen Proviant, den er auf Grunthes Rat mitnehmen wollte, weil die Lebensmittel der Martier für den Anfang vielleicht Isma und ihm nicht zuſagen würden. Er nahm daher ſeinen Weg durch die Stadt. Hier aber heftete ſich bald die Straßenjugend neugierig an ſeine Ferſen und folgte ihm auf jedem Schritt. Anfänglich hielten die Kinder ſich ſcheu zurück, dann brachte ein Witzbold das Wort auf: „Das iſt der vom Monde, der Mann vom Monde! Guck här, ’s kummt eener vom Monde!“ Ell beeilte ſich, nach Hauſe zu gelangen. Er nahm ſich nicht Zeit, eines der Extrablätter zu kaufen, zu denen ſich das ‚Friedauer Intelligenzblatt‘ in Ermangelung einer Abendausgabe aufgerafft hatte. Das Extrablatt brachte bereits einen Bericht über den Empfang Grunthes beim Reichskanzler, der indeſſen offenbar der Phantaſie eines Berliner Korreſpondenten entſprungen war. Dann aber enthielt es Depeſchen aus Rom, Florenz, von der meteorologiſchen Station des Montblanc, aus Paris und London über die Beobachtung eines Luftſchiffs. Das Luftſchiff war zuerſt in Rom wahrgenommen worden, wo es am Morgen ſchon um ſieben Uhr auftauchte, die Stadt umkreiſte und nach allen Richtungen hin überflog. Es entfernte ſich nach einer Stunde, wurde im Laufe des Vormittags noch in verſchiedenen italieniſchen Städten geſehen, um 11 Uhr umflog es in unmittelbarer Nähe die Spitze des Montblanc, ſo daß die anweſenden Touriſten die Bemannung des Fahrzeugs erkennen konnten. In Paris und London waren dieſe Nachrichten ſchon durch Extrablätter bekanntgegeben, man achtete alſo am Nachmittag geſpannt darauf, ob ſich das Schiff zeigen würde. Alsbald verbreitete ſich in Paris das Gerücht, das Luftſchiff ſei eine Erfindung der Preußen und ſpeziell dazu beſtimmt, die Befeſtigungen von Paris auszukundſchaften. In der Tat erſchien das Luftſchiff um 3 Uhr nachmittags am Horizont und umkreiſte in langſamem Segelflug die Forts im Südoſten der Stadt. Man wurde unruhig und löſte einen Warnungsſchuß. Darauf ſtieg das Schiff etwas höher und umflog nun den ganzen Kreis von Befeſtigungen, aber auf der inneren Seite nach der Stadt zu, ſo daß man ihm nichts anhaben konnte, ohne die Stadt ſelbſt zu gefährden. Um fünf Uhr ſchoß es in die Höhe und erſchien eine halbe Stunde ſpäter in London. Es überſchritt die Themſe bei Greenwich, zog dann in einem weiten Halbkreis nördlich um die Stadt, wandte ſich am Hyde Park wieder nach Oſten und kreuzte über dem Häuſermeer. Auf allen freien Plätzen ſtanden dichtgedrängte Volksmaſſen, welche mit Tüchern winkten und Hurra ſchrien. Böllerſchüſſe wurden gelöſt, und die Schiffe auf dem Fluß hißten ihre Flaggen. Das Luftſchiff aber kümmerte ſich um nichts. Sobald die Sonne ſich zum Untergang neigte, zog es die Flügel ein und ſtieg ſenkrecht ſo hoch in die Lüfte, daß es den Blicken entſchwand, und man nicht angeben konnte, wohin es ſich gewendet hatte. Um zehn Uhr abends ſenkte ſich eine dunkle Maſſe langſam auf den Garten der Sternwarte von Friedau. Es war zwiſchen zwei und drei Uhr nachts, als Ell davon erwachte, daß die Sonne hell in ſein nach Norden gelegenes Schlafzimmer hineinſchien. Verwirrt richtete er ſich auf, aber ehe er bis an das Fenſter gelangte, war die Erſcheinung verſchwunden. Die Nacht war nur vom matten Schimmer des aufgehenden Mondes erhellt. Plötzlich aber leuchtete ein beſchränkter Bezirk der Landſchaft wieder im Sonnenlicht, und dieſe erhellte Stelle veränderte ihren Ort, in gerader Linie von Norden nach Süden laufend, bis ſie den Garten der Sternwarte, jetzt etwas weſtlich vom Haus, wieder erreichte. Da die Richtung des in der Luft deutlich erkennbaren Lichtſtreifens unter einer Neigung von etwa 24 Grad direkt nach Norden lief, ſo war es Ell ſofort klar, daß man die Gegend von der Ringſtation der Martier aus mit einem rieſigen Reflektor ſyſtematiſch abſuchte. Denn dieſer Punkt lag für die Friedauer Warte in einer Höhe von 23 Grad 56 Minuten. Ell kleidete ſich daher ſchleunigſt an und begab ſich nach dem Garten, wo das Luftſchiff lag. Er bemerkte, daß das Schiff ſeine Lage verändert hatte. Es befand ſich jetzt auf der Südſeite des geräumigen Raſenplatzes, ſo daß der Blick nach Norden über die Bäume freier wurde und die Spitzen derſelben tiefer als 24 Grad lagen. Als er auf den Platz trat, war das Schiff und die ſüdliche Baumwand ſo ſtark von der Sonne beleuchtet, daß er geblendet wurde. Aber noch hatte er das Schiff nicht erreicht, als das Licht verſchwand. Sein Weg wurde jetzt nur durch den ſchwachen Schein einer Lampe aus dem Innern des Fahrzeugs erhellt. Ill war damit beſchäftigt, einen Ell unbekannten Apparat einzuſtellen. Ein Offizier des Schiffes war ihm dabei behilflich. „Entſchuldige, wenn ich ſtöre“, ſagte Ell, „aber ich glaubte bemerkt zu haben, daß man Zeichen von der Außenſtation gibt.“ „Es iſt ſo“, ſagte Ill, „und ſie haben uns jetzt gefunden. Es muß etwas Wichtiges paſſiert ſein. Nimm Platz und gedulde dich ein wenig. Wir werden ſogleich die Unterhaltung beginnen können. Die Verbindung iſt bereits optiſch hergeſtellt, wir müſſen jetzt langwellige unſichtbare Strahlen anwenden, um telephonieren zu können.“ Ell fragte erſtaunt: „Telephonieren? Du willſt mit der Station ſprechen?“ „Ja“, ſagte Ill, „vermittels der Strahlen. Aber es muß nun vollſtändige Ruhe herrſchen.“ Ell ſetzte ſich ſtill in den Hintergrund. Eine Hoffnung ſtieg in ihm auf. Sollte man vielleicht Torm gefunden haben? Ill brachte ſein Ohr an den Apparat. Ell vermochte nichts zu hören, auch was Ill ſprach, konnte er nicht vernehmen, da es ganz leiſe in den telephoniſchen Apparat geſprochen wurde. Etwa eine halbe Stunde mochte ſo vergangen ſein. Dann wendete ſich Ill zu ſeinem Neffen. „Wir müſſen unſern Aufbruch aufs möglichſte beſchleunigen“, ſagte er. „Meine Anweſenheit auf der Inſel iſt dringend erforderlich, vorausſichtlich unſere Hilfe.“ „Was iſt geſchehen? Keine Nachricht von Torm?“ „Bis jetzt nicht. Ich ſagte dir bereits, daß wir noch ein kleineres Luftboot in Betrieb ſetzen wollten. Das iſt geſchehen. Es bedarf nur vier Mann zur Beſatzung, kann aber auch nur die halbe Geſchwindigkeit im Mittel erreichen wie hier unſer Luftſchiff. Für die Fahrten im Polargebiet hat es ſich jedoch, wie ich eben erfahre, als ſehr geeignet erwieſen. Die Unſern ſind damit in drei Stunden bis zum 80. Breitengrad nach Süden gelangt. Mit dieſem Boot ſind die Nachforſchungen nach Torm aufgenommen worden. Und bei dieſer Gelegenheit iſt es zu dem unangenehmen Zwiſchenfall gekommen, der meine ſofortige Rückkehr erfordert.“ „Ein Unglücksfall?“ „Ein Konflikt mit einem europäiſchen Kriegsſchiff.“ „Nicht möglich! Wo?“ „Auf 81 Grad Breite, 294 Grad Länge ungefähr. Infolge eines Mißverſtändniſſes jedenfalls — ich ſehe darin noch nicht ganz klar — ſind unſre Leute am feſten Land, während ſie verunglückten Matroſen des Kriegsſchiffs Hilfe zu bringen verſuchten, von anderen überfallen worden. Zwei gerieten in Gefangenſchaft der Menſchen, die beiden anderen konnten auf dem Luftboot entfliehen. Das Boot ſelbſt iſt beſchoſſen worden und ſcheint dabei gelitten zu haben. Ich muß alſo mit unſerm Schiff hin, um auf jeden Fall die beiden Leute zurückzuholen. Und ſo bleibt gar nichts übrig, du mußt dich ſogleich aufmachen und verſuchen, Frau Torm zu wecken und hierherzubringen, wenn ſie dabei beharrt, uns zu begleiten. Größte Eile tut not. Wir machen inzwiſchen unſer Schiff klar.“ Es war für Ell eine recht peinliche Aufgabe, mitten in der Nacht und möglichſt ohne Aufſehen zu erregen Isma zur Reiſe nach dem Nordpol abzuholen. Doch es mußte geſchehen. Schließlich kam es jetzt ſchon nicht mehr darauf an, ob ſich die böſen Zungen von Friedau noch etwas mehr aufregten. Isma, die in dieſer Zeit ſtets gefaßt war, durch eine Nachricht aus dem Schlaf geweckt zu werden, eilte ans Fenſter, als Ell die Hausklingel ertönen ließ. Sie erkannte Ell. Wenige Worte genügten zur Verſtändigung. Eine halbe Stunde ſpäter verließ ſie das Haus, ohne daß ihr Mädchen, das auf der andern Seite der Wohnung ſchlief, erwacht wäre. Ein paar Worte, die Isma auf einem Zettel zurückließ, beſagten nur, daß ſie ihre Reiſe unerwartet ſchnell hätte antreten müſſen. Aus der Dunkelheit tauchte Ell neben ihr auf und nahm ihr den Handkoffer ab. Ein verſchlafener Nachtwächter ſah ihnen verwundert nach. In tiefer Ruhe, wie ausgeſtorben lag die Stadt Friedau, als im erſten Grauen der Morgendämmerung das Luftſchiff der Martier ſich erhob, um alsbald mit der größten Anſpannung ſeiner Maſchine ſich durch die Höhen des Luftmeers nach Norden zu ſchnellen. 25. Engländer und Martier Das engliſche Kanonenboot ‚Prevention‘ hatte den Auftrag, die im Intereſſe der Polarforſchung angelegten Depots im Smith-Sund und weiter nach Norden, ſoweit es die Eisverhältniſſe ohne Gefährdung des Schiffes geſtatteten, zu revidieren und zu vermehren. Kapitän Keswick traf die Lage ſehr günſtig. Die Kane-Bai war in ihrer Mitte völlig eisfrei, ſie wurde in raſcher Fahrt paſſiert, die ‚Prevention‘ dampfte in den Kennedy-Kanal hinein und drang ohne Schwierigkeiten bis über 80,7 Grad Breite vor; hier legte ſie ſich an einer günſtigen Stelle vor Anker und ſchickte ein Boot zur Aufſuchung eines paſſenden Ortes aus, um an dem felſigen Ufer eine Niederlage von 3.600 Rationen zu errichten. Man fand in einer kleinen Bucht eine natürliche Felſenhöhle, in welcher die Vorräte ſicher geborgen werden konnten. Während die Bemannung des Bootes zum größten Teile mit dieſer Arbeit beſchäftigt war, erſtieg Leutnant Prim mit zwei Matroſen den Hügel über der Höhle, um dort als Signal einen Cairn zu errichten. Die Spitze des Hügels ſah auf eine breite, teilweiſe mit Eis bedeckte Ebene, ſo daß der Cairn auf weithin, ſowohl vom Land als vom Waſſer aus, zu ſehen ſein mußte. Denn dieſer zu errichtende ‚Steinmann‘ ſollte dazu dienen, in ſeinem Innern die Dokumente aufzunehmen, welche die Lage der in der Umgegend niedergelegten Depots bezeichneten, er mußte daher einen Platz erhalten, wo er für etwa hierher vordringende Reiſende auf weithin wahrgenommen werden konnte. Der Steinmann war ſoweit fertig, daß der Offizier die Blechbüchſe mit den Papieren darin deponieren konnte, und die Matroſen waren damit beſchäftigt, den Bau zu ſchließen und noch mehr zu erhöhen. Als Leutnant Prim inzwiſchen auf dem Hügel herumkletterte, bemerkte er in der Ferne einige dunkle Punkte, die er alsbald als weidende Moſchusochſen erkannte. Sie zogen nach Süden und näherten ſich langſam ſeinem Standpunkt. Alsbald war die Jagdluſt in ihm erwacht, er ergriff eines der mitgebrachten Gewehre und bedeutete ſeine Leute, ihre Arbeit zu vollenden und ihm dann nachzukommen. Er hoffte raſch einen guten Schuß tun zu können. Bald war er hinter einigen Felsvorſprüngen verſchwunden. Die Matroſen ſchlenderten ebenfalls in der Umgebung umher, um noch einige große Steine aufzuſuchen, als ſie im Norden, rechts von der Seite, wohin der Offizier, nur die Moſchusochſen im Auge haltend, gegangen war, einen dunklen Punkt über dem Horizont auftauchen ſahen. Derſelbe nahm ſchnell an Größe zu und erwies ſich zu ihrem nicht geringen Erſtaunen als ein rieſiger Vogel, der ſeinen Flug mit großer Geſchwindigkeit direkt auf ſie zu nahm. Eine Weile ſtanden ſie ſtill und ſtarrten auf die merkwürdige Erſcheinung. Dann liefen ſie nach dem Cairn zurück, um ihre Gewehre zu holen. Da ſich das rätſelhafte Tier bereits ſtark genähert hatte, ergriff ſie Furcht, und ſie zogen es vor, ſo ſchnell wie möglich den Hügel hinabzulaufen, um Zuflucht bei ihren Gefährten zu finden. Zwiſchen den Felstrümmern, von Zeit zu Zeit nach dem Ungeheuer ſich umblickend, das ſich jetzt in weitem Bogen nach dem Steinmann hin zu ſenken ſchien, verfehlten ſie jedoch die Richtung und kamen an eine mit Eis gefüllte, ſteil abfallende Schlucht. Plötzlich ſtieß der Vorangehende einen Schrei aus. Er hatte auf dem ſteilen Abhang einen Fehltritt getan und ſtürzte, auf die Felsvorſprünge aufſchlagend, in die Schlucht. Sein Gefährte blickte ihm mit Entſetzen nach und wollte den Verſuch machen, zu ihm hinabzuklettern. Mit den Händen ſich anklammernd, ließ er ſich eben auf einen tiefer liegenden Felſen nieder, als plötzlich über ihm der glänzende Leib des Rieſenvogels mit eingezogenen Flügeln erſchien. Er bebte in abergläubiſcher Furcht, ſeine Glieder zitterten, er vermochte ſich nicht länger zu halten und ſtürzte ebenfalls in die Tiefe. Kaum hatten die vier Martier in dem vom Pol herkommenden Luftboot, das die Matroſen für ein Luftungeheuer gehalten hatten, das Unglück erkannt, das ſie durch ihr Erſcheinen unſchuldigerweiſe angerichtet hatten, als ſie das Luftboot langſam und vorſichtig ſich in die Schlucht hinabſenken ließen. Bald hatten ſie die Körper der Unglücklichen erreicht. Blutüberſtrömt lagen ſie vor ihnen. Obgleich keine Hoffnung war, die Menſchen ins Leben zurückzurufen, wollten ſie doch ihre Leichen nicht in der Schlucht liegen laſſen. Da es unzweckmäßig war, ſie in das Boot hineinzunehmen, legten ſie die Verunglückten in das Netz, das ſich unter ihrem Boot ausſpannen ließ. Dann erhoben ſie ſich mit ihnen und dirigierten das Boot nach der Spitze des Hügels. Sie überzeugten ſich hier, daß beide Menſchen tot ſeien. Sie legten ſie am Fuße des Cairn nieder und brachten dann ihr Luftboot in eine geſicherte Lage in der Nähe. Zwei von ihnen blieben im Boot zurück, während die beiden andern noch einmal nach dem Steinmann zurückgingen, um ihn näher zu unterſuchen. Die Öffnung war noch nicht vermauert, und ſie entdeckten bald die Büchſe mit den Dokumenten. Sie öffneten dieſe und muſterten den ihnen unverſtändlichen Inhalt. Während ſie hiermit beſchäftigt waren, kehrte Leutnant Prim zurück. Das Boot der Martier konnte er von ſeinem Standpunkt aus nicht ſehen, auch hatte er es vorher, nur auf das Wild und ſeinen Weg achtend, nicht wahr genommen. Jetzt erblickte er zwei fremde, ſeltſam gekleidete Männer, die ſich ſeiner Papiere bemächtigt hatten. Und neben ihnen — entſetzt wich er zurück — lagen die beiden Matroſen, entſeelt, mit blutigen, zerſchmetterten Stirnen. Er konnte nicht anders glauben, als daß er ihre Mörder vor ſich habe. Er riß das Gewehr in die Höhe und rief ſie an. Die Martier blickten erſtaunt empor. Sie deuteten auf die verunglückten Matroſen und riefen Prim zu, daß ſie ſie aus der Schlucht herausgebracht hätten. Er dagegen befahl ihnen, die Papiere hinzulegen und ſich zu ergeben. Natürlich verſtanden ſie ſich gegenſeitig nicht. Noch einige Rufe hin und her, ohne daß die Martier Miene machten, ſich zurückzuziehen, wie es Prim verlangte, da knallte ſein Gewehr, und die Kugel durchbohrte die blecherne Büchſe, welche der eine der Martier in der Hand hielt. Ein zweiter Schuß aus dem Repetiergewehr folgte ſofort, aber der Martier hatte ſich bereits beiſeite geworfen, die Kugel ging fehl. Im nächſten Augenblick ließ Prim das Gewehr machtlos aus der Hand fallen. Er war nicht verwundet, aber die Hand war gelähmt, er konnte ſie nicht bewegen. Der andere Martier hatte mit ſeinem Telelyt-Revolver die motoriſchen Nerven der Hand gelähmt. Inzwiſchen hatten die mit der Hinterlegung des Depots beſchäftigten Mannſchaften ihre Arbeit beendet. Die im Boot zurückgelaſſene Wache war auf das Erſcheinen des Luftboots, das jedoch bald wieder durch die Felshöhe über ihnen verdeckt wurde, aufmerkſam geworden und hatte die übrigen Seeleute verſtändigt. Dieſe machten ſich ſofort unter Führung eines Unteroffiziers daran, den Hügel zu erſteigen. Da ertönten die beiden Schüſſe, welche ihre Schritte beſchleunigten. Im Augenblick darauf rannten ſie mit Geſchrei auf den Gipfel des Hügels zu. Prim, der ſich von ſeiner augenblicklichen Verwirrung erholt hatte, riß mit der linken Hand ſeinen Revolver aus dem Gürtel und ſtürzte auf die Martier zu, indem er rief: „Hierher, Leute, hier ſind die Mörder! Faßt ſie!“ Der Martier erhob aufs neue ſeine Waffe — ſein Begleiter war unbewaffnet —, und auch der Revolver entfiel dem Offizier — er konnte ſeine linke Hand ebenfalls nicht mehr bewegen. Gleichzeitig aber wurde der Martier durch einen Stoß in den Rücken niedergeworfen. Die Matroſen waren im Sturmlauf herangekommen. Im Handgemenge waren die Martier ohnmächtig. Sie wußten dies und machten daher auch keinen weiteren Verſuch, ſich zu wehren. Auf den Befehl des wütend gewordenen Offiziers wurden ſie gefeſſelt, und die Matroſen trieben ſie mit Fauſtſtößen vor ſich her, um ſie in das Boot zu bringen. Die Schüſſe und das nachfolgende Geſchrei hatten die beiden im Boot zurückgebliebenen Martier aufmerkſam gemacht; da ſie aber nicht ſchnell genug über die Felſen hätten klettern können, die ſie vom Schauplatz des Kampfes trennten, ließen ſie das Luftboot ſo weit aufſteigen, daß ſie beobachten konnten, was geſchehen. Sobald ſie ihre Kameraden gefangen ſahen, verſuchten ſie, ihnen mit dem Luftboot zu Hilfe zu kommen. Aber kaum näherte ſich dieſes, als die Engländer ein Schnellfeuer eröffneten. Die Geſchoſſe drangen in die Rob-Wände des Bootes ein, und wenn ſie dieſelben auch nicht durchſchlugen, ſo lag doch die Gefahr nahe, daß ſie Stellen trafen, an denen der feine Mechanismus des Steuerapparates beſchädigt werden konnte. Die Martier ſtiegen daher mit ihrem Boot ſchleunigſt ſo hoch, daß ſie von den Kugeln nicht mehr gefährdet waren, und überlegten, was zu tun ſei. Sie beſaßen zwei Telelytgewehre, mit denen ſie imſtande geweſen wären, aus ſicherer Entfernung die ganze Mannſchaft zu vernichten oder wehrlos zu machen, um dann ihre Kameraden zu befreien. Aber da ſie ſowohl ſelbſt, der Luftſtrömung wegen, nicht völlig ruhig liegen konnten, und auch die Gefangenen mitten zwiſchen den Matroſen in Bewegung waren, konnten ſie aus ſo großer Entfernung nicht auf ein ſicheres Zielen und genau berechenbare Wirkung vertrauen. Während ſie zögerten, wurden ihre Kameraden in das Boot gebracht, das ſich mit ſchnellen Ruderſchlägen vom Ufer entfernte. Sie folgten ihm in der Höhe und ſahen bald das Kriegsſchiff in der Ferne. Als ſie dieſes nun in ſchnellem Flug erreichen und umkreiſen wollten, bemerkten ſie zu ihrem Schrecken, daß der Mechanismus des Steuerruders nicht mehr völlig funktionierte. Sie konnten ihr Boot nur langſam und in beſchränkter Weiſe lenken. Unter dieſen Umſtänden beſchloſſen ſie, ſo ſchnell wie möglich nach der Inſel am Pol zurückzukehren. Sie brauchten dazu die doppelte Zeit wie gewöhnlich. Von hier aus wurde nach der Außenſtation geſprochen, von der aus es möglich war, Ill mit ſeinem größeren Luftſchiff, das zur Verteidigung wie zum Angriff mit Repulſitgeſchützen ausgerüſtet war, zur Hilfe herbeizurufen. Kapitän Keswick ſcheitelte bedenklich den Kopf zum Bericht des Leutnants Prim, der es übrigens nicht für nötig hielt, ſich über ſeinen mißglückten Jagdverſuch näher auszulaſſen. Keswick konnte ſich nicht recht vorſtellen, wie dieſe beiden Männer, die ſich offenbar nur mit Mühe aufrecht zu erhalten vermochten, ohne Waffen die harten Köpfe ſeiner Matroſen hätten zerſchlagen können. Noch mehr freilich wunderte ihn die Lähmung der Hände ſeines Leutnants. Eine nähere Unterſuchung erforderte aber vor allem, daß mit den beiden Fremdlingen ein Verhör angeſtellt wurde. Dieſe indeſſen ſprachen kein Wort. Keswick trat zu ihnen und betrachtete ſie näher. Er redete ſie auf engliſch und franzöſiſch an und auch in der einzigen Sprache, von der er noch etwas wußte, auf chineſiſch. Sie verſtanden ihn offenbar nicht. Aber ſie öffneten jetzt zum erſtenmal ihre bisher halb geſchloſſen gehaltenen Augen. Finſter blickten ſie auf ihre Feſſeln und richteten dann ihre Augen voll auf den Kapitän. Es lag nichts Feindſeliges in dieſem Blick, aber ein tiefer Vorwurf und zugleich ein mächtiger Stolz. Unwillkürlich wich Keswick zurück. Auch die herumſtehenden Offiziere und Matroſen fühlten ſich ſeltſam betroffen. „Nehmen Sie den Leuten die Feſſeln ab“, ſagte der Kapitän. „Das iſt hier nicht nötig. Und behandeln Sie ſie anſtändig.“ Sobald die Stricke entfernt waren, begann der ältere der Martier zu ſprechen. Obgleich der Kapitän kein Wort verſtand, machte die Rede doch den Eindruck, daß er hier etwas noch nie Vorgekommenes und Unerklärliches erfahre. Er wußte nichts zu tun, als die Achſeln zu zucken. „In dieſer Sache entſcheide ich nicht allein“, ſagte er dann zu ſeinem erſten Offizier. „Die Geſchichte mit dem Luftſchiff iſt zu rätſelhaft. Hätten wir nicht ſelbſt in der Ferne ſo ein Ding geſehen, ich würde nichts glauben. Die Leute ſehen nicht aus, als ob ſie von der Erde ſtammten. Und verſtehen kann man ſie nicht. Ich nehme ſie mit nach England. Wir ſind überdies hier mit unſerer Aufgabe fertig.“ Die ‚Prevention‘ machte Dampf auf und ſteuerte nach Süden. * * * Mit raſender Geſchwindigkeit jagte Ills Luftſchiff in einer Höhe von zwölf Kilometern über das europäiſche Nordmeer, der Küſte Grönlands entgegen. Im Oſten glänzten ſchillernde Nebenſonnen, während das Tagesgeſtirn ſelbſt unterm Horizont blieb. Denn die Fahrt war nach Nordweſten gerichtet, und die aufgehende Sonne konnte das Luftſchiff nicht einholen. Ein ewiger Dämmerſchein erleuchtete die unter leichtem Cirrusgewölk lagernde Meeresflut, daß ſie wie eine ungeheure Schale von dunklem, mit lichten Streifen durchzogenem Marmor ſchimmerte. Still war’s ringsum. Nur das gleichmäßige Ziſchen des Reaktionsapparats und das Pfeifen der durchſchnittenen Luft um den zuſammengepreßten Robpanzer des Schiffes ließ ſeine eintönige Weiſe vernehmen. „Luftdruck 170 Millimeter.“ Ell las die Angabe an ſeinem eigenen Barometer ab. Er warf einen nachdenklichen Blick auf die Wand, hinter welcher Isma ſchlummerte. Ill hatte dort ſelbſt aufs umſichtigſte für ihr Wohlbefinden geſorgt. „Schlafen Sie“, hatte er geſagt. „Sie müſſen jetzt Ruhe haben. Wenn wir in die hohen Breiten gekommen ſind, werden wir unſeren Flug mäßigen und in die Nähe der Erdoberfläche hinabſteigen. Dann wollen wir Sie wecken.“ In einen warmen Pelz gehüllt ruhte Isma in ihrer Hängematte. Über Mund und Naſe ſchloß ſich die weiche Maske, die mit dem Ventil des Sauerſtoffapparats verbunden war, um ihr Handgelenk war ein elaſtiſcher Ring gelegt, der ihren Pulsſchlag auf ein Meßinſtrument übertrug. An der Außenwand ihrer Kabine, die Ell jetzt beobachtete, zeigten zwei Zifferblätter den Gang, die Frequenz und die Stärke der Atmung und des Pulſes. „Vollſtändig normal“, ſagte Ill lächelnd, der Ells Augen gefolgt war. Dann blickte er wieder auf die Orientierungsſcheibe. Der Projektionsapparat, welcher auf der Unterſeite des Schiffes angebracht war, bildete auf der Scheibe die überflogene Gegend ab. „Im Nordweſten taucht die Küſte auf“, begann Ill wieder. „Es iſt die Gegend, die auf euren Karten als ‚König-Wilhelms-Land‘ bezeichnet iſt. Noch eine Stunde, bis das Feſtlandeis überflogen iſt, dann wollen wir hinabſteigen. So lange laß ſie nur ſchlummern.“ „Ich denke“, ſagte Ell, „daß wir das Schiff im Kennedy-Kanal oder in der Kane-Bai treffen. Ich bin nur neugierig, was es für ein Landsmann iſt.“ „Unſer Feind, leider“, ſagte Ill ernſt, „wer es auch ſei.“ Ill war längere Zeit ſchwankend geweſen, ob er zuerſt nach dem Pol fahren ſolle, um noch nähere Erkundigungen einzuziehen, oder ob er beſſer täte, direkt das Kriegsſchiff aufzuſuchen. Er entſchloß ſich für das Letztere. Denn jede Minute konnte koſtbar ſein, jede mußte die Leiden der Nume verlängern, jede konnte ihr Leben gefährden. Dazu ſtand die Wichtigkeit deſſen, was er am Pol erfahren konnte, in keinem Verhältnis, ſelbſt eine genauere Ortsangabe für den Schauplatz des Ereigniſſes hätte nichts ihm genützt. Es waren ſeitdem über zwölf Stunden vergangen, und das Schiff konnte inzwiſchen ſeinen Ort um hundert und mehr Kilometer verändert haben. Er durfte darauf rechnen, von ſeinem Luftſchiff aus die Fahrſtraße in jenen Gegenden verhältnismäßig ſchnell zu durchforſchen. Schwere Bedenken erregte ihm die Frage, wie er verfahren ſolle, wenn man ihm die friedliche Herausgabe der Martier verweigere. Zwar beſaß er die Mittel, ſelbſt ein mächtiges Kriegsſchiff zu vernichten. Aber dazu hätte er ſich nie entſchließen können, es ſei denn, wenn er die eigene Exiſtenz nicht anders retten konnte. Mußte er Gewalt anwenden, ſo ſollte es nur ſo geſchehen, daß die Menſchen doch nachträglich imſtande waren, mit ihrem Schiff in ihre Heimat zurückzukehren. Ob es aber möglich ſein würde, bei den Menſchen etwas durchzuſetzen, ohne ſie zuvor ſchwer zu ſchädigen, das war die Sorge, die Ill beſchäftigte. Er mußte die ſchließliche Entſcheidung den Verhältniſſen überlaſſen, wie der Augenblick ſie bieten würde. Nach einer Stunde war das ewige Eis des grönländiſchen Feſtlands überflogen. Die weiten Felder des Humboldtgletſchers ſenkten ſich zum Meer hinab. Das Luftſchiff mäßigte ſeinen Flug und ſtieg abwärts, ſo ſchnell es die Rückſicht auf die Inſaſſen geſtattete, die ſich an den höheren Luftdruck erſt gewöhnen mußten. Jetzt war die Höhe von 1.500 Metern erreicht. Ill ſchob leiſe die Tür zu Ismas Schlafraum beiſeite und entfernte die Maske von ihrem Geſicht. Sie erwachte und ſchaute ſich erſtaunt um. Er löſte den Ring von ihrem Handgelenk und ſagte ihr, daß ſie jetzt, falls ſie es wünſche, ſich erheben könne. Darauf entfernte er ſich und zog die Tür wieder zu. Wenige Minuten darauf trat Isma in die Kajüte. Ihre Wangen waren gerötet. Verlegen blickte ſie umher. „Wo ſind wir?“ fragte ſie. „An der Weſtküſte von Grönland, auf dem 80. Grad nördlicher Breite“, ſagte Ell, ihr die Hand reichend. Sie ließ ſich auf einen Seſſel fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. Sie ſchwieg lange. „Laſſen Sie mich ſehen“, ſagte ſie dann. Man trat aus der Kajüte in das Schiff. Die ſeitlichen Fenſter waren jetzt teilweiſe geöffnet. Man konnte hinausblicken. Ein farbenprächtiges Nordlicht entſandte ſeine zuckenden Strahlen über das Firmament, während im Nordoſten die Morgendämmerung ihren bleichen Schein entfaltete. Tief unten, in undeutlichen Reflexen ſchimmernd, erſtreckten ſich die zerriſſenen Eismaſſen des Humboldtgletſchers, der als eine Rieſenmauer von Eis über dem Meer abbrach. Am weſtlichen Horizont erhob ſich wie eine dunkle Wand der eisfreie Meeresſpiegel der Kane-Bai. Isma ſtand lange in den überwältigenden Anblick verſunken. „Es iſt ja noch Nacht?“ ſagte ſie dann fragend. „Wie ſpät iſt es denn?“ „Es iſt ſogar, nach Ortszeit, noch eine Stunde früher, als bei unſrer Abfahrt in Friedau“, antwortete Ell, „weil wir nach Weſten gefahren ſind. Trotzdem ſind wir vier Stunden unterwegs. In Friedau iſt es jetzt etwa acht Uhr morgens.“ „In Friedau!“ Isma zog den Pelz dichter um ihre Schultern. Und unter ihr die Gletſcher Grönlands! Ein Schwindel drohte ſie zu erfaſſen. „Kommen Sie in die Kajüte“, ſagte Ill. „Es iſt jetzt erſt wenig da unten zu erkennen, aber wir ſteigen noch tiefer und reiſen nicht weiter nach Weſten. Nun wird die Sonne bald aufgehen, es wird heller und wärmer werden. Inzwiſchen laſſen Sie uns für ihre Kräftigung ſorgen. Auch in den ungewohnteſten Situationen iſt Frühſtücken eine empfehlenswerte Handlung. Ell hat daran gedacht, daß Sie ihren Friedauer Morgenkaffee nicht zu entbehren brauchen.“ Ell überſetzte getreulich die Worte des Oheims. Ein Lächeln glitt über Ismas Züge. „Sie denken an alles“, ſagte ſie, Ell anblickend, „und ich — was werde ich nicht alles vergeſſen haben! Hoffentlich hat Luiſe meinen Zettel gefunden.“ „Etwas habe ich doch vergeſſen“, ſagte Ell zu Ill, „nämlich ein Signalbuch, für den Fall, daß uns das Schiff Signale macht. Übrigens würden wir ſie doch nicht beantworten können.“ „Richtig, es iſt ſchade“, antwortete Ill, „dafür beſitzen wir ein vorzügliches Sprachrohr, mit dem wir uns verſtändlich machen können.“ Sie begaben ſich in die Kajüte, und ausnahmsweiſe, um Isma zu ehren, wohnte Ill dem gemeinſchaftlichen Frühſtück bei, obwohl er ſich auf einige Züge aus einem martiſchen Mundſtück beſchränkte. Er verfolgte inzwiſchen den Gang des Schiffes auf der Projektionsſcheibe. Als Ell und Isma wieder den offenen Schiffsraum betraten, war es Tag geworden. Das Schiff ſtrich in mäßiger Bewegung — immerhin noch mit Schnellzugsgeſchwindigkeit — mit weit ausgebreiteten Flügeln in etwa dreihundert Meter Höhe über die Meeresoberfläche hin. Es hatte ſich der Oſtküſte von Grinnell-Land genähert und folgte nun dem offenen Fahrwaſſer in ihrer Nähe nach Norden. Isma ſpähte mit Ells Relieffernrohr eifrig nach der Küſte hinüber. Auf den Uferſchollen ſonnten ſich Seehunde, zahlloſe Vögel ſaßen auf den Klippen, ſelbſt einige Moſchusochſen konnte ſie auf einer entfernten Ebene mit Hilfe des vorzüglichen Glaſes erkennen. Überall glaubte ſie Menſchen oder Hütten von Eskimos zu ſehen, es war ihr, als müßte ſie jeden Augenblick auf Torms Spuren ſtoßen, und erſt allmählich begann ſie ruhiger zu werden. So alſo ſah die Gegend aus, die er im Geleit der tranduftenden Gaſtfreunde durchzog! Ob es wohl glücken würde? Der Anruf des Martiers, der den Ausguck im Vorderteil des Schiffes hielt, unterbrach ihr Sinnen. 26. Der Kampf mit dem Luftſchiff Am Horizont zeigte ſich eine Rauchwolke, die ſich vergrößerte. Das Dampfſchiff, nach Süden ſteuernd, und das nach Norden fliegende Luftſchiff, das ſeine Geſchwindigkeit ſogleich ſteigerte und die Flügel verkürzte, näherten ſich raſch. Bald konnte man die Formen des Schiffes durch das Glas unterſcheiden. Der Wimpel am Großtopp ließ es als Kriegsſchiff erkennen. Jetzt hatte man auch an Bord der ‚Prevention‘ das Luftſchiff geſehen. Dieſes ſenkte ſich bis auf hundert Meter über die Oberfläche des Meeres und ſchoß direkt auf das Kanonenboot zu. Dort ſtieg eine weiße Dampfwolke in die Höhe, und ein Kanonenſchuß donnerte über die Flut. Man konnte jetzt die Flagge erkennen. „Es iſt ein Engländer“, ſagte Ell. „Er fordert uns auf, unſere Flagge zu zeigen.“ Eine Flagge führte zwar das Luftſchiff nicht, man hatte aber dieſen Fall vorgeſehen und, um keine beſonderen Verwicklungen hervorzurufen, eine Flagge improviſiert, die dem Banner der vereinigten Marsſtaaten nachgebildet war. Sie beſtand einfach in einem ſchwarzen Tuch von dreieckiger Geſtalt, das in der Mitte einen großen orangenfarbigen Kreis trug. Die Flagge wurde jetzt gehißt, das Luftſchiff ſetzte aber ſeinen Lauf fort. Ill wollte denſelben erſt in unmittelbarer Nähe des Schiffes anhalten. Vorſichtshalber ſtieg er jedoch ſchnell in größere Höhe. Ell beobachtete mit dem Glas die Vorgänge an Deck des Schiffes. „Die gefangenen Martier ſind jedenfalls unter Deck“, ſagte er. „Das Schiff iſt klar zum Gefecht — ich glaube, man will auf uns ſchießen. Willſt du nicht lieber anhalten?“ „Wie iſt das Schiff bewaffnet?“ fragte Ill. „Es iſt, ſoviel ich davon verſtehe, ein ſogenannter Torpedo- Rammkreuzer. Den Rammſteven und die Torpedos haben wir freilich nicht zu fürchten, aber das 25-Zentimeter-Geſchütz auf dem Deck iſt eine furchtbare Waffe. Es ſchleudert mit einer Geſchwindigkeit von über 600 Metern Granaten, die vielleicht den dritten Teil des Gewichts unſeres ganzen Schiffes haben. Ein einziger Schuß zerſchmettert uns in Atome.“ „Wenn er uns trifft. Aber wie du ſiehſt, ſind wir bereits wieder auf achthundert Meter geſtiegen und dem Schiff ſo nahe, daß ſie dem Geſchütz nicht die genügende Erhebung geben können.“ Ein gewaltiger Knall unterbrach ihn. Kapitän Keswick hatte ſein Rieſengeſchütz ſprechen laſſen. Aber das Geſchoß flog, bedeutend tiefer als das Luftſchiff, unter ihm hin, ohne Schaden zu tun. „Die Sache iſt nicht ſo gefährlich“, ſagte Ill, „ſelbſt wenn wir in der Schußlinie wären, könnten wir den Schuß aufnehmen — da wir dreimal ſo viel Maſſe haben als das Geſchoß, würde es uns nur eine Geſchwindigkeit von höchſtens zweihundert Metern geben, und das iſt für uns das Gewöhnliche.“ Ell ſah ihn erſtaunt an. „Ich meine, wenn wir den Stoß auffangen.“ „Aber wir werden doch zerſchmettert.“ „Keine Sorge! Wir müſſen nur aufpaſſen. Jetzt aber wollen wir verhandeln.“ „Wollen Sie ſich nicht lieber in die Kajüte begeben?“ Dieſe Frage richtete Ill an Isma, die den Vorgängen mit Herzklopfen gefolgt war. „Dieſe Herren ſehen mir gerade ſo aus, als wollten ſie uns mit ihren Flintenſchüſſen begrüßen.“ „O laſſen Sie mich hier“, bat Isma. „Könnte nicht vielleicht — mein Mann — auf dem Schiff ſein?“ „Das werden wir alles erfahren. Ell ſoll durch das Sprachrohr die Verhandlung als Dolmetſcher führen.“ Wirklich beſchoß man das Luftſchiff jetzt aus den Gewehren. Es ſchwebte aber bereits ſo hoch und ſo nahe ſenkrecht über dem engliſchen Kanonenboot, daß die Kugeln ihm keinen Schaden tun konnten, obwohl ſich die Engländer zum Zielen auf den Rücken legten. Jetzt fiel eines der abgeſchoſſenen Langbleie auf das Verdeck des Schiffes ſelbſt zurück und durchſchlug ſeine Planken. Das Feuer mußte eingeſtellt werden, da die Kugeln die Schützen ſelbſt zu treffen drohten. Die Martier entfalteten nunmehr eine große, weiße Fahne als Zeichen der Freundſchaft und des Friedens. Alsdann ſenkte ſich das Luftſchiff, immer mit gleicher Geſchwindigkeit ſenkrecht über dem Kriegsſchiff bleibend, zu dieſem herab, erſt ſchnell, dann langſamer, bis es ſich in einer Höhe von etwa fünfzig Metern über den Spitzen der Maſten hielt. Die Beſatzung des Schiffes beſtand aus tapferen Männern. Aber bei dieſem Anblick pochte allen das Herz in der Bruſt. Wenn die Fremden Verräter waren? Wenn ſie jetzt eine Dynamitbombe herabfallen ließen jeder ſagte ſich, daß das Schiff dann verloren war. Und ſie waren wehrlos. Aber hätte das Luftſchiff feindlich vorgehen wollen, ſo hätte es dies ſicherer aus der früheren Höhe tun können. Der Kapitän ſtand mit finſteren Blicken auf der Kommandobrücke. Jetzt zuckte er zuſammen. Aus der Höhe kam ein Anruf in engliſcher Sprache. „Wer ſeid Ihr?“ fragte er durch das Sprachrohr entgegen. Ell verſuchte eine Erklärung zu geben. Das Luftſchiff habe keine feindlichen Abſichten. Es gehöre demſelben Staat an wie die beiden Gefangenen, die ſich auf dem engliſchen Schiff befänden. Sie ſeien Bewohner des Planeten Mars, die auf dem Nordpol der Erde eine Kolonie angelegt hätten. Die beiden würden zu Unrecht gefangengehalten, ſie hätten ſich an den Engländern nicht vergriffen, vielmehr die in den Abgrund geſtürzten heraufbefördert. Das Luftſchiff wolle nichts als die beiden Gefangenen zurückhaben. Man möge ſie in der Nähe ans Land ſetzen, wo das Luftſchiff ſie abholen werde. Außerdem wolle man wiſſen, ob das Schiff Nachricht von der deutſchen Nordpolexpedition Torm habe. Kapitän Keswick erwiderte, von der Tormſchen Expedition habe er bis jetzt keinerlei Spuren gefunden. Was die andere Frage beträfe, ſo verböte es ihm ſeine Ehre, mit dem Luftſchiff zu verhandeln, ſo lange es ſich über ſeinem eigenen Schiff in bedrohender Stellung befände. Der Kommandant möge zu ihm an Bord kommen; er garantiere ihm unbehinderte Rückkehr. Es trat eine Pauſe ein. Auf beiden Schiffen wurde Kriegsrat gehalten. Ill wollte ohne weiteres dem Wunſch des Kapitäns nachgeben und ihn beſuchen, aber Ell riet ihm dringend davon ab. „Trauſt du ihm nicht?“ fragte Ill. „Das nicht“, ſagte Ell, „ſein Wort wird er halten. Aber nach den Anſchauungen der Menſchen würden wir damit anerkennen, daß wir uns den Beſtimmungen des engliſchen Kriegsſchiffs unterordnen. Der Hochmut der Engländer würde dadurch nur wachſen und die Verhandlungen erſchweren. Wir nehmen für uns ſelbſt den Charakter eines Kriegsſchiffs in Anſpruch.“ „Es mag ſein, doch liegt kein Grund vor, unſre Stellung über dem Schiff beizuhalten, wenn ſie den Kapitän beunruhigt. Ich habe mich nur hierhergelegt, um überhaupt zu Wort zu kommen. Wir können ja auch jeden Augenblick hierher zurückkehren, wenn wir wollen; nur nützt es uns wenig. Mit einer Vernichtung des Schiffes zu drohen, geht nicht an, da ich ſie doch nicht ausführen würde und auch die Leute ſich ſagen dürften, daß wir das Schiff nicht in Grund bohren werden, ſo lange unſere Kameraden ſich darauf befinden.“ Ell rief nun durch das Sprachrohr hinab, daß ſich das Luftſchiff in einiger Entfernung niederlaſſen werde. Auf demſelben befinde ſich einer der höchſten Beamten des Mars, der nicht daran denke, ſich zuerſt dem Kapitän vorzuſtellen. Der Kapitän möge daher entweder zu ihm an Bord kommen oder eine Stelle am Ufer zur Zuſammenkunft beſtimmen. Im übrigen genüge es, wenn der Kapitän die beiden Martier ans Land ſende. Das Luftſchiff werde ſich dann ſogleich entfernen, ſobald es die beiden aufgenommen hätte. Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Ill das Luftſchiff nach dem Land zu lenken. Der Engländer hatte inzwiſchen ſeinen Lauf angehalten und lag jetzt ſtill. Ihm gegenüber, etwas über einen Kilometer entfernt, in geringer Höhe über dem Ufer, ſchwebte das Luftſchiff der Martier in vollkommener Ruhe. Flügel und Steuer waren eingezogen. Der Hinterteil des Fahrzeugs war gegen das Kriegsſchiff gewendet und zeigte die Öffnung eines bis dahin nicht ſichtbar geweſenen Rohres. Kapitän Keswick hatte ſeinen Zweck erreicht, Zeit zu gewinnen und das unheimliche Fahrzeug über ſeinem Kopf zu entfernen. Er fühlte ſich wieder ſehr erhaben. Er dachte nun erſt recht nicht daran, die Gefangenen auszuliefern. Verhielt es ſich wirklich ſo, daß ſie Marsbewohner waren — und eine beſſere Erklärung angeſichts des Luftſchiffes wußte keiner ſeiner Offiziere —, ſo wollte er ſich den Triumph nicht nehmen laſſen, dieſe ſeltſamen Geſchöpfe nach London zu bringen. Daß man auf dem Mars auch engliſch verſtand und ſich nach der deutſchen Nordpolexpedition erkundigte, war ſchließlich nicht wunderbarer als die Exiſtenz des Luftſchiffes überhaupt. Die Zumutung, einem engliſchen Kriegsſchiff Bedingungen zu ſtellen, hielt Kapitän Keswick für eine Frechheit. Seiner Anſicht nach hatte das fremde Schiff einfach zu gehorchen. Er ſignaliſierte daher jetzt, das Schiff möge ſofort die Flagge ſtreichen und ſich ergeben. Da er ſich aber allerdings ſelbſt ſagte, daß man drüben die Signale nicht verſtehen würde, ſo ſchickte er einen Offizier in der Jolle ſoweit vor, bis er durchs Sprachrohr mit dem Luftſchiff reden konnte, und ließ durch ihn ſeinen Befehl ausrichten. Das Luftſchiff ſolle landen und die Beſatzung ſich von demſelben ohne Waffen auf tauſend Schritt zurückziehen. Geſchähe das nicht, bis das Boot wieder an Bord ſei, ſo würde er Gewalt anwenden. Ill ließ antworten, es würde ihm ſehr leid tun, wenn er ſeinerſeits Gewalt anwenden müßte, um ſeine Genoſſen wieder zu erhalten. Bei der geringſten Feindſeligkeit ſeitens der Engländer würde er ſich jedoch gezwungen ſehen, ihr Schiff kampfunfähig zu machen. Sollte einem der Martier Leides geſchehen, ſo hafteten Kapitän, Offiziere und Mannſchaft mit ihrem Leben. Der Offizier brachte dieſe Antwort zurück. „Wir werden mit den Leuten deutlicher reden“, ſagte Keswick. Leutnant Prim hätte ſich gern aus Vergnügen die Hände gerieben, aber ſie waren immer noch ſteif. Er konnte nicht einmal ſeinen Feldſtecher halten. Das Luftſchiff lag vollkommen ruhig, es konnte gar kein beſſeres Ziel für das 25-Zentimeter-Geſchütz geben, es war nicht zu verfehlen. Ell beobachtete, daß das Boot kaum beim Schiff angekommen war, als man das Geſchütz richtete. „Wir ſind verloren“, rief er Ill zu. Dieſer hatte ſchon ſeine Vorkehrungen getroffen. Er ſah ſcharf auf die Mündung des Geſchützes. „Halte dich feſt und befürchte nichts“, ſagte er zu Ell gewendet. Seine Hand lag am Griff des Repulſitapparates. Von dem Moment, in welchem der Schuß an Bord des Kriegsſchiffs gelöſt wurde, bis zu demjenigen, in welchem das Geſchoß das Luftſchiff treffen konnte, mußten faſt zwei Sekunden vergehen. Das genügte ihm. Jetzt blitzte drüben der Schuß auf. Das vernichtende Geſchoß war entſandt. Ell fühlte, wie ſich ihm die Kehle zuſammenſchnürte, aber er vertraute auf die Kraft der Nume. Isma hatte ſich auf ſeine Bitte ſchon vorher zurückgezogen und war ſich der unmittelbaren Gefahr glücklicherweiſe nicht bewußt. Ill hatte gleichzeitig den Griff des Repulſitgeſchützes gedreht. Das Luftſchiff erhielt einen Stoß und ſauſte durch die Luft. Hinter ihm, etwa in der Mitte zwiſchen dem engliſchen Schiff und dem martiſchen, gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Granate zerſprang in der Luft, als ſei ſie an eine feſte, unſichtbare Mauer geſtoßen. Die Bruchſtücke flogen nicht weiter, ſie fielen direkt nach unten und ließen das Meer unter ſich aufſchäumen. Im Moment aber ſpannte das Luftſchiff ſeine Flügel aus, in engem Kreis kehrte es zurück, binnen zehn Sekunden war es wieder bei der ‚Prevention‘ angelangt, hinter dem Kanonenboot ſank es bis zur halben Höhe ſeiner Maſten. Ein zweiter Repulſitſchuß knickte die eiſernen Maſten wie Strohhalme, die mit einer ſcharfen Senſe abgeſchnitten werden. Zugleich aber wurden ſie wie von einem Sturmwind fortgetragen, der ſie über das Schiff hinwegfegte und gegen hundert Meter weiter ins Meer fallen ließ. Auf dem Verdeck ſelbſt wurde nichts direkt von dem Schuß betroffen; nur die entſtehende gewaltige Luftwelle warf die geſamte Mannſchaft über den Haufen und ſetzte das ganze Schiff in ſchwankende Bewegung. Ehe ſich die Engländer wieder auf ihre Füße gefunden hatten, war das Luftſchiff, in kurzer Wendung aufſteigend, umgekehrt und ruhte in etwa tauſend Meter Höhe ſenkrecht über dem Kanonenboot. Ill hatte nur die Wirkung ſeiner Waffen zeigen wollen. Der im Repulſitgeſchütz ſich entſpannende Äther entwich mit einer Geſchwindigkeit, welche der des Lichtes vergleichbar war, und riß die Luft und alles, was in ſeinem Weg lag, mit ſich fort, obgleich ſeine Maſſe nur wenige Gramm betrug. Er breitete ſich kegelförmig aus und mußte daher das ihm entgegen fliegende Sprenggeſchoß auffangen und zur Ruhe bringen. Ill wollte jetzt das Luftſchiff wieder ſich herabſenken laſſen, um neue Verhandlungen zu beginnen, aber die zur Wut gereizten Feinde beſchoſſen es aus ihren Gewehren ohne Rückſicht auf die Gefahr, von ihren eigenen Kugeln getroffen zu werden. Wie ſollte er nun, ohne Menſchenleben zu vernichten und das Schiff ſelbſt unbrauchbar zu machen, die Herausgabe der Gefangenen erzwingen? Ill hätte durch den Telelyten das Geſchütz demontieren oder das Schiff leck machen können. Der Telelyt iſt ein Apparat, durch welchen chemiſche Wirkung in jeder beliebigen Form erzeugt werden kann, ſoweit nur die direkte Beſtrahlung des Gegenſtandes vom Apparat aus möglich iſt. Wenn man zum Beiſpiel glühenden Sauerſtoff durch den Telelyten treten ließ, ſo wurde die chemiſche Energie durch Strahlung fortgepflanzt und kam auf dem beſtrahlten Körper, etwa dem Gußſtahl des Geſchützes, wieder als chemiſche Energie zum Vorſchein, ſo daß der Stahl einfach verbrannt wurde. Ill hätte auch ſein Repulſitgebläſe auf das Schiff richten und dieſes an beliebiger Stelle auf den Strand treiben können. Aber er wollte ſich nicht dazu entſchließen. Das Geſchütz konnte ihm nicht ſchaden, wenn er ſich über dem Schiff hielt, und auch ſonſt nicht, wenn er die Abgabe des Schuſſes rechtzeitig bemerkte. Und das Schiff ſelbſt wollte er nicht untauglich zur Fortſetzung der Reiſe machen. Er verſuchte daher nochmals zu verhandeln und ließ zu dieſem Zweck wieder die weiße Fahne aufziehen, obwohl Ell meinte, daß dieſes Entgegenkommen falſch verſtanden werden würde. „Was wollen die Schufte?“ rief der Kapitän wütend, ließ aber das Feuer einſtellen. Das Luftſchiff ſenkte ſich. Als es ſo nahe gekommen war, daß man ſich durchs Sprachrohr verſtändigen konnte, fragte Ell, ob man jetzt bereit ſei zu kapitulieren. „Mit euch Freibeutern gibt es keine Verhandlungen“, ſchrie Keswick zurück. „Ehe ich meine Flagge ſtreiche, ſprenge ich das ganze Schiff ſamt euren ſauberen Brüdern in die Luft.“ „Wir verlangen nicht, daß ihr die Flagge ſtreicht“, lautete die Antwort. „Es genügt, wenn ihr die Gefangenen ans Land ſetzt. Aber unſere Geduld iſt jetzt zu Ende. Stößt das Boot mit unſeren Landsleuten nicht binnen zehn Minuten vom Schiffe ab, ſo macht euch auf das Schlimmſte gefaßt. Bis jetzt haben wir euch nur eine Probe gegeben.“ „Der Teufel ſoll euch holen. Feuer auf die Hunde!“ ſchrie Keswick wütend. Aber ſchon hatte ſich das Luftſchiff fortgeſchnellt. Nach wenigen Sekunden war es bereits wieder über einen Kilometer vom Schiff entfernt, das jetzt mit voller Dampfkraft nach Süden ſtrebte. Da Ill keine Zeit dadurch verlieren wollte, daß ſich die Entfernung des Schiffes von der Küſte vergrößerte, beſchloß er zunächſt, den Dampfer aufzuhalten. Er erhob ſich ſo hoch, daß er nicht beſchoſſen werden konnte, und richtete dann einen Repulſitſtrom gegen die Meeresoberfläche in einiger Entfernung vor dem Schiff. Das Meer kochte auf, als hätte man einen Berg hineingeſtürzt. Ein haushoher Wogenwall wälzte ſich von der getroffenen Stelle im Kreiſe nach außen und zwang das engliſche Schiff, ſeinen Kurs zu ändern. Alsbald erregte das Luftſchiff durch einen zweiten Repulſitſchuß an geeigneter Stelle einen neuen Wirbel, und ſo zwangen die Martier ihren Gegner, ſich dahin zu wenden, wohin ſie ihn haben wollten. Bald aber war die ganze Umgebung wie von einem Sturm aufgewühlt, und die ‚Prevention‘ hatte die größte Mühe, ſich in dem tollen Wogengang zu halten. Von einem Gebrauch des Geſchützes konnte beim Schwanken des Schiffes jetzt nicht die Rede ſein. Inzwiſchen waren die zehn Minuten Friſt längſt abgelaufen. Ill ließ dem Schiff noch Zeit, um einen Felſenvorſprung herum in ruhigeres Waſſer zu gelangen. Hier erwartete er den Engländer. Der Kapitän ſah nun wohl ein, daß er dem Luftſchiff nicht entkommen könne. Aber er war immer noch zu hartnäckig, um nachzugeben. Das Luftſchiff lag wieder vollſtändig ruhig und ließ das Kanonenboot herankommen, während die Vorgänge auf demſelben aufs genaueſte beobachtet wurden. Ill konnte mit ſeinem Sprachrohr ſich bis auf tauſend Meter verſtändlich machen. Er rief nochmals hinüber, wenn man jetzt nicht gehorche, werde er auf das Schiff ſelbſt ſchießen. Der Dampfer machte eine Wendung und ſtoppte. Die Martier glaubten, es geſchehe, um ein Boot auszuſetzen; aber das Manöver hatte nur den Zweck, zum Schuß zu kommen. Ehe die Martier es erwarten konnten, blitzte der Schuß auf. Die Entfernung war zu kurz, um den Gegenſchuß der Martier genau abzumeſſen. Er erfolgte ſofort, aber er war zu heftig. Mit raſender Geſchwindigkeit ſchleuderte der Rückſtoß das Luftſchiff fort. Die Inſaſſen wurden von ihren Plätzen geworfen. Isma ſtieß einen Schrei aus und klammerte ſich ſchreckensbleich an die Wand. Zum Glück hatte ſie keinen Schaden genommen. Das Luftſchiff gehorchte wieder dem Steuer, die Bewegung wurde gemäßigt, es kehrte in weitem Bogen zurück und lagerte ſich in einer Entfernung von etwa acht Kilometern vom Kriegsſchiff auf der Spitze eines Hügels, von wo aus man mit dem Fernglas die Vorgänge auf dem Schiff gut beobachten konnte. Hier ſah es ſchlimm aus. Unter dem Gegenſtoß des Repulſits war das Sprenggeſchoß explodiert, aber die Trümmer waren nicht in das Meer gefallen, ſondern, weil die Wirkung zu ſtark geweſen war, auf das Schiff zurück. Ein Teil der Mannſchaft und der Kapitän ſelbſt waren verwundet. Der Verſchluß des Geſchützes war abgeſchlagen. Dichter Qualm drang aus einem der zertrümmerten Schornſteine. Ill nahm das Glas vom Auge. Ein finſterer Ernſt lagerte über ſeinen Zügen. „Es iſt ſchrecklich“, ſagte er. „Ich habe das Meinige getan, um Blutvergießen zu vermeiden. Auch das jetzige Unglück iſt gegen meine Abſicht geſchehen, wir hatten bei der Plötzlichkeit des Überfalls nicht länger Zeit, unſern Schuß abzuwägen. Die Menſchen ſind wahnſinnig.“ Er ſann lange nach. „Ich erwäge“, ſagte er dann, „ob ich es gegen unſere Genoſſen verantworten kann, wenn ich jetzt nachgebe und das Schiff entlaſſe. Aber ich bin ja nicht einmal ſicher, ob man ihr Leben ſchonen wird, nachdem dieſes Blut gefloſſen iſt. Das alſo iſt unſer erſtes Zuſammentreffen mit den Menſchen, das iſt die Verbrüderung der Planeten! Ich hatte es mir anders gedacht. Ich höre, die Menſchen haben unſern Planeten nach dem Gott des Krieges genannt; wir wollten den Frieden bringen, aber es ſcheint, daß die Berührung mit dieſem wilden Geſchlecht uns in die Barbarei zurückwirft. Gott gebe, daß dieſe Begegnung kein Vorzeichen iſt. Indeſſen — wir können nicht mehr zurück. Wir wollen aus dem einen Fall noch keine Schlüſſe ziehen.“ Er wandte ſich zu Isma und ſagte ihr bedauernde Worte, daß ihre Reiſe mit ſo ſchrecklichen Ereigniſſen begönne. Ell wollte eben ſeine Äußerungen überſetzen, als der wachthabende Martier meldete: „Das Schiff ſetzt ein Boot aus.“ Es war ſo, man ſah, daß die beiden Martier in das Boot hinabgelaſſen wurden. Dieſes ruderte dem Land zu. In einer kleinen Bucht, deren Ufer mit Eisſchollen bedeckt waren, landeten die Engländer. Sie warfen die Gefangenen rückſichtslos auf eine Scholle, feuerten ihre Gewehre in die Luft ab, um ein Signal zu geben, und kehrten dann ſchleunigſt zurück an Bord ihres Schiffes. Sofort befahl Ill, daß das Luftſchiff aufſteigen ſolle, um die Genoſſen abzuholen. Der Weg war nicht weit, doch lag die kleine Bucht auf der anderen Seite des Kriegsſchiffs, das man in einem Bogen umgehen mußte, um ſich nicht etwaigem Gewehrfeuer auszuſetzen. Dann ſenkte ſich das Schiff mit eingezogenen Flügeln nahe am felſigen Abhang hinab. Hierbei ſtreifte es einmal bis dicht an einen Felſen und legte ſich ſtärker nach der Seite, als beabſichtigt war. Der Ingenieur machte ein bedenkliches Geſicht. Es kam bei dieſen langſamen Bewegungen auf und nieder auf die äußerſte Präziſion in der Funktion des diabariſchen Apparats an, und es ſchien ihm, als ob das Schiff auf der linken Seite nicht mit derſelben Geſchwindigkeit ſeine Schwere ändere wie auf der rechten. Man war jetzt auf der breiten Eisſcholle angelangt. Die gefangenen, nunmehr befreiten Martier befanden ſich in üblem Zuſtand. Sie waren zwar nicht gefeſſelt, aber der Druck der Erdſchwere, dem ſie ſeit achtzehn Stunden — denn es war inzwiſchen Mittag geworden — ausgeſetzt waren, die beim Kampf und zuletzt beim Transport erlittenen Mißhandlungen und der Mangel an für ſie genießbarer Nahrung hatten ſie körperlich ſchwer mitgenommen. Sie atmeten beglückt auf, als im Innern des Luftſchiffes ihre Leiden gemildert wurden. Ill wandte ſich betrübt ab, als er erfuhr, welche Behandlung ihnen zuteil geworden war. Die Strafe der Engländer war hart, dachte er, aber verdient. Und doch, im Grunde waren ſie unſchuldig an ihrem Irrtum. Und nun vorwärts zum Pol! In anderthalb Stunden konnte er erreicht ſein. Das Luftſchiff erhob ſich langſam, und wieder bemerkte der Steuermann die Ungleichmäßigkeit der Diabarie auf den beiden Seiten des Schiffes. Er machte Ill darauf aufmerkſam, doch konnte man die Urſache nicht ſogleich auffinden. Inzwiſchen war die Höhe des Felsufers überſtiegen. Die Flügel wurden nun ausgebreitet, und vom Reaktionsapparat getrieben glitt das Schiff auf ſchiefer Ebene weiter aufwärts und nordwärts. Plötzlich vernahm man einige ſcharfe Schläge gegen die Flügel des Schiffes. „Höher!“ rief Ill. „Höher und ſchneller!“ Mit dem Schiff und den geretteten Gefährten beſchäftigt, hatte man kaum noch auf den Engländer geachtet. Auch war man ſo weit von ihm entfernt, daß die Martier außer Schußweite zu ſein glaubten. Die Engländer aber hatten, als ſie ſahen, daß das Luftſchiff ſich entfernte, ihm auf gut Glück noch einige Schüſſe aus ihren weittragenden Gewehren nachgeſendet, und einige Kugeln hatten es erreicht. „Höher“, lautete der Befehl. Aber als der diabariſche Apparat dementſprechend geſtellt wurde, legte ſich das Schiff auf die Seite. Infolge der Flügelſtellung beſchrieb es ſofort eine Spirale nach rückwärts und kam dadurch nochmals in den Bereich der feindlichen Geſchoſſe. Man mußte die Diabarie der rechten Seite wieder vermindern, da die linke nicht folgte. Das Schiff ſchwebte zwar, aber man konnte es nur langſam und in engen Grenzen heben und ſenken. Der Repulſitapparat war dagegen in Ordnung und trieb das Schiff vorwärts. Es entfernte ſich nun vom Schauplatz des Kampfes nach Norden, in verhältnismäßig geringer Höhe über der Erde. Ein Gebirge, das noch zu überwinden war, konnte nur durch das Vorwärtstreiben mit ſchräggeſtellten Flügeln genommen werden. Infolgedeſſen nahm die Fahrt bis zum Pol die vierfache Zeit wie gewöhnlich in Anſpruch. Endlich kam die Polinſel Ara zu Geſicht, und das Schiff ſenkte ſich vorſichtig auf das Dach derſelben. Aufs äußerſte ermüdet entſtiegen die Martier dem Fahrzeug, von den Bewohnern der Inſel freudig bewillkommt. Isma wurde der Obhut der Gemahlin Ras übergeben und von ihr aufs freundlichſte aufgenommen. Ehe ſie die Treppe in die Wohnung hinabſtieg, warf ſie noch einen forſchenden Blick auf die Umgebung und ſuchte in Gedanken die Stelle zu finden, wo der Fallſchirm des Ballons herabgeſtürzt war. Dann reichte ſie Ell die Hand. Sie wollte zu ihm ſprechen, aber ſie fand keine Worte. Nur ihr Blick dankte ihm. „Auf Wiederſehen!“ * * * Bereits vierundzwanzig Stunden hatte Isma auf der Polinſel zugebracht, ohne daß die in Ausſicht genommenen Entdeckungsfahrten nach ihrem Mann angetreten wurden. So ſehr ſie ſich danach ſehnte, hatte ſie doch keine Zeit, ungeduldig zu werden, denn die Fülle der neuen Umgebung beſchäftigte ſie ausreichend. Die Gegenwart Ells gab ihr die erforderliche Zuverſicht in den neuen Verhältniſſen. Saltner mit Se, La und Fru waren bereits nach dem Mars abgegangen, aber unter den noch anweſenden Martiern befanden ſich noch mehrere, mit denen ſie ſich deutſch unterhalten konnte, ſo vor allem der Vorſteher Ra, deſſen Frau und der Arzt Hil. Von ihnen erhielt ſie nicht nur Nachricht über die Verhältniſſe des Mars, ſondern auch Einzelheiten über die Schickſale der Gefährten ihres Mannes, die ihr Gemüt lebhaft bewegten. Man begab ſich eben zu der üblichen Plauderſtunde ins Empfangszimmer, wo Isma und Ell jetzt die Plätze einzunehmen pflegten, die für Grunthe und Saltner eingerichtet waren, als Ell mit bekümmertem Antlitz eintrat. Isma ſah ihn erſchrocken an. „Was iſt geſchehen?“ rief ſie. „Faſſen Sie ſich, liebſte Freundin.“ „Hugo iſt —?“ „Nein, nein — wir wiſſen nichts — aber wir können ihn nicht ſuchen.“ „Warum nicht?“ „Das Luftſchiff iſt unbrauchbar geworden.“ „Um Gottes willen!“ „Der diabariſche Apparat hat durch den übermäßigen Luftdruck bei unſerm zweiten Verteidigungsſchuß auf das Kanonenboot einen Fehler erhalten. Außerdem iſt eine verirrte Gewehrkugel in denſelben eingedrungen und hat den Differential-Regulator verletzt. Bei der Unterſuchung ſtellte ſich heraus, daß die Reparatur hier nicht möglich iſt. Der auseinandergenommene Apparat läßt ſich nur in der Werkſtätte auf dem Mars mit den dortigen Mitteln wieder einſetzen. Leider iſt auch das kleine Luftboot für weitere Fahrten nicht mehr zu verwenden. Wir müſſen die Nachſuchungen aufgeben.“ Isma ſaß ſtarr. „Mein armer Mann!“ ſagte ſie tonlos. „Geben Sie ſich um ſeinetwillen nicht ſo großer Sorge hin“, ſuchte Ell ſie zu tröſten. „Er wird ſicherlich glücklich heimkehren. Vielleicht früher als wir“, ſetzte er zögernd hinzu. Isma ſah ihn an. Dann ſchlug ſie die Hände vor das Geſicht und ließ ſie endlich langſam herabſinken. „Wir können nicht — zurück —?“ „Es iſt unmöglich — in dieſem Jahr.“ „Und ich — ich glaubte — in acht Tagen — — o ich Törin! Was hab ich getan! O wäre ich nicht ſo eigenſinnig geweſen.“ „Es iſt der Fall, vor dem Ill uns warnte.“ Isma weinte ſtill. Ell ſaß ratlos neben ihr. „Was nun?“ fragte ſie endlich. „Es bleibt uns nichts übrig, als mit Ill und Ra nach dem Mars zu gehen. Im erſten Frühjahr kehren wir mit neuen Luftſchiffen zurück. Bis dahin hilft uns nichts als Faſſung.“ „Nach dem Mars!“ flüſterte Isma wie geiſtesabweſend. Dann ſtand ſie auf. Sie trat vor Ell. Ihren Schmerz bezwingend, reichte ſie ihm beide Hände. „Vertrauen Sie mir!“ ſagte er. Sie ſahen ſich in die Augen. „Ich werde tun, was Sie verlangen“, erwiderte Isma. „Ich habe das Geſchick herausgefordert. Ich muß es tragen.“ „Ob auf dem Mars oder auf der Erde — wir können dieſelben bleiben.“ 27. Auf dem Mars Über dem Südpol des Mars, um den Halbmeſſer des Planeten von ſeiner Oberfläche entfernt, alſo in einer Höhe von 3.390 Kilometern, ſchwebt die ausgedehnte Außenſtation für die Raumſchiffahrt. Ungleich gewaltiger iſt die Anlage als die am Nordpol der Erde, denn über ſiebzig Raumſchiffe vermögen gleichzeitig hier Platz zu finden. Das abariſche Feld, das die Außenſtation in der Richtung der Achſe mit dem Pol des Planeten verbindet, befördert ſtündlich einen geräumigen Flugwagen. Heute waren die aufſteigenden Wagen bis auf den letzten Platz beſetzt. Nicht nur die Bevölkerung der nächſten Umgebung drängte ſich zu den Flugwagen, ſelbſt aus den entlegeneren Gegenden waren Neugierige auf den ſchnellen Bahnwagen herbeigeeilt, um der Rückkehr des Regierungsſchiffes von der Erde beizuwohnen. Denn heute wurde der ‚Glo‘ erwartet. Die Lichtdepeſche hatte gemeldet, daß der Repräſentant Ill auf der Erde den Sohn ſeines verunglückten Bruders, des verſchollenen Raumfahrers All, aufgefunden habe und zurückbringe. Man durfte auf merkwürdige Neuigkeiten von der Erde rechnen. Auch das Raumſchiff ‚Meteor‘, Kapitän Oß, welches bereits vor dem ‚Glo‘ die Erde verlaſſen hatte, wurde erwartet. Es ſollte den erſten Menſchen von der Erde auf den Mars bringen. Man erzählte die wunderbarſten Geſchichten von ſeiner furchtbaren Stärke. Zehn Nume ſeien notwendig, um ihn in Schranken zu halten. „Iſt es denn wahr“, fragte eine beſorgte Mutter, ihr Töchterchen ängſtlich an ſich ziehend, „daß die Menſchen kleine Kinder freſſen?“ Ihre Nachbarin im Flugwagen antwortete: „Ich weiß es nicht im allgemeinen, aber der, den wir jetzt erwarten, frißt keine Kinder. Ich weiß es ganz genau, denn ich erwarte meine Schweſter Se, die ihn kennt; wir haben mit dem ‚Kometen‘, Kapitän Jo, Briefe von ihr bekommen, und ſie ſchreibt, daß er ein ganz netter, beinahe ziviliſierter Mann ſei. Sie ſehen, ich habe ja auch meinen kleinen Waſt und ſogar meine Ern mitgebracht. Haltet euch feſt, Kinder, wir ſind gleich da!“ Die weiten Galerien des Ringes der Außenſtation waren ſeit Stunden dicht mit Zuſchauern beſetzt, die ſich vor den Projektionsfernrohren drängten und bald die Ausſicht auf den Mars bewunderten, bald den geſtirnten Himmel durchmuſterten. Mit beſonderer Vorliebe wurde die Erde aufgeſucht, doch da ſie faſt in derſelben Richtung wie die Sonne ſtand, konnte ſie nicht gut beobachtet werden. Der ‚Glo‘ war bereits nahe herangekommen, ſein roter Glanz ließ ihn im Fernrohr nicht verkennen. Man konnte die Landung in zwei bis drei Stunden erwarten. Aber auch der ‚Meteor‘ war ſchon ſignaliſiert. In acht bis zehn Stunden mochte er eintreffen. Die Reiſe des ‚Glo‘ war ſo beſchleunigt worden, wie man es nie bei einem Raumſchiff gewagt hatte. Die allgemeine Aufregung, die in allen Marsſtaaten aufgrund der neuen Depeſchen von der Erde entſtanden war, machte wichtige politiſche Erwägungen und die Anweſenheit Ills im Zentralrat notwendig. Ill hatte außerdem das perſönliche Intereſſe, Isma, der er ſehr zugetan war, die Beſchwerden der Reiſe möglichſt abzukürzen. So war, durch die Stellung der Planeten begünſtigt, das Außerordentliche gelungen; die Reiſe von der Erde zum Mars, alſo der Sonnenanziehung entgegen, war in acht Tagen zurückgelegt worden. Man hatte den ‚Meteor‘, welcher ſieben Tage früher von der Erde abgegangen war, überholt. Freilich durfte er ſich nicht die Repulſitverſchwendung geſtatten wie das im Auftrag des Zentralrats fliegende Eilraumſchiff. Mit rührender Sorgfalt hatte Ill, den Ratſchlägen Ells folgend, Isma den Aufenthalt im Raumſchiff behaglich zu machen geſucht. Die Raumkrankheit, eine Folge der zeitweiligen Aufhebung der Gravitation, pflegte ſelbſt erprobten Raumſchiffern nicht ganz fernzubleiben. Auch Isma hatte unter ihr zu leiden. Aber die Beſchwerden, die ihr durch die geringe Schwere innerhalb des Raumſchiffes drohten, waren ihr durch eine ſinnreiche Konſtruktion ihres Schlafraumes ſehr erleichtert worden. Derſelbe ſtellte zwar nicht viel mehr als einen durch geeignete Ventile ausreichend gelüfteten Kaſten vor, aber es war darin künſtlich Schwere und Luftdruck der Erde erzeugt. Und ſo konnte Isma nicht nur während des Schlafes ganz nach ihrer Gewohnheit ruhen, ſondern auch im Laufe des Tages ſich von Zeit zu Zeit zur Erholung dahin zurückziehen. Sie fühlte ſich daher vollkommen wohl, als der ‚Glo‘ ſich bereits dem Mars näherte. Wie oft auch ihre Gedanken ſehnſüchtig nach der Erde zurückeilten und ſich um das Schickſal ihres Mannes mit Bangen bewegten, ſo war doch die Fülle der neuen Eindrücke gewaltig genug, um ſie aufs lebhafteſte zu beſchäftigen und zu zerſtreuen. Die Notwendigkeit, nun ein halbes Erdenjahr auf dem Mars zuzubringen, ließ ſie die Muße der Reiſe benutzen, mit Ells Hilfe in die Sprache der Martier einzudringen, während ſich Ill gleichzeitig das Deutſche aneignete. Auch an weiblicher Geſellſchaft während der Überfahrt fehlte es Isma nicht, da gegen zehn Frauen verſchiedenen Lebensalters mit dem ‚Glo‘ von der Erde zurückkehrten. Längſt war die ſchmale Sichel der Erde als ein lichter Stern unter die übrigen zurückgeſunken, und die Verkleinerung des Sonnenballs infolge der größeren Entfernung von ihm ließ ſich, wenn man die Strahlung durch ein dunkles Glas abblendete, ſichtlich bemerken. Immer mächtiger trat das Ziel der Reiſe, der Mars, als hell leuchtende Scheibe hervor. Jetzt hatte man ſich über die Marsbahn erhoben, um, in unmittelbarer Nähe des Planeten, ſich in der Richtung der Achſe auf ſeinen Südpol hinabſinken zu laſſen. Nur noch etwa 13.000 Kilometer trennten das Raumſchiff von der Außenſtation. Aber um dieſe Strecke zu durchfliegen, die man bei der vollen Fahrtgeſchwindigkeit fern vom Planeten in zwei bis drei Minuten zurücklegte, bedurfte man jetzt ebenſo vieler Stunden. Es galt, die Geſchwindigkeit zuletzt durch Repulſitſchüſſe ſo zu vermindern, daß man gerade auf dem Ring der Außenſtation zur Ruhe kam. Die Schwierigkeit der Landung erforderte die volle Aufmerkſamkeit des Kapitäns Fei. Als bevorzugte Gäſte des Zentralrats konnten ſich Isma und Ell bei Ill auf einer kleinen reſervierten Tribüne dicht neben der Kommandobrücke aufhalten. Isma mit bangem Herzen, Ell in freudiger Aufregung, die nur durch die Teilnahme am Geſchick der Freundin gedämpft war, hefteten ihre Blicke erwartungsvoll auf die neue Welt, die ſich zu ihren Füßen auftat. Es war Sommer am Südpol des Mars, und ſo zeigten ſich, hier von der Achſe aus geſehen, etwa zwei Drittel von der Scheibe des Planeten beleuchtet, während ein Drittel in tiefem Dunkel lag. Auf dem erhellten Teil vermochte man jetzt die Südhalbkugel bis gegen den zehnten Grad ſüdlicher Marsbreite zu überblicken. Dieſer Horizont verengte ſich mehr und mehr beim Herabſinken des Raumſchiffes, während infolge der größeren Annäherung das Bild des Planeten an Ausdehnung zunahm und die Einzelheiten immer deutlicher hervortraten. Infolge der dünnen, durchſichtigen, wolkenloſen Atmoſphäre lag die Geſtaltung der Oberfläche bis an den Rand der ſichtbaren Fläche klar vor Augen. in der Nähe des Poles und nach der Schattengrenze hin dehnten ſich weite Gebiete von grauer, ins Blaugrüne ſpielender Färbung, das Mare auſtrale der Aſtronomen der Erde. Der Pol ſelbſt war eisfrei, aber weſtlich von ihm lagen zwiſchen den dunklen Landesteilen noch langgeſtreckte Schneeflächen bis zum 80. Breitengrad hinab. Zwei ausgedehnte große Flecken, die weiter nördlich zwiſchen dem 60. und 70. Breitengrad hellrot im Sonnenſchein glänzten, bezeichnete Ill als die Wüſten Gol und Sek; ſie werden auf der Erde die beiden Inſeln Thyle genannt. Im übrigen Teil der ſichtbaren Scheibe herrſchte dieſe hellrote Farbe vor, doch an mehreren Stellen von breiten und ausgedehnten grauen Gebieten unterbrochen. Alle dieſe dunkeln Stellen waren untereinander durch dunkle Streifen verbunden, die ſich geradlinig durch die hellen Gebiete hindurchzogen. Die hellen Teile ſind teils ſandige, teils felſige Hochplateaus, trockene und faſt vegetationsloſe Gegenden, in denen ſich nur ſpärliche Anſiedlungen zur Gewinnung der Mineralſchätze des Bodens befinden. Dicht bevölkert dagegen ſind die dunklen Teile, deren Erdreich von Feuchtigkeit durchdrungen und mit einem üppigen Pflanzenwuchs bedeckt iſt. Ein ſeltſames Farbenſpiel entwickelte ſich an der Schattengrenze, an welcher die Sonne für die Marsbewohner im Aufgehen und die Nacht zu entſchwinden im Begriff war. Während der Nacht bedeckte ſich die Oberfläche des Planeten infolge der ſtarken Abkühlung weithin mit einer Nebelſchicht. Wo dieſe dichter war, dauerte es einige Zeit, ehe ſie von den Strahlen der Sonne aufgeſogen wurde, und hier erſchienen glänzende Lichter durch den Reflex der Strahlen auf den Nebeln. Einzelne der Hochplateaus erhoben ſich ſo weit, daß ſie mit Schnee oder Reif bedeckt waren, der aber bald in den Strahlen der Sonne verſchwand. Ill wies nach einer Stelle nahe am nördlichen Rand des Vegetationsgebiets, ſchon an der Grenze des Horizonts, wo der graue Grund eine Mannigfaltigkeit von teils helleren, teils dunkleren Konturen aufwies und wohin durch die benachbarten roten Wüſten eine beſonders große Anzahl dunkler Streifen zuſammenliefen. „Dort liegt Kla“, ſagte er, „der Sitz des Zentralrats, und dort werden wir zunächſt wohnen. Nur wenn der Sommer noch weiter fortgeſchritten iſt, rücken wir weiter nach dem Südpol vor.“ „Es wird mir leicht werden“, bemerkte Isma mit einem wehmütigen Lächeln, „denn ich werde nicht viel Gepäck haben.“ „Daran wird es Ihnen nicht fehlen, ich werde es mir nicht nehmen laſſen, Ihnen eine vollſtändig eingerichtete Wohnung zur Verfügung zu ſtellen. Sie werden ſich dann wohl bequemen, unſere Tracht anzunehmen, denn es wird Ihnen nicht angenehm ſein, aufzufallen. Übrigens müſſen Sie wiſſen, daß ein Umzug von einem Ort zum andern kein Einpacken und Umräumen erfordert. Wir ziehen mit unſerm ganzen Haus. Sie beſtellen nur beim nächſten Transportbüro, wann und wohin Sie befördert ſein wollen, legen ſich ruhig ſchlafen und ſind am andern Morgen an Ort und Stelle.“ „Es wird nämlich meiſtens in der Nacht gezogen“, erklärte Ell weiter. „Die Häuſer ſtehen auf Rollſchlitten und werden auf unſern Gleitbahnen befördert. Größere Laſten laſſen ſich vorteilhafter in der Nacht fortbringen, am Tag würden wir bei der herrſchenden Trockenheit ſtärkeren Waſſerverbrauch haben.“ „Hat denn jede Familie ihr eigenes Haus?“ „In den wohlhabenden Staaten gewiß, und wo man es ſich geſtatten kann, ſogar jede einzelne Perſon. Die Häuſer ſind nicht ſehr groß, es werden aber diejenigen einer Familie zu einer zuſammenhängenden Gruppe verbunden. Sie werden es bald ſehen, denn wir nähern uns dem Ziel. Blicken Sie gerade unter uns. Der glänzende Punkt — es iſt ſchon eine kleine Scheibe — iſt der Ring der Außenſtation. Von dort bringt uns der Fallwagen nach Polſtadt, wo wir zunächſt übernachten.“ „Das Letztere“, bemerkte Ill, „iſt noch nicht gewiß. Vielleicht müſſen wir unſre Reiſe ſogleich fortſetzen. Doch gehen unſre Wagen ſo ruhig und ſind ſo bequem eingerichtet, daß Sie keinerlei Anſtrengung zu fürchten haben.“ An der unteren Wölbung des Raumſchiffs flammte das Zeichen der Marsſtaaten auf. Der ‚Glo‘ hatte ſich bis dicht über die Station geſenkt, deren Raumſchiffe wie eine Stadt aus rieſigen Kuppeldomen im Sonnenſchein ſtrahlten. Alle dieſe Schiffe ließen jetzt ihre Symbole und Flaggenzeichen an ihren Wölbungen zur Begrüßung aufleuchten. Faſt unmerklich langſam glitt das Schiff auf ſeinen Platz nieder. Kein Laut unterbrach die Stille, durch die Leere des Weltraums pflanzte ſich kein Schall fort. Aber hinter den durchſichtigen Wänden der Galerien ſah man eine gedrängte Menge, die dem nahenden Schiff mit Schleiern ihr Willkommen zuwinkte. Der aufnehmende Zylinder ſenkte ſich in die Empfangshalle, der ‚Glo‘ ruhte an ſeinem Ziel; der Stationsbeamte betrat durch die Eingangsluke das Schiff. Ill mit ſeinen Gäſten zog ſich zunächſt in das Innere des Schiffes zurück. Nach Erfüllung der erforderlichen Förmlichkeiten wurde das Verlaſſen des Schiffes geſtattet. Zunächſt ſtrömten die von der Erde abgelöſten Martier heraus und wurden von ihren Verwandten und Freunden jubelnd bewillkommnet. Erſt nachdem dieſes rege Gewühl ſich einigermaßen gelegt hatte, nahte ſich eine Deputation von Mitgliedern des Zentralrats und andern offiziellen Perſönlichkeiten und betrat das Innere des Raumſchiffs. Hier erfolgte die Begrüßung und formelle Vorſtellung von Ell und Isma, indem Ill in Kürze die notwendigſten Erklärungen gab. Ein erſter telephotiſcher Bericht war bereits von der Erde aus vorangegangen. Obgleich dieſer Empfang im Innern des Schiffes ziemlich lange währte, hatten die Zuſchauer es ſich doch nicht nehmen laſſen, in der Empfangshalle zu warten. Abſperrungen gab es nicht. Es verſtand ſich von ſelbſt, daß die Martier den Ausgang des Schiffes und den Weg nach der Abfahrtshalle des Fallwagens im abariſchen Feld freiließen. Endlich erſchien die Empfangsdeputation wieder und ſchritt den Weg nach dem Fallwagen voran. Hinter ihr kam Ill, der Isma führte, während Ell an ſeiner linken Seite ging. Isma hatte den Schleier dicht vor ihr Geſicht gezogen, ſie wagte nicht, ſich umzuſchauen. Ill und Ell dankten nach martiſcher Sitte für die Willkommrufe, die ihnen entgegenſchallten. Erſt als Isma bereits auf der Treppe des Fallwagens ſtand, ſchob ſie ihren Schleier zurück und warf einen Blick auf das bunte Bild der bewegten Menge. Ein enthuſiaſtiſcher junger Mann, der ſich bis dicht an die Treppe gedrängt hatte, warf ihr einen Gegenſtand zu, den ſie nicht kannte; doch ahnte ſie wohl, daß dies eine Huldigung ſein ſollte. Es war allerdings nicht, wie ſie vermutete, ein Blumenſtrauß, ſondern ein buntes Spielzeug, wie man ſie kleinen Kindern ſchenkte. Hier auf der Außenſtation, um den Marsdurchmeſſer vom Mittelpunkt des Planeten entfernt, herrſchte nur der vierte Teil der Marsſchwere, alſo nur ein Zwölftel der Erdſchwere. Der Gegenſtand, etwas höher als Ismas Kopf geworfen, ſchwebte daher ſo langſam herab, daß ſie ihn bequem mit der Hand ergreifen konnte. Sie tat es und verneigte ſich in ihrer natürlichen Anmut gegen die Anweſenden, für welche die Fremdartigkeit ihres Grußes einen beſondern Reiz hatte. „Sila Ba!“ — „Es lebe die Erde!“ rief der Jüngling, und die Verſammlung ſtimmte in den Ruf ein. „Sila Ill, Sila Ell, Sila Ba!“ In der Tür des Wagens wandte ſich Isma nochmals zurück. Sie faßte Mut und rief: „Sila Nu!“ Sie erſchrak über ihre eigene Stimme. Denn ſelbſt die Hochrufe der Martier klangen tief und halblaut, ſie aber hatte ihre helle Menſchenſtimme nicht gedämpft, und ſo hob ſich ihr Gruß deutlich in dem allgemeinen Geräuſch ab. Die Martier waren entzückt. * * * Der Verkehr auf weite Strecken und mit großer Geſchwindigkeit wurde auf dem Mars durch zwei Arten von Bahnen vermittelt, Gleitbahnen und Radbahnen. Die Kraftquelle war die Sonnenſtrahlung ſelbſt; ſie wurde auf den glühenden, trockenen Hochplateaus in ausgedehnten Strahlungsflächen geſammelt und den Motoren in Form von Elektrizität zugeleitet. Bei den Gleitbahnen befand ſich zwiſchen der Schienenbahn und der Laſt, die auf Schlittenkufen mit eingelaſſenen Kugeln ruhte, eine dünne Waſſerſchicht, wodurch die Reibung ſo vermindert wurde, daß man rieſige Maſſen mit großer Geſchwindigkeit transportieren konnte. Noch viel raſcher indeſſen fand der Perſonenverkehr auf den Radbahnen ſtatt. Die zwiſchen drei Schienen laufenden Einzelwagen legten in der Stunde 400 Kilometer zurück. Der Verkehr durch Luftſchiffe hatte ſich bis jetzt nicht als vorteilhaft bewährt, doch beabſichtigte man nunmehr nach den neuen Entdeckungen, zu denen die Fahrten nach der Erde geführt hatten, den Bau neuer Luftſchiffe mit Repulſitmotoren in Angriff zu nehmen. Ill hatte beim Empfang erfahren, daß er die Reiſe ſogleich fortſetzen ſolle. Er beſtieg daher mit ſeinen Gäſten den von der Regierung geſtellten Zug, um ohne Aufenthalt nach Kla zu gelangen. Trotzdem war hierzu eine zwölfſtündige Fahrt erforderlich. Jene Bahnen wurden aber nur dann benutzt, wenn es ſich darum handelte, große Strecken in kürzeſter Zeit zurückzulegen. Das Hauptverkehrsmittel war ſtets der Radſchlitten, ein leichter, teils auf Kufen, teils auf Rädern ruhender Wagen für ein oder zwei Perſonen, den ein unter dem Sitz befindlicher kleiner Motor bewegte. Ferner kamen dazu die Stufenbahnen, die in regelmäßigen Abſtänden von etwa zehn Kilometern alle bewohnten Gegenden mit ihrem dichten Netz überſpannten. Dieſe Stufenbahn war das Ideal einer Straße, in ihr war jene Phantaſie des Märchendichters realiſiert, daß ſtatt des Reiſenden die Wege ſelbſt ſich bewegten. Die Breite der eigentlichen Fahrſtraße betrug etwa 30 Meter, und ebenſo breit waren die parallellaufenden Zugangsſtraßen. Dieſe beſtanden aus zwanzig eng nebeneinander befindlichen Streifen von anderthalb Meter Breite, von denen der äußere ſich mit einer Geſchwindigkeit von drei Metern in der Sekunde fortſchob. Jeder folgende, nach innen zu, hatte eine um drei Meter größere Geſchwindigkeit, ſo daß die Bahn in der Mitte, die eigentliche Fahrſtraße, ſich mit einer Geſchwindigkeit von 60 Metern in der Sekunde bewegte. Jeder Punkt derſelben legte alſo in der Stunde über 200 Kilometer zurück. Die Streifen ſelbſt erhielten ihre Bewegung durch Walzen, über welche ſie in der Art von Transmiſſionſriemen gezogen waren. Man konnte die Stufenbahn ſowohl zu Fuß als auf dem eigenen Radſchlitten benutzen. An jeder Stelle konnte ſie betreten und verlaſſen werden. Die Geſchwindigkeit des erſten Streifens von drei Metern konnte man auf dem Mars, wo wegen der geringeren Schwere das Springen eine jedermann geläufige Sache war, leicht erreichen, noch bequemer mit Hilfe des Radſchlittens. Man ſprang oder fuhr alſo einfach auf dieſen Streifen, und da jeder folgende Streifen zum vorhergehenden dieſelbe relative Geſchwindigkeit beſaß, ſo gewann man, von Streifen zu Streifen ſchräg vorwärts gehend oder fahrend, die Geſchwindigkeit der Hauptſtraße. Dieſe benutzte man, ebenfalls fahrend oder gehend, ſoweit man wollte, um alsdann in derſelben Weiſe ſie wieder zu verlaſſen. Die linke Seite war zum Aufſtieg, die rechte zum Abſtieg beſtimmt. Über die Stufenbahn führten alle hundert Meter leichte Brücken. Über den Bahnen erhoben ſich, die ganze Breite in kühnen Bogen überſpannend, die Rieſengebäude des gewerblichen und Geſchäftsverkehrs. Dieſe ſtiegen bis zur Höhe von hundert Meter an. Das leichte, feſte Baumaterial geſtattete bei der geringen Marsſchwere dieſe gewaltigen Wölbungen und Säulenmaſſen. Gleich Paläſten und Domen, in zierlichen Formen und lichten Farben, ſtiegen die Gebäude wie ſpielend in die klare Luft, überall auf ihren Dächern die Sonnenſtrahlen ſammelnd, um ihre Kraft zu verwerten. So zogen dieſe Hallen ohne Unterbrechung durch das Land, es in große Abſchnitte von durchſchnittlich hundert Quadratkilometer Fläche zerlegend. Eigentliche Städte oder Dörfer gab es hier nicht, die Orte gingen ineinander über, und nur als Verwaltungsbezirke ſchieden ſich die Gebäude in zuſammengehörige Gruppen. Dieſe Bauten überbrückten auch die Kanäle und die Bahnen, die ſich meiſt in derſelben Richtung mit ihnen hinzogen. Entfernte man ſich aber von dieſen Induſtrieſtraßen nur um einige hundert Schritte, ſo befand man ſich in einer vollſtändig anderen Gegend. Gewaltige Rieſenbäume, deren Gipfel zum Teil ſogar die hundert Meter hohen Gebäude noch überragten, verdeckten mit ihren Zweigen die Nähe der Bauwerke. Es waren teils den Platanen, teils den Fichten gleichende Pflanzen, mit denen ſich kein irdiſcher Baum, ſelbſt nicht die berühmten Rieſen des Yoſemite-Tales, vergleichen konnte. Erſt in einer Höhe von etwa vierzig Metern begann der Aſtanſatz, und von hier aus bildete das Laubdach eine natürliche Wölbung, auf den geradlinig aufſteigenden Pfeilern der Stämme ruhend. Kein direkter Sonnenſtrahl vermochte den Boden zu treffen, aber ein mildes, bläulich-grünes Licht ſchimmerte von den Blättern hernieder und verteilte ſich gleichmäßig im Raum. Dieſe lebendigen Kuppeln erſetzten den Martiern den Schutz einer dichteren Atmoſphäre, ſie milderten den Gegenſatz der Einſtrahlung am Tag und der Ausſtrahlung in der Nacht und ſchützten den Boden vor Verdunſtung. Der geſamte Raum der von den Induſtrieſtraßen begrenzten Bezirke war eine ſolche entzückende Waldlandſchaft, die übrigens nach der Mitte der Bezirke zu auch zuweilen von Lichtungen unterbrochen wurde und eine reiche Abwechslung des Pflanzenwuchſes darbot. Auf beiden Seiten der Induſtrieſtraßen, in einem Streifen von etwa tauſend Metern Breite, erſtreckten ſich die Privatwohnungen der Martier. Unter dem Rieſendach der Bäume dehnte ſich ein reizendes Gewirr von Garten- und Parkanlagen aus, Blumenbeete und kleine Teiche wechſelten mit Gebüſch und Baumgruppen, deren Höhe das auf der Erde gewohnte Maß nicht überſtieg. Mitten in dieſen Gärten, die bald aufs anmutigſte gepflegt, bald als einfache Raſenplätze ſich darſtellten, ſtanden die Häuſer der Martier, kleine einſtöckige Gebäude, manchmal zu Gruppen zuſammengeſchloſſen, im allgemeinen aber villenartig durchs Gelände zerſtreut. Sie reihten ſich, vom Blaugrün der Sträucher und bunten Blumenbosketts umgeben, unregelmäßig zu beiden Seiten der Wege, auf deren feſtem Moosteppich ſich, für das Auge wenig bemerkbar, die Geleiſe der Gleitbahn hinzogen. Sämtliche Martier in den kulturell entwickelten Teilen des Planeten hielten ſich in ſolchen ländlichen Wohnſitzen auf, ſofern ſie nicht gerade geſchäftlich oder dienſtlich in den Induſtrieräumen zu tun hatten. Es kamen hier auf einen Quadratkilometer ungefähr tauſend Einwohner, ſo daß ein ſolches Straßenviertel von zehn Kilometern Länge und Breite in dem Streifen, der es umfaßte, gegen vierzigtauſend Einwohner zählte. Hatte man dieſe Zone von Wohnſtätten durchſchritten und drang man auf einer der ſchmalen, ſauber angelegten Straßen weiter in das Innere des Bezirks vor, ſo nahm die Landſchaft wieder einen neuen Charakter an. Die Gärten hörten auf, an ihre Stelle trat die Wildnis des Waldes. Tiefe Stille herrſchte ringsum, nur unterbrochen durch das leichte Summen kleiner Vogelarten oder das Zwitſchern der ſingenden Blüten, die ſich auf ihren ſchwanken Stengeln wiegten. Zahlreiche Waſſeradern verzweigten ſich unter den breiten Blättern einer Sumpfpflanze und ſammelten ſich zu einem ſtillen See, deſſen dunkle Fläche ſeine Ufer widerſpiegelte. Und alles dies war überragt und geſchützt von dem ſanft leuchtenden Blätterdach der Rieſenbäume, das ſich wie ein grünes Himmelszelt über die niedere Waldlandſchaft hindehnte. Man war entrückt in die Einſamkeit ungeſtörter Natur, und nichts verriet, daß man auf dem eilenden Radſchlitten in wenigen Minuten auf die Weltſtraße gelangen konnte, wo Millionen geſchäftiger Bewohner, die Kräfte der Sonne und des Planeten ausnutzend, arbeiteten. Es war ein Geſetz, daß in jedem Bezirk drei Fünftel des Flächenraums im Innern als Naturpark von jeder Ausbeutung und Bewohnung geſchützt blieb, was jedoch eine geregelte Forſtkultur darin nicht ausſchloß. Je nach der areographiſchen Breite wechſelte natürlich die Art der vorherrſchenden Pflanzen. Ihr Wuchs wurde üppiger in der Nähe des Äquators, ſpärlicher nach den Polen zu. Doch gab es in den Niederungen nirgends eine eigentliche Waldgrenze, da nach den Polen hin die Feuchtigkeit das Klima milderte. Einen ſtarken Gegenſatz zu dem reichen Kulturleben und der Lebensfülle der Niederungen boten die felſigen Hochplateaus, auf denen es an einigen Stellen ſogar beträchtliche Gebirge gab. Im allgemeinen erhoben ſie ſich jedoch nicht bedeutend über die Tiefebenen. Auch durch jene Wüſten zogen ſich, uralten Kulturwegen folgend, die Induſtrieſtraßen hin, nur daß ſie hier nicht ein dichtes Netz bildeten, ſondern parallel verliefen und dadurch Streifen von dreißig bis dreihundert Kilometern Breite darſtellten, die mit Bewohnern beſetzt waren. Denn jeder ſolcher Streifen war von einem Kanal begleitet, der das Waſſer von den Polen über den ganzen Planeten verbreitete. Nicht immer reichte die Waſſermenge aus, alle dieſe Kanäle zu füllen, ſo daß die Breite des Vegetationsſtreifens je nach der Stärke der Bewäſſerung wechſelte. Es ſchien dann, von der Erde aus geſehen, als ob die dunklen Streifen, welche die Wüſtengebiete auf die Länge von Tauſenden von Kilometern durchſetzen, ſich ſeitlich verſchoben, verengten, verbreiterten oder auch verdoppelten. Sobald der Waſſerzufluß hier aufhörte, verloren die ſchützenden Bäume ihr Laub und der Boden verdorrte, wenige Tage aber genügten auch wieder, dem Pflanzenwuchs ſeine Friſche zurückzugeben. Die Bevölkerung dieſer Weltſtraßen ſtand unter ungünſtigeren Lebensbedingungen als die der immer feuchten Niederungen, aber ſie war doch ungleich beſſer geſtellt als die Bewohner der Wüſten. Hier hauſten in der Kultur zurückgebliebene Gruppen der Bevölkerung des Planeten, die zum Teil ſogar noch Ackerbau trieben, wo geringe Einſenkungen infolge der nächtlichen Niederſchläge den Anbau von Früchten geſtatteten, zum größeren Teil aber im Bergbau und in den Strahlungs-Sammelſtätten tätig waren. Denn jene Wüſtengegenden, einſt leer und unbewohnt, waren in der gegenwärtigen Kulturperiode des Planeten das Hauptreſervoir und die Hauptquelle für die Energie geworden. Aus den Kalkfelſen, dem ausgetrockneten Ton- und Lehmboden und den darunter befindlichen, von Erzgängen reich durchſetzten Schichten zog die Bevölkerung des ganzen Planeten ihre Nahrung und ihre Macht. Aber die klimatiſchen Verhältniſſe geſtatteten nicht, die Verarbeitung an Ort und Stelle vorzunehmen. Die Geſteinsmaſſen wurden an den Rändern der Verkehrsſtreifen gebrochen, wodurch dieſe ſich allmählich verbreiterten. Die Sonnenſtrahlung wurde auf der ganzen Hochfläche geſammelt und in der Form von Elektrizität über den Planeten verteilt. Die Bergleute an den Rändern der Kulturſtreifen gelangten dabei zu Wohlſtand, vermiſchten ſich ſtetig mit der Bevölkerung der Niederungen und rekrutierten ſich immer aufs neue aus dem Stand der Beds, den Wüſtenbewohnern, die für die Beſorgung der Sammelwerke unentbehrlich waren. Dieſe abgehärteten Wüſtenſöhne durchzogen im Sonnenbrand die weiten Hochflächen, um im Dienſt der großen Strahlenſammelkompagnien die Stromleitungen bei Sonnenaufgang in Tätigkeit zu ſetzen und bei Sonnenuntergang wieder abzuſtellen. Sie erhielten einen reichlichen Lohn, der ihnen wohl geſtattet hätte, nach einer Reihe von Jahren ihren beſchwerlichen Beruf aufzugeben, aber ſie liebten ihre Hochflächen, wie ihre Väter ſie geliebt hatten, wo in der Nacht der Himmel mit Millionen Sternen leuchtete, wo wallende Nebel der Morgenſonne vorauszogen und dann das Glutgeſtirn den Boden unter den Füßen brennen ließ. Sie liebten die Wüſte und ſchüttelten die Köpfe, ſobald einer der Ihren in die Schächte am Wüſtenrand hinabſtieg. Sie betrachteten die Bewohner der Täler nur als die Lieferanten ihrer Bedürfniſſe und fühlten ſich als die eigentlichen Spender der Kraft des Planeten; aber ſie wußten auch, daß ſie trotz ihrer Sonne und Sterne verhungern müßten, wenn nicht die klugen Männer der Tiefe ihnen Steine in Brot verwandelten. Steine in Brot! Eiweißſtoffe und Kohlenhydrate aus Fels und Boden, aus Luft und Waſſer ohne Vermittlung der Pflanzenzelle! — Das war die Kunſt und Wiſſenſchaft geweſen, wodurch die Martier ſich von dem niedrigen Kulturſtandpunkt des Ackerbaues emanzipiert und ſich zu unmittelbaren Söhnen der Sonne gemacht hatten. Die Pflanze diente dem äſthetiſchen Genuß und dem Schutz der Feuchtigkeit im Erdreich, aber man war nicht auf ihre Erträge angewieſen. Zahlloſe Kräfte wurden frei für geiſtige Arbeit und ethiſche Kultur, das ſtolze Bewußtſein der Numenheit hob die Martier über die Natur und machte ſie zu Herren des Sonnenſyſtems. 28. Sehenswürdigkeiten des Mars In einem der großen Bezirke, welche den Sitz der Zentralregierung des Mars umſchloſſen und den Geſamtnamen Kla führten, lag die Wohnung Ills nahe an der Grenze der Waldwildnis. Sie beſtand aus mehreren miteinander verbundenen Einzelhäuschen, ſo daß das Ganze eine geräumige Villa darſtellte. Die Anlagen, die ſich um die Gebäude erſtreckten, zeugten von ſorgfältiger Pflege und feinem Geſchmack. Am Eingang des Gartens ſaßen rechts und links in anmutiger Haltung zwei Frauengeſtalten, die ſich im Scherz eine Blumengirlande zu entreißen ſuchten; ſie zogen quer über den Weg an den entgegengeſetzten Enden derſelben und verſperrten dadurch den Zutritt. Auf der ſchmalen, glatten Straße, die zwiſchen den Nachbargärten von dem Hauptweg abzweigend auf dieſen Eingang hinführte, näherte ſich raſch ein leichter, zweiſitziger Radſchlitten. Ein jüngerer Mann in der anliegenden Sommerkleidung der Martier lenkte denſelben; der Sitz neben ihm war leer. Wer Ell mit dem grauen Haar und der Falte zwiſchen den Augen nachdenklich von ſeiner Sternwarte in Friedau hatte herabſteigen ſehen, hätte ihn in dieſem Martier nicht wiedererkannt. Ell fühlte ſich in der Tat wie verjüngt, gleich als ob ſeine Erdenjahre ihm nach der Rechnung des Mars, zwei auf ein Marsjahr, angerechnet werden ſollten. Ein unausſprechliches Glücksgefühl durchzog ſeine Seele; das Bewußtſein, dem Planeten zurückgegeben zu ſein, den er für ſeine Heimat hielt, mitzuleben unter den Numen und ihren Götterwandel zu teilen, erhob ihn zunächſt über alle die Sorgen, die bei dem Gedanken an das Geſchick der Erde und ſeiner irdiſchen Freunde ſich ihm aufdrängten. Es war ihm, als müßten alle dieſe Schwierigkeiten unter den Händen der Nume von ſelbſt ſich löſen, und er genoß in vollen Zügen die Seligkeit, all das Große und Herrliche zu ſehen, von dem ſein Vater mit dem Schmerz des Verbannten in unſtillbarer Sehnſucht geredet hatte. Der Radſchlitten glitt auf den Eingang des Gartens zu, und Ell ließ den Strahlenkegel einer kleinen, an der Lenkſtange des Radſchlittens befeſtigten Lampe einen Moment auf die Augen der rechts ſitzenden Frau fallen. Sogleich richteten beide Figuren ſich in die Höhe und erhoben wie zum Gruß die Arme, indem ſich dabei die Girlande wie ein Triumphbogen emporſchwang und den Eingang freigab. Der Schlitten glitt hindurch und hielt gleich darauf vor der Veranda des Hauſes. Die beiden anmutigen Pförtnerinnen waren Automaten. Die Beſtrahlung der Augen der rechtsſitzenden löſte eine chemiſche Reaktion aus und öffnete dadurch die Pforte. Zugleich wurde damit der Eintritt eines Ankommenden im Innern des Hauſes ſignaliſiert. Ell ſprang aus dem Schlitten und eilte die Stufen der Veranda empor. Eine ſchlanke Frauengeſtalt trat ihm aus dem Haus entgegen. Ell blieb erſtaunt ſtehen. Er erkannte nicht ſogleich, wen er vor ſich hatte. Er hatte Isma noch nicht im Koſtüm der Martierinnen geſehen. „Isma!“ rief er jetzt, mit bewundernden Blicken ſie anſtarrend. Er wollte nach Martierſitte die Hände auf ihre Schultern legen, aber ſie ergriff ſie nach alter Gewohnheit mit den ihrigen und drückte ſie freundſchaftlich. „Ich kann nicht dafür“, ſagte ſie, verlegen errötend, „Frau Ma hat es nicht anders gewollt.“ „Sie konnte es nicht beſſer treffen“, ſagte Ell heiter, „ich wünſchte, ich könnte ſo mit Ihnen durch die Straßen von Friedau gehen. Paſſen Sie auf, das kommt auch noch.“ Isma ſchüttelte leiſe den Kopf. „Laſſen Sie uns jetzt nicht an die Erde denken. Wenn ich allein bin, kommen meine Gedanken nicht fort davon, immer ſehe ich den Zettel auf dem Tiſch meines Zimmers, als ich die Lampe abdrehte, und dann die Gletſcher zwiſchen den Felſen, wo — —. Nein, Ell, bis wir nicht handeln können und nichts Neues erfahren, laſſen Sie mich in Ihrer Gegenwart verſuchen, mit Ihnen auf dem Mars zu leben. Verſuchen — wie ich dies Kleid verſuche.“ „Verzeihen Sie mir“, ſagte Ell, „ich bin ſo überraſcht von allem Neuen, daß ich nicht ſogleich den richtigen Ton traf. Aber ich werde es. Und jetzt wollen Sie mir die Freude machen, mich zu begleiten?“ Sie blickte wieder lächelnd an ſich herab und zupfte an den dichten Falten des Schleiergewandes. „Ich will nur fragen, was noch zur Straßentoilette gehört“, ſagte ſie. „Nehmen Sie Platz.“ Sie ſchlüpfte in das Zimmer. Nach wenigen Minuten kehrte ſie zurück. Sie trug jetzt den leichten Kopfputz der Martierinnen, wie er im Sommer üblich war, der nur den Vorderkopf bedeckte. Ein Kranz ſehr feiner und zarter Federn ſchützte die Stirn und die Augen, indem er als ein halbkreisförmiger Schirm vortrat. Die Farbe war genau das tiefe Blau ihrer Augen, und von derſelben Farbe war das den ſchlanken Formen ſich anſchließende weiche Panzerkleid, das, ſtärker als Seide, metalliſch, wie die Flügeldecken mancher Käfer ſchimmerte. Der Schleier, auf beiden Schultern befeſtigt, wurde von einem Gürtel zuſammengehalten, deſſen Grund unſichtbar war, er erſchien nur wie ein Kranz ineinander verſchlungener Zweige. Vom Gürtel ab floß der Schleier, deſſen Farbe genau dem Lichtbraun des Haares angepaßt war, in dichten Falten um die ganze Geſtalt bis zu den Knöcheln, wurde aber von ſcheinbar vom Gürtel herabhängenden Blütengewinden durchſetzt. Dunkelblaue Schuhe vollendeten den Anzug. Es war, als hätte ſich der ſchimmernde Lichtglanz der Augen und das zarte Gewölk des Haares um den ganzen Körper verbreitet. Hinter Isma erſchien eine ältere, würdige Dame, Frau Ma, die Gattin Ills. „Guten Morgen“, rief Ell, ihr freudig entgegentretend. „Darf ich dir deinen Gaſt entführen?“ Ma warf mit jugendlicher Friſche den Kopf zurück und blinzelte Ell mit ihren gutmütigen Augen vergnügt an, ihn von oben bis unten muſternd. „Ganz wie eingeboren!“ ſagte ſie lachend. „Eigentlich hatte ich mich auf einen Menſchenneffen gefreut, der in Felle gekleidet umherläuft. So macht man’s wohl? Nicht?“ Dabei ſtreckte ſie Ell ihre linke Hand entgegen. „Die rechte, Tante!“ ſagte Ell. „Na alſo dann wohl die?“ Ell ergriff die Hand und zog ſie an ſeine Lippen. „So alſo wird das gemacht?“ „Herren gegen Damen, wenn ſie beſonders aufmerkſam ſein wollen. Einer Tante darf man ſogar um den Hals fallen.“ „Na, ein andermal. Aber nun ſag einmal, Neffe, wie gefällt dir das Kind?“ Dabei faßte ſie Isma am Arm und drehte ſie ohne weiteres um ſich ſelbſt. „Mir gefällt bloß nicht“, fuhr ſie ſogleich fort, „daß ſie ſo traurige Augen macht. Das iſt nichts, auf dem Nu muß man luſtig ſein. Nun nimm ſie einmal mit und zeig ihr die Welt. Du ſollſt mir ſie ein bißchen munter machen.“ Sie ließ Isma gar nicht zu Wort kommen, ſondern ſchob die beiden, ſie freundlich auf die Schulter klopfend, nach der Treppe. Schon hatte Isma den Wagen beſtiegen, und Ell wollte ihn eben in Bewegung ſetzen, als Ma rief: „Halt, halt! Isma, Frauchen, Sie haben ja Tuch und Schirm vergeſſen. Bleiben Sie nur ſitzen. Ich hab’s ſchon drin zurechtgelegt.“ Im Augenblick erſchien ſie wieder und warf ein kleines Rohr hinab. Ell fing es auf. Isma dankte. „Wenn Sie auf der einen Seite ziehen, iſt’s ein Schirm, und auf der andern bekommen Sie ein Umſchlagetuch. Da, an den Gürtel hängt man’s — — zeig’s ihr doch, Ell! Fahrt wohl, ihr Kinder.“ Isma betrachtete das zierliche Röhrchen. „Ich denke“, ſagte ſie, „hier regnet es nur in der Nacht. Wozu braucht man da einen Schirm?“ „Es iſt auch eigentlich ein Sonnenſchirm.“ „Aber hier iſt überall der wunderbare Baumſchatten, und die Straßen draußen ſind alle überwölbt.“ „Es gibt auch Lichtungen und Übergänge, wo der Schirm unentbehrlich iſt; denn wo die Sonne ſcheint, brennt ſie gewaltig. Obwohl wir ſoviel weiter von ihr entfernt ſind als auf der Erde, ſchützt uns doch nicht die dichte Erdenluft; es iſt, als ob wir auf dem Gauriſankar ſtänden.“ „Aber dieſe herrliche Vegetation.“ „Den Verhältniſſen angepaßt, und die ſind doch wieder ganz andere als auf einem Gebirge. Hier in den Niederungen halten wir alle Wärme feſt und geben keine wieder heraus. Dafür ſorgen die großen pelzverbrämten Blätter unſrer Rieſenbäume. Aber Sie ſind an das Klima nicht gewöhnt, es iſt vielleicht beſſer, wenn Sie während des Fahrens ſich in das Tuch hüllen. Erlauben Sie.“ Ell nahm Isma das Schirmröhrchen aus der Hand und zog an dem Ring, welcher das eine Ende abſchloß. Eine kleine Rolle, nicht größer als ein Zeigefinger, ſchob ſich heraus, ſcheinbar ſchwarz; aber unter Ismas Händen entfaltete ſich das Röllchen zu einer großen Decke, in die man den ganzen Körper einhüllen konnte. Das Gewebe war ganz weich, locker und vollſtändig unſichtbar, die eingewebten dunklen Fäden dienten nur dazu, überhaupt erkennen zu laſſen, wo das Tuch ſich befand und wie weit es reichte. Isma hüllte ſich behaglich hinein, und man bemerkte nicht, daß ſie überhaupt ein Tuch umgeſchlagen hatte; ihre Toilette blieb vollſtändig ſichtbar. „Das iſt ja wie das Zelt der Fee Paribanu“, ſagte ſie lächelnd. „Aber wie bekommt man denn das Tuch wieder in das Futteral?“ „Man knüllt es einfach in der Hand zuſammen und ſtopft es hinein. Dieſen Lisfäden iſt es ganz gleichgültig, wie ſie zu liegen kommen, man kann ſie zuſammenpreſſen wie Luft.“ „Jetzt iſt es erſt behaglich“, ſagte Isma. „Und wie ſtill und ſchön. Das iſt ja wie in unſerem Wald, nur Felſen ſcheint es nicht zu geben. Aber ſo viel Waſſer! Und ich denke, der Mars iſt ſo waſſerarm?“ „Das iſt auch richtig, wir haben kein Meer, wenigſtens kein nennenswertes. Unſer ganzer Reichtum iſt auf dem Land verteilt, da nutzen wir ihn aus.“ Es war am frühen Vormittag. Die Wege hier im Waldesdickicht waren einſam, nur hin und wieder begegnete man einem Gleitwagen oder einem Spaziergänger. Ell hatte ſein Gefährt langſam durch den Naturpark gelenkt, es näherte ſich jetzt der gegenüberliegenden Grenze des Bezirks, die Wege wurden belebter, und die erſten Häuſer der Wohnungszone erſchienen. Ein ſtarkes Geräuſch wie das einer Säge unterbrach die Ruhe der Umgebung. Bei einer Wegbiegung wurde die Urſache ſichtbar. Es war in der Tat eine große Säge, die, von einem elektriſchen Motor getrieben, den ſieben Meter im Durchmeſſer haltenden Stamm eines der Waldrieſen bereits bis auf einen kleinen Reſt durchnagt hatte. Das Alter — er zählte über ſechstauſend Jahre — hatte ihn vollſtändig gehöhlt und der Zuſammenſturz war zu befürchten; man mußte ihn beſeitigen. „Mitten zwiſchen dieſen anderen Bäumen“, rief Isma, „wie iſt das möglich? Er muß ja in ſeinem Fall ringsum alles zermalmen.“ Auch Ell wußte keine Auskunft zu geben. „Vielleicht ſehen wir bald, was geſchieht, wenn wir ein wenig warten, die Säge iſt ja ſchon faſt hindurch. Man muß doch keine Gefahr befürchten, denn nur ein kleiner Kreis ringsum iſt abgeſperrt.“ Nach wenigen Minuten war die Säge aus der Rinde vollends herausgedrungen. Die Maſchine ſchob ſich beiſeite, und die Arbeiter zogen ſich außerhalb des abgeſperrten Kreiſes zurück. Der Arbeitsleiter ſprach in ein Telephon, deſſen Drähte ſich nach oben zwiſchen den Äſten der Bäume verloren. Gleich darauf vernahm man ein gewaltiges Rauſchen zwiſchen den Blättern, einzelne Zweige wurden geknickt, und Blätter fielen herab. Der Rieſenbaum ſchwankte ein wenig und hob ſich langſam in die Höhe. Wie er geſtanden, ſenkrecht, ſchwebte er aufwärts zwiſchen ſeinen geſunden Nachbarn, von denen nur einzelne Äſte und Zweige mitgeriſſen wurden, die ſich zu eng mit denen des gefällten Baumes verbunden hatten. Ein Streifen Sonnenlicht durchbrach das blaugrüne Laubdach. „Ich ſehe es jetzt“, rief Ell. „Sie heben den Baum mittels Luftballons in die Höhe. So wird er ſogleich bis zur Fabrik transportiert werden, wo man das Holz verarbeitet. Und raten Sie, was in dem hohlen Baum ſteckt!“ „Nichts, vermutlich.“ „Hier, Ihr Tuch. Vielleicht hunderttauſend ſolcher Tücher. Sehen Sie, da —“ Eine Anzahl Neugieriger, beſonders aber Kinder, hatten ſich um den abgeſperrten Kreis geſammelt. Als die Schranken fielen, ſtürzten ſie mit Jubel auf den Stumpf des Baumes zu und kletterten auf den Rand. Gleich darauf ſah man ſie, die Hände feſt zuſammengedrückt, davonlaufen. „Was haben ſie da?“ fragte Isma. „Das Gewebe der Lisſpinne, es füllt die Höhlung des Baumes zum großen Teil aus, und was unten im Stumpf bleibt, gehört dem, der es nimmt.“ Ein kleiner Junge rannte auf Ells Wagen zu, den er im Eifer ſo ſpät bemerkte, daß er beim Ausweichen hinſtürzte. Gleich war er wieder auf den Beinen, aber jetzt ſuchte er nach ſeiner Handvoll Lis, die ihm entfallen und nun kaum zu ſehen war. Isma, die den Wagen verlaſſen hatte, ſah das Gewebe zufällig am Boden glitzern und hob es auf. Sie betrachtete es neugierig. Der Knabe bemerkte es. Es war ein kleines, dickes, pausbäckiges Kerlchen, ſehr ärmlich gekleidet. Er ſtarrte Isma an. Sie hielt ihm das wirre, weiche Fadenknäuel hin. Seine Augen leuchteten groß auf, als er es wieder erhielt, aber er blieb wie angenagelt mit geſpreizten Beinchen vor Isma ſtehen. Seine Blicke gingen jetzt zwiſchen Isma und ſeinen Händen hin und her. Er kämpfte offenbar einen großen Kampf. Dann hielt er das Päckchen Isma wieder hin und ſagte, als wenn er ein Königreich vergäbe: „Ich ſchenke es dir.“ „Warum?“ fragte Isma lächelnd. „Weil du kleine Augen haſt.“ Isma wußte nicht, ob ſie recht verſtanden habe, und ſah Ell zweifelnd an. „Weil ich kleine Augen habe?“ wiederholte ſie fragend. „Kleine Augen ſind traurig, man ſchenkt ihnen“, ſagte der Knirps. „Ich will dir —“ Isma unterbrach ſich. „Ich will dir auch etwas ſchenken, weil du große Augen haſt“, wollte ſie ſagen. Aber es fiel ihr ein, daß ſie nichts zu verſchenken habe. Der kleine Nume auf ſeinen Wackelbeinchen — was konnte ſie ihm als Gegengabe bieten? Ell verſtand ſie. Er griff in die Wagentaſche, in der ſich einige kleine Erfriſchungen befanden, und gab Isma ein Stückchen Naſchwerk. „Das iſt etwas für ihn“, ſagte er. Der Junge lachte über das ganze Geſicht, als ihm Isma den Kuchen reichte. Dieſe Sprache verſtehen die Kinder aller Planeten. Aber er biß nicht ſogleich hinein. „Gib ihr auch“, ſagte er zu Ell. „Du haſt große Augen. Große Augen dürfen nicht eſſen, wenn kleine hungern.“ Er beruhigte ſich nicht eher, bis Isma einen Kuchen in der Hand hielt. Dann rannte er ſpornſtreichs davon. Isma ſtieg ein. Der Wagen rollte weiter. „Was meinte er mit den kleinen Augen?“ fragte Isma. „Das iſt eine ſprichwörtliche Redensart. ‚Kleine Augen‘ nennt man unglückliche, kranke, armſelige Leute. Der Junge hat die Sache wörtlich genommen.“ Man durchfuhr die Zone der Wohnhäuſer, die Bäume hörten auf, der Wagen glitt unter die Säulenhallen der Induſtrieſtraße. Ell beſchleunigte ſein Tempo, er fuhr auf den Außenſtreifen der Stufenbahn und war ſchnell auf der breiten Mittelſtraße. In einem Gewühl von Fahrzeugen legte er hier ſeinen Weg zurück. Aus der Ruhe des ländlichen Hauſes, in der Isma ſich zunächſt einige Tage bei der liebenswürdigen Pflege ihrer Wirte hatte erholen ſollen, und jetzt aus der Einſamkeit des Waldfriedens fand ſich Isma plötzlich in das Gedränge des Weltverkehrs, der Weltſtadt im wörtlichen Sinn, verſetzt. Denn dieſe Palaſtreihen bildeten in der Tat den Zuſammenhang einer Rieſenſtadt, die ſich über den größten Teil des Planeten verbreitete, nur mit der glücklichen Anordnung, daß ſie meilenweite Wälder und auch Hunderte von Meilen ausgedehnte Wüſten zwiſchen ihren Mauern umſchloß. Wenn Isma den Blick auf die Wagen und Fußgänger richtete, die ſich in ununterbrochener Kolonne in derſelben Richtung mit ihr bewegten oder auf der andern Seite der Straße ihr in raſcher Gangart entgegenkamen, ſo glaubte ſie in einer ungeheuern Völkerwanderung zu ſtecken. Dabei war das Geräuſch keineswegs betäubend, denn auf dieſem Planeten wickelte ſich alles verhältnismäßig leiſe ab. Auch die relative Geſchwindigkeit der Wagen und Fußgänger gegeneinander war nicht groß. Nur wenn ſie nach den kühn aufſtrebenden Säulen blickte, welche die mächtigen Wölbungen trugen, nach den Treppen und Aufzügen, die an den Seiten in die oberen Stockwerke führten, nach den Plakaten und Anſchlägen, die ſie von hier aus nicht zu entziffern vermochte, erkannte ſie, daß der Weg ſelbſt, auf dem ihr Radſchlitten hinglitt, mit der dreifachen Geſchwindigkeit eines irdiſchen Schnellzugs ſie fortriß. Mit Erſtaunen blickte ſie auf ihren Nachbar zur Rechten, der den Wagen mit einer Sicherheit zwiſchen den übrigen hinlenkte, als wäre er ſeit Jahren an dieſe Beſchäftigung gewöhnt. Allerdings hatte Ell bereits die wenigen Tage ſeines Aufenthalts benutzt, um ſich gründlich in der Umgebung umzuſehen. Er wohnte nicht weit von der Illſchen Villa in einem eigenen Häuschen, hatte ſich aber immer nur des Abends auf eine Stunde bei ſeinen Verwandten ſehen laſſen. Isma empfand dieſe Zurückhaltung nicht gerade als Zurückſetzung. Hatten ſich doch beide auch in Friedau ſtets nur kurze Zeit geſprochen, und mußte ſie ſich doch ſagen, daß ihn die neue Umgebung voll in Anſpruch nahm. Aber nach dem gemeinſamen Erlebnis der Reiſe und hier, in der völligen Fremde, vermißte ſie die Nähe des Freundes ſtündlich, des einzigen, der ſie ganz zu verſtehen vermochte. Geſtern abend war dann der heutige Ausflug verabredet worden. Beide hatten, ſeitdem ſie die Stufenbahn benutzten, kaum miteinander geſprochen. Ell mußte ſeine Aufmerkſamkeit ganz auf den Weg richten, und Isma muſterte neugierig und überraſcht die Geſichter und Trachten rings um ſie her. Offenbar ſtrömten hier alle Klaſſen der Bevölkerung durcheinander, das ärmlichſte Kleid erſchien neben der eleganteſten Toilette, der einfache Arbeitsanzug herrſchte vor. Sie bemerkte bald, daß ihre von Ma ausgewählte Toilette ſich ſehen laſſen durfte und ſie ſowohl wie ihr Gefährte nur durch ihre Züge und ihre bleichere Geſichtsfarbe auffielen. Nun wendete ſich Ell wieder zu ihr. „Wir ſind am Ziel“, ſagte er. „jene helle Zahl dort — 608 — zeigt es an; bei 609 müſſen wir die Bahn verlaſſen.“ Er lenkte das Gefährt nach rechts. Die Bewegung verminderte ſich merklich, Isma mußte ſich feſt im Wagen zurücklehnen. Jetzt glitt der Wagen auf die ruhende Straße. Nach wenigen Augenblicken hielt er unter einem Rieſenportal hinter einer langen Reihe ähnlicher Fahrzeuge. Ell half Isma aus dem Wagen. „War es Ihnen unangenehm?“ fragte er, ihre Hand feſthaltend. Sie erwiderte den leiſen Druck ſeiner Finger. Sie freute ſich, in ſeinen Augen wieder die gewohnte Sorge um ſie zu leſen, die ſie daheim ſo oft im ſtillen beglückt hatte. „Zuletzt begann ich etwas ſchwindlig zu werden“, antwortete ſie. „Ich bin ganz froh, wieder einmal ein Stück zu Fuß gehen zu können. Wo führen Sie mich denn hin?“ Er ſah ſie noch immer an. „Ich bin ſo glücklich, Sie hier zu haben!“ Sie hob die Augen bittend zu ihm auf. „Was wollen Sie ſehen?“ fragte er in anderem Ton. „Wir ſind hier am Muſeum der Künſte. Eine oder die andre Abteilung wollen wir betrachten.“ „Was Sie wollen!“ ſagte Isma heiter. „Wir ziehen nun einmal auf Abenteuer aus.“ Ein Beamter befeſtigte eine Marke an Ells Wagen und reichte ihm die Gegenmarke. Dann ſchritten ſie beide der Tür eines Aufzugs zu und ließen ſich in das erſte Stockwerk heben. 29. Das heimliche Frühſtück Isma und Ell ſtanden vor einem prachtvollen Portal, das die Aufſchrift trug: ‚Muſeum der ſchönen Künſte‘. Es führte auf eine kreisförmige Galerie, die eine mächtige Rotunde umſchloß. Der Blick öffnete ſich ſowohl nach unten wie nach oben. Man glaubte unten in das Gewühl des wirklichen Lebens zu blicken, in raſcher Veränderung, von den Seiten immer neu herandrängend, ſah man Geſtalten in ihren gewohnten Beſchäftigungen, in der Arbeit des Tages, andere mit dem Ausdruck des Leidens und den Mängeln der Wirklichkeit. Aber in der Mitte emporwallende Nebel umhüllten dieſe Figuren und hoben ſie langſam in die Höhe. Je höher ſie emporſtiegen, um ſo mehr verſchwand der Nebel und löſte ſich nach oben in immer helleres Licht auf. Die Geſtalten wechſelten ihren Ausdruck, ihre Blicke wurden frei, ihre Mienen verklärt, ſie waren zu Werken der Kunſt, zu reinen Formen geworden. Sie ſchienen zu ruhen, und doch ſtiegen immer neue Geſtalten auf, ohne daß jene Bilderwelt an der Kuppel der Wölbung zunahm oder ſich überfüllte. Es wär nicht möglich zu verfolgen, wie dieſer Übergang in die Höhe ſich vollzog, ein lebendiges Abbild des Myſteriums in der Seele des Künſtlers. „Eine ſymboliſche Darſtellung des künſtleriſchen Schaffens“, ſagte Ell. „Aber wo kommen dieſe Geſtalten her und wohin gehen ſie?“ „Das Ganze beruht auf einer optiſchen Täuſchung, und nach einigen Stunden würde man bemerken, daß dieſelben Gruppen wiederkehren. Aber die Illuſion iſt vollſtändig. Nun ſuchen Sie ſich eine dieſer Überſchriften aus.“ Sie umſchritten die Galerie. Die äußere Seite war ringsum von ſchmalen Türen umgeben, deren Aufſchriften die Abteilungen nannten, zu denen man durch jene gelangte. Aber jede Hauptgruppe hatte wieder eine große Zahl Unterabteilungen, die hiſtoriſch geordnet waren. Da zählte zum Beiſpiel bei der Malerei die ältere Malerei in der archaiſtiſchen Periode, das heißt vor Erfindung der ſelbſtleuchtenden Farben, allein 30 Abteilungen, die jede mehrere Jahrhunderte umfaßte; die agrariſche Periode zählte aus der Zeit der Handarbeit 315, aus der Zeit der Dampfkraft 56, der Elektrizität 212, der Energieſtrahlung 25 Abteilungen. Die neuere Malerei begann erſt ſeit der Erfindung der künſtlichen Darſtellung der Nahrungsmittel. Zwiſchen beiden lag eine Periode des Verfalls, die man den dreitauſendjährigen ſozialen Krieg nannte. Es war dies eine jetzt etwa 18.000 Jahre zurückliegende Zeit, in welcher ein allgemeiner Niedergang der Marskultur ſtattgefunden hatte. Sie war nämlich ausgefüllt durch furchtbare Kämpfe zwiſchen der ackerbautreibenden und der induſtriellen Bevölkerung. Durch die Darſtellung der Lebensmittel aus den Mineralien ohne Vermittlung der Pflanzen glaubte ſich die agrariſche Bevölkerung in ihrer Exiſtenz bedroht, obwohl ſie längſt nicht mehr den Bedarf an Lebensmitteln hatte decken können. Die Beſitzer des Grund und Bodens waren als Herren der Nahrungsmittel zu unumſchränkter Macht gelangt und wollten die Verbilligung der Volksernährung durch die neuen gewaltigen Fortſchritte der Wiſſenſchaft und induſtriellen Technik nicht dulden. Dieſer Kampf füllte faſt drei Jahrtauſende in wechſelnden Formen aus und endete erſt mit der Vernichtung der Macht der Ackerbauer und der Begründung der vereinigten Marsſtaaten. Während dieſer Zeit hatte die Kunſt keinerlei Förderung empfangen. Sie war erſt wieder aufgeblüht, als ſtatt der nüchternen Getreidefelder die anmutigen Wälder entſtanden waren und der Erwerb von Grund und Boden für den einzelnen auf ein mäßiges Maximum beſchränkt war. Isma ging ratlos an der Reihe der Überſchriften entlang, die ihr Ell zu entziffern behilflich war. Sie ſchüttelte mutlos den Kopf. „Das iſt mir zu viel und macht mich nur verwirrt. Suchen wir zunächſt etwas ganz Einfaches, das ich verſtehen kann. Was iſt denn hier hinter der Malerei für eine Kunſt?“ „Die Taſtkunſt.“ „Was iſt das?“ „Ich muß geſtehen, ich weiß es ſelbſt nicht recht.“ „Laſſen Sie uns ſehen.“ Ell öffnete die Tür. Sie führte in einen kleinen, mit zwei gepolſterten Bänken ausgeſtatteten Raum. Ell ſah jetzt erſt, daß ſich in demſelben ein Anſchlag befand: ‚Abgang alle zehn Minuten‘; eine Uhr zeigte, daß nur noch eine Minute zur Abgangszeit fehlte. Es war alſo nicht ein Zimmer, ſondern eine Art Omnibus, worin man ſich befand. Alle die Türen aus der Galerie führten in ſolche Coupés, die zu beſtimmten Zeiten die Inſaſſen nach den betreffenden Abteilungen des Muſeums beförderten. Denn die Anlagen waren zu ausgedehnt, um ſie zu Fuß zu erreichen und ſich bis dahin zurechtzufinden. Die Tür öffnete ſich jetzt noch einmal, und zwei Damen flogen förmlich in den Raum. Gleich darauf ſetzte ſich der Wagen in Bewegung. Die ältere der beiden Damen ſchnappte nach Luft; ſie war eine ſehr korpulente Erſcheinung und nahm wenigſtens zwei Plätze des Sofas ein. „Das war gerade die höchſte Zeit!“ rief ſie erhitzt und atemlos, indem ſie ein feines Tuch hervorzog und fortwährend zwiſchen ihren kurzen, dicken Fingern rieb. „Dieſe Wagen gehen ja nur alle zehn Minuten. Der Beſuch iſt ſo ſchwach! Ja, es iſt nur eine Kunſt für Auserwählte. Sie ſchwärmen auch dafür?“ wandte ſie ſich zu Isma. „Sie ſind Spitziſtin? Nicht wahr?“ ſagte ſie, indem ſie einen Blick auf Ismas ſchlanke und zarte Finger warf. „Ich bin natürlich Rundiſtin, aber das tut nichts. Sie wollen gewiß auch das neue Meiſterwerk taſten? Blu hat ſich wieder ſelbſt übertroffen! Das iſt das hohe Lied des Widerſtandes, die Sphärenmuſik des Hautſinns!“ Und ſie kniff die Augen ſchwärmeriſch zuſammen, daß ſie zwiſchen den Fettpolſtern ihrer Augenlider verſchwanden. „Ich muß geſtehen“, ſagte Isma ſchüchtern, „ich bin noch ganz unerfahren in der Taſtkunſt. Ich weiß gar nicht —“ „Was? Wie? Sie wiſſen nicht?“ Sie betrachtete Isma näher. „Sie ſind wohl aus dem Norden von den Streifen, wenn ich fragen darf? Sie waren noch nie in Kla?“ „Nein, meine Heimat iſt fern von hier.“ „Aber Blu ſollten Sie doch kennen. Sie iſt doch die größte — neidlos geſtehe ich es, obwohl ich ſelbſt Künſtlerin bin. Und von allen Künſten iſt wieder die Taſtkunſt die höchſte. Auge, Ohr, Geruch, ſelbſt Geſchmack — was will das alles ſagen! Der Taſtſinn iſt doch der intimſte aller Sinne. Hier berühren wir die Dinge unmittelbar, ſie bleiben uns nicht in der Ferne. Und ſchmecken iſt ja eigentlich auch ein Taſten, nur ein unreines, geſtört durch Gerüche und durch Salziges, Saueres, Bitteres, Süßes — aber die Fingerſpitzen, die Handflächen, das ſind die wahren Schlüſſel zur Schönheit. Und hier im Taſten enthüllt ſich die Kunſt in ihrer höchſten Freiheit. Hier überwindet ſie am reinſten die Macht des Wirklichen, das vitale Intereſſe. Was wir ſehen, was wir hören, bleibt uns immer noch fern. Es iſt keine Kunſt, das ohne Verlangen zu betrachten, was wir doch nicht erreichen können. Aber die Gegenſtände in den Händen halten und doch nichts von ihnen zu wollen als das reine, freie Spiel des Wohlgefallens, das iſt echte Kunſt. Spielt nicht ein jeder unwillkürlich mit dem, was er zwiſchen den Fingern hält? Dies zur Kunſt zu erheben, das iſt das wahrhaft Geniale! Das Rauhe, Glatte, Scharfe, Spitzige, Runde, Nachgebende, Elaſtiſche, Harte, Kratzende, Kribblige — ohne Gedanken, ohne Wünſche —, das iſt das wahrhaft Äſthetiſche. Eine Taſtſymphonie von Blu iſt für mich das Höchſte. Kommen Sie nur mit, ich werde ſie Ihnen zeigen.“ Isma blickte zu Ell hinüber. „Ich fürchte“, ſagte er deutſch — es fiel auf dem Mars nicht auf, wenn man in Sprachen redete, die andere nicht verſtanden, da die meiſten Familien eigene Mundarten beſaßen —, „ich fürchte, das wird für uns nichts ſein. Wir ſind wohl zu wenig auf dieſen Kunſtgenuß vorbereitet.“ Die Dicke begann eben einen neuen Redeſtrom, als der Wagen hielt. Sie ſtürzte ſchleunigſt hinaus. Ihre Begleiterin, die ſtumm geblieben war, folgte ihr, und Isma und Ell taten das gleiche. Man befand ſich in einem großen Saal, in welchem man nichts erblickte als zahlloſe Käſten verſchiedener Größe. Aufſchriften gaben Verfaſſer und Inhalt des Taſtkunſtwerkes an, das ſie enthielten. Vor einigen ſaßen Beſucher in ſtiller Andacht und hielten die Arme bis zum Ellenbogen in zwei Öffnungen der Käſten verſenkt. Die beleibte Dame ſuchte nach ihrem Katalog eine beſtimmte Nummer. Vor dem betreffenden Kaſten angelangt, ſtreifte ſie die Ärmel auf und ſteckte die Arme zunächſt in ein Becken. Es war nicht mit Waſſer gefüllt, ſondern ein Luftſtrom führte ein fein verteiltes ätheriſches Öl gegen die Haut und bereitete durch dieſe Reinigung auf den nachfolgenden Kunſtgenuß vor. Alsdann brachte die Kunſtjüngerin durch einen Handgriff ein Uhrwerk in Gang, ſetzte ſich auf einen Stuhl vor dem Kaſten, ſteckte ihre Arme in die Öffnungen und verſank in Schwärmerei. Isma und Ell hatten ihr auf gut Glück an dem erſten beſten Kaſten, der unbeſetzt war, alles nachgeahmt. Aber nach wenigen Minuten zog Isma ihre Hände zurück. „Wollen Sie noch bleiben?“ fragte ſie Ell. „Fällt mir nicht ein, wenn Sie nicht Luſt haben. Ich wollte Sie nur nicht ſtören.“ „Ich verzichte auf den Genuß. Ich kann nichts ſpüren als ein abwechſelndes Drücken, Ziehen, Prickeln, Reiben — für mich iſt das nur eine Art Maſſage.“ „Mir ging es auch ſo. Es iſt eine Kunſt für Blinde. Wir müſſen nicht taſtkünſtleriſch veranlagt ſein. Wir wollen lieber nur einen kurzen Gang durch einen der andern Säle machen, und dann will ich Sie in das techniſche Muſeum führen.“ Ohne von der Taſt-Enthuſiaſtin bemerkt zu werden, gingen die untaſtlichen Erdgeborenen nach dem Coupé zurück, das ſie bald wieder in der Rotunde abſetzte. Ein anderer Wagen, dicht von Beſuchern erfüllt, trug ſie in eine der Abteilungen für Skulptur. Hier fand ſich Isma leichter zurecht. Es war eine Kunſt für menſchliche Sinne, eine Fülle großer Gedanken in wunderbarer Ausführung, aber doch im Grunde dieſelbe unſterbliche Schönheit aller Vernunftweſen, wie ſie auf der Erde auch ſchon vor Jahrtauſenden ihre Meiſter fand. Das Neue und Überraſchende lag nur in der Verfeinerung der Technik, in der Zartheit des Materials, in der ſpielenden Überwindung der Schwere, wodurch ſich ungeahnte Effekte darboten. Nicht minder bewundernswert erſchien die Architektur dieſer Hallen, Wölbungen, Galerien. Oft ſprangen die einzelnen Gemächer aus einem breiten Grundpfeiler in der Form von Blumenkelchen vor, die auf ſchlanken Stielen ſich zu wiegen ſchienen. Dieſe Stiele enthielten die Treppen verborgen, auf denen man in die Gemächer gelangte. Isma erhielt den Eindruck, daß das Eigentümliche der martiſchen Kunſt, das ſie von der menſchlichen unterſchied, nicht in einer neuen Auffaſſungsform des Schönen lag; hier wirkten offenbar zeitloſe Geſetze als beſtimmende Ideen für die freie Geſtaltung des Schönen bei allen bewußten Weſen. Der Fortſchritt hing vielmehr ab von dem überlegenen Standpunkt der Technik, wodurch ſich das Gebiet für die Anwendung des Äſthetiſchen ins Unermeßliche erweiterte. Nur die Intelligenz iſt es, welche der ewigen Idee entgegenwächſt. Ell beſtätigte dieſe Bemerkung und ſtimmte Isma bei, nun zunächſt ein oder das andre der techniſchen Wunderwerke aufzuſuchen. „Ich fürchte nur, ich werde nichts davon verſtehen“, ſagte Isma. Sie waren inzwiſchen wieder in der Eingangsrotunde angelangt und hatten ſich nach dem Ausgang hinabſenken laſſen, wo ihr Schlitten bereitſtand. „Was ſoll ich jetzt ſehen?“ „Frau Ma hat mir auf die Seele gebunden, Sie nach dem Retroſpektiv zu führen. Das iſt wohl die neueſte und großartigſte Entdeckung.“ „Ich habe davon gehört und auch zu leſen verſucht, aber Sie müſſen mir die Sache noch einmal erklären. Iſt es weit bis dorthin?“ „Mit der Stufenbahn wenige Minuten. Aber wir können auch in einer halben Stunde quer durch den Wald fahren, und das will ich eben tun.“ Er lenkte den Radſchlitten über eine der Brücken, welche, die Bahnen und Kanäle überſchreitend, in die Waldregion führten. Raſch glitt das Gefährt unter den Schatten der Bäume in die Zone der Wohnungen. Isma atmete auf. „Wie ſchön, daß wir bald wieder in die Waldeinſamkeit kommen!“ ſagte ſie. „Da denke ich, wir ſind daheim unter unſern Tannen, und Sie erzählen mir wieder von den Märchen des Mars —“ „Und dabei packen wir unſre Butterbrote aus und frühſtücken.“ „Ach, Ell, ich wünſchte, das ginge hier! Mir armem Menſchenkind iſt es ſchrecklich langweilig, immer ſo allein bei verſchloſſenen Türen eſſen zu müſſen.“ „Hier an der Straße und zwiſchen den Wohnungen geht es natürlich nicht. Sehen Sie, da iſt die großartige Reſtauration, aber wenn wir zu ſpeiſen verlangten, würde man uns ſofort jedem ein Extrakabinett anweiſen, anders iſt es unmöglich. Doch ich habe daran gedacht. Ich habe aus meinem Reiſevorrat ein richtiges Erdenfrühſtück eingeſteckt; zwar das Brot iſt trotz des luftdichten Verſchluſſes etwas altbacken, aber denken Sie, Friedauer Wurſt und wirklichen Rheinwein! Wir ſuchen uns ein Plätzchen, wo uns niemand ſehen kann. Ich freue mich wie ein Kind! Jedoch die gute Tante darf um Himmels willen nichts erfahren! Das wäre ſchlimmer, als wenn ich Ihnen auf dem Marktplatz von Friedau um den Hals fallen wollte!“ „Stille von Friedau! Aber das Frühſtück nehme ich an. Wir wollen dem Nu ein Schnippchen ſchlagen.“ Ihre Augen glänzten ſchelmiſch, indem ſie zurückblickte, als fürchtete ſie, gehört zu werden. „Eigentlich darf ich’s ja nicht als Nume. Ich bin da in meine Menſchlichkeit zurückgefallen —“ Isma richtete die Augen auf Ell. Er ſprach im Scherz, aber ſie hörte an der Art, wie er den Satz abbrach, daß ein ernſtes Bedenken in ihm aufzutauchen begann. Ell ſah, wie das glückliche Lächeln aus ihren Zügen zu verſchwinden drohte, und er griff ſchnell nach ihrer Hand. „Nein, nein“, rief er, „geliebte Freundin, für Sie will ich nichts ſein als der Menſch, der glücklich iſt, wenn er Ihnen dienen kann. Aber ganz leicht iſt es nicht. Denn ſehen Sie — ein Nume ſoll ich nicht ſein, damit Sie mich nicht verändert finden; und von der Erde ſoll ich nicht reden, damit Sie nicht traurig werden —“ „Sie haben recht, mein treuer Freund — ich weiß ja ſelbſt nicht, was ich will — ich verdiene gar nicht, daß Sie ſo gut ſind —“ Er ergriff ihre Hand und hielt ſie feſt. Seine Rechte lenkte den Radſchlitten mühelos auf der glatten Bahn. Die letzten Wohnungen verſchwanden. Dichtes Buſchwerk bildete auf dem freien Raſen des Bodens ein Labyrinth von Plätzen und Gängen. Ein leichter, erfriſchender Luftzug ſtrömte über den Boden, denn die Lichtungen und die Induſtrieſtraßen, auf denen die Sonne brannte, wirkten um die Mittagszeit wie Schornſteine, welche die Umgebung ventilierten und die erwärmte Luft in die Höhe führten. Die Straße war einſam. Die Blumen muſizierten leiſe, und kleine eichkätzchenartige Tiere ſpielten an den Stämmen der Bäume. Ell löſte mit einem Druck des Fußes den Mechanismus aus, der die Kugelkufen emporhob und den Wagen auf zwei hochachſigen Rädern laufen ließ, ſo daß er ſich auch auf unebenem Weg ohne Schwierigkeit bewegen konnte. Er verließ die Fahrſtraße und fuhr auf dem Waldraſen zwiſchen Buſchwerk und Bäumen dahin. Ein kleiner Weiher kam in Sicht, von einem klaren Bächlein genährt. Am Rande desſelben hielt Ell den Wagen an; es war ein reizendes, ſtilles Ruheplätzchen. Kein Liebespaar konnte ſich beſſer verſtecken. „Hier können wir es wagen“, ſagte Ell. Sie wollten nur frühſtücken. Isma ſprang aus dem Schlitten. Ell reichte ihr die Taſche mit dem heimlichen Vorrat. Beide ſahen ſich vorſichtig um und lachten dann über ihre Furcht. Sie packten ihre Schätze aus und vergaßen in heiterem Geplauder, daß über den Baumzweigen zu ihren Häuptern nicht der blaue Himmel der Erde, ſondern das Blätterdach des martiſchen Rieſenwaldes ſich wölbte. „Kann man durch das Retroſpektiv alles Vergangene ſehen?“ fragte Isma. „Nein“, erwiderte Ell, „nur dasjenige, was unter freiem Himmel und bei genügender Beleuchtung vorgegangen iſt. Der Erfolg beruht ja darauf, daß wir das Licht, welches damals von den Gegenſtänden ausgeſtrahlt wurde, auf ſeinem Lauf durch den Weltraum wieder einholen, ſammeln und zurückbringen.“ „Und wie iſt das möglich?“ „Ich habe Ihnen ſchon früher geſagt — was mir freilich die andern Menſchen noch nicht glauben wollen —, daß die Gravitationswellen ſich eine Million Mal ſo ſchnell fortpflanzen als das Licht. Sie können alſo das Licht auf ſeinem Weg einholen. Wenn zum Beiſpiel vor einem Erdenjahr irgend etwas unter freiem Himmel geſchehen iſt, ſo hat ſich das von dieſem Ereignis ausgeſandte Licht jetzt bereits gegen zehn Billionen Kilometer weit in den Raum verbreitet. Die Gravitation aber durchläuft dieſen Weg in einer halben Minute, trifft alſo nach einer genau zu berechnenden Zeit mit den damals ausgeſandten Lichtwellen zuſammen. Nun haben die Gelehrten der Martier ein Verfahren entdeckt, wodurch man bewirken kann, daß die den Lichtwellen nachgeſchickten Gravitationswellen jene ſelbſt in Gravitationswellen von entgegengeſetzter Richtung verwandeln und ſomit zu uns zurückwerfen; ſie laufen alſo in der nächſten halben Minute in der Form von Gravitationswellen den Weg zurück, den ſie als Licht im Laufe eines Jahres durcheilt haben. Hier werden ſie im Retroſpektiv — und das iſt die Großartigkeit dieſer Erfindung — in Licht zurück verwandelt und durch ein Relais verſtärkt, ſo daß man auf dem Projektionsapparat genau das Ereignis ſich abſpielen ſieht, wie es ſich vor einem Jahr vollzogen hat. Man kann den Verſuch natürlich auf jeden beliebigen Zeitraum ausdehnen, aber die Bilder werden immer ſchwächer, je größer die vergangene Zeit iſt, weil das Licht inzwiſchen im Weltraum zuviel Störungen erfahren hat. Es erfordert nun eine ſorgfältige Berechnung, wann und wo ein Ereignis ſtattgefunden hat, das man zu ſehen wünſcht. Man kann daher das Retroſpektiv — wenigſtens vorläufig — nicht nach Belieben und ſchnell wie ein Fernrohr einſtellen, ſondern es gehört dazu ein umfangreicher Apparat, ein ganzes Laboratorium.“ „Wir können alſo nicht zu ſehen bekommen, was wir wollen?“ „Nein, wir müſſen uns mit dem begnügen, worauf der Apparat gegenwärtig eingeſtellt iſt. Aber wenn es für einen beſtimmten Zweck gerade notwendig iſt, zum Beiſpiel um eine wichtige Rechtsfrage oder dergleichen zu entſcheiden, ſo wird für dieſen Zweck eine Berechnung und Einſtellung vorgenommen.“ „Kann man damit auch ſehen, was zum Beiſpiel zu einer beſtimmten Zeit auf der Erde vorgegangen iſt?“ „Ich zweifle nicht, daß ſich das ermöglichen läßt.“ „Und was koſtet ſo eine Beobachtung, wenn man ſie für einen beſonderen Zweck machen laſſen will?“ „Dazu iſt überhaupt die Erlaubnis der Staatsbehörde erforderlich. Es gibt nämlich, ſoviel ich weiß, bis jetzt kein Privat-Retroſpektiv.“ Isma ſchwieg nachdenklich. Dann ſagte ſie: „Nun weiß ich ja, was es mit dem Retroſpektiv auf ſich hat, und gefrühſtückt haben wir auch, ſo daß wir eigentlich aufbrechen könnten. Aber es iſt ſo ſchön hier, und ich bin gar nicht ſehr neugierig, den Apparat zu ſehen, denn was man wirklich dabei beobachtet, kann ja nicht viel ſein, wenn man an dem vergangenen Ereignis kein Intereſſe hat.“ „Das iſt ſchon wahr, indeſſen Ma würde —“ „Ich will es mir ja auch auf jeden Fall anſehen. Aber wir können wohl noch hier ein wenig ruhen.“ Sie legte ihr Listuch unter den Kopf und ſtreckte ſich behaglich hin. „Wenn ich noch einen Schluck Waſſer bekommen könnte!“ ſagte ſie. Ell nahm den mitgebrachten Becher und füllte ihn am Quell. Isma trank und gab das Glas dankend halb geleert zurück. Eben ſetzte es Ell an ſeine Lippen, um den Reſt ſelbſt zu trinken, als ſich in der Ferne ein dumpfes Brauſen erhob. Isma richtete ſich erſchrocken auf. „Was iſt das?“ fragte ſie. „Kommt jemand?“ Ell hatte das Glas ohne zu trinken abgeſetzt. Er lauſchte. Das Brauſen nahm zu. Er zog ſeine Uhr. „Es iſt nichts“, ſagte er, „es iſt das Mittagszeichen.“ Er verglich ſorgfältig die Uhr. Das Brauſen mochte eine Minute gedauert haben, dann brach es mit einem hellen Schlag plötzlich ab. „Der Anfangspunkt der Planetenzeitrechnung wird ſo markiert. Hier bei uns, nicht weit von der Zentralwarte, fällt er nur kurze Zeit nach dem wahren Mittag. Aber ich glaube, wir müſſen doch aufbrechen.“ Er hatte nicht getrunken, ſondern das Waſſer unbemerkt, wie er glaubte, auf die Erde fließen laſſen, und bückte ſich jetzt, um alle Spuren des gemeinſamen Frühſtücks zu beſeitigen. Isma ſtand ſchweigend auf und begab ſich in den Wagen. „Wir ſind auf dem Mars“, ſeufzte ſie leiſe. Sie lehnte ſich zurück und ſchloß die Augen. Bald darauf kam Ell. Er betrachtete ſie mit einem innigen Blick. Der Mittagston hatte ihn wieder auf den Mars zurückgeführt. Ein tiefes Mitleid mit dem Geſchick der Freundin überkam ihn, und die ganze Fülle ſeiner Liebe fühlte er in ſich aufſteigen. Er hätte ſich zu ihr herabbeugen und ihre Lippen mit Küſſen bedecken mögen. Und doch war etwas Trennendes zwiſchen ſie getreten, deſſen er ſich nicht zu erwehren wußte. Er küßte die ſchmale Hand, die auf der Seitenlehne des Wagens ruhte. Isma öffnete die Augen und ſchüttelte leicht den Kopf. „Sie ſind müde, Isma“, ſagte Ell. „Hier, nehmen Sie von dieſen Pillen, und Sie werden ſich erquickt fühlen wie nach einem feſten Schlaf.“ „Nein, nein, ſolche Nervenreize mag ich nicht, das iſt eine falſche Erquickung.“ „Dieſe nicht. Es iſt kein anregendes Nervengift, das den Körper zur Abgabe ſeiner letzten Energiereſerve veranlaßt wie unſre irdiſchen Reizmittel. Es führt dem Blut und damit dem Gehirn wirklich die verbrauchte Energie wieder zu, und zwar genau in der Form, wie es durch den Schlaf geſchieht. Die Pillen ſind ganz unſchädlich. In einer halben Stunde ſind Sie wieder friſch wie am Morgen. Sie ſind noch zu wenig an unſere Luft gewöhnt, Sie brauchen eine Hilfe in dieſem Klima.“ Isma nahm die Pillen. Ell ſchwang ſich an ihre Seite, und der Wagen rollte nach der Straße zu. Der übrige Teil des Waldes und die Wohnungsräume wurden durchſchnitten und die Induſtrieſtraße im Quartier Tru erreicht. Ell hemmte den Wagen vor einem Tor, das er für den Zugang zum Retroſpektiv hielt. Er hatte ſich jedoch in der Richtung getäuſcht, in der er durch den Wald gefahren war, und bemerkte jetzt erſt, daß er ſich vor dem Erdmuſeum befand. „Corſan ba“, las Isma die Rieſeninſchrift, „das heißt ja doch wohl ‚Sammlungen von der Erde‘?“ „Ja“, antwortete Ell, „ich habe mich geirrt. Wir müſſen nach der anderen Seite — die Stufenbahn bringt uns in einer Minute hin.“ „Ich hätte eigentlich Luſt —“, ſagte Isma zögernd, „könnten wir nicht hier einmal uns umſehen?“ „Gewiß, aber Sie wollten ja heute nichts von der Erde wiſſen.“ „Es iſt ſchon wahr — aber ich bin neugierig, was ihr hier von dem wilden Planeten geſammelt habt. Und man wird die alte Erde doch nicht los.“ Sie ſeufzte. Unentſchieden ſah ſie abwechſelnd auf die Menge, die in den Eingang ſtrömte, und dann auf Ell. „Es iſt heute beſonders ſtark beſucht“, ſagte dieſer, „alles redet jetzt von den Menſchen. Wenn man uns nur nicht erkennt — wir tun vielleicht beſſer, eine andere Zeit zum Beſuch zu wählen.“ „Sie ſehen, man achtet gar nicht auf uns.“ „Weil dieſe Leute erſt hineingehen. Wenn wir am Ausgang ſtänden, wäre es vielleicht anders, unſere Geſichter würden auffallen.“ „Ach was“, rief Isma lebhaft. „Nun will ich gerade hinein. Ich habe meinen dunklen Schneeſchleier eingeſteckt, durch den man nicht hindurchſehen kann. Wir ſind nun einmal hier — kommen Sie, Ell!“ Ell lächelte. „Das kommt von den Energiepillen“, ſagte er. „Jetzt haben Sie wieder Mut. Nun, man wird uns nichts tun, aber wenn man Ihnen wieder Spielzeugtüten zuwirft, wie an der Polſtation, ſo halten Sie ſie nicht für Blumenſträuße.“ Isma ſchlug ihn mit ihrem Schirmröhrchen auf die Hand. „Zur Strafe kommen Sie mit“, ſagte ſie, „damit Sie meine Trophäen tragen können. Und nun gehe ich auch ohne Schleier trotz der kleinen Augen.“ Sie traten in das Gebäude. 30. Das Erdmuſeum Die einſtrömende Menge verteilte ſich in den weiten Räumlichkeiten des Erdmuſeums, ſo daß Isma und Ell zwar nirgends allein, aber doch nicht gerade beengt waren. Isma wollte gern ſehen, was an der Erde die Aufmerkſamkeit der Martier beſonders feſſele, und wandte ſich daher ſolchen Gängen und Sälen zu, in denen ſich die Hauptmaſſe der Beſucher zuſammendrängte; Ell folgte ihr und muſterte wie ſie nicht weniger die Beſchauer als die Gegenſtände. Ein rieſiger Saal enthielt in hiſtoriſcher Darſtellung eine vollſtändige Entwicklung der Raumſchiffahrt. Ell hätte ſich gern hier näher in die Einzelheiten vertieft, aber Isma intereſſierte ſich wenig dafür und drängte weiter. Ein Wandelpanorama, das eine Reiſe nach der Erde darſtellte, ließen ſie beiſeite liegen und hielten ſich nur kurze Zeit bei der Darſtellung des Luftexports von der Erde auf. Die Maſchinen, die den Menſchen auf der Polinſel nicht zugänglich gemacht worden waren, arbeiteten hier vor ihren Augen in gefälligen Modellen. Sie ſahen, wie die Luft in ſtarke Ballons gepumpt und im leeren Raum zum Erſtarren gebracht wurde. Die gefrorenen Luftmaſſen hatten das Ausſehen von bläulichen Eiskugeln und die Dichtigkeit des Stahls. Sehr dürftig war die Sammlung der pflanzlichen und tieriſchen Produkte der Erde, da ſie nur aus den polaren Regionen ſtammte. Was der ‚Glo‘ mitgebracht hatte, war noch nicht dem Muſeum übergeben worden. Dagegen hatte man ſchon die Nachrichten, Gegenſtände und Abbildungen verwertet, die Jo im ‚Meteor‘ von der Tormſchen Expedition mitgebracht hatte. Hier drängten ſich die Zuſchauer dicht zuſammen, und Isma und Ell waren gezwungen, ihrem langſamen Zug zu folgen. Es berührte ſie ganz ſeltſam, als ſie hier Grunthe und Saltner in verſchiedenen lebensgroßen Aufnahmen vor ſich ſahen und auf dem Tiſch eine Reihe von Ausrüſtungsſtücken, Kleidern und Kleinigkeiten ausgebreitet bemerkten, die Grunthe den Martiern überlaſſen hatte. Isma mußte an ſich halten, um ſich nicht einzumiſchen, als ſie die Bemerkungen der Martier und die Scherze vernahm, die ſie über die Menſchen und ihre Induſtrie machten. Plötzlich faßte ſie Ells Arm und drückte ihn, daß es ſchmerzte. „Was gibt es?“ fragte er. „O ſehen Sie!“ Eine Gruppe von Herren und Damen muſterten eine Photographie. „Eine weibliche Bat!“ ſagten ſie. „Sie iſt hübſch“, meinten die einen. „Viel zu mager“, die andern. Es war Ismas Bild. Die Photographie hatte ſich unter Torms Effekten gefunden und war mit andern Kleinigkeiten hierhergekommen. Die neben Isma ſtehende Dame, die ſie eben zu mager gefunden hatte, warf zufällig einen Blick auf ihr Geſicht. Sie ſtutzte und ſtieß ihre Nachbarin an. Ell ſah, daß man auf ſeine Begleiterin aufmerkſam wurde. Die Umſtehenden wurden ſtill. „Kommen Sie“, ſagte er haſtig zu Isma. „Man erkennt Sie.“ Er zog ſie fort, beide drängten ſich durch das Gewühl. Sie wandten ſich nach einer Stelle, wo das Gedränge geringer war, und glaubten plötzlich auf dem Dach der Polinſel zu ſtehen. Das Panorama des Nordpols breitete ſich in naturgetreuer Nachahmung vor ihnen aus. Dicht zu ihren Füßen ſchien das Meer zu branden. Das Jagdboot der Martier lag zur Abfahrt bereit — zwei Eskimos löſten das Seil, das es am Ufer hielt. Im Boot ſaßen Martier mit ihren Kugelhelmen. Und dort — auf der andern Seite —, da ſtanden Grunthe und Saltner, wie ſie leibten und lebten. Grunthe, mit zuſammengezogenen Lippen, ſchrieb eifrig in ſein Notizbuch, Saltner ſah lächelnd einer verhüllten Geſtalt nach, die auf zwei Krücken dahinſchlich und die Wirkung der Erdſchwere auf die Martier veranſchaulichen ſollte. „Da ſind unſre Freunde!“ rief Ell, wirklich überraſcht. Es waren meiſterhaft nachgebildete Figuren. Isma ſtand lange ſtill. Die Plattform begann ſich mit andern Beſuchern zu füllen. „Wir wollen lieber gehen“, ſagte ſie. „Hier unten ſcheint es leer zu ſein, vielleicht kommen wir dort an den Ausgang.“ Gegenüber dem Haupteingang führte von dem nachgeahmten Teil des Inſeldaches eine ſchmale Treppe abwärts. Ell blickte hinunter. „Es ſcheint niemand da zu ſein“, ſagte er. Sie ſtiegen hinab und befanden ſich in einem Gemach, das einem der Gaſtzimmer auf der Inſel nachgebildet war. Keiner von ihnen hatte beachtet, daß über der Tür die Inſchrift ‚Vorſicht‘ ſtand und vor derſelben eine Anzahl Stöcke zum Gebrauch aufgeſtellt waren. „Oh, hier iſt es angenehm“, rief Isma, indem ſie ſich auf einen der an der Wand ſtehenden Lehnſtühle ſetzte. „Hier wollen wir uns ein wenig ausruhen.“ Sie bemerkte, daß irgendeine Veränderung mit ihr vorging, die ihr wohltat, wußte jedoch nicht, was der Grund ſei. Ell wollte ſeinen Seſſel in ihre Nähe heben, mußte aber dazu eine ungewohnte Kraft aufwenden. „Sind dieſe Seſſel ſchwer!“ ſagte er. Im ſelben Augenblick fiel ihm die Urſache ein. „Hier herrſcht ja Erdſchwere“, rief er überraſcht. „Das iſt alſo auch eine Demonſtration, und darum iſt es ſo leer hier.“ „Das iſt herrlich!“ ſagte Isma vergnügt. Ein Martier trat in die Tür, knickte zuſammen und zog ſich ſogleich zurück. Isma lachte laut. Sie ſprang auf, drehte ſich vor Vergnügen im Kreis und rief: „Kommt nur herein, meine Herren Nume, hier iſt die Erde, hier zeigt, ob ihr tanzen könnt!“ Sie ſchlüpfte hierhin und dahin, rückte an den Stühlen und nahm ihren Hut ab. „Ich bin wie zu Hauſe!“ ſagte ſie. „Jetzt ſieht man erſt, daß die angebliche Leichtigkeit dieſer Federhaube eigentlich Schwindel iſt. Sehen Sie nur, wie eilig ſie es hat, hinabzufallen!“ Ell ſah ihr ſchweigend zu. Er ſchüttelte leicht den Kopf. „Ein Kind der Erde“, dachte er bei ſich. „Sie würde hier oben niemals heimiſch werden.“ Isma war vor eine Tür getreten. „Ob es dahinten auch noch ſchwer iſt?“ fragte ſie. Ell zog den Vorhang zurück. Es zeigte ſich ein Balkon, von dem aus man ins Freie unter die Wipfel der Bäume blickte. Die Geſtalt eines Mannes lehnte am Geländer. Er drehte der Tür den Rücken zu und ſah, mit der Hand die Augen ſchützend, auf die Straße hinab. Ell und Isma blickten ſich an. Dann lachte Isma auf. „Da haben ſie ja den Saltner noch einmal hingeſtellt“, rief ſie. „Und wie natürlich! Man möchte meinen, er müßte ſich umdrehen und ‚Grüß Gott‘ ſagen.“ Die Geſtalt ſchnellte herum. „Grüß Gott!“ rief Saltners Stimme. Er ſprang auf Ell und Isma zu und ſchüttelte ihnen die Hände. „Das iſt geſcheit“, rief er, „daß man ſchon einmal Menſchen trifft. Das iſt eine Freud! Aber um alles in der Weit, wie kommen denn Sie alleweil hierher? Ich bin ja gerad auf dem Weg zu Ihnen. Haben’s denn meine Depeſche nicht erhalten?“ „Wir ſind ſeit heute früh von Hauſe fort.“ „Ja, da wird ſie halt dort liegen. Schauens, ich hab Ihnen heut früh telegraphiert, als wir von Frus Wohnort weggereiſt ſind, um Sie zu beſuchen. Unterwegs wollten ſie mir den Kram hier zeigen, aber wie ich hier in das ſchöne ſchwere Zimmer gekommen bin, hab ich geſagt, nun laſſens mich aus, jetzt bleib ich hier, bis Sie ſich alles angeſchaut haben, und dann holens mich wieder ab. Denn das hatt’ ich ſatt, daß mir die Herren Nume alle nachſchauten und die Kinder mir nachliefen und meine gute Joppe anfaßten.“ „Aber wie konnten Sie auch in Ihrem Reiſekoſtüm von der Erde ſich hier ſehen laſſen?“ „Wiſſen Sie, ich bin halt ein Menſch, und ſo bleib ich einer. Ich werd mich doch nicht in eine neue Haut ſtecken, wo ich nicht einmal eine richtige Weſtentaſch’ für meinen Zahnſtocher hab? Und ſo gut wie Ihnen, Gnädige, würd mir’s Marsröckel auch nicht ſtehn.“ Isma ſchüttelte ihm nochmals die Hand. „Sie ſind der alte geblieben, Herr Saltner! Nun ſetzen Sie ſich mit her, und laſſen Sie ſich erſt einmal ordentlich von mir ausfragen!“ Saltner ſchilderte in ſeiner anſchaulichen und draſtiſchen Weiſe auf Ismas Fragen die Einzelheiten der Expedition, über die Grunthe nur in ſeiner knappen Formulierung berichtet hatte, und ließ ſich von Isma die Ereigniſſe aus Deutſchland und ihre eigenen Erlebniſſe ſeit der Ankunft Grunthes in Friedau erzählen. Über die Reiſe Ills nach dem Pol, den Kampf der Schiffe und die Fahrt nach dem Mars hatte er bis jetzt nur die Darſtellungen kennengelernt, welche die kurzen Depeſchen gaben, und die Gerüchte und Betrachtungen, welche die Zeitungen daran knüpften. Letztere gründeten ſich auf die mündlichen Mitteilungen der von der Erde zurückgekehrten Martier. Der offizielle Bericht ſollte erſt erſcheinen, nachdem er vom Zentralrat dem Hauſe der Deputierten vorgelegt worden. Dies mußte inzwiſchen geſchehen ſein, denn heute ſollte die betreffende Sitzung ſtattfinden. Es war zu vermuten, daß die Beratungen darüber ſich noch einige Tage hinziehen würden. Dann erſt, nach Anhörung der Deputiertenverſammlung, konnte der Zentralrat einen definitiven Beſchluß faſſen über die der Erde gegenüber zu treffenden Maßnahmen. Da hierbei alle auf der Erde tätig geweſenen höheren Beamten als Sachverſtändige eventuell gebraucht wurden, mußte Fru ſeinen Urlaub, auf den er ſonſt nach der Rückkehr von der Erde Anſpruch hatte, unterbrechen, um ſich in Kla aufzuhalten. Saltner, der als Gaſt der Marsſtaaten ſelbſt die Rechte eines Numen erhalten hatte, war auf ſeinen eigenen Wunſch unter die ſpezielle Fürſorge Frus geſtellt worden und wollte nun auch in Kla in ſeiner Obhut bleiben. Der weiten Entfernung wegen, welche den gewöhnlichen Wohnort Frus von Kla trennte, mußte der Transport der Wohnungen ſchon am Tag beginnen, und Fru war mit Frau und Tochter und ſeinem Gaſt Saltner vorangereiſt. Sie wollten ſich das Erdmuſeum anſehen, und hier hatte Saltner ſeine Freunde von der Erde getroffen. Ill, von den Verhandlungen im Zentralrat völlig in Anſpruch genommen, hatte ſich zu Hauſe über die zu erwartenden Maßnahmen nicht geäußert und auch aus Schonung für Isma von den letzten Ereigniſſen nicht geſprochen. Ell war ganz in der Begeiſterung für die wiedergefundene Heimat des Vaters aufgegangen. So erfuhr er ſowohl wie Isma zuerſt von Saltner, daß, wenigſtens in den ſüdlichen Teilen des Mars, aus denen Saltner kam und wo auch die Mehrzahl der auf der Erde geweſenen Martier herſtammte, die anfängliche Begeiſterung für die Erdbewohner ſich ſtark abzukühlen begonnen hatte. Der Umſchwung war durch das Verhalten der Engländer gegen das Luftſchiff herbeigeführt worden, und ſobald die Zeitungen Berichte über die Behandlung gebracht hatten, die den beiden gefangenen Martiern zuteil geworden war, begann in einigen Staaten, deren Bewohner ſich durch lebhaftes Temperament auszeichneten, eine gereizte Stimmung Platz zu greifen. Man verlangte ein entſchiedenes Vorgehen gegen das Barbarentum der Erdbewohner, und nur der Hinweis der ruhigeren Elemente darauf, daß man keinerlei Urteile abzugeben berechtigt ſei, bevor nicht der amtliche Bericht vorliege, hielt die menſchenfeindliche Bewegung in mäßigen Grenzen. Fru beſorgte jedoch, wie Saltner mitteilte, daß die öffentliche Meinung nach dem Bekanntwerden des Berichts ſtark genug ſein würde, um auf die Entſchließungen des Zentralrats einen dem guten Verhältnis zur Erde ungünſtigen Einfluß auszuüben. Isma fühlte ſich beängſtigt. Sie fürchtete, wenn es zu Feindſeligkeiten der Martier gegen die Erde käme, daß ſich ihrer Rückkehr Schwierigkeiten in den Weg legen könnten, daß vielleicht die erneute Aufſuchung Torms im Frühjahr durch Maßregeln vereitelt werden würde, die den Martiern wichtiger erſchienen. Ell ſuchte ſie zu beruhigen. Er ſah die Sachlage in viel günſtigerem Licht. Ill werde ſeinen Bericht jedenfalls ſo mild wie möglich geſtalten. Aus der ungerechtfertigten Handlungsweiſe eines einzelnen Kapitäns könne man unmöglich ein Zerwürfnis zwiſchen den Planeten herleiten. Momentane Stimmungen des Publikums hätten auf dem Mars niemals einen dauernden politiſchen Einfluß, da ein jeder der Belehrung des Beſſeren zugänglich ſei. „Aber wer weiß“, ſagte Isma, „wie man auf der Erde denken mag!“ „Wir hätten uns nicht der Gefahr ausſetzen ſollen, ſie verlaſſen zu müſſen“, ſagte Ell etwas verſtimmt. Isma wandte ſich ſchmerzlich berührt ab, und Ell fuhr ſogleich fort: „Aber an dem feindlichen Zuſammenſtoß der Schiffe hätten wir ja doch nichts geändert, auch wenn wir zu Hauſe geblieben wären. Ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Torm, ich meine nur, wir dürfen uns jetzt keinen trübſinnigen Grübeleien hingeben. Da wir nun einmal hier ſind —“ „Da laſſen wir ruhig die Nume weiterſorgen, das will ich auch meinen“, ſagte Saltner. „Es ſind wirklich ganz prächtige Leute dabei, und wir Menſchen müſſen halt ein biſſel zuſammenhalten. Hier unſer Doktor Ell, der wird ſich ja wohl auch noch zu uns rechnen. Oder —“ „Wo bleiben Sie, Sal?“ fragte eine tiefe Frauenſtimme zur Tür herein. „Kommen Sie gefälligſt heraus, wir haben auf der Erde Schwere genug genoſſen. Es iſt übrigens irgend etwas Beſonderes zu ſehen, wo wir hingehen müſſen.“ „Das iſt La“, rief Saltner, eilig aufſpringend. „Oh, kommen Sie mit, ich mache Sie gleich alle bekannt.“ Und ſich zu den Angekommenen wendend, rief er: „Da bringe ich Ihnen neue Menſchen! Nun bin ich doch nicht mehr das einzige Wundertier.“ Fru und die Seinigen begrüßten Ell und Isma ſehr freundlich. Isma fühlte ſich trotzdem etwas verlegen; bei aller taktvollen Zurückhaltung der Martier wußte ſie doch, daß ſie von ihnen, die zum erſten Mal ein weibliches Weſen von der Erde ſahen, einer lebhaften Prüfung unterworfen wurde. Aber Las Herzlichkeit half ihr ſogleich über dieſen Zuſtand fort. Sie gab Isma nach Menſchenart die Hand und redete ſie deutſch an. „Ich weiß“, ſagte ſie, „welch bedauerliche Zufälle Sie zu uns führten, uns aber müſſen wir es zum Glück anrechnen, eine Schweſter von der Erde in Ihnen begrüßen zu dürfen. Unſer Freund Saltner hat ſchon viel von Ihnen erzählt. Und Sie ſind es ja geweſen, der die Martier die erſte Gabe europäiſcher Arbeit verdanken — den Flaſchenkorb nämlich, den Grunthe den unſrigen beinahe auf den Kopf geworfen hat. Ohne den Flaſchenkorb hätten wir —“, ſie wandte ſich zu Ell, „Ihren prächtigen Leitfaden nicht gefunden, und ich könnte wahrſcheinlich jetzt nicht in Ihrer Sprache mit Ihnen reden.“ Sie zog dabei die Reproduktion des Büchleins aus ihrem Reiſetäſchchen und zeigte ſie Ell, mit dem ſie jetzt martiſch weiterſprach. Sie fragte ihn, welchen Eindruck das Denkmal auf ihn gemacht habe, das die Marsſtaaten ſeinem Vater in der Ruhmesgalerie der Raumſchiffer errichtet hatten. Aber dorthin war Ell noch gar nicht gekommen. Er wollte ſogleich dieſen Beſuch nachholen, die andern aber wünſchten einer ſoeben neu eröffneten Schauſtellung beizuwohnen, nach der dichte Scharen von Beſuchern hinſtrömten. Die Richtungsweiſer, denen ſie folgten, beſagten nur ‚Neues von der Erde‘, ohne nähere Angabe. Auch Isma war daher ſehr geſpannt, dieſes Neue kennenzulernen, Ell ließ ſich jedoch von ſeinem Vorhaben nicht abhalten. Er trennte ſich am Eingang der Galerie von den übrigen, und man verabredete nur, ſich in einer halben Stunde in der Leſehalle des Muſeums zu treffen. Die Beſucher drängten nach dem Theater des Muſeums, worin von Zeit zu Zeit Vorträge über die Erde oder die Raumſchiffahrt gehalten wurden. Dieſe wurden durch bewegliche Lichtbilder illuſtriert, die mit aller Kraft martiſcher Malerei und Technik ſo plaſtiſch wirkten, daß ſie vollkommen den Eindruck der Wirklichkeit hervorriefen. Als Frus mit ihrer Begleitung ankamen, war das Theater, obwohl es Raum für zwanzigtauſend Perſonen bot, ſchon überfüllt. Da jedoch Fru bei der Einrichtung des Erdmuſeums tätigen Anteil genommen hatte, wußte er ſeine Geſellſchaft einen von den weniger ortsbekannten Beſuchern meiſt überſehenen Gang zu führen, der auf eine Reihe noch freier Plätze auslief. Sie befanden ſich in ziemlich verſteckter Lage zwiſchen den architektoniſchen Verzierungen über einem der Eingänge. Sehr bald ertönte ein Signal, das den Beginn der Vorſtellung bezeichnete, und die Rieſenhalle verdunkelte ſich. Auf der Bühne, das heißt auf einer Kreisfläche von etwa dreißig Metern Durchmeſſer zeigte ſich eine vorzüglich dargeſtellte Gegend aus dem Polargebiet der Erde, ein Teil des Kennedy-Kanals, mit felſigen Ufern und Gletſcherabſtürzen, wie er aus der Vogelperſpektive des Luftboots in einigen hundert Meter Höhe erſchien. Die Polardämmerung lag über der Landſchaft, die von einem ſtrahlenden Nordlicht erhellt wurde. Nun erfolgten die Lichteffekte des Sonnenaufgangs, und es erſchien das kleine Luftboot der Martier. Im Vordergrund erkannte man den Cairn, an welchem die Engländer bauten, man ſah, wie ſie denſelben verließen, in den Abgrund ſtürzten, von den Martiern herausgeholt und am Fuße des Steinmannes niedergelegt wurden. Die ganze Szene, von den Zuſchauern mit lebhaftem Beifall begleitet, wurde durch die künſtlich verſtärkte Stimme eines gewandten Redners erklärt. Es erſchienen nun, vom Standpunkt der am Cairn befindlichen Martier aus nicht ſichtbar, die engliſchen Seeſoldaten; fratzenhafte Geſtalten, wahre Teufel, in unmöglicher Kleidung, führten ſie, ihre Gewehre ſchwingend, einen wilden Kriegstanz auf, der durchaus der Phantaſie des martiſchen Wirklichkeitsdichters entſtammte. Isma und Saltner war es peinlich, den Eindruck zu beobachten, den dieſe Szene auf das Publikum ausübte. Es nahm ſie in vollem Glauben auf und wollte ſich über die abenteuerlichen Wilden totlachen. Saltner ſchüttelte den Kopf. „Ich bin kein Freund der Englishmen“, ſagte er, „aber ſo ſehen ſie doch nicht aus, und ſo benehmen ſie ſich auch nicht. Man bringt ja den Martiern ganz falſche Begriffe von den Menſchen bei.“ „Unſeren gefangenen Landsleuten, denen ſo übel mitgeſpielt wurde, ſind ſie jedenfalls ſo erſchienen“, ſagte La. „Sie haben ihre Schilderungen offenbar unter dem Eindruck der erlittenen Mißhandlungen gemacht.“ „Ich bedauere trotzdem“, bemerkte Fru unwillig, „daß man hier dieſe Aufführung veranſtaltet, es iſt unſrer nicht würdig. Aber ſeit jenem Zwiſchenfall iſt leider von einem Teil der Preſſe die Anſicht verbreitet worden, daß die Menſchen nicht als vernünftige Weſen zu betrachten und als gleichberechtigt zu behandeln ſeien. Das iſt nicht gut.“ Die Szene änderte jetzt ihren Charakter aus dem Komiſchen in das Schauerliche. Die Engländer ſtürzten unter wildem Geheul, das akuſtiſch wiedergegeben wurde, auf die beiden Martier zu und überfielen ſie. Die Martier ſcheuchten ſie majeſtätiſch zurück, und es entwickelte ſich zunächſt eine Art Diskuſſion, die durch das menſchliche Kauderwelſch, welches Engliſch vorſtellen ſollte, einen Augenblick ins Komiſche umzuſchlagen ſchien, aber ſofort die Entrüſtung der Zuſchauer wachrief, als eine neue Schar von Wilden den Martiern in den Rücken fiel und ſie hinterrücks niederriß. Dann wurden den unglücklichen Opfern die Arme zuſammengeſchnürt und ſie an langen Stricken fortgeſchleppt. Bei dieſem Anblick brach im Theater ein unheimlicher Lärm aus. Wie ein Wutſchrei ging es durch die Maſſe der Zuſchauer. Die Feſſelung, die Beraubung der perſönlichen Bewegungsfreiheit, war die größte Schmach, die einem Numen angetan werden konnte. Die Geſamtheit der Martier fühlte ſich dadurch beleidigt. Und ſeltſam, während man die Menſchen eben als unvernünftige Weſen belacht hatte, betrachtete man ſie doch jetzt als verantwortlich für ihre Handlungen. Die Darſtellung hatte offenbar die Tendenz, die Menſchen als böſe zu zeigen, indem das Folgende ihre Intelligenz zu verdeutlichen beſtimmt war. Das engliſche Kriegsſchiff dampfte herbei. Es ſchien ganz im Vordergrund zu liegen, und in einem kaum verfolgbaren Wechſel des Bildes befand man ſich plötzlich an Bord desſelben. Die vorzügliche Einrichtung, die muſterhafte Ordnung, die Waffen und Maſchinen bewieſen die hohe techniſche Kultur der Menſchen; dagegen ſtach die rohe Behandlung der Gefangenen häßlich ab und empörte die Zuſchauer nur um ſo heftiger. Mit Jubel wurde daher das Erſcheinen des großen Luftſchiffes begrüßt und der Kampf zwiſchen den Martiern und Menſchen mit Enthuſiasmus verfolgt. Die erhabene Friedensliebe der Nume ſchien verſchwunden, in dieſer gereizten Verſammlung wenigſtens kam ſie nicht zum Ausdruck. Und als in einem äſthetiſch wunderbar gelungenen Schlußtableau auf der Eisſcholle am Felſenufer Ill ſelbſt erſchien und den Gefangenen die Feſſeln löſte, artete die Vorſtellung zu einer eindrucksvollen patriotiſchen Kundgebung aus. Die Rufe „Sila Nu“ und „Sila Ill“ brauſten durch das Haus. Isma lehnte ſich ängſtlich zurück. Sie fürchtete jeden Augenblick, ſich ſelbſt oder wenigſtens Ell auf der Bühne erſcheinen zu ſehen; aber mit dieſen den Martiern befreundeten Menſchen wußte die tendenziöſe Dichtung nichts anzufangen, ſie waren einfach fortgelaſſen. Saltner war wütend. „So was dürfte die Polizei gar nicht erlauben“, ſagte er, „bei uns würde man das gleich verboten haben.“ „Was wollen Sie“, ſagte La, „dies iſt eine Privatveranſtaltung. Sie können das Theater mieten und morgen eine Verherrlichung der Erde aufführen.“ Sie ſah ihn lächelnd an, und er ſchwieg. „Es muß auch etwas geſchehen“, ſagte Fru, „um der Verbreitung dieſer Menſchenhetze entgegenzuwirken. Laſſen Sie uns gehen.“ 31. Mars-Politiker Die Entleerung des Theaters geſchah trotz der ungeheueren Zuſchauermenge in wenigen Minuten, denn zahlreiche breite Gänge führten nach allen Seiten auseinander und mündeten nach der Straße hin. Man hörte überall unter dem Eindruck der Vorſtellung verächtlich über die Menſchen ſprechen, doch hatte die übertriebene Darſtellung der Menſchen als Wilde das Gute, daß niemand auf die Vermutung kam, in Isma und Saltner ſolche Erdbewohner vor ſich zu haben, obwohl Saltner in ſeiner Joppe, die Hände in den Taſchen, in recht auffallender Weiſe einherſchlenderte und den prüfenden Blicken, die ihn gelegentlich trafen, ungeniert begegnete. Aber da jetzt alle in gleicher Richtung ſich bewegten und noch von den Eindrücken erfüllt waren, die ſie eben erhalten hatten, ſo achtete man wenig auf ihn. Erſt als ſich Fru mit ſeiner Begleitung in dem Vorraum der Leſehalle zwiſchen dichten Gruppen ſich lebhaft unterhaltender Martier hindurchdrängen mußte, wurde man wieder auf ihn aufmerkſam. Hier begegneten ſich Beſucher des Theaters und ſolche, die aus der Leſehalle kamen und ſich ſoeben mit den neueſten Nachrichten bekanntgemacht hatten. Es herrſchte eine ſichtliche Erregung. Verkäufer riefen die neuen Blätter aus für diejenigen, die ſich das in der Halle Geleſene in eigenen Exemplaren mit nach Hauſe nehmen wollten. „Der Bericht des Zentralrats!“ — „Die Rede des Repräſentanten Ill!“ „Die Rede des Deputierten Eu!“ — „Der Antrag Ben.“ „Karte der Erde!“ — „Leben und Tod des Kapitäns All.“ „Der Sohn des Numen auf der Erde.“ — „Bild des Baten Saltner!“ — „Bildnis der Batin Torm.“ Isma und Saltner verſtanden das in eigentümlichem Tonfall herausgeſtoßene Martiſch der Ausrufer nicht. Fru und La ſuchten ſchnell mit ihren Begleitern aus dem Gewühl in die Leſehalle zu gelangen. Aber Saltner erkannte in der Hand eines Verkäufers ſein wohlgetroffenes Bildnis. „Was?“ rief er. „Da werd ich wohl gar feilgehalten. Das iſt mir doch noch nicht paſſiert, das muß ich mir mitnehmen.“ Die um den Verkäufer Herumſtehenden hatten ihn nun natürlich ſogleich erkannt. Bald war die Gruppe von Neugierigen umringt, und es fielen manche nicht ſehr ſchmeichelhafte Äußerungen. Saltner nahm ſein Bild in Empfang und zahlte. Man hatte ihm als Gaſt der Regierung einen anſtändigen Reiſefonds übermittelt. „Da ſchaut mich an“, ſagte er, ſich in Poſitur ſtellend, „wenn Ihr noch keinen anſtändigen Bat geſehen habt.“ Und auf martiſch fügte er hinzu: „Nun, ſeh ich aus wie ein Engländer?“ La drängte ihn vorwärts. Sie führte Isma am Arm, die ihren Schleier vorgezogen hatte und ihrer martiſchen Tracht wegen nicht auffiel. Die Naheſtehenden blickten Saltner nicht gerade wohlwollend an, beläſtigten ihn aber in keiner Weiſe und folgten ihm auch nicht, als er ſich durch ſie hindurchdrängte, obwohl ihm jetzt jeder nachſah. So gelangten alle in das Innere der Leſehalle, die aus einer Reihe großer Säle beſtand. Die langen Tafeln waren dicht beſetzt. Viele der Leſenden benutzten dieſe Zeit, um ihrer offiziellen Leſepflicht zu genügen. Denn jeder Martier war verpflichtet, bei Verluſt ſeines Wahlrechts, aus zwei Blättern, von denen eines ein oppoſitionelles ſein mußte, täglich über die wichtigſten politiſchen und techniſchen Neuigkeiten ſich zu unterrichten. Die größeren Blätter gaben zu dieſem Zweck kurze Auszüge beſonders heraus. Im Saal herrſchte abſolute Stille. Hier wurde nicht geſprochen. An den Wänden befanden ſich jedoch kleinere Abteilungen, verſchloſſene Logen, in mehreren Stockwerken übereinander, in denen ſich Bekannte zuſammenſetzen und ihre Meinungen austauſchen konnten. In eine ſolche Plauderloge begab ſich Fru mit ſeinen Begleitern. Er ſchloß die Tür und trat an einen Fernſprecher, der zur Verwaltung führte. Hier nannte er ſeinen Namen und die Nummer der Loge. Dann fragte er, ob Ell re Kthor, am gel Schick, nach ihm gefragt habe. Die Antwort beſagte, ja, er befinde ſich in Loge 408. Fru ließ ihm nun die Nummer ſeiner Loge ſagen und ihn zu ſich bitten. Auf demſelben Weg machte er eine Beſtellung auf eine Reihe Erfriſchungen, die alsbald auf automatiſche Weiſe in dem Schrankaufſatz des Tiſches erſchienen, der auch hier die Mitte des Zimmers einnahm. Es befand ſich darunter für jeden Anweſenden eine Schüſſel mit Waſſer, das durch eine kleine Flamme in lebhaftem Sieden erhalten wurde. „Ach“, rief Saltner, „das ſind heiße Boffs, das iſt die beſte Frucht auf dieſem künſtlichen Planeten; das iſt wirkliche Natur.“ Isma kannte die Speiſe noch nicht und fragte danach. „Um Himmels willen“, ſagte Saltner, „nennen Sie die Boffs nicht eine Speiſe, ſonſt dürfen wir ſie ja nicht zuſammen eſſen. Das iſt eben das Beſte daran, daß ſie nicht als Speiſe, ſondern als Erfriſchung gelten, weil ſie wirkliche Früchte, in der Natur gewachſen ſind, eine Art Erdgurken, oder wie man ſie nennen ſoll, und deshalb hier gemeinſchaftlich gegeſſen —“ „O pfui“, ſagte La, ihn leicht auf den Arm ſchlagend. Sie las bereits eifrig in einer Zeitung, in die ſie ſich jetzt wieder vertiefte. „Ich wollte ſagen, genoſſen, äſthetiſch verwendet werden dürfen. Aber gut ſchmecken ſie doch.“ Er zog die Schüſſel an ſich heran und griff — zum Erſchrecken Ismas — mit der Hand in das ſiedende Waſſer, eine der rötlichen, gurkenartigen Früchte hervorziehend. „Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Sie ſich verbrennen“, ſagte er lachend zu Isma. „Das Waſſer iſt gar nicht heiß, es ſiedet in unverſchloſſenen Gefäßen hier ſchon bei 45 Grad Celſius. Das iſt ja ein Planet ohne Luftdruck.“ „Laſſen Sie endlich unſern Nu in Frieden“, ſagte La lachend, indem ſie die Zeitung beiſeite legte, „ſonſt werden Sie mit dem nächſten Schiff nach dem Südpol Ihrer abſcheulichen ſchweren Erde transportiert. Leſen Sie lieber die neueſten Beſchlüſſe, ſie werden Sie intereſſieren. Ich fürchte nur, mit dem Urlaub wird es diesmal nichts ſein. Wer weiß, ob wir nicht wieder fort müſſen!“ Isma horchte auf. „Nach der Erde?“ fragte ſie. „Schickt man Schiffe jetzt nach der Erde?“ In dieſem Augenblick trat Ell ein. Er ſah erregt aus. In der Hand hielt er einen Stoß Blätter und Zeitungen, die er teils gekauft, teils aus dem Saal entnommen hatte. Ehe er ſich in die Leſehalle begab, hatte er lange vor dem Denkmal ſeines Vaters geſeſſen. Es war eine Porträtſtatue in Lebensgröße, die All in ſeinen jüngeren Jahren darſtellte, in der Kleidung des Raumſchiffers. Man glaubte ihn durch die Stellithülle des Raumſchiffs auf der Kommandobrücke ſtehend zu ſehen und mit ihm auf die unter ihm liegende Erde hinabzublicken. Aus ſeinen Augen ſprach der feſte Entſchluß, auf dieſen Planeten ſiegreich ſeinen Fuß zu ſetzen. „Du haſt uns den Weg gezeigt, den wir nun betreten“, ſo klang es in Ells Seele. „Dir verdanken wir die Erde, die du mit deinem Leben uns gewonnen haſt.“ Die jugendlichen, kräftigen Züge des Bildes ſchienen ſich zu verwandeln. Ell ſah in ihnen wieder den ſchwermütigen, ernſten Mann, wie er ihn gekannt, nur der ſiegreiche Blick des Auges war geblieben, der ihm entgegenfunkelte, wenn der Vater dem Jüngling von der Heimat ſprach und von der großen Aufgabe, die Erde zu gewinnen für die Numenheit. Er gedachte des eigenen Lebens und der letzten Jahre, die er auf der Erde gearbeitet hatte, erfüllt von dem Gedanken, daß der Menſchheit Glück abhinge von ihrer Befreiung durch die Kultur der Martier. Und jetzt ſtand er auf dem Mars, nun blickte er hinab auf die Erde, und es war ihm, als verlöre ſich das Schickſal der Erdbewohner wie eine Epiſode in der Geſchichte der Sterne, als lebe er mit den Numen um der Nume willen und ſähe in der Beſetzung der Erde nur eine der Stufen, das höchſte Leben des Geiſtes im Kampf mit den widerſtrebenden Kräften der Natur zu erhalten. Was war ihm nun die Menſchheit? Was wär ſie ihm geweſen? Wenn er ſie zu lieben glaubte, war es nicht allein die Eine geweſen, in der er die Menſchheit liebte? Was hielt ihn noch an dem barbariſchen Planeten? Das Andenken ſeiner Mutter? Sie war dahin; dieſes Andenken blieb ihm überall. Und die tiefblauen Augen der heißgeliebten Frau, deren weltfernes Leuchten durch all die Jahre hindurch mit unverminderter Kraft in ſeinem Herzen gewirkt hatte? Sie wirkten fort und fort mit ihrer zarten Gewalt — die teuren milden Züge, von denen ein glückliches Lächeln zu gewinnen ſein ſteter Gedanke, für die er nahe daran geweſen war, ſeine Numen heit zu vergeſſen, um ſie zu erobern mit den Mitteln der Menſchen für ſich und um ihretwillen ein Menſch zu werden wie die andern! Und jetzt, jetzt konnte er dies ſicherer wie je, nie war er dieſem Ziel näher geweſen. Aber dieſe Frau war hierhergekommen, weil ſie ausgezogen war, ihren Mann zu ſuchen, und er hatte ſich ihr gelobt, ihn finden zu helfen. Sie wird ihn finden, und drunten in Friedau oder in einer andern Stadt, wohin der Ruhm des Polentdeckers ſie führen würde, da wird ſie glücklich ſein und der Reiſe nach dem Mars und des fernen Freundes gedenken wie eines Traumes, der zerronnen iſt. Und er? Sollte er weiter leben dort unten, um eine flüchtige Stunde ihrer Nähe zu gewinnen, um ſich zu verſichern, daß er zu ihr gehöre, wie ein teures Schmuckſtück ihres Daſeins? Sollte er wieder zwiſchen dieſen engherzigen Schlauköpfen wandeln, um ihre ganze, verſtändnisloſe Wirtſchaft zu verachten? Nein, nun er die Freiheit der Heimat gekoſtet hatte, konnte er nicht dauernd auf die Erde zurückkehren. Was war ihm noch die Menſchheit? „Ein Vermächtnis haſt du uns gelaſſen, o Vater“, ſo ſagte Ell im ſtillen zu ſich, „die Erde, auf der du litteſt, zu gewinnen zu einem höheren Zweck. Und ich vor allen habe die Pflicht, dies Vermächtnis anzutreten. In Frieden wollen wir die Menſchheit gewinnen und ihr zum Segen. Und, ein Menſchenſohn, weiß ich von ihren Schmerzen zu ſagen. Aber wenn unſeliger Mißverſtand zum Streit führt, ſo kann mein Platz nur dort ſein, wo du geſtanden haſt.“ Er erhob ſich. Bald umwogte ihn wieder der Verkehr des Tages. Er begab ſich nach der Leſehalle. Begierig griff er nach den neuen Depeſchen und ſtudierte ſie, bis Fru ihn rufen ließ. „Wiſſen Sie ſchon alles?“ war gleich ſeine erſte Frage beim Eintritt. Er ſprach martiſch. La antwortete lebhaft. Fru und ſeine Gattin miſchten ſich ein. Die Martier ſprachen ſchnell und eifrig. Ell hatte offenbar noch etwas Wichtiges erfahren. Isma und Saltner konnten dem ſchnellen Geſpräch nicht folgen. Die Menſchen ſchienen einen Augenblick vergeſſen. Es war nur eine Minute der Erregung. Dann wandte ſich La mit ihrem freundlichen Lächeln zu Isma. „Haben Sie alles verſtehen können?“ fragte ſie. „Ihr Freund bringt uns wichtige Mitteilungen.“ „Ich konnte nicht folgen“, ſagte Isma. Jetzt erſt wandte ſich Ell zu Isma. Sie ſah ihn an. In ihren Augen lag es wie eine ſchmerzliche Bitte: Verlaß mich nicht. Ich bin einſam. Ich weiß nicht, was das alles ſoll. Sie fragte ihn jetzt: „Was gibt es denn Neues? Erzählen Sie nun auch mir einmal.“ Und während dieſer kurzen Worte wechſelte ihr Ausdruck. Der ängſtliche Zug wich einem frohen Vertrauen. Sie fühlte ſich wieder ſicher, ſeitdem er neben ihr weilte. „Iſt es etwas Ungünſtiges?“ fragte ſie weiter, als Ell zögerte. La war der Wechſel in Ismas Mienen nicht entgangen. Sie hatte das Aufblitzen ihrer Augen beobachtet, als Ell eintrat, und jetzt die Beruhigung ihrer Stimmung. Und ebenſo unbemerkt blickte ſie auf Ell und las in ſeiner Seele. Er wandte ſich mit einem fragenden Blick an ſie, aber ſie beugte ſich ſchnell zu Saltner hinüber. „Ich weiß wirklich nicht“, ſagte Ell, „was wir von der Sache zu erwarten haben, aber jedenfalls können wir jetzt auf eine ſchnellere Entwicklung gefaßt ſein. Es werden Schritte getan, noch während des Winters Nachrichten von der Erde zu erhalten.“ „Wie iſt das möglich?“ fragte Isma. „Haben Sie die Vorgänge in der Kammer von heute vormittag geleſen?“ Isma ſchüttelte den Kopf. „Wir ſind eben erſt gekommen“, ſagte Fru, „und wiſſen ſelbſt noch nichts Zuſammenhängendes. Wir bemerkten nur, daß die Stimmung gegen die Erde umgeſchlagen zu ſein ſcheint.“ „Ich ſah eben hier zufällig“, fügte La hinzu, „daß die Südbezirke auf eine ſtarke Armierung des Erdſüdpols dringen und ein Vorgehen von dort aus wünſchen, und ich wußte nicht, was das zu bedeuten hat.“ „Dann erlauben Sie, daß ich in Kürze mitteile, was ich geleſen habe. Der Bericht der Regierung ſtellte den Konflikt mit dem engliſchen Kriegsſchiff und die Gefangennahme und Behandlung unſerer Leute als das dar, was er war, ein unglücklicher Zufall und die Tat eines untergeordneten Kapitäns, für die man kaum die engliſche Regierung, geſchweige denn die Bewohner der Erde verantwortlich machen dürfe. Sie erklärte, daß durch dieſen Zwiſchenfall an dem urſprünglichen Plan nichts geändert werde. Man wolle im Beginn des nördlichen Erdfrühjahrs eine ſtarke Luftſchifflotte bereithalten, um, ſobald die Nordſtation zugänglich ſei, die zu dieſem Zweck früher als ſonſt eröffnet werden ſollte, ſofort ſämtliche Großmächte der Erde in ihren Hauptſtädten aufzuſuchen. Man werde den Regierungen einen Vertrag über den Verkehr und die Handelsbeziehungen zum Mars vorſchlagen und die Vorkehrungen ſo treffen, daß ſich das Übereinkommen ruhig und friedlich vollziehe. Nur einen böswilligen Widerſtand werde man im Intereſſe der Geſamtheit eventuell mit Gewalt niederwerfen, indem man über den betreffenden Staat das Protektorat der Marsſtaaten ausſprechen werde. Dieſe Erklärung fand aber lebhaften Widerſpruch, ſowohl von der Oppoſition gegen die Erdkoloniſation, die unter der Führung von Eu ſchon immer die weitgehenden Pläne der Erdbeſiedelung bekämpfte, als auch von einer erſt infolge der letzten Nachrichten entſtandenen Gruppe, denen das Vorgehen gegen die Erde nicht ſcharf genug erſchien. Und beide ſtanden nun zuſammen. Denn Eu vertrat jetzt den Standpunkt, es wäre von Anfang an das beſte geweſen, ſich überhaupt nicht um die Menſchen zu kümmern; nachdem aber die Regierung einmal den Fehler gemacht habe, die Exiſtenz der Nume zu verraten und durch feindſelige Handlungen gegen die Menſchen ſich bloßzuſtellen, verlange es die Pflicht der Numenheit, den Erdbewohnern auch den richtigen Begriff derſelben und Aufklärung über die Bedeutung und die Abſicht der Nume zu geben. Es ſei Menſchenblut gefloſſen und der Numenheit Schmach angetan worden. Die Sühne könne nur in einer großen Tat friedlicher Kultur beſtehen. Es müſſe den Erdbewohnern gezeigt werden, daß wir ihre Gewohnheit des Kampfes mit den Waffen verabſcheuen und als unſittlich verwerfen. Es ſei deswegen über die ganze Erde der Planetenfrieden zu gebieten und die Entwaffnung ſämtlicher Staaten zu verlangen.“ „Jeſus Maria!“ rief Saltner. „Das nenn ich einen Radikalen! Ich hab ſchon nichts dagegen, aber, was meinens, was ſie bei uns auf dem Kriegsminiſterium dazu ſagen werden?“ „Das Verlangen der chauviniſtiſchen Gruppe“, fuhr Ell fort, „war nicht weniger radikal. Sie erklärten, die Menſchen hätten durch ihr Verhalten bewieſen, daß ſie dem Begriff der Numenheit noch nicht zugänglich ſeien. Sie ſeien nicht als freie Perſönlichkeiten zu behandeln und nicht würdig des Weltfriedens. Man ſolle ſie im Gegenteil ruhig untereinander wüten laſſen, aber die ganze Erde und ihre Bewohner als Eigentum der Marsſtaaten erklären. Die einzelnen Gebiete der Erde ſeien unter die einzelnen Marsſtaaten aufzuteilen, um die Einkünfte derſelben zu vermehren. Die Menſchen ſeien ausdrücklich als unfrei und Nicht-Nume zu bezeichnen und die Erdſtaaten durch vom Zentralrat eingeſetzte Gouverneure zu beaufſichtigen. Im Reſultat aber waren beide oppoſitionelle Parteien einig, die Unterwerfung der Erde müſſe ſofort mit allen Mitteln in Angriff genommen werden. Die Debatte war ſehr heftig, und die Regierung hatte einen ſchweren Stand. Noch während der Sitzung ſchloß ſich die chauviniſtiſche Gruppe zu einer Fraktion der ‚Antibaten‘ zuſammen, und aus großen Teilen des Landes trafen bereits zuſtimmende Erklärungen ein für die Menſchenfeinde. Allmählich gelang es jedoch der Regierung, den Parteien begreiflich zu machen, daß man die Erdbewohner aus Unkenntnis unterſchätze; eine derartige Beſtimmung über ſie werde nicht durchzuſetzen ſein, ohne zu den Gewalttätigkeiten zu führen, die man gerade verabſcheue und verhüten wolle. So kam ein Kompromiß zuſtande, zunächſt noch ein genaueres Studium der Machtverhältniſſe der Erdſtaaten abzuwarten. Doch mußte die Regierung ihrerſeits zugeſtehen, ſogleich wenigſtens von England eine Beſtrafung des Kapitäns der ‚Prevention‘ und eine Genugtuung für die Mißhandlung der Gefangenen zu verlangen. Dieſer Kompromiß zwiſchen Oppoſition und Regierung fand endlich im Antrag Ben ſeinen Ausdruck. Danach ſollte ſobald als möglich ein Raumſchiff nach der Südſtation der Erde abgehen und drei große Erdluftſchiffe dahin bringen. Vom Südpol aus ſollte zunächſt mit der engliſchen Regierung verhandelt werden, um eine Genugtuung für die Gefangennahme der beiden Martier und die Beſchädigung des Luftſchiffs zu verlangen. Man ſollte ſich jedoch dabei der größten Mäßigung befleißigen, einerſeits um die wohlmeinende, obwohl ernſte Geſinnung der Martier zu zeigen, andrerſeits weil man es vor Beginn des Frühjahrs der nördlichen Erdhalbkugel nicht zu einer größeren Aktion kommen laſſen durfte. Denn die Station auf dem Südpol bot weder den Raum noch die Sicherheit der Landung für eine größere Flotte der Martier; auch wäre es wenig praktiſch geweſen — ſoviel ſah auch die antibatiſche Oppoſition ein —, vom Südpol aus mit den Großmächten der Erde zu verhandeln, da der Weg vom Südpol bis Berlin oder Petersburg ſelbſt für ein Luftſchiff der Martier faſt vierundzwanzig Stunden in Anſpruch nahm. Der Zentralrat wurde mit der ſofortigen Ausführung der Maßnahmen beauftragt. Die letzte Depeſche beſagte bereits, daß der Zentralrat einen beſonderen Erdausſchuß mit einjähriger Amtsdauer und weitreichenden Vollmachten ernannt und den Repräſentanten Ill zum Leiter desſelben beſtimmt habe. Das iſt augenblicklich der Stand der Dinge“, ſchloß Ell. „Was ſagen Sie dazu?“ Er warf die Zeitungen auf den Tiſch und ging erregt auf und ab. Niemand antwortete ſogleich. Die Nachrichten waren nicht nur von weittragender politiſcher Wichtigkeit, ſie mußten zugleich das private Geſchick der hier Verſammelten unmittelbar beeinfluſſen. Die Mienen waren düſter geworden. Nur Isma pochte das Herz freudig. Sie war ſofort entſchloſſen, alles daranzuſetzen, um nach dem Südpol und von dort nach Hauſe zurückzukehren. Wollte man ſich mit England in Verbindung ſetzen, ſo mußte doch ein Luftſchiff nach bewohnten Gegenden, wenn nicht nach London, ſo wenigſtens nach den Kolonien, wahrſcheinlich nach Auſtralien, abgeſandt werden, und mit dieſem hoffte ſie reiſen zu können. Und wenn dies nicht möglich war, ſo konnte ſie immerhin auf baldige Nachrichten von der Erde rechnen. Dieſe Gedanken und Wünſche gingen durch ihr Gemüt, während ihre Hände das Flugblatt zerknitterten, das ihr Porträt zeigte; es hatte ſich unter den von Ell mitgebrachten Papieren befunden. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ ſagte La zu Ell. Er ſetzte ſich haſtig und beſchämt. Das Menſchenblut in ihm hatte ihn hin- und hergetrieben. Als Martier ſchickte ſich das ja nicht, da verhielt man ſich ruhig. Er ärgerte ſich. „Das iſt fatal, höchſt fatal“, begann jetzt Fru. „Ich halte den Beſchluß für einen ſchlimmen politiſchen Fehler. Auch Ill wird dieſer Anſicht ſein, aber er konnte jedenfalls nicht mehr durchſetzen. Unſre Politiker kennen die Verhältniſſe zu wenig. Verhandlungen, denen wir nicht die Tat auf dem Fuße folgen laſſen können, müſſen unſern Standpunkt erſchweren und bei den Regierungen der Erde nur die Meinung erwecken, daß ſie uns nicht ernſt zu nehmen brauchen.“ „Eine ſakriſche Dummheit iſt’s“, platzte Saltner deutſch heraus. „Sie fürchten“, ſagte La, ſich zu Ell wendend, „daß wir auf dieſe Weiſe zur Anwendung von Gewalt gedrängt werden?“ „Wohl möglich“, erwiderte Ell. „Doch die Menſchen werden bald begreifen, daß ſie ſich uns fügen müſſen. Wir werden ihnen zeigen, daß wir nur ihr Beſtes wollen.“ „Ich fürchte Schlimmeres“, entgegnete La lebhaft. „Die Verhältniſſe werden ſich ſo entwickeln, daß die antibatiſche Bewegung immer mehr Nahrung erhält. Statt des Friedens werden wir den Kampf zwiſchen den Planeten bekommen, man wird die Menſchen nicht als gleichberechtigt anerkennen — es wird furchtbar werden.“ „Oh, laſſen Sie uns zurückkehren!“ rief Isma. „Bitten Sie Ihren Oheim, daß uns das erſte Schiff nach dem Südpol mitnimmt.“ Ell antwortete nicht. Er blickte finſter vor ſich hin. Fru ſtand auf. „Ich glaube“, ſagte er, „es iſt das beſte, wenn wir unſere Reiſe fortſetzen und Ihren Oheim aufſuchen. Bis wir an unſer proviſoriſches Quartier und an Ihre Wohnung gelangen, iſt die Ruhezeit gekommen. Wir treffen uns dann alle zur Plauderſtunde bei Ill.“ „Wir wollten noch nach dem Retroſpektiv“, ſagte Ell. „Dazu iſt es ohnehin ſchon zu ſpät.“ „Ich habe heute genug geſehen“, fügte Isma hinzu. Man brach auf. Der Weg bis zu dem Depot der Radſchlitten, wo auch Fru ſeinen vierſitzigen Gleitwagen gelaſſen hatte, betrug einige Minuten. La nahm Ismas Arm. „Am Schlitten bekommen Sie Ihre Damen wieder“, ſagte ſie zu Ell und Saltner. Sie ſchritt mit Isma voran. „Sie möchten gern nach der Erde zurück, nicht wahr?“ ſagte ſie zu Isma. „Ich ſah es Ihnen an, und Sie hoffen, nach dem Südpol mitzugehen. Aber würden Sie auch ohne Ell gehen?“ „Er wird mitgehen, wenn man uns überhaupt mitnimmt. Er muß gehen, er gehört jetzt auf die Erde.“ La ſchwieg. Sie ſtreifte Isma mit einem teilnehmenden Blick und ſah, wie eine feine Röte ihre Wangen bedeckte. „Meine Frage darf Sie nicht verletzen“, ſagte ſie bittend. „Ich kann mir wohl denken, daß es für Sie ſchwer ſein muß, die weite Reiſe ohne Begleitung eines Menſchen zu machen. Aber ich glaube auch nicht, daß man Sie jetzt mitnehmen wird. Das Schiff wird zu Ausrüſtungszwecken voll in Anſpruch genommen ſein. Und auf dem Südpol finden Sie nicht die Bequemlichkeit wie auf dem Nordpol. Ich wollte Sie nur bitten, ſich nicht Hoffnungen zu machen, die vermutlich enttäuſcht werden müſſen. Aber jedenfalls dürfen Sie darauf rechnen, daß Sie nun bald Nachrichten von der Erde bekommen. Dafür wird Ill Sorge tragen. Und Sie brauchen ſich nicht verlaſſen unter uns zu fühlen. Ich werde mich herzlich freuen, wenn ich Ihnen dienen kann.“ Isma dankte, aber ſie konnte ſich eines bedrückenden Gefühls nicht erwehren. Warum bedurfte ſie dieſes Mitleids? Sie fühlte ſich verletzt, ohne La zürnen zu können. Die Radſchlitten erſchienen. Man verabſchiedete ſich. Mit Benutzung der Stufenbahn konnte man in einer halben Stunde zu Hauſe ſein. Isma ſaß ſtumm an Ells Seite. Sie ſah, daß ſeine Gedanken nicht mit ihr beſchäftigt waren. Sie wollte ihn jetzt nicht fragen, was er zu tun gedenke. So tauſchten ſie nur flüchtige Worte, bis der Wagen vor Ills Haus hielt. 32. Ideale La ließ ihre Hände von der Schreibmaſchine herabgleiten und lachte herzlich, indem ſie ſich in ihrem Seſſel zurücklehnte. „Nein“, ſagte ſie, „das iſt ja nicht zu glauben! Das iſt wirklich zu komiſch. Dieſe Bate! ich glaube, da muß ſelbſt Schti lachen.“ Ein allerliebſtes, ſchneeweißes Flügelpferdchen, nicht größer wie ein kleines Kätzchen, flatterte von dem Büchergeſtell, wo es geſeſſen, auf die Lehne von Las Armſtuhl und blickte ſie mit ſeinen klugen Augen ernſthaft an. Das Tierchen ſah wirklich aus wie ein Miniatur-Pegaſus, nur hatte es ſtatt der Hufe zierliche Zehen, mit denen es ſich anklammern konnte. Zoologiſch betrachtet gehörte es zu den Inſekten und war eine Art Heuſchrecke, die aber auf dem Mars warmes Blut beſaßen und die höchſtentwickelte Gruppe der Inſekten darſtellten. Der Kopf war der eines Pferdes mit faſt menſchenähnlichem Ausdruck, die Flügel ſaßen an den Schultern und glichen denen einer Libelle. „Schti muß lachen!“ ſagte La. Das Tierchen ſtieß einen Laut aus wie eines helles Lachen. „Ko Bate, Ko Bate“, ſprach es dann deutlich. La ſtreichelte ihm das weiche Fellchen, und es rieb ſein Köpfchen an ihrer Hand. „Schti muß ſtudieren!“ Das gut abgerichtete Tierchen flog auf das Bücherbrett und ſetzte ſich gravitätiſch hin. La fuhr in ihrer Schreibarbeit fort. Auf dem Geſtell über der Schreibmaſchine ſtand eines der deutſchen Bücher, die Ell mitgebracht hatte. Es war ein kurzgefaßter Grundriß der ‚Weltgeſchichte‘, das heißt des wenigen, was man über die Geſchichte der abendländiſchen Menſchheit wußte. La überſetzte das Buch in Ills Auftrag ins Martiſche. Während ſie ihre Augen langſam über den Text gleiten ließ, lagen ihre Hände auf der Klaviatur und ihre Finger ſchrieben ganz mechaniſch in martiſchen Zeichen den Sinn der geleſenen Sätze nieder. Die Arbeit nahm ihre Aufmerkſamkeit nicht mehr in Anſpruch, als der Strickſtrumpf die einer älteren Kränzchendame, und hinderte ſie nicht, ſich lebhaft mit Ell zu unterhalten, der zum Beſuch gekommen war. „Es iſt eigentlich mehr traurig als komiſch“, ſagte Ell. „Denn die Sache geht nicht immer bloß mit dem Knallen ab. Oft genug kommen ſchwere Verwundungen und Todesfälle vor, und das Leben eines Mannes, der verpflichtet wäre, der Menſchheit und den Seinigen ſich zu erhalten, iſt einem ſinnloſen Vorurteil hingeopfert.“ „Das iſt abſcheulich. Aber ich denke, Vernunft und Geſetz verbieten den Zweikampf. Wie iſt er denn noch möglich?“ „Durch Unvernunft. Es gibt nämlich Menſchen, die ſich einbilden Vernunft und Geſetz ſeien zwar ganz gut für das Volk, aber dieſes würde den Reſpekt vor Vernunft und Geſetz verlieren, wenn es nicht durch eine auserwählte Gruppe von Menſchen in Schranken gehalten würde. Dieſe Auserwählten könnten ſich jedoch nur dadurch als ſolche erweiſen, daß ſie ſich einen gewiſſen Zwang, eine Pönitenz auferlegten, indem ſie ſelbſt zum Teil auf das höchſte Gut der Menſchheit, Vernunft und Freiheit, verzichten und ſich zum Sklaven überlebter Formen machen. Sie meinen wohl, durch den Widerſpruch, den ihre Sitten erwecken, in der Allgemeinheit die Herrſchaft der Vernunft um ſo mehr zu ſtärken.“ „Welch edle Seelen, ſo zum Beſten der Kultur ſich ſelbſt zu opfern! Ein wahrhaft menſchlicher Gedanke, die Kultur durch Unkultur des eigenen Lebens zu fördern! Es wäre ein bloßer Irrtum, wenn er nicht leider dadurch unmoraliſch würde, daß der egoiſtiſche Zweck unverkennbar iſt.“ „Gewiß, ſich ſelbſt als Kaſte zu unterſcheiden. Es will jeder etwas Beſonderes ſein.“ „Das ſoll er ja auch“, ſagte La, „etwas Beſonderes aber nur durch ſeine Freiheit, durch die innere Freiheit, mit der wir die Mittel beſtimmen, in unſerm Leben das Vernunftgeſetz zu verwirklichen. Aber dieſe Leute laſſen, nach Ihrer Schilderung, die innere Freiheit gar nicht gelten, weil ſie ſie nicht kennen. Sie ſetzen ihre Ehre in Äußerlichkeiten. Ich kann mir denken, wie ſchwer es ihnen ſein mußte, in dieſer Geſellſchaft zu leben.“ „Ich kann auch nicht in ihr leben“, erwiderte Ell. „Für ſie beſteht die Ehre eines Menſchen in dem, was andere von ihm halten und ſagen; deswegen glauben ſie auch, ſie könnte durch Beleidigungen vernichtet, durch rohe Gewalt wiederhergeſtellt werden. Als ob mich der Wille eines andern erniedrigen könnte, als ob es nicht die größte Selbſterniedrigung wäre, die eigene Vernunftbeſtimmung der fremden Meinung unterzuordnen! Und da ich in ihr leben mußte, ſo war mein inneres, wahres Leben eine Lüge in ihrem Sinne, eine Umgehung ihrer konventionellen Sitten. Doch das iſt das wenigſte, das iſt für mich nur unangenehm, für meine Freunde beſchwerlich. Aber das Unerträgliche, das Schmerzende liegt in dem Gedanken, daß dieſe Millionen und Abermillionen vernünftiger Weſen durch ihre bloße Dummheit, durch die mangelhafte Entwicklung ihres Gehirns, durch die fehlende Bildung in einem Zuſtand gehalten werden, der ſie ſchwach, elend, unglücklich, unzufrieden und ungerecht macht. Denn ſie ſind nicht böſe. Sie wollen das Gute, ſie wollen die Freiheit. Ihr Gefühl iſt lebendig und warm. Darin ſind ſie uns gleichſtellend; die Idee des Guten, als die Selbſtbeſtimmung, durch die wir Vernunftweſen ſind, iſt in ihnen wirkſam wie in uns, inſofern ſind ſie unſere Brüder. Aus der Menſchheit erblühten Religionen tiefſter Wahrhaftigkeit und Kraft, die ihnen die Offenbarung gaben, um die es ſich handelt — unſer individuelles Leben in Raum und Zeit, den Inhalt unſres Daſeins, den wir Natur nennen, zu geſtalten zu einem Mittel, um als freie Vernunftweſen über Raum und Zeit das Reich der Ideen zu umfaſſen. Und Weiſe ſind ihnen erſtanden, die gezeigt haben, wie es zu begreifen ſei, daß das Leben des einzelnen abrollt wie ein Rädchen im Getriebe der Weltenuhr und dennoch das Ich deſſen, der es ſelbſt lebt, das ganze Uhrwerk erſt zu ſchaffen hat. Aber die wenigſten haben die Weisheit verſtanden. Sie haben das Geſetz, aber ſie mißdeuten es und wiſſen es nicht anzuwenden; ſie verfallen ſtets in Irrtum. Und deswegen, weil es Unwiſſenheit iſt und nicht Mangel an Wille und an Gefühl für das Gute, deswegen glaube ich, daß wir der Menſchheit helfen können. Verſtändiger müſſen wir ſie machen — nur nicht verſtändiger im Sinne der Menſchen, für die verſtändig nur bedeutet: klug ſein auf Koſten der andern.“ „Möge Sie dieſer Glauben nicht täuſchen. Ich fürchte, es iſt nicht bloß der Mangel an Verſtändnis des Zuſammenhangs der Dinge, es iſt noch mehr die Unfähigkeit, das wirklich zu wollen, was man als gut erkannt hat, es iſt die Schwäche des Charakters hier, die Stärke des Egoismus dort, weshalb die Menſchen den unvermeidlichen Kampf ums Daſein in ſo bedauernswerter Weiſe führen.“ „Das beſtreite ich nicht, daß dieſe Mängel zur Erniedrigung der Menſchen beitragen, aber doch nur ſubjektiv, indem ſie den einzelnen unfähig machen, des Glücks der inneren Freiheit ſich zu erfreuen. Aber auch hier kann nur eine Vertiefung der Einſicht helfen. Die Handlungen ſind ja immer bedingt durch diejenigen Vorſtellungen, denen der höchſte Gefühlswert zukommt, und dieſe Gefühlswerte richtig zu verteilen, iſt Sache der Bildung.“ „Wenn aber jemand“, ſagte La, „ganz genau weiß, zum Beiſpiel ein Schüler, deine Pflicht verlangt jetzt, das und das zu tun, dieſe Arbeit zu vollenden, und wenn du es nicht tuſt, ſo wirſt du nicht bloß Reue haben, ſondern auch ſinnlich ſchwer dafür büßen, und trotz dieſer klaren Einſicht verleitet ihn doch eine momentane Luſt, und ſei es bloß das Luſtgefühl der Faulheit, die Arbeit nicht zu tun, ſo ſehen Sie doch, alle Einſicht hilft nichts gegen die Willensſchwäche.“ „Das ſpricht gerade für mich“, erwiderte Ell lebhaft. „Willensſchwäche iſt doch nur falſche Richtung des Willens, Richtung auf das Unterlaſſen ſtatt auf das Handeln. Vorſtellungen ſind immer dabei entſcheidend. Die Einſicht war dann eben tatſächlich noch nicht vorhanden, nicht umfaſſend genug. Dem Schüler in Ihrem Beiſpiel haben ſich etwa die Vorſtellungen eingeſchlichen, die an ihn geſtellte Forderung ſei ein unberechtigter Zwang oder die gefürchteten Nachteile werden zu umgehen ſein und dergleichen. Der Erwachſene, der den Zuſammenhang klarer durchſchaut, wird einfach ſeine Pflicht tun. In anderen Fällen wird er ſich in der Lage des Schülers befinden, aber dieſe Fälle werden immer ſeltener, je weiter die Einſicht reicht. Wenn mich der Zorn übermannt, ſo daß ich den Gegner verletze, ſo beruht mein Fehler darauf, daß ich nicht Zeit zur Überlegung hatte. Warum ſind die Nume ſoviel milder als die Menſchen? Weil ſie ſchneller denken. Im Augenblick des Affekts iſt das Bewußtſein des Menſchen ganz vom ſinnlichen Reiz erfüllt, er vermag nicht alle die Gedankenreihen zu durchlaufen, die ihm die Folgen ſeiner Handlungen zeigen; er braucht dazu längere Zeit, und dann iſt es zu ſpät. Der Nume fühlt nicht minder lebhaft den Reiz, vielmehr noch viel feiner; aber ſein Gehirn iſt ſo geübt, daß im Moment der ganze Zuſammenhang der Folgen ſeines Zuſtandes ihm ins Bewußtſein tritt und ſein Handeln beſtimmt. Das iſt es, was man Beſonnenheit nennt. Nicht mit Unrecht hielten ſie die Griechen für die höchſte der Tugenden, aber ſie wußten ſie nicht zu erringen. Laſſen Sie uns den Irrtum verringern, und wir werden die Menſchen beſſern.“ „Die Leidenſchaften werden Sie nicht ausmerzen.“ „Daran denke ich natürlich nicht. In ihnen ruht ja der Wert des Lebens, und die Nume freuen ſich ihrer. Nur die Art ihrer Wirkung können wir und müſſen wir durch den Verſtand regulieren. Auch die Schwächen der Nume — und die werden Sie nicht leugnen — beruhen auf demſelben Grund wie die der Menſchen. Sie ſind vom Leben ſinnlicher Weſen untrennbar. Die ſtarken Gefühle ſind die großen Reſervoirs der Energie des Gehirns, aus denen ſie zur Wechſelwirkung des Lebens herausſtrömt. Wären ſie nicht mehr da, ſo hörte das Leben auf, ſo hörte das Denken auf. Aber auf den Weg kommt es an, den die Entladung der Gehirnenergie bei der Exploſion des Gefühls nimmt. Es iſt damit wie bei unſern Gebirgen auf der Erde. Sie ſind die Sammelbecken der Gewäſſer, die von ihnen herabſtrömend den Völkern ihre ſegenſpendende Kraft verbreiten. Die Niveauunterſchiede müſſen überall ſein, wo Energieaustauſch, wo Leben und Geſchehen ſein ſoll. Aber wie dieſes Herabſtrömen ſtattfindet, das macht den Unterſchied von Barbarei und Kultur. Der reißende Wildbach zerſtört und verrinnt nutzlos. Bepflanzen wir die Abhänge, verteilen wir die Waſſer, führen wir ſie durch Turbinen und wandeln ihre Arbeit durch Maſchinen um, ſo ſchaffen ſie die Kultur. Dieſe Pflanzungen, dieſe Maſchinen ſind im Gehirn die Zellen der Rindenſubſtanz, in denen der Weltzuſammenhang ſich bildet. Die Macht des Gedankens iſt es, die den Ausgleich der Gefühle zur Kultur lenkt. Und dieſe läßt durch Lehre und Erziehung ſich erweitern. Das zu tun, ſind wir den Menſchen ſchuldig, wie Erwachſene den Kindern. Denn Kinder ſind ſie.“ „Ja“, ſagte La, „Kinder ſind ſie, das habe ich auch gefunden, und darum mögen Sie in Ihren Anſichten recht haben, Ell. Wie das Kind nur die eine Wirklichkeit kennt, wie das Spielzeug, die Mutter und die Erde am Himmel ihm keine andre Realität beſitzen als ſeine Hand, und dieſe keine andere als das Produkt ſeiner Phantaſie, ſo können auch die Menſchen die Arten der Wirklichkeit nicht unterſcheiden. Selbſt ein geiſtig ſo hochſtehender Mann wie Saltner vermag es nicht zu begreifen, daß dasſelbe lebendige Individuum gleichzeitig ganz verſchiedene Realitäten beſitzt, je nach dem Zuſammenhang, in welchem es ſich beſtimmt. Die Frau an der Schreibmaſchine iſt ein Stück Naturmechanismus, die den notwendigen Zuſammenhang zwiſchen verſchiedenen Zeichen für dieſelbe Vorſtellung regiſtriert, wenn ſie, wie ich hier, eure langweilige Geſchichte überſetzt. Dieſelbe Frau, wenn ſie den Freund zärtlich anblickt, iſt ein Stück des Phantaſieſpiels, das unſer Leben mit ſeinem ſchönen Schein verklärt. Und wenn ſie ein Verſprechen einlöſt, iſt ſie ein Stück der ethiſchen Gemeinſchaft der Nume. Aber keine dieſer Realitäten wirkt auf die andere, kann die andere verpflichten, außer in der freien Beſtimmung der Perſönlichkeit dieſer Frau ſelbſt. Das kann unſer Freund nicht verſtehen. Er denkt immer, es müſſe noch ein anderer Zuſammenhang beſtehen, notwendig wie die Natur in Raum und Zeit, zwiſchen dieſen Tätigkeiten —“ „Sehen Sie — dieſer Mangel der Einſicht iſt es, welcher die menſchliche Geſellſchaft beſchwert. Stets werfen ſie das Verſchiedene zuſammen als Eines, indem ſie es mit falſchen Gefühlswerten belaſten. Da iſt der religiöſe Glaube; er iſt die Form, wie die Perſönlichkeit das Weltgeſetz in ihr Gefühl aufnimmt; die Menſchen aber machen daraus ein Bekenntnis, das andre verpflichten ſoll und ſich damit aufhebt. Da iſt das Vaterland, die nationale Gemeinſchaft; ſie iſt ein Mittel, die Macht des einzelnen zuſammenzufaſſen, um für die Menſchheit zu wirken; die Menſchen umkleiden ſie mit einem Gefühl, das ſie zum Selbſtzweck macht und infolgedeſſen Feindſchaft der Nationen bewirkt. Da iſt der natürliche, berechtigte Trieb der Selbſterhaltung; die Menſchen machen daraus einen vernichtenden Egoismus, der zum Kampf der Geſellſchaftsklaſſen führt. Und ſo mit allem. Hier kann Aufklärung helfen. Natürlich nicht, um Vollendung zu ſchaffen, die es überhaupt nicht gibt, aber eine höhere Stufe der Kultur. Es wäre nicht das erſte Mal, daß Aufklärung die Menſchen befreit hat, aber da mußte ſie ſich blutig durchkämpfen. Diesmal ſoll eine überlegene Macht den Sieg von vornherein gewähren.“ „Aber wie denken Sie ſich dieſe Einwirkung? Ehe Anſchauungen und Gewohnheiten ſich ändern, müſſen Generationen vergehen — die Menſchheit ſelbſt muß ſich ändern —“ „Die Planeten haben Zeit. Aber die Hauptſache wird ſchnell geſchehen. Die Menſchen brauchten Jahrtauſende, um den gegenwärtigen Stand ihres Wiſſens zu gewinnen; unter der Leitung geſchickter Lehrer eignet ſich heute der einzelne dieſes Wiſſen in wenigen Jahren an. Wir werden die heutigen Menſchen nicht zu Numen machen, aber wir werden ſie in dieſem Sinn führen. Nur muß unſre Bevormundung ihre Freiheit nicht beſchränken, ſondern allein den richtigen Gebrauch derſelben erzielen. Das Niveau der Geſamtbildung läßt ſich binnen kurzem ſo heben, daß ſie eine klare Einſicht in das gewinnen, was im Leben möglich und erſtrebbar iſt. Sie werden erkennen, daß es eine Utopie iſt, die Gleichheit der Lebensbedingungen anzuſtreben, daß die Gleichheit nur beſteht in der Freiheit der Perſönlichkeit, mit der ein jeder ſich ſelbſt beſtimmt, und daß dieſe Freiheit gerade die Ungleichheit der Individuen in der ſozialen Gemeinſchaft vorausſetzt. Wir haben ja doch viele Jahrtauſende hindurch die ſozialen Kämpfe durchgemacht, bis wir erkannt haben, daß der Kampf ſelbſt unvermeidbar, die Gehäſſigkeit aber auszuſchließen iſt, daß in einem edlen Wettſtreit alle Stufen der Lebensführung nebeneinander beſtehen können. Nur eines iſt dazu notwendig: dem einzelnen die Zeit zu geben, ſich ſelbſt zu bilden, zu kultivieren. Die Menſchen können ſich darum nicht ſelbſt helfen, wenigſtens nicht helfen, ohne den furchtbaren Kampf von Jahrtauſenden, weil ſie die Mittel nicht haben, den Maſſen die Sicherheit der notwendigſten Lebenshaltung zu geben. Dieſe Not der Maſſen können wir abſtellen, ohne jene Utopie der Nivellierung des Vermögens. Wir können ihnen zeigen, daß das Hin- und Herſchwanken des individuellen Beſitzes ſich nicht ändern läßt und auch nicht geändert zu werden braucht, daß aber jedem, der arbeitet, ein befriedigendes, ſeinen Fähigkeiten angemeſſenes Auskommen gewährleiſtet werden kann und daß niemand Not zu leiden braucht. Denn wir können den Menſchen die Quelle des Reichtums erſchließen durch unſre Technik, und wir können erzwingen, daß die damit verbundenen Beſitzänderungen ſich in Ruhe vollziehen. Den kleinlichen Eigennutz, den Krämerſinn, die Unduldſamkeit, die Klaſſenherrſchaft bringen wir zum Verſchwinden, ſobald ein jeder klar zu durchſchauen vermag, welche Stelle im großen Zuſammenwirken der einzelnen er ausfüllt. Der tückiſche, nagende Neid entflieht aus der Welt, und Menſchenliebe hält den ſiegreichen Einzug.“ Ell war aufgeſtanden, ſeine Augen leuchteten, begeiſtert ſah er in die Zukunft, die ihm nahe herangekommen ſchien. La hatte die Hände von der Schreibmaſchine herabſinken laſſen. Sie blickte ihn an. „Halten Sie mich nicht für einen Schwärmer“, fuhr er fort. „Nicht daß ich meinte, Leid und Schmerz aus der Menſchheit verbannen zu können. Ohne ſie ſtände das Weltgetriebe ſtill. Aber reinigen können wir dieſes Leid, veredeln zu dem heiligen Schmerz, der untrennbar iſt von der Liebe und dem Einblick in uns ſelbſt. Die fremden Schlacken können wir ausſtoßen, die aus der Not, der Roheit und der Dummheit ſtammen.“ „Sie glauben an die Menſchheit“, ſagte La. Auch ſie erhob ſich und ſtreckte ihm die Hand entgegen. „Ich begann an ihr zu zweifeln, ich will es Ihnen geſtehen. Ob ſich Ihr Traum erfüllen läßt, ich weiß es nicht, aber ich danke Ihnen, daß Sie ihn träumen, daß Sie ihn mir erzählten. Sie haben mir neuen Mut gemacht, denn ich fürchtete manchmal, daß das Zuſammentreffen mit den Menſchen beiden Teilen verderblich werden könnte.“ „Fürchten Sie das nicht, La. Die Erde iſt reich, viel reicher als der Mars. Sie empfängt von der Sonne faſt das Zehnfache der Energie wie wir. So lange die alte Sonne ſtrahlt, iſt das Leben geſichert. Was läßt ſich unter unſeren Händen aus dieſer Rieſenkraft ſchaffen! In einem Jahr wird die Erde bedeckt ſein mit Fabriken, in denen wir mit Hilfe der Sonnenenergie aus den unerſchöpflichen Quellen der Erde von Luft, Waſſer und Geſteinen Lebensmittel erzeugen und verteilen, die nahezu nichts koſten. Die äußere Not iſt mit einem Schlag auch von dem Ärmſten genommen. Die Beſitzer des Bodens können wir ohne Mühe entſchädigen. Ich rechne, daß wir für jeden Menſchen in den ziviliſierten Staaten — denn dieſe können allerdings vorläufig erſt in Betracht kommen — im Durchſchnitt vier bis ſechs Stunden gewinnen, die er nunmehr allein ſeiner geiſtigen Ausbildung widmen kann. Wir führen unſere Lehrmethoden ein. Die Menſchen ſind lernbegierig. Die unmittelbare Zuführung von Gehirnenergie wird ihnen die neue Anſtrengung zur Luſt machen. Die Wahnvorſtellungen der Tradition in allen Bevölkerungsklaſſen werden verſchwinden. Die Rüſtungen, die Kriege hören auf. Wir üben in dieſer Hinſicht zunächſt einen leichten Zwang aus, bis die beſſere Einſicht durchgedrungen, die beſſere Haltung zur Gewohnheit geworden iſt. Denn dies freilich wird notwendig ſein; der Menſch muß zu jeder großen Veränderung erſt gezwungen werden, bis er den Vorteil begreift und das Neue lieben lernt. Ich habe alles ſchon mit Ill durchgeſprochen.“ „Sie müſſen die Menſchen beſſer kennen als ich“, ſagte La. „Aber glauben Sie denn, daß das alles ſich ohne Gewalt durchführen läßt?“ „Ich hoffe es. Wenn aber nicht, ſo werden wir ſie anwenden —“ „O Ell, da ſprechen Sie als Menſch — und das iſt meine große Sorge — ihr Menſchen werdet uns vergeſſen machen, daß Gewalt ein Übel iſt, unwürdig —“ Die Klappe des Fernſprechers löſte ſich. „Iſt La zu Hauſe?“ fragte Saltners Stimme. „Ja, ja“, rief La. „Kommen Sie nur. Sie haben ſich den ganzen Tag noch nicht ſehen laſſen.“ „Ich komme ſogleich.“ 33. Fünfhundert Milliarden Steuern Eine Minute ſpäter trat Saltner ein. Seine Miene verzog ſich ein wenig enttäuſcht, als er Ell in lebhaftem Geſpräch mit La fand. Gleich nach der Begrüßung holte er ein Zeitungsblatt hervor. „Da“, ſagte er, „leſen Sie bitte. Wenn die Nume ſo ſind, weiß man wirklich nicht, ob man lachen ſoll oder ſich entrüſten. Zur Abwechslung werde ich mich einmal entrüſten. Es iſt —“ „Sal, Sal“, rief La lachend, „ſetzen Sie ſich, bitte, ruhig her, und dann wollen wir ſehen, ob wir nicht lieber lachen wollen.“ Sie faßte ſeine Hand und zog ihn an ihre Seite. „Der Streit der Planeten ſoll uns nichts anhaben“, ſagte ſie leiſe. Ell ergriff das Blatt und las: „Wie wir aus ſicherer Quelle erfahren, ſoll die Ausrüſtung des nach dem Südpol der Erde zu entſendenden Raumſchiffs weitere zwanzig bis dreißig Tage in Anſpruch nehmen. Man macht angeblich noch Verſuche, um die Luftſchiffe gegen etwaige Angriffe von Menſchen widerſtandsfähiger zu machen. Ja, es ſoll der Bau dieſer Schiffe überhaupt ſtark im Rückſtand ſein. Wir finden dieſe Verzögerung ſeitens der Erdkommiſſion unverantwortlich. Die Erregung gegen die Menſchen wächſt ſichtlich und mit vollem Recht. Man hat aus den Berichten der Augenzeugen erfahren, daß die Darſtellung jenes Zwiſchenfalls mit dem engliſchen Kriegsſchiff von der Regierung viel zu milde gefärbt war. Die den Numen angetane Schmach erfordert eine ſchnelle Beſtrafung der Schuldigen. Wozu überhaupt dieſe Umſtände mit dem Erdgeſindel?“ „Erdgeſindel! Hören Sie!“ rief Saltner, „Da ſoll doch gleich —“ Ein Händedruck Las hielt ihn auf ſeinem Platz. „Leſen Sie weiter“, ſagte ſie zu Ell. „Wir haben genaue Informationen über die Verhältniſſe auf der Erde eingezogen. Sie ſind geradezu haarſträubend. Von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit haben dieſe Menſchen keine Ahnung. Sie zerfallen in eine Menge von Einzelſtaaten, die untereinander mit allen Mitteln um die Macht kämpfen. Darunter leidet die wirtſchaftliche Kraft dermaßen, daß viele Millionen im bedrückendſten Elend leben müſſen und die Ruhe nur durch rohe Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Nichtsdeſtoweniger überbieten ſich die Menſchen in Schmeichelei und Unterwürfigkeit gegen die Machthaber. Jede Bevölkerungsklaſſe hetzt gegen die andere und ſucht ſie zu übervorteilen. Wer ſich mit der Wahrheit hervorwagt, wird von Staats wegen verurteilt oder von ſeinen Standesgenoſſen geächtet. Heuchelei iſt überall ſelbſtverſtändlich. Die Strafen ſind barbariſch, Freiheitsberaubung gilt noch als mild. Morde kommen alle Tage vor, Diebſtähle alle Stunden. Gegen die ſogenannten unziviliſierten Völker ſcheut man ſich nicht, nach Belieben Maſſengemetzel in Szene zu ſetzen. Doch genug hiervon! Und dieſe Bande ſollen wir als Vernunftweſen anerkennen? Wir meinen, es iſt unſre Pflicht, ſie ohne Zaudern zur Raiſon zu bringen durch die Mittel, die ihr allein verſtändlich ſind, durch Gewalt. Es ſind wilde Tiere, die wir zu bändigen haben. Denn ſie ſind um ſo gefährlicher, als ſie Spuren von Intelligenz beſitzen. Leider hat man ſich, wie es ſcheint, in der Regierung durch einzelne Exemplare dieſer Geſellſchaft täuſchen laſſen, und wir wollen nur hoffen, daß hierbei bloß ein Irrtum und nicht eine Rückſicht auf gewiſſe Beziehungen vorliegt —“ Ell unterbrach ſich. „Das iſt denn doch zu arg!“ rief er. „Das ſind Verdächtigungen, die man ſich nicht gefallen laſſen kann.“ „Meine Befürchtung!“ ſagte La. „Die Berührung mit den Menſchen bringt einen Ton in unſer Verhalten, wie er ſonſt im öffentlichen Leben nicht Sitte war. Nein, Ell, nein, meine lieben Freunde, Sie ſind gewiß nicht daran ſchuld; es liegt in der Sache ſelbſt — die antibatiſche Bewegung ſetzt eine Verrohung des Gemüts überhaupt voraus.“ Saltner rieb ſich ingrimmig die Hände. „Leſen Sie nur weiter“, ſagte er. „Jetzt haben Sie ſich entrüſtet, und ich werde wieder lachen.“ „Wir halten es für ſinnlos“, las Ell weiter, „daß zwiſchen Wilden wie den Erdbewohnern und zwiſchen Numen überhaupt eine Verbindung verwandtſchaftlicher Art ſtattfinden könne. Der Fall Ell bedarf entſchieden einer näheren Unterſuchung und Aufklärung. Wir haben dieſen angeblichen Halbnumen noch nicht geſehen. Aber ein richtiges Exemplar der Menſchheit hatten wir zu betrachten das zweifelhafte Vergnügen. Wer dieſes ſtupide Geſicht mit den blinzelnden Punkten, die Augen ſein ſollen, dieſen unanſtändigen, ungefärbten Anzug, dieſe rohen Bewegungen einmal geſehen hat, der wird ſich ſagen, dieſe Raſſe kann von uns nur als vielleicht nutzbares Haustier geduldet werden.“ Ell warf das Blatt fort. La brach in ein herzliches, leiſes Lachen aus, in das Saltner einſtimmte. Sie trat vor Saltner und nahm ſeinen Kopf zwiſchen ihre Hände. „Ich muß mir doch einmal unſer Haustierchen betrachten“, ſagte ſie luſtig. „Sie ſind wirklich ausgezeichnet geſchildert.“ Sie ſah in ſeine Augen, ihre Züge wurden ernſter, ihr Blick inniger und tiefer. „Mein lieber, braver Freund“, ſagte ſie. Sie bog ſeinen Kopf zurück und küßte ihn. Ell lächelte nun auch. „Wenn man ſo entſchädigt wird“, ſagte er, „muß man ja bedauern, nicht auch kräftiger geſchildert zu ſein. Aber Sie haben recht, man muß auf dieſes dumme Zeug keinen Wert legen. Trotzdem bin ich froh, daß man Frau Torm wenigſtens aus dem Spiel gelaſſen hat.“ „Es lohnt ſich natürlich nicht, ſich darüber zu ärgern“, ſagte Saltner, „nichtsdeſtoweniger kann das Geſchreibe Unheil anrichten.“ „Dazu iſt es doch zu dumm, das nimmt niemand ernſthaft. Man kennt das Blatt als unzuverläſſig.“ „Aber ich habe hier noch etwas anderes, das vielleicht politiſch nicht ohne Einfluß ſein dürfte. Ich hörte, daß ähnliche Anſichten nicht nur in weiten Kreiſen geteilt werden, ſondern ſogar im Zentralrat Anhänger beſitzen. Leſen Sie folgende Vorſchläge, die das neugegründete Blatt, die ‚Ba‘, macht.“ Ell nahm das Blatt und las: „Es iſt bezeichnend für unſre Regierung, die ſich 144 Luftſchiffe für die Erde bewilligen ließ, daß ſie jetzt im entſcheidenden Augenblick kein einziges bereit hat. Aber für die Staaten iſt es ein Glück. Die Begeiſterung der Kolonialſchwärmer hat Zeit, ſich abzukühlen, und dieſe Abkühlung ſchreitet ſchnell vorwärts. Es wird auffallend ſtill über unſre Brüder im Sonnenſyſtem, die wir mit der Liebe und Freiheit der Nume umſchließen ſollen. Und es iſt gut, daß wir zur Beſinnung kommen. Man glaube nur nicht, daß uns die Menſchen mit offenen Armen entgegenkommen werden. Unſer Stand wird nicht leicht ſein, und unſre Opfer werden ſich höher und höher ſteigern. Sowohl die Menſchenfreunde als die Antibaten unterſchätzen den Widerſtand, den wir zu erwarten haben. Deswegen ſollen wir von vornherein klar ſagen, was wir wollen, und dann rückſichtslos handeln, nicht auf ein Entgegenkommen rechnen, ſondern ohne weiteres unſere Bedingungen mit dem Telelyt und Repulſit diktieren. Es mag ſein, daß die Menſchen ſich zur Numenheit erziehen laſſen, und wir ſind die erſten, welche bereit ſind, ſie als Brüder anzuerkennen; aber dies wird uns nur möglich ſein, wenn ſie ſehen, daß jeder Widerſtand ausſichtslos iſt.“ „Es kommen nun einige Stellen“, ſagte Saltner, „die eigentlich nichts andres verlangen, als was die Regierung ſelbſt wollte, nämlich warten, bis die Martier überall zugleich losſchlagen können. Aber leſen Sie, bitte, die Vorſchläge hier unten.“ „Wir warnen davor, von der Erde zu viel zu erwarten. Wir werden ſie niemals beſiedeln können. Die Schwere und die Atmoſphäre machen uns den dauernden Aufenthalt unmöglich. Wir werden immer nur einzelne Stationen mit wechſelnder Beſatzung drüben erhalten können. Die Ausnutzung des Reichtums der Erde muß durch die Menſchen für uns geſchehen. Etwa in folgender Weiſe. Die Geſamtſtrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt —“ Ell unterbrach ſich. „Ja“, ſagte Saltner, „die Zahlen verſtehe ich nicht. Aber es wäre mir doch ganz intereſſant zu wiſſen, wie hoch uns die Herren Nume eigentlich einſchätzen.“ „Ich will ſie ſchnell umrechnen“, rief La. „Es iſt ganz leicht. Sie wiſſen, unſere Münzeinheit gründet ſich auf die Energiemenge, die von der Sonne während eines Jahres auf die Einheit der Fläche des Mars ausgeſtrahlt wird.“ „Gehört hab ich’s ſchon“, ſagte Saltner, „als man mir meinen ‚Energieſchwamm‘ ausgezahlt hat, aus dem ich alle Tage mein Taſchengeld abzapfe. Aber warum Sie ſo rechnen, das weiß ich nicht.“ „Es iſt das Einfachſte. Einen vergleichbaren Preis mit allen Kräften der Natur hat doch nur die Arbeit, eine gleichbleibende Arbeitsmenge können wir leicht mechaniſch definieren und herſtellen, und alle Arbeitskraft, die wir zur Verfügung haben, ſtammt von der Sonne. Wir fangen die geſamte Sonnenſtrahlung auf, benutzen ſie, um eine beſtimmte Menge Äther zu kondenſieren, und ſo beſitzen wir eine überall verwertbare Einheit der Arbeit. Die Sonnenſtrahlung haben wir mit der Erde gemeinſam, hier muß ſich alſo auch eine Vergleichbarkeit unſerer Währungen ergeben.“ „Verzeihen Sie“, unterbrach ſie Ell, „es beſteht dabei noch eine Schwierigkeit. Ich habe nämlich die Umrechnung ſchon gemacht, um ein Urteil über das Budget der Erde aufzuſtellen. Aber auf der Erde vermögen wir Menſchen nur einen ſehr beſchränkten Teil der Sonnenſtrahlung, eigentlich nur die Wärme zu verwerten, während Sie auf dem Mars auch die langwelligen und die kurzwelligen Strahlen, die gar nicht durch unſere Atmoſphäre gehen, in Wärme umwandeln und daher mitrechnen. Ich muß geſtehen, daß ich nicht weiß, wie groß dieſer Betrag iſt.“ „Das ſchlagen wir nach“, ſagte La. Sie hatte ſchon das phyſikaliſche Lexikon ergriffen. „Hier ſteht es. Wir können rechnen, daß die Ihnen bekannte Strahlung der Sonne etwa den zwölften Teil der von uns benutzten beträgt.“ „Dann iſt es ſehr einfach“, meinte Ell. „Die übrige Umrechnung habe ich ſchon früher für mich in Tabellen gebracht. Hier iſt ſie. Wir wollen alſo von den Angaben für den Mars nur ein Zwölftel rechnen. Dann kommt die Einheit der Sonnenſtrahlung auf dem Mars etwa gleich 500.000 Wärmeeinheiten auf der Erde, was ungefähr, ſoweit ſich der Kohlenpreis fixieren läßt, einem Wert von fünfzig Pfennig entſprechen dürfte. So — nun will ich Ihnen die Berechnungen gleich in Mark vorleſen —“ „Hören Sie“, warf Saltner ein, „der Wert einer Wärmeeinheit iſt doch aber ſehr ſchwankend, je nachdem —“ „Ganz gewiß, ich will auch nur zur Bequemlichkeit ſtatt einer Million Kalorien, was das genaue Maß des Arbeitswertes wäre, der Anſchaulichkeit wegen eine Mark ſagen; ein ungefähres Bild der Größenverhältniſſe gibt es doch. Nach meiner Umrechnung alſo lautet der Artikel weiter: ‚Die Geſamtſtrahlung der Sonnenenergie auf die Erde beträgt im Laufe eines Erdenjahres 3.000 Billionen Mark, wovon aber nur 1.200 bis auf die Erdoberfläche gelangen. Wir können indeſſen auf der Erde nur einen relativ viel kleineren Teil mit Strahlungsſammlern beſetzen als auf dem Mars, für den Anfang ſicher nicht mehr als ein Prozent. Das gibt eine Billion Mark, die wir durch dieſe Anlagen den Menſchen jährlich ſchenken. Allerdings müſſen ſie dafür arbeiten, aber die Arbeit wird ihnen reichlich bezahlt, wenn wir jährlich nur 500.000 Millionen Mark für uns als Steuer beanſpruchen. Sie werden ſich immer noch zehnmal beſſer ſtehen als bei ihren bisherigen Hilfsquellen, die ihnen außerdem noch zum großen Teil bleiben. Außer der Strahlungsenergie können wir uns noch Luft, Waſſer, kohlenſauren Kalk und andere Mineralien liefern laſſen. Wir müſſen nur die Lieferungen an Arbeit und Stoffen auf die einzelnen Staaten nach ihrer Bevölkerungszahl verteilen. Es wird ſich empfehlen, dies ſo zu tun, daß die einzelnen Marsſtaaten ſogleich die betreffenden Erdgebiete zugeteilt erhalten, an die ſie ſich zu halten haben. Eine Vorſchlagsliſte gedenken wir demnächſt zu veröffentlichen. Doch müſſen wir den Anſpruch unſeres Nachbarſtaates Berſeb, die geſamten Vereinigten Staaten von Nordamerika für ſich zu verlangen, ſchon heute zurückweiſen; wenn dieſe große Ländermaſſe nicht geteilt werden ſoll, ſo wäre jedenfalls unſer Hugal als der volkreichſte Marsſtaat am meiſten berechtigt.‘“ „Sackerment, das nenn ich beſcheiden“, ſagte Saltner nach einer Pauſe. „Fünfhundert Milliarden jährlich, ohne das übrige! Da haben Sie uns eine ſchöne Suppe eingebrockt, Meiſter Ell, mit Ihren berühmten Numen.“ „Ich bitte Sie, Saltner“, antwortete Ell ärgerlich, „erſtens ſind das vage Projekte, auf die nicht viel zu geben iſt; und zweitens, wenn der Mars Revenuen von der Erde zieht, ſo macht er ſich eben nur für das Kapital und die Arbeit bezahlt, die er für die Kultur der Erde aufwendet, die Menſchheit aber wird davon den größten Vorteil haben. An dieſer meiner Überzeugung können alle die Auswüchſe nichts ändern, die ſich natürlich im Anfang einer ſo gewaltigen Unternehmung in der Phantaſie unſerer Landsleute bilden. Sie müſſen ſich nicht wundern, daß ſelbſt den Numen der Gedanke zu Kopf ſteigt, durch die Erde auf einmal das Zehnfache derjenigen Energie zur Verfügung zu haben, welche die Sonne unſerm Planeten allein ſpendet. Denn daß die Martier über die Erde verfügen können, iſt doch nun nicht mehr zu leugnen.“ „Na, darüber ließe ſich doch noch Verſchiedenes ſagen. Ich würde den erſten martiſchen Satrapen, der mir meine Million Kalorien abknöpfen wollte, mir doch erſt ein wenig mit meinen Fäuſten betrachten. Darin ſind wir halt eigen.“ Ell zuckte die Achſeln. „Es wird Ihnen wenig nützen“, ſagte er. „Vielleicht doch“, entgegnete Saltner trocken, „wenn alle ſo dächten, oder wenigſtens viele. Es könnte nützen. Zunächſt denen, die etwa Luſt hätten, ſich auf die Seite der Martier zu ſtellen; die könnte es zur Beſinnung bringen, wenn ſie ſehen, wie ehrliche Menſchen über die Treue zum Vaterland denken. Und im Notfall mir ſelbſt. Denn beſſer iſt es, mit ein biſſel Repulſit ausgelöſcht zu werden, als unter die Fremdherrſchaft ſich beugen, und wenn ſie ſich noch ſo ſehr mit dem Namen der Freiheit ausſtaffiert. Aber wir wollen uns nicht erhitzen. Darf ich mir ein Pik nehmen?“ ſagte er zu La. „Wir wollen uns allerdings nicht erhitzen“, erwiderte Ell mit eiſiger Miene. „Darum ſollten Sie ſich ſelbſt etwas vorſichtiger ausdrücken. Man könnte auch auf dem Mars fragen, was ein jeder, der auf ſeiner Oberfläche wandelt, der Sache der Nume ſchuldig iſt. Und was den Begriff der Fremdherrſchaft anbetrifft, ſo kommt es doch ganz darauf an, was man als fremd anſieht. Die Staatsangehörigkeit jedes einzelnen würde unangetaſtet bleiben; wenn aber der Staat ſelber der Leitung einer höheren Vernunft unterliegt, ſo würde das für jeden Bürger nur eine größere bürgerliche Freiheit, einen weiteren Schritt zur Selbſtregierung bedeuten.“ „Die ſich in der Freiheit äußern würde, mehr Steuern zu zahlen. Oder meinen Sie vielleicht, man würde uns das Wahlrecht in den Marsſtaaten oder einen Sitz im Zentralrat gewähren? Man wird uns immer nur als die Handlanger betrachten, die man vielleicht anſtändig füttert und im übrigen nach Belieben gängelt. Aber ein Haustier bin ich nit und werd ich nit. Ich nit!“ „O ihr Blinden!“ rief Ell. „Seht ihr denn nicht, daß ihr nichts anderes ſeid als Sklaven, Sklaven der Natur, der Überlieferung, der Selbſtſucht und eurer eigenen Geſetze, und daß wir kommen, euch zu befreien, daß ihr nur frei werden könnt durch uns?“ „Ich glaub nicht an die Freiheit, die nicht aus eigner Kraft kommt.“ „Wir wollen ja nur dieſe eigne Kraft ſtärken. Und nun weigert ihr euch wie ein Kind, das Arznei nehmen ſoll.“ La hatte ſchweigend zugehört. Ell hatte ſie wiederholt angeblickt, als wollte er ſich ihrer Zuſtimmung verſichern, aber ihre Augen ruhten auf Saltner. Was er ſagte, war ihr aus dem Herzen geſprochen, ſie freute ſich des kräftigen Ausdrucks ſeiner einfachen, natürlichen Geſinnung, aber durch ihre Seele zog es ſchmerzlich. War es nicht eine verlorene Sache, für die er kämpfte? Das große Schickſal, das über die Planeten rollte, mußte es nicht dieſe trotzigen Erdenkinder zermalmen? Ell hatte doch recht, die Numenheit iſt die Vernunft, iſt die Freiheit, und ihr Sieg iſt gewiß, wie auch der edle Irrtum des einzelnen ſich ſträube. Und dennoch! Was iſt denn das Schickſal, wenn nicht die Feſtigkeit im ehrlichen Willen der Perſon? Was iſt denn die Freiheit, wenn nicht der Entſchluß, mit dem ein jeder nach ſeinem beſten Wiſſen und Gewiſſen handelt, was ihm auch geſchehe? Und welch höhere Freiheit konnten die Nume geben? „Nein, Ell“, ſagte La jetzt langſam, als Saltner auf Ells letzten Vergleich nicht antwortete, „nein — nicht wie ein Kind. Saltner hat wie ein Mann geſprochen. Ein Nume mag es beſſer verſtehen, aber beſſer wollen und fühlen kann man nicht. Und ich weiß, er wird auch ſo handeln.“ Sie reichte Saltner die Hand. Ihre dunklen Augen ſchimmerten feucht, als ſie ſagte: „Warum muß es denn zum Streit kommen? Laſſen Sie uns alles verſuchen, daß Nume und Menſchen Freunde werden. Es iſt ja doch nur notwendig, daß ſie ſich kennenlernen, ehrlich kennenlernen. Laſſen Sie uns den Irrtum, die Verleumdung bekämpfen, die ſich einzuſchleichen drohen. Noch iſt es vielleicht Zeit! Nicht wahr, auch Sie wollen es, Ell?“ „Was könnte ich Höheres wollen?“ erwiderte Ell warm. „Es war der Wunſch meines ganzen Lebens, die Verſöhnung, das Verſtändnis der Planeten herbeizuführen, ihre Kulturarbeit zu vereinen. Seit ich die Nume perſönlich kennengelernt habe, iſt mein Wunſch lebhafter als je. Daß die Nume die Überlegenen ſind, iſt eine Tatſache. Wenn es zum Kampf kommt, werden die Menſchen unterliegen, das folgt daraus. Daß ich trotzdem in dieſem Fall auf der Seite der Nume ſtehen würde, iſt ebenſo natürlich wie der entgegengeſetzte Standpunkt Saltners. Was ich nicht billige, iſt nur das Mißtrauen, mit dem die Menſchen uns begegnen, weil ſie von einem Teil der Martier von oben herab behandelt werden. Aber dieſe Zeitungen ſind doch nicht die Marsſtaaten. Ich hoffe wie Sie, daß die entgegengeſetzten Stimmen bald durchdringen werden. Hätte Saltner andere Blätter geleſen, er wäre ſicherlich weniger bitter geſtimmt.“ „Ich habe auch die andern geleſen“, ſagte Saltner, „den ganzen Vormittag habe ich mich mit den Zeitungen herumgeſchlagen. Leider haben ſie einen ſchweren Stand, zu beweiſen, daß die Menſchen anſtändige Leute ſind. Was ſie für uns ſagen können, das müſſen ihnen die Martier halt glauben. Aber was ſich gegen uns ſagen läßt, das haben ſie in einem einzelnen Fall geſehen. Daran ſind die ſakriſchen Engländer ſchuld. Aber auch die beiden vorlauten Matroſen vom Luftſchiff und ihre Helfershelfer, die die Sache im Theater aufgebauſcht haben. Dagegen müßte die Regierung mehr tun, als die bloße Berichtigung loslaſſen, die heute in den Zeitungen ſteht.“ „Es wird auch geſchehen“, ſagte Ell. „Ich will eben deshalb jetzt zu Ill, der geſtern in Erwägung zog, ob ſich nicht ermitteln laſſe, wie die Engländer dazu gekommen ſind, unſere Leute anzugreifen. Vielleicht lag nur ein Mißverſtändnis vor. Und wenn ſich das beweiſen ließe, wenn ſich außerdem zeigte, daß die Darſtellung im Theater und ſo weiter übertrieben iſt, ſo wird die Gerechtigkeit bei den Martiern ſiegen.“ „Wie wollen Sie das nachweiſen, da Sie keine andern Zeugen haben als die beiden Martier, von denen ich gar nicht behaupten will, daß ſie abſichtlich übertreiben, die aber in ihrer Bedrängnis nicht objektiv urteilen können?“ „Es käme darauf an zu ſehen, was an dem Cairn — an dem Steinmann, den die Engländer errichtet hatten — eigentlich vorging bis zu dem Augenblick, in welchem die Seeleute dem Offizier zur Hilfe kamen. Auch wäre es ſehr gut, wenn unſere Landsleute ſich durch den Augenſchein überzeugen könnten, wie europäiſche Matroſen und ein europäiſches Kriegsſchiff eigentlich ausſehen —“ „Das iſt wahr“, ſagte Saltner. „Am Ende ginge ihnen doch ein Licht auf, daß die Menſchen keine Wilden ſind, mit denen zu ſpaßen iſt. Aber wie ſollte ſo ein Nachweis möglich ſein über einen Vorgang, der in der Öde des Kennedy-Kanals vor Wochen ſtattgefunden hat?“ „Durch das Retroſpektiv.“ Saltner machte ein erſtauntes Geſicht. „Das iſt ein glücklicher Gedanke“, rief La. „Ich habe dabei gar keinen Gedanken“, ſagte Saltner kopfſchüttelnd. La erklärte das Verfahren. Saltner wurde wieder kleinlaut. Bedrückt ſetzte er ſich nieder und murmelte für ſich hin: „Medizin! Wir ſind ja doch arme Rothäute!“ Ell verabſchiedete ſich. „Wenn es noch zur Anwendung des Retroſpektivs kommt“, ſagte La, „dann müſſen Sie mir aber einen guten Platz verſchaffen.“ „Ich wäre glücklich, Ihnen gefällig ſein zu können.“ Ell ſprach es wärmer als gewöhnlich und ließ ſeinen Blick lange auf La ruhen, die ihn lächelnd anſah. Dann ging er. La wendete ſich zu Saltner. Sie faßte ſeine Arme und blickte ihn an. „Wie bin ich froh, daß ich dich hier habe, du geliebter Menſch!“ ſagte ſie. 34. Das Retroſpektiv Die Rüſtungen der Martier für ihren Zug nach der Erde waren darauf berechnet geweſen, ſobald das Frühjahr für die Nordhalbkugel der Erde gekommen ſei, ſich gleichzeitig mit ihren Luftſchiffen über ſämtliche Hauptſtädte der einflußreicheren Staaten zu legen und die Regierungen zu zwingen, die vom Mars zu diktierenden Bedingungen ohne weiteres anzunehmen. Es ſollte dann unter einer Art Protektorat der Marsſtaaten den Erdbewohnern die Kultur der Martier zugänglich gemacht werden, und man wollte abwarten, in welcher Weiſe ſich die Marsſtaaten am beſten aus den alten und neuen Hilfsmitteln der Erde würden ſchadlos halten können. Jetzt auf einmal ſollte ſofort und unter veränderten Umſtänden eine Expedition abgeſandt werden. Man hatte die Erfahrung gemacht, daß die Erdbewohner vermutlich Widerſtand leiſten würden und daß ſie nicht ungefährliche Mittel der Verteidigung beſaßen. Man konnte nur wenige Luftſchiffe auf einmal nach der Erde tranſportieren und mußte darauf gefaßt ſein, ſtatt einfach ein Protektorat zu erklären, in einen Krieg mit England, vielleicht mit der ganzen Erde verwickelt zu werden. Daher hatte Ill alle Urſache, in ſeinen Entſchlüſſen und Handlungen ſich nicht zu überſtürzen. Je länger ſich die Aktion gegen England hinzog, um ſo eher konnte er hoffen, eine genügende Macht auf der Erde zu verſammeln, um nach dem urſprünglichen Plan eine Beſetzung aller Kulturſtaaten ſofort anzuſchließen. Da ſich die Planeten jetzt voneinander entfernten, nahm die Reiſe immer längere Zeit in Anſpruch. Wenn ſich die Abſendung des Raumſchiffs noch um einen Monat verzögerte, ſo mußte wenigſtens ein zweiter Monat ablaufen, ehe es nach der Erde gelangte. Aber auch dann wollte er nicht ſogleich vorgehen, ſondern zunächſt weitere Verſtärkungen abwarten. Etwa im Januar — nach irdiſcher Rechnung — hoffte er ſtark genug zu ſein, ſeinen Forderungen den nötigen Nachdruck zu geben. Ließen ſich nun die Verhandlungen mit England noch einige Zeit verſchleppen, ſo hatte ſich inzwiſchen die Raumſchifflotte auf der Außenſtation des Nordpols eingefunden, und Mitte März konnte man dort mit der Indienſtſtellung der Luftſchiffe beginnen. Ill hatte aber auch noch andere Gründe, die Abſendung des Raumſchiffs nach dem Südpol zu verzögern. Es hatte ſich ja gezeigt, daß die Luftſchiffe vor den Waffen der Erdbewohner keinen genügenden Schutz beſaßen. Einen ſolchen galt es erſt herzuſtellen. Wenn es gelang, die Luftſchiffe gegen Geſchoſſe jeder Art aus irdiſchen Geſchützen widerſtandsfähig zu machen, ſo war dadurch der Erfolg geſichert. Verſuche darüber konnten erſt jetzt angeſtellt werden, nachdem man die Wirkungsart der Repetiergewehre und der großen Marinegeſchütze kennengelernt hatte. Und in dieſer Hinſicht war man einer neuen Entdeckung von ganz erſtaunlicher Wirkung auf der Spur. Dieſes Argument ſchlug durch. Die oppoſitionellen Parteien im Parlament wie in der Preſſe beruhigten ſich darüber, daß die Abſendung der Expedition ſich verzögerte. Die Wichtigkeit der techniſchen Vervollkommnung der Luftſchiffe leuchtete ebenſo ein wie die Schuldloſigkeit der Regierung, daß dieſe Erfahrungen nicht früher gemacht werden konnten. Sobald es ſich überhaupt um die Löſung einer wichtigen techniſchen Aufgabe handelte, gab es keine Parteikämpfe mehr. Dann waren alle einig, und alles Intereſſe konzentrierte ſich darauf. Da war ein Ehrenpunkt für jeden Martier berührt, und das techniſche Problem drängte alle anderen Fragen in den Hintergrund. So kam es, daß die Hetze gegen die Erdbewohner und die zahlloſen Pläne über die Ausnutzung der Erde nach wenigen Wochen verſtummten und wieder eine ruhigere Auffaſſung Platz griff. Doch die Regierung ließ ſich dadurch nicht täuſchen. Es war kein Zweifel, daß ähnliche Geſinnungen wieder hervortreten würden, ja daß ſie ſich zu einem chauviniſtiſchen Übermut verdichten würden, ſobald es feſtſtand, daß die martiſchen Schiffe durch menſchliche Waffen unverletzbar ſeien. Die Gefahr lag vor, daß der Gegenſatz zwiſchen beiden Planeten dann zu einer Vergewaltigung der Erde führen, daß die Regierung zu kriegeriſchen Maßregeln gegen die ohnmächtigen Menſchen gedrängt werden könnte. Der Zentralrat war jedoch, in voller Übereinſtimmung mit Ill, feſt gewillt, dies zu vermeiden und die Würde der Numenheit in den Verhandlungen mit der Erde zu wahren, indem er die Übermacht der Martier nur benutzen wollte, Feindſeligkeiten der Menſchen ihrerſeits unmöglich zu machen und dadurch das friedliche Zuſammenwirken der Planeten zu erzielen. Es wurde daher verſucht, ein Geſetz durchzubringen, das von vornherein den Menſchen die Freiheit der Perſönlichkeit garantieren ſollte, indem es ſie als Vernunftweſen erklärte. Doch war eine ſtarke antibatiſche Oppoſition dagegen vorhanden, und auch die gemäßigteren Parteien erklärten, daß zuvor die Angelegenheit mit England geordnet ſein müſſe. Man beſtrebte ſich jetzt von ſeiten der Regierung wie der Philobaten — ſo überſetzte Ell die Bezeichnung der menſchenfreundlichen Richtung —, nach Möglichkeit beſſere Anſichten über die Erdbewohner zu verbreiten. Dahin gehörte auch die Aufklärung des Zwiſchenfalls mit dem engliſchen Kriegsſchiff. Namentlich war es für die beabſichtigten Unterhandlungen mit England wichtig und erforderlich, genau aus eigenen Quellen zu wiſſen, was am Cairn vorgegangen ſei, womöglich auch, was aus dem Kriegsſchiff geworden. Infolgedeſſen entſchloß ſich der Zentralrat, auf Antrag von Ill, einen Verſuch mit dem Retroſpektiv zu machen. Die Einſtellung des Apparates, um durch ihn ein beſtimmtes Ereignis in der Vergangenheit wieder zu erblicken, bedurfte einer längeren Vorbereitung. Es war ſchwierig, genau die Richtung zu ermitteln, in welcher die Achſe des Kegels von Gravitationsſtrahlen liegen mußte, den man ausſandte, um das zur Zeit des Ereigniſſes vom Planeten zurückgeſtrahlte Licht auf ſeinem Weg durch den Weltraum einzuholen und wieder zurückzubringen. Es kam dabei eine Menge von Einzelheiten in Betracht, welche mehrtägige theoretiſche Unterſuchungen und langwierige Rechnungen erforderten. Alsdann bedurfte es noch praktiſcher Verſuche, um die paſſendſte Einſtellung zu finden und zu korrigieren. Nachdem die zurückkehrenden Gravitationswellen wieder in Licht verwandelt worden waren und das optiſche Relais paſſiert hatten, erſchien endlich das Bild der aufgeſuchten Gegend in einem völlig verdunkelten Zimmer auf eine Tafel projiziert. Handelte es ſich nicht nur um eine Schauſtellung, ſondern um Konſtatierung von Tatſachen, ſo wurde das Bild, das ſich natürlich fortwährend veränderte, indem es den ganzen Verlauf des beobachteten Ereigniſſes darſtellte, durch eine ununterbrochene Folge von Momentphotographien fixiert, die ſpäter im Kinematograph wieder in ihrer lebendigen Folge betrachtet werden konnten. Die Schwierigkeiten des Verſuchs waren nun im vorliegenden Fall in noch viel höherem Grad als ſonſt vorhanden, da man ein Ereignis betrachten wollte, das ſich auf einem andern Planeten vollzogen hatte, und da man außerdem beabſichtigte, den Schauplatz, der Bewegung des Schiffes folgend, zu wechſeln. Es war das erſte Mal, daß man das Retroſpektiv auf einen ſo komplizierten Fall anwendete, und man durfte nicht erwarten, daß alle Teile des Verſuchs gleichmäßig oder überhaupt glücken würden. Das Experiment ſelbſt ſollte daher nicht öffentlich ſein. Es konnte nachträglich wiederholt werden, in jedem Fall gaben die bewegten Momentphotographien ein unwiderlegbares Protokoll über die Beobachtungen, das jedermann zugänglich gemacht werden konnte. * * * Isma verzeichnete in ihrem Tagebuch bereits den 18. Oktober. Sie mußte erſt einige Zeit in ihrem Gedächtnis nachrechnen, ehe ſie ſich des Datums vergewiſſerte, denn in den letzten Tagen hatte ſie keinerlei Aufzeichnungen gemacht. Sie fühlte ſich ſehr niedergeſchlagen. Zu ihren Beſorgniſſen kam eine körperliche Verſtimmung infolge der Veränderung ihrer Lebensverhältniſſe. Einige Tage hatte ihre Schwäche ſie ſo überwältigt, daß ſie ihr Zimmer nicht verlaſſen konnte. Ihre Gaſtfreunde waren in liebevollſter Weiſe um ſie beſorgt und hatten ſogar Hil den weiten Weg von ſeinem Wohnort nach Kla machen laſſen, um dieſen beſten Kenner der menſchlichen Konſtitution auf dem Mars zu Rate zu ziehen. Er hatte angeordnet, daß für Isma ein beſonderer Apparat gebaut werde, um die normalen Verhältniſſe der Erde in Schwere und Luftdruck für ſie herzuſtellen; und ſeitdem ſie ſich die Nacht über und einige Stunden des Tages in dieſem künſtlichen Erdklima aufhielt, hatte ſich ihr Zuſtand gebeſſert, und ihre Kräfte waren wieder geſtiegen. Obwohl ihre Gaſtfreunde und befreundete Familien derſelben, vor allem La, ſie in jeder Weiſe aufzuheitern ſuchten, obwohl ſie manchmal über Saltners harmloſe Spöttereien und die Schilderungen ſeiner Abenteuer auf dem Mars herzlich lachen mußte, zählte ſie doch ſehnſüchtig die Stunden, in denen Ell bei ihr erſchien. Er hatte ſie täglich aufgeſucht und während ihrer Erkrankung, ſo oft ihr Zuſtand es geſtattete, ſich durch den Fernſprecher mit ihr unterhalten. Sein Verhalten gegen ſie war ſtets unverändert freundſchaftlich und teilnehmend geblieben, ſie hatte keine der kleinen Aufmerkſamkeiten vermißt, mit denen er ſie ſeit Jahren verwöhnt hatte. Ihre Wünſche ſuchte er zu erraten, faſt nie kam er, ohne ihr irgend etwas mitzubringen, von dem er glaubte, daß es ſie intereſſieren würde — einen Artikel in den Zeitungen, eine Abbildung oder eine der tauſend unterhaltenden Neuigkeiten der Marsinduſtrie, und wenn er ſie erblickte, ruhten ſeine Augen mit der alten, zärtlichen Anhänglichkeit auf ihr. Sie hätte nicht ſagen können, worüber ſie ſich beklagen dürfte. Und dennoch — ſie konnte ſich eines ſchmerzlichen Gefühls nicht erwehren, als wäre eine Entfremdung zwiſchen ihr und dem Freund eingetreten. In ſeiner Anweſenheit verſchwand es, aber wenn er fort war, ſtellte es ſich wieder ein. Sie quälte ſich ſelbſt mit Grübeleien darüber, was ſie ihm vorzuwerfen habe. Warum konnte er ſo gar nichts darin durchſetzen, daß ihr die Erlaubnis erteilt werde, mit dem Raumſchiff nach dem Südpol der Erde abzureiſen? Ihre Bitte war von Ill mit Bedauern, aber entſchieden abgeſchlagen worden; die Verhältniſſe geſtatteten es nicht. Ell hatte ſich vergeblich für ſie verwandt; man hatte erklärt, ſo lange man ſich in einer Art feindſeligen Zuſtandes zur Erde befinde, ſei es nicht zuläſſig, daß einer der Erdbewohner entlaſſen werde. Aber als Ell einmal in ihrer Gegenwart ſeinem Oheim gegenüber aufs lebhafteſte für ihre Zurückſendung nach der Erde eingetreten war, hatte ſie ſich wieder durch den Eifer verletzt gefühlt, mit dem er bemüht war, ſie fortzuſchaffen. Und er wollte auf dem Mars bleiben. Es war gar keine Rede davon geweſen, daß er ſie begleite. Und jetzt wäre doch ſein Platz auf der Erde geweſen, jetzt hätte er zur Verſöhnung tätig ſein müſſen! Was hielt ihn auf dem Mars zurück? Sie glaubte, es wohl zu wiſſen. Warum ſprach er anfänglich ſo viel und mit ſolcher Wärme und Bewunderung von La? Und jetzt ſuchte er ihren Namen zu vermeiden. Was war zwiſchen ihn und Saltner getreten, daß ſie ſich ſo kühl und förmlich begegneten, wo ſie doch mehr als je auf ſich angewieſen waren? Und wenn Ell mit La bei ihr zuſammentraf, wie ſeltſam pflegte er ſie anzuſehen! Sie kannte dieſen Blick. Und warum ſprach er manchmal ſo ſchnell und eifrig zu La in ihrer Sprache, daß ſie der Unterhaltung nicht zu folgen vermochte? Sie mochte die beiden nicht zuſammen ſehen. Ein Gefühl der Kälte durchzog ihre Seele und machte ſie feindſelig und unwirſch gegen La wie gegen Ell. Es war ja nichts, das ſie ihnen vorwerfen konnte, und doch war ihr dieſer Verkehr unbehaglich und verſtimmte ſie. Wenn dann La gegangen war und Ell noch zurückblieb, wenn er dann mit derſelben Herzlichkeit zu ihr ſprach, die ſie eben auch La gegenüber in ſeinem Ton gehört zu haben glaubte, ſo ſtieg es wie Zorn in ihr auf, als wäre ihr etwas genommen, das ihr allein gebührte. Sie war dann unfreundlich gegen Ell, ſie machte ihm Vorwürfe, die ſie nicht verantworten konnte, und wenn er fort war, bereute ſie ihre Worte, ihre Blicke und ſchalt ſich undankbar und ſchlecht. Ach, ſie kannte auch dieſen Zuſtand, dieſes Gefühl der Unzufriedenheit. Und ſie konnte es doch nicht ändern. Es war jedesmal ſo geweſen, wenn Ell an einer anderen Gefallen gefunden hatte. Sie ſagte ſich ſelbſt, wie töricht ſie ſei. Sie hatte jedes Recht auf ihn aufgegeben, ſie hatte es zur Bedingung ihrer Freundſchaft erhoben, daß er ſich keine Hoffnungen mache, mehr von ihr zu beſitzen als dieſe Freundſchaft. Wie durfte ſie ihm verwehren, eine andere zu lieben, da ſie ſelbſt verzichtet hatte? Und doch, jedesmal, wenn dieſe Gefahr zu drohen ſchien, fühlte ſie ſich von Eiferſucht ergriffen, die ſie ſich nicht geſtehen wollte und die ſie doch ohne ihren Willen ihm durch ihr Benehmen eingeſtand. Warum auch mußte er ihr das jetzt antun, wo ſie fremd auf fremdem Planeten, eine Gefangene, krank und einſam weilen mußte, wo er der einzige war, der ſie verſtehen konnte? Warum mußte er jetzt —? Aber was warf ſie ihm denn vor? Warum war ſie ſelbſt nicht beſſer? Warum ſagte ſie ihm denn nicht, hier, frei von allen Menſchenſatzungen, daß ſie nicht ohne ihn ſein wolle, daß ſie ihn nicht entbehren wolle, nicht könne? Warum? Weil ſie ihn ja doch nicht lieben wollte! Und warum konnte ſie ſich nicht von ihm losreißen, da ſie doch ihren Mann liebte, da ſie ausgezogen war, ihn zu ſuchen in den Öden der Polarnacht, und da ſie zu ihm zurückwollte durch die Leere des Weltraums? Und wenn Torm nicht mehr war? Wenn ſie zurückkam nach Friedau und er verſchollen war, ein Opfer der Forſchung, wie ſo viele vor ihm? Wenn ſie dann verlaſſen war, hier wie dort? Sie ließ die Feder ſinken und legte den Kopf in ihre Hände. Ach, daß es kein Zeichen von ihm gab, keine Nachricht! Und daß ſie hier ſitzen mußte, nicht mehr Tauſende, ſondern Millionen von Meilen von ihm getrennt, und angewieſen auf den Freund, der um ihretwillen gegangen war, allein mit ihm — gerade alles, was ſie hatte vermeiden wollen! Gerade in dieſe Gefahr hatte ſie ſich geſtürzt, der ſie zu entfliehen gedachte. Und ſie ſah ſie vor ſich, leibhaftig, jeden Tag in den großen treuen Augen, die ſie teilnehmend anſahen —. Ach, darum quälte ſie ihn ja, quälte ſie ſich — Aber wäre es in Friedau beſſer geweſen, wenn ſie nun doch von ihrem Mann nichts erfahren konnte? Eines wenigſtens war ſie los, die fortwährenden Fragen, die teilnehmend ſein ſollten und doch ſo heuchleriſch waren, die hämiſchen Blicke, die widerwärtigen, kleinlichen, ſchamloſen Klatſchereien — — Aus ihrem Nachſinnen weckte ſie der Ton, der den Eintritt eines Beſuches durch das Gartentor meldete. Sie hörte den Wagen vor der Veranda halten. Das war Ells Stimme, er ſprach mit Ma. Isma ſtrich über ihr Haar, ſie warf einen Blick in den Spiegel und ärgerte ſich über ihre Erregung. Gleich darauf trat Ell ein. Sie ging ihm lächelnd entgegen. Er blickte ſie an. „Es geht Ihnen gut“, ſagte er freudig. „Sie ſehen wieder friſch und kräftig aus.“ Er hielt ihre Hände. In ihren Augen las er ihre Freude. Es war einer der Tage, an dem ſie nicht verbergen konnte, wie lieb er ihr war. „Ich weiß nicht“, ſagte ſie. „Es geht mir eigentlich gar nicht gut. Ich kann von meinen Gedanken nicht loskommen.“ „Dann kommen Sie mit mir, Isma. Sie ſollen etwas ſehen, worauf wir ſchon lange warten. Das Retroſpektiv iſt glücklich eingeſtellt — der Cairn iſt gefunden —“ „Ach, Ell! Noch einmal die ſchreckliche Geſchichte! Ich bin ja leider dabei geweſen. Soll ich ſie wirklich noch einmal ſehen?“ „Ich dachte, der Triumph der Technik würde Sie intereſſieren. In die Vergangenheit zu blicken —“ Isma wollte eine abweiſende Antwort geben. Aber ſie ſah, daß es Ell erfreuen würde, wenn ſie ihn begleitete. Sie wollte gut zu ihm ſein, ſie wollte ihm nichts abſchlagen. „Nun denn“, ſagte ſie, „wenn es Ihnen lieb iſt — kommen Sie. Es iſt doch etwas Neues in der Form, wenn auch nicht im Stoff. Ich habe aber ſchon vor einigen Tagen den Platz abgelehnt, den Ihr Oheim mir anzubieten die Güte hatte.“ „Ich habe noch einen für Sie reſerviert, allerdings etwas mehr im Hintergrund, wo La und Saltner ſitzen, und wer ſonſt Verbindungen mit der Erdkommiſſion hat. Sie wiſſen, es handelt ſich nur um einen Verſuch; außer dem Zentralrat, den Kommiſſionsmitgliedern und dem Präſidium des Parlaments ſind nur einige Vertreter der Preſſe da. Aber unſre Plätze ſind auch gut, und mit dieſem Glas, daß ich Ihnen mitgebracht habe, können Sie ſicherlich die einzelnen Perſonen erkennen — wenn wir ſie überhaupt zu Geſicht bekommen. Allerdings wird das Bild etwas aus der Vogelperſpektive erſcheinen, doch hat man den Neigungswinkel ſo günſtig genommen, als es die atmoſphäriſchen Verhältniſſe nur immer geſtatteten. Ich habe den ‚Steinmann‘ vor mir geſehen wie von einem niedrig ſchwebenden Luftſchiff aus.“ Isma ſchwieg ein Weilchen. Alſo La war natürlich auch da. Sie verdrängte den aufſteigenden Gedanken und ſagte: „Aber ich begreife nicht — wenn man ſo deutliche Bilder aus ſo rieſigen Entfernungen erzielen kann, warum betrachten Sie denn nicht die Erde direkt, warum können wir nicht einmal nach Friedau, nach unſerm Haus ſehen?“ „Mit Hilfe des Retroſpektivs ginge das wohl an, aber Sie können nicht verlangen, daß man dieſes äußerſt ſchwierige, zeitraubende und koſtſpielige Experiment anſtellt, um irgendeine Neugier zu befriedigen. Was ſollte Ihnen das nützen? Was wollte man damit erfahren? Und ſelbſt wenn eine Zeitung zufällig irgendwo aufgeſchlagen läge, mit neuen Nachrichten über die Verhältniſſe auf der Erde, und ſie erſchiene im Retroſpektiv, ſo geht die Deutlichkeit doch nicht ſo weit, daß wir ſie leſen könnten.“ „Und mit Ihren Fernrohren können Sie ſo genau nicht ſehen, daß Sie Menſchen auf der Erde erkennen könnten?“ „Das iſt unmöglich. Beim Fernrohr haben wir mit den Lichtwellen zu tun, da bekommen wir auf ſo rieſige Entfernungen keine erkennbaren Bilder von ſo kleinen Gegenſtänden. Das geht nur mit Hilfe der Gravitationswellen. Sie müſſen bedenken, daß es die Gravitationsſchwingungen ſind, durch welche wir die ganze, vom zu beobachtenden Ereignis ausgegangene Bewegung zurückbringen, und daß die Umwandlung in Licht erſt hier, innerhalb des Apparates, geſchieht. Da bilden ſich wieder dieſelben Schwingungen, wie ſie bei der Ausſendung waren, abgeſehen von den Störungen, die inzwiſchen durch äußere Verhältniſſe eingetreten ſind. Wenn zum Beiſpiel das Licht auf ſeinem Weg durch den Weltraum einen Meteorſchwarm paſſiert hatte, ſo erhalten wir kein deutliches Bild mehr. Fernrohr und Retroſpektiv verhalten ſich etwa wie ein Sprachrohr und ein Telephon. Direkt können Sie die Schallwellen nicht weit ſenden, mit dem Telephon aber können Sie ſprechen, ſo weit die elektriſchen Schwingungen reichen.“ Isma hatte ſich inzwiſchen zu ihrem Weg zurecht gemacht. Ill und ſeine Frau befanden ſich ſchon im Retroſpektiv-Gebäude. Eine halbe Stunde ſpäter hatten auch Isma und Ell ihre Plätze eingenommen. La und Saltner waren kurz zuvor gekommen. Der große Saal war vollſtändig verdunkelt, trotzdem konnte man ſich in ihm unſchwer zurechtfinden und die in der Nähe ſitzenden Anweſenden erkennen. Denn das erleuchtete Bild, von welchem das Licht im Saal ausging, nahm an der einen Wand einen Kreis von zehn Metern Durchmeſſer ein und erhellte dadurch die Umgebung. Es ſtellte die Gegend an der Küſte von Grinnell-Land dar, welche der Schauplatz des engliſch-martiſchen Konflikts geweſen war. Deutlich erkannte man ziemlich in der Mitte des Bildes die Gruppe der beiden engliſchen Matroſen, welche unter Leitung des Leutnants Prim mit der Errichtung des Cairns beſchäftigt waren. Es war überraſchend zu ſehen, wie die etwa ſpannenlangen Figuren ſich lebhaft durcheinander bewegten. Die Deutlichkeit des Bildes wechſelte, mitunter erſchien dieſe, dann jene Stelle etwas verſchwommen, mitunter verdunkelte ſich ein ganzer Streifen, im allgemeinen waren jedoch ſelbſt Einzelheiten deutlich zu erkennen. Mit ihrem Glas konnte ſich Isma die Geſtalten der Engländer ſo nahe bringen, daß ſie in dem Offizier denſelben Mann wiedererkannte, den ſie durch ihr Fernrohr auf dem Verdeck des Kriegsſchiffs geſehen hatte. Da man den Apparat auf ein und dieſelbe Stelle des Weltraums eingeſtellt hielt und nur nach der ſich verändernden Lage der beiden Planeten regulierte, ſo gab das Bild den Verlauf der Ereigniſſe in dem gleichen Zeitmaß wieder, wie er ſich in Wirklichkeit vollzogen hatte. Man befand ſich offenbar noch am Morgen, und wenn der ganze Tag in ſeinem Geſchehen verfolgt werden ſollte, ſo ſtand eine lange und ermüdende Sitzung in Ausſicht. Die eintönige Arbeit der Engländer begann ſchon etwas langweilig zu werden, und Saltner ſagte zu La: „Merkwürdig iſt ja die Geſchichte, und immerhin können die Herrn Nume hier ſchon ſehen, daß die Englishmen doch nicht ganz ſo wild ſind wie auf ihrem Theater. Aber läßt ſich denn die Sache nicht ein biſſel beſchleunigen?“ „Das geht allerdings“, antwortete Ell, der auf der andern Seite von La ſaß, „und man wird es wohl nachher auch tun. Man braucht nur den Apparat allmählich auf näher gelegene Stellen des Raumes zu richten, ſo fängt man die Lichtſtrahlen in immer früheren Zeitmomenten ab und bewirkt dadurch, daß alles viel ſchneller zu geſchehen ſcheint. Aber es treten dabei andere Schwierigkeiten auf. Und jetzt iſt es nicht möglich, weil jeden Augenblick der entſcheidende Moment eintreten kann. Wir müſſen uns alſo in Geduld faſſen.“ Es dauerte nicht mehr lange, ſo verſtummte die Unterhaltung, denn man ſah, wie der Leutnant den Cairn verließ und den benachbarten Hügel beſtieg. Man konnte auch erkennen, daß er mit dem Feldſtecher nach einer beſtimmten Richtung blickte. Es zeigten ſich nun alle die Ereigniſſe, wie ſie ſich abgeſpielt hatten. Unter lautloſer Spannung ſah man die Matroſen ſich entfernen, man ſah mit Hilfe einer kleinen Verſchiebung des Bildes, wie ſie verunglückten und von den Martiern gerettet wurden, man ſah den ganzen Konflikt ſich entwickeln — — Die Martier waren von dem Verſuch ſehr befriedigt, da ſich nun eine Erklärung des Mißverſtändniſſes ergab. Die Engländer hatten die Martier in der Tat für Feinde halten müſſen. Man verfolgte das Schickſal der Gefangenen, bis ſie auf dem Kriegsſchiff unter Deck gebracht worden waren. Es war nun nichts mehr zu beobachten, da man wußte, daß man die Gefangenen nicht wieder erblicken konnte bis zu dem Moment ihrer Auslieferung. Dieſe achtzehn Stunden hindurch den Lauf des Kriegsſchiffs und ſeinen Kampf mit dem Luftſchiff zu verfolgen, hatte kein Intereſſe für die vorliegende Frage. Dagegen wollte man gern wiſſen, was aus der ‚Prevention‘ nach ihrer Niederlage geworden ſei. Es war daher beſchloſſen worden, durch eine Umſtellung des Apparats dieſe ſpäter liegenden Ereigniſſe zu beobachten. Während der Vorbereitungen hierzu, die einige Stunden in Anſpruch nahmen, verließen die Zuſchauer den Saal. Isma erfuhr, daß erſt in den Abendſtunden die Fortſetzung des Verſuchs zu erwarten ſei. Saltner und Isma, ebenſo wie Ell, brauchten daher ihre gewöhnliche Tagesbeſchäftigung nicht abzuſagen, wie ſie urſprünglich beabſichtigt hatten. Dieſe beſtand darin, daß ſie auf Erſuchen der Regierung es übernommen hatten, täglich einige Stunden mit dazu ausgewählten höheren Beamten das Studium der wichtigſten europäiſchen Sprachen zu treiben. Außer dem Deutſchen hatte Ell den Unterricht im Engliſchen, Saltner im Italieniſchen und Isma im Franzöſiſchen übernommen, den ſie nur während ihrer Erkrankung einige Zeit hatte ausſetzen müſſen. Gegen Abend wurde Isma von Ell mit der Nachricht angeſprochen, daß der Apparat wieder eingeſtellt und das Kriegsſchiff aufgefunden ſei. Man räume eifrig auf demſelben auf, um die erlittenen Beſchädigungen zu beſeitigen, und es ſcheinen daß das Schiff ſeine Fahrt wieder aufnehmen wolle. Als Isma im Saal des Retroſpektivgebäudes erſchien, zeigte indeſſen das Bild nur einen Teil des Meeres und des felſigen Ufers; von einem Schiff war nichts zu ſehen. Sie hörte, daß es ſeinen Kurs nach Süden fortgeſetzt habe, dabei aber dem Geſichtskreis entſchwunden ſei. Infolge einer vorübergehenden Trübung war es noch nicht gelungen, das Schiff wieder aufzufinden. Jetzt war das Bild wieder hell, und in dem Bemühen, das engliſche Schiff zu entdecken, ließ man die Fläche der Bai und die Felſenufer vorüberziehen. Bald blickte man auf treibende Schollen, bald in Buchten und Fjorde hinein. Isma kam es vor, als befände ſie ſich wieder an Bord des Luftſchiffes und durchſpähte die Gegend, der ſie ſo ſchnell entzogen worden war, nach Spuren von Hugo — — Vielleicht war er gar nicht ſo weit von der Stelle entfernt, die ſie jetzt vor Augen hatte, vielleicht verdeckte nur jener Berggipfel das Lager der Eskimos, bei denen ihr Mann weilte! Und da — nein — ja doch — das war doch ein Boot, zwei, drei Boote, was dort in dem Kanal unter dem Ufer ſich bewegte — Isma ergriff krampfhaft Ells Arm. „Sehen Sie doch — ſehen Sie nicht dort —?“ „Wahrhaftig“, rief Ell, „es ſind Boote, Umiaks, ſogenannte Weiberboote der Eskimos. Sie ſcheinen mehrere Familien mit ihren Habſeligkeiten zu tragen. Man wird gewiß das Bild feſthalten —“ In der Tat ſtand die Landſchaft jetzt ſtill, man wollte die Boote betrachten, aber die Verſchiebung war doch ſo weit gegangen, daß ſie ſchon durch das höhere Ufer verdeckt waren. Dicht daneben zeigte das Bild das freie Waſſer der Bai, in welche der ſchmale Kanal mündete. Man erwartete, daß die Boote dort zum Vorſchein kommen müßten. Bis dahin wollten die Beobachter das freiere Fahrwaſſer der Umgegend abſuchen. Das Bild bewegte ſich wieder, man ſah nur Meer — und da — am Rand des Lichtkreiſes bewegte ſich etwas Dunkles — es war das Kriegsſchiff. Bis jetzt hatte man ein größeres Geſichtsfeld angewendet, um einen weiteren Umblick zu haben. Nun kam es darauf an, ſtärkere Vergrößerung zu gewinnen, dabei mußte ſich das Geſichtsfeld einſchränken. Man ſah jetzt, allerdings ſo deutlich, daß man die Stellung der Matroſen erkennen konnte, nur das Schiff und ſeine nächſte Umgebung; mit dem Glas konnte man den Kapitän und den Leutnant Prim erkennen, der ſeine Hände, wie zur Übung, langſam hin und her bewegte. Man bemerkte, daß eine Meldung gemacht wurde und ſich die Geſchwindigkeit des Schiffes, dem der Apparat mit wunderbarer Präziſion und nur geringen Schwankungen folgte, verringerte. Ein Boot wurde herniedergelaſſen. Die Ingenieure des Retroſpektivs waren zweifelhaft, ob ſie dem Boot folgen oder das Schiff im Auge behalten ſollten. Das erſtere wurde beſchloſſen, da das Boot ja jedenfalls zum Schiff zurückkehren mußte. Alsbald war nur noch das raſch rudernde, mit acht Matroſen bemannte Boot auf der Waſſerfläche zu ſehen. Da erſchien ein zweites Boot, ihm entgegenfahrend. Man winkte von dieſem aus. Die Fahrzeuge näherten ſich raſch, das fremde war jetzt deutlich als grönländiſcher Umiak zu erkennen. An der Spitze desſelben richtete ſich ein Mann empor und ſchwenkte ſeine Mütze — ein blonder Vollbart umrahmte das weiße Geſicht — er war kein Eskimo — „Hugo!“ gellte eine Stimme laut durch den Saal. Die Martier blickten erſtaunt auf, ſie wußten nicht, was das bedeute. „Es iſt Torm!“ rief Ell erklärend zu Ill hinüber, indem er die zuſammenſinkende Isma in ſeinem Arm auffing. 35. Die Rente des Mars „Es geht nicht, Saltner, es geht nicht!“ Ell legte den Brief in Saltners Hand zurück. Der kleine, verſchloſſene Umſchlag trug, von Ismas zierlicher Hand geſchrieben, die Adreſſe Torms. „Ich darf es nicht“, ſagte Ell noch einmal, als Saltner nicht antwortete. „Auch nicht, wenn Frau Torm Ihnen verſichert, daß der Brief keine politiſchen, keine auf die Operationen und Abſichten der Martier bezüglichen Mitteilungen enthält?“ „Auch dann nicht. Wir dürfen keinerlei Briefe von Erdbewohnern mit dieſem Schiff nach der Erde befördern, die dem Kommando nicht offen eingereicht werden. Frau Torm verlangt, Sie verlangen von mir, daß ich die Möglichkeit ſchaffe, dieſen Brief heimlich nach der Erde zu bringen. Sie verlangen etwas Unmögliches, den Ungehorſam gegen die Geſetze. Es iſt Kriegszuſtand; Sie verlangen von mir eine Handlung, die als Hochverrat aufgefaßt werden kann. Und dann wollen Sie mir zürnen, wenn ich ein für allemal ablehne? Und Frau Torm iſt darüber ſo entrüſtet, daß ſie mich nicht ſehen, nicht ſprechen will? Daß ſie ſich Ihrer Perſon bedient, um mir ihren Wunſch noch einmal vorzutragen? Sie hat ja doch an ihren Mann offen geſchrieben, ein ganzes Buch. Der Brief liegt bereits hier, mit der Genehmigung des Kommandos verſehen. Es ſteht alles darin, was ſie ihm mitzuteilen hat, daß ſie in der Sorge um ihn mit meiner Hilfe das Luftſchiff benutzt hat, daß ſie verhindert war, zurückzukehren, daß ſie ſich ſehnt, ſobald es ihr geſtattet wird, zurückzukommen — was will ſie mehr? Was hat ſie dem Mann noch zu ſchreiben?“ „Das iſt ihr perſönliches Geheimnis. Wenn Frau Torm es Ihnen nicht mitteilen kann, wie ſoll ich es wiſſen? Übrigens weiß ſie nichts von dieſem Verſuch meinerſeits, auf Sie einzuwirken. Sie hatte mich nur gebeten, La um Hilfe anzugehen.“ „La? Wie käme La dazu?“ „Sie hatte Grunthe einige areographiſche Angaben und Aufklärung über verſchiedene techniſche Fragen verſprochen — ein kleines Paket, das den Brief ſehr gut aufnehmen kann.“ „Und La hat dieſen Betrug natürlich von ſich gewieſen?“ „Ich habe ſie noch gar nicht gefragt. Zunächſt bin ich ja den Tag über von Pontius zu Pilatus gelaufen, um eine amtliche Erlaubnis zu erhalten, dann habe ich La nicht angetroffen, als ich mit ihr ſprechen wollte. Ich mußte nun zunächſt mit Ihnen als Freund und Menſch reden. Ich ſehe jetzt, daß es vergeblich wäre. Sie würden dieſen Brief an Torm von mir nicht befördern? Auch nicht einen an meine Mutter?“ Ell ſchüttelte den Kopf. „Sie haben an beide ſchon geſchrieben.“ „Aber offen. Es gibt Dinge, die man nicht vor andern ſagen will. Wo bleibt die gerühmte Freiheit, die verſprochene Freiheit, wenn man uns jetzt das perſönliche Eigenrecht der Ausſprache abſchneidet?“ „Sie müſſen bedenken, daß dies nur bis zu dem Augenblick geſchieht, in welchem unſer Verhältnis zur Erde ſich geklärt hat. Das iſt eine Ausnahme. Es iſt ein Unglück, denn es iſt allerdings ein Vergehen gegen die ſittliche Grundlage, gegen die perſönliche Freiheit. Aber ſittliche Konflikte ſind ein allgemeines Unglück, ſie laſſen ſich nicht vermeiden. Die höhere Pflicht, die Ordnung zwiſchen den Planeten, erfordert dieſen Verzicht des einzelnen auf ſeine Freiheit. Und im Grunde genommen iſt es doch nur der Ausdruck individueller Gefühle, der eine Beſchränkung erleidet.“ „Sie geſchieht aber bloß aus einem Mißtrauen der Martier gegen die Menſchen.“ Ell ſah Saltner durchdringend an. „Geben Sie mir Ihr Ehrenwort“, fragte er, „daß in Ihren Briefen nichts über unſre Maßnahmen ſteht?“ „Nein“, ſagte Saltner. „Und dann verlangen Sie von mir —“ „Ich verlange, was der Menſch vom Menſchen, der Deutſche vom Deutſchen verlangen kann, daß er ihm hilft, eines übermächtigen Gegners ſich zu erwehren —“ „Ich aber ſtehe auf der Seite dieſes ſogenannten Gegners, der im Grunde der beſte Freund iſt.“ „Dann haben wir uns nichts weiter zu ſagen. Ich wollte mich nur überzeugen, daß ich von Ihrer Seite für uns Menſchen nichts zu erwarten habe.“ „Sie wollen mich nicht verſtehen. Nur in Ihrem einſeitigen Intereſſe kann ich nichts tun, ſonſt aber werden Sie mich ſtets bereitfinden —“ „Leben Sie wohl.“ Saltner hörte nicht mehr auf Ells Worte. Er war ſchon auf den Gleitſtuhl getreten und löſte die Hemmung. Der Stuhl ſauſte die ſchraubenförmige Bahn um den Stamm des Rieſenbaumes hinab nach dem Erdboden. Das Geſpräch hatte auf der Plattform ſtattgefunden, welche einen der Rieſenbäume in der Nähe von Ells Wohnung umgab, dort, wo in einer Höhe von vierzig Meter über dem Boden die erſten Äſte anſetzten. Ein mechaniſcher Aufzug führte in einer Schraubenlinie rings um den Stamm und beförderte ebenſo leicht von unten nach oben als von oben nach unten. Dieſe geſchützten Plattformen boten einen äußerſt angenehmen Arbeitsplatz. Wie vom Chor eines Domes blickte man zwiſchen den Säulen der Baumſtämme hindurch, über die niedrigen Häuſer weit in die Anlagen. Die Luft war hier friſcher und kühler als unten. Ell trat an die Brüſtung vor und blickte hinab. Es begann zu dämmern. An den Straßen entlang leuchteten ſchon die breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes, in den Häuſern glühten die Lampen. In tiefer Finſternis lag das Laubdach. Ell ſeufzte. Alſo auch er hatte ſich von ihm geſchieden, der biedere Saltner! Mochte es ſein! Was galt ihm das alles noch, da er ſie verloren hatte! Finſter zog ſich ſeine Stirn zuſammen. Das war der Dank, ihr Dank für alles — — Ismas Dank! Als ſie auf der Tafel des Retroſpektivs ihren Mann erkannt hatte, wie er aus dem Umiak der Eskimos nach dem Boot des engliſchen Schiffes winkte, da hatten ſie ihre Kräfte auf einen Augenblick verlaſſen. Auf einen Augenblick. Sie hatte ſich ſogleich wieder zuſammengerafft und mit fieberhafter Erregung die Vorgänge verfolgt. Man hatte geſehen, wie beide Boote der ‚Prevention‘ zuſteuerten, wie Torm an Bord des Kriegsſchiffes ſtieg, wie er dem Kapitän Papiere überreichte, die dieſer prüfte; man ſah, wie der Kapitän dann ſalutierte und Torm die Hand ſchüttelte, wie ſich die Offiziere um Torm verſammelten; man ſah, wie die Eskimos beſchenkt wurden und ihr Boot ſich entfernte; wie die ‚Prevention‘ ihre Fahrt nach Süden wieder aufnahm. Eine Stunde lang konnte man ſie verfolgen. Maſchine und Steuer waren offenbar nicht verletzt oder wieder repariert; das Schiff dampfte ſchnell und leicht vorwärts. Immer undeutlicher wurden die Umriſſe desſelben. Die Dämmerung brach herein. Bald konnte man nichts mehr unterſcheiden als die Lichter. Man ſtellte den Verſuch ein. Es war ſicher, daß das Schiff und Torm mit ihm in wenigen Wochen wohlbehalten London erreichen würden. — — Torm war gerettet. Er hatte ohne Zweifel jetzt ſchon die Nachricht von Ismas Verſchwinden. Man würde in Friedau dafür geſorgt haben, daß ihm dasſelbe unter dem Geſichtspunkt der Friedauer erſchien. Und ſie, die nicht ohne ihn in Friedau bleiben wollte, nun mußte ſie ihn allein laſſen — Isma verbrachte eine ſchlafloſe Nacht. Dann ſetzte ſie noch einmal alles in Bewegung, um ihre Mitnahme auf dem Raumſchiff nach der Erde zu erreichen. Es war unmöglich. Wenigſtens einen Brief ſollte man mitnehmen. Ja, aber nur einen offenen. Sie ſchrieb, doch das konnte ihr nicht genügen. Was ſie ihm zu ſagen hatte, das ging niemand andern an; das konnte ſie nicht leſen laſſen. Sie wußte, wie ſie ſchreiben müſſe und daß er ſie nur ſo verſtehen würde. Und dies wurde verſagt. Und hier ließ ſie Ell im Stich! Sie bat ihn flehentlich, ihren Brief zu beſorgen. Es ginge nicht! Sie bat ihn, ſelbſt die Reiſe zu machen, ihren Mann aufzuklären. Er weigerte ſich, er wolle jetzt nicht auf die Erde zurückkehren. Die Martier ſelbſt hätten es vielleicht gern geſehen, aber er könne ſich nicht entſchließen, jetzt den Mars zu verlaſſen. Warum nicht? Warum wollte er nicht? Um ſie, Isma, nicht allein zu laſſen? Sie glaubte es nicht, ſie vermutete einen anderen Grund, den ſie ihm nicht verzeihen konnte. Sie ſagte ihm Bitteres. Sie wollte ihn nicht wiederſehen. Und er ging. Natürlich! La würde ihn wohl tröſten — — Ell verſetzte ſich in Ismas Seele, er ſah deutlich, was in ihr vorging — alles dachte er wieder durch, während er in die Nacht hinausſtarrte — das Gefühl der Bitterkeit verließ ihn, er konnte ihr nicht zürnen. Nur traurig wurde er, tieftraurig. Aber er mußte es tragen. Er konnte nicht anders handeln, es war unmöglich. Stand ſie auf der Erde, ſo ſtand er auf dem Mars. Die Kluft überbrückte kein Raumſchiff. Und ſelbſt wenn die Planeten ſich verſöhnten — würde er ſie dann wiederfinden? Er preßte die Hände gegen die Stirn und ſeufzte tief. Und ſeltſam, mitten in den Kummer um Isma drängte ſich das Bild Las vor Ells Augen. Dieſer Verkehr war ſo beglückend, ſo frei von dem dunkeln Hintergrund irdiſcher Feſſeln! Das war Numenart, zu geben und zu nehmen! Die reizenden Stunden kamen ihm in den Sinn, in denen er ſich ſagen durfte, daß ſie ihn bevorzugte, und es ſchien ihm, daß deren immer mehr geworden ſeien. Und doch! Er mußte ſich geſtehen, wäre La ihm ſo geneigt, wie er hoffte, ſie hätte ſich ihm noch anders zeigen müſſen. Sie hatte ſich in der letzten Zeit ſichtlich von Saltner zurückgezogen, aber gerade darin ſchien ihm eine gewiſſe Abſichtlichkeit zu liegen. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß La unter der gleichmäßigen Liebenswürdigkeit ihres Weſens eine heimliche Sorge barg, und er ſann nach, was ſie wohl bedrücken könne. Geſtern, als er bei ihr war, hatte er ſie überraſcht, wie ſie in Gedanken verſunken ſaß, und er glaubte die heimlichen Spuren von Tränen in ihrem Auge geſehen zu haben. Aber auf ſeine warmen Worte erwiderte ſie mit Scherzen, es war, als wollte ſie nicht verſtehen, was ſie doch längſt wußte, wie er für ſie fühle. Zum erſtenmal war er fortgegangen, ohne ſie recht verſtanden zu haben. Und jetzt war Saltner auf dem Weg zu ihr. Es war ja nicht daran zu denken, daß ſie auf ſeine Bitte eingehen würde — Überhaupt — Ell fiel es plötzlich ein — vielleicht war ſie gar nicht in Kla. La hatte mehrfach davon geſprochen, daß ſie möglicherweiſe verreiſen würde, und Saltner hatte ſie heute vergebens zu ſprechen verſucht. — Er wollte ſich doch überzeugen, ob La zu Hauſe ſei. Auch die Plattform war mit dem Haus telephoniſch verbunden. Er ſprach La an. Sie war zu Hauſe, aber in großer Eile, wie ſie ſagte. Ell teilte ihr mit, daß Saltner bei ihr vorſprechen werde mit einem Anſinnen, das unmöglich zu erfüllen ſei — darauf keine Antwort, trotz ſeiner wiederholten Frage. Endlich die Worte, wie mit gezwungener Stimme: „Befürchten Sie nichts. Leben Sie wohl.“ — Nichts, nichts weiter! Ell wußte nicht, was er davon denken ſollte. Er trat zurück an den Tiſch, auf dem ſeine Papiere lagen, und ließ die Lampe aufflammen. Er wollte verſuchen, in der Arbeit zu vergeſſen, und verſenkte ſich in das Studium des Etats der Marsſtaaten. Die 154 Staaten, welche den Planetenbund des Mars bildeten, waren an Einwohnerzahl ſehr ſtark verſchieden; es gab darunter Reiche, die bis gegen hundert Millionen Einwohner zählten, und kleine Staaten, die nicht einmal die Zahl von einer Million erreichten; der kleinſte von ihnen umfaßte nur zwanzig Bezirke mit zuſammen 800.000 Einwohnern. Ebenſo mannigfaltig wie die Größen waren die Verfaſſungen der Einzelſtaaten. Die republikaniſchen Staatsformen herrſchten vor, aber auch unter ihnen gab es eine bunte Muſterkarte von kommuniſtiſchen, ſozialiſtiſchen, demokratiſchen und ariſtokratiſchen Verfaſſungen. Die Monarchien waren beſonders unter den kleineren Staaten vertreten. Ganz wie es die hiſtoriſche Entwicklung der lokalen Verhältniſſe mit ſich gebracht hatte, waren auch in dieſen die Verfaſſungen ſehr mannigfaltig; im ganzen unterſchieden ſie ſich von den republikaniſchen nur dadurch, daß das Staatsoberhaupt nicht durch Wahl, ſondern durch Erbfolge beſtimmt war und ſich eines größeren Einkommens und einer glänzenderen Hofhaltung als die Präſidenten erfreute. Einen höheren politiſchen Einfluß beſaßen die Fürſten des Mars nicht, ſie hatten vornehmlich eine äſthetiſche Bedeutung. Die reiche Entwicklung, welche die Verfeinerung des Lebens durch die Hofhaltung eines intelligenten Fürſten erfahren konnte, und der Einfluß, den eine hochſinnige Perſönlichkeit hier zu entfalten vermochte, ſollte auch auf dem Mars nicht verlorengehen. Die individualiſtiſchen Neigungen der Martier konnten daher nach jeder Richtung hin Befriedigung finden, und dem Ehrgeiz wie dem Unabhängigkeitsgefühl eines jeden war freier Spielraum gelaſſen. Zwiſchen allen Staaten herrſchte, durch das Bundesgeſetz garantiert, vollſtändige Freizügigkeit und Erwerbsfreiheit. Wem es in dem einen Staat nicht gefiel, transportierte ſein Haus in einen andern, und es genügte, daß er dies bei der betreffenden Behörde anmeldete. Dadurch war eine natürliche Regulierung dafür gegeben, daß kein Staat ſeine Machtbefugnis mißbrauchte, denn er riskierte ſonſt, ſehr bald ſeine Einwohner zu verlieren. Die natürliche Verſchiedenheit der Individuen, ihre Gewohnheiten und ihre Anhänglichkeit für das Hergebrachte ſorgten andererſeits dafür, daß den einzelnen Staaten ihre Eigentümlichkeiten erhalten blieben und der Fluß der Bevölkerung nicht in Unbeſtändigkeit auſartete. Jede Gegend hatte ihre Vorzüge. Waren auch die wirtſchaftlichen Lebensbedingungen in den breiten, die Wüſten durchziehenden, durch künſtliche Bewäſſerung erhaltenen Kulturſtreifen etwas erſchwert, ſo boten dieſelben doch andere Vorteile. Die Gelegenheit zum gewerblichen Gewinn war hier wegen der Nähe der großen Energieſtrahlungsgebiete günſtiger, und ein reicherer Arbeitsertrag entſchädigte für die Störungen des äußeren Komforts, die dadurch entſtanden, daß bei eintretendem Waſſermangel die ſchützenden Bäume binnen wenigen Tagen ihr Laub verloren und die Vegetation unter ihnen vertrocknete. Dafür waren aber auch die hier gelegenen Staaten imſtande, größere Zuſchüſſe den Privaten zu gewähren. Gemeinſchaftlich für den geſamten Staatenbund und unmittelbar dem Zentralrat unterſtellt, der ſeinerſeits dem Bundesparlament verantwortlich blieb, war die techniſche Verwaltung. Sie ſchied ſich in die beiden großen Gebiete des Verkehrsweſens und des Bewäſſerungsweſens, wozu als drittes jetzt noch die Raumſchiffahrt gekommen war. Dieſe ungeheure Organiſation hielt die Bundesſtaaten als ein untrennbares Ganze zuſammen und machte es ebenſo unmöglich, daß ſich einzelne, ſelbſt mächtige Staaten, vom Zuſammenhang des Planeten ablöſen konnten, als ſich ein Organ des menſchlichen Körpers der Blutzirkulation zu entziehen vermag. Unterhalten wurde der Rieſenbetrieb durch ein ſtehendes Arbeitsheer von ſechzig Millionen Perſonen — ‚Mann‘ kann man nicht gut ſagen, denn die allgemeine einjährige Dienſtpflicht galt für beide Geſchlechter. Für beſondere Fälle ſtand eine dreifache Reſerve zur Verfügung. Finanziert wurde der Betrieb durch die Sonne ſelbſt. Der Geſamtetat der Marsſtaaten betrug — nach deutſchem Geld gerechnet für das Erdenjahr, alſo für ein halbes Marsjahr — 300 Billionen, das ſind 300.000 Milliarden Mark, alſo 100.000 Mark auf den Kopf der Bevölkerung. Dabei hatte aber niemand eine Steuer, außer der perſönlichen Dienſtleiſtung während eines Lebensjahres, beizutragen. Das Privateinkommen der Martier belief ſich außerdem im Durchſchnitt pro Kopf der Bevölkerung auf 100.000 Mark, ſchwankte jedoch für den einzelnen zwiſchen dem Maximum des zuläſſigen Einkommens von zwanzig Millionen und der Null. Die Beſteuerung des Einkommens der Privaten diente nur dazu, um jedem, der nichts verdiente, wenigſtens ein Minimum von Kapital pro Jahr zu ſichern, wodurch er ſich wieder heraufarbeiten konnte. Ein Notleiden aus Mangel an Nahrung, Wohnung und Kleidung konnte nicht eintreten, da hierfür durch öffentliche Verpflegungsanſtalten geſorgt war. Aber es war natürlich jedem daran gelegen, dieſer Armenpflege nicht anheimzufallen. Der Geſamtbetrag, der vom Staat und von den Privaten auf dem ganzen Planeten in einem halben Marsjahr eingenommen wurde, belief ſich alſo auf 600 Billionen Mark. Dies war jedoch nur die Hälfte deſſen, was bei völliger Ausnutzung aller Kräfte hätte erzielt werden können. Dieſe Summen erſchienen Ell ſo ungeheuerlich, daß er ſich damit beſchäftigte, ſie nachzuprüfen und ſich zu vergewiſſern, wie es möglich ſei, eine ſo koloſſale Rente zu erzielen. Ell hatte bei ſeinem erſten Verſuch, den Geldwert auf dem Mars mit dem auf der Erde zu vergleichen, ſeiner Umrechnung den Wärmewert der Kohle zugrunde gelegt; er führte nun die Rechnung noch einmal ſo durch, daß er als Vergleichseinheit die Pferdeſtärken nahm, welche durch die Sonnenſtrahlung pro Stunde als Arbeitseffekt erzielt werden konnten. Wenn er den gegenwärtigen Stand der Technik auf der Erde in Betracht zog, ſo glaubte er annehmen zu dürfen, daß ſelbſt unter den günſtigſten Verhältniſſen, bei Berückſichtigung der Anlagekoſten, die Pferdekraft in der Stunde nicht unter 0,8 Pfennig oder 1 Centime geliefert werden könne. Um nun den geringſten Wert der Sonnenrente für den Mars zu ermitteln, nahm er an, daß auch auf dem Mars nur die direkte Wärmeſtrahlung ſeitens der Sonne — nicht die anderen Wellengattungen — zur Arbeit verwertet werden. Er fand dann, daß im Lauf eines Erdenjahres die Sonnenſtrahlung dem Mars ſoviel Wärme zuführt, daß, wenn ſie vollſtändig in Arbeit übergeführt wurde, ihr Wert pro Quadratmeter der Oberfläche durchſchnittlich 30 Mark betragen würde. Die zur Beſtrahlung ausgenutzte Oberfläche des Mars beträgt aber rund hundert Billionen Quadratmeter, ſomit erhält der Mars eine Rente von 3.000 Billionen Mark. Von dieſem Strahlungsbetrag können jedoch nur etwa 40 Prozent wirklich in Arbeit verwandelt und ausgenutzt werden — bei dem Stand der Technik auf dem Mars —, ſo daß der Geſamtgewinn des Mars an Arbeit (im Laufe eines Erdenjahrs) 1.200 Billionen Mark beträgt. Tatſächlich benutzte man hiervon nur die Hälfte. Denn die Geſamteinnahme der Marsſtaaten betrug 300 Billionen, die der Privaten ebenſoviel. Es war alſo kein Zweifel, daß die Marsſtaaten über dieſe ungeheuren Mittel verfügten. Und dabei empfängt der Mars nur etwa ein Neuntel ſo viel Wärme von der Sonne wie die Erde. Wie weit alſo war die Erde zurück in der Ausnutzung der Mittel, die ihr von der Natur verliehen waren! Wieviel konnte ſie noch gewinnen, wenn ihr die Erfahrung der Martier zugute kam! Aufs neue fühlte ſich Ell in der Anſicht beſtärkt, daß gegenüber dem immenſen Fortſchritt, der hier für die Menſchheit in Frage ſtand, die Rückſicht auf die Neigung der gegenwärtigen Menſchheit, dieſes Geſchenk anzunehmen, zu ſchweigen hatte. Noch viel weniger aber durfte er ſich ſeinen Handlungen durch perſönliche Neigungen irre machen laſſen. Mochte man ihn als Überläufer, als Verräter an der Sache der Erde betrachten, mochte man Schmach und Verachtung auf ihn häufen — gleichviel! Er wußte, daß er zum beſten der Kultur überhaupt und ſo auch der Menſchheit handle, wenn er voll auf der Seite des Mars ſtand. Mochte er ſelbſt ſeine perſönlichen Freunde verlieren, er mußte es tragen. Einſt würden ſie gerechter über ihn urteilen. Und Isma! Er ſah den traurigen Blick der blauen Augen, er ſah das ſchmerzliche Zucken ihrer Lippen und das verächtliche Zurückwerfen des Kopfes —. Und noch einmal ſprang er empor und ſtarrte trüben Blickes in die dunkle Nacht. Dort drüben, wo der hellgrüne Schimmer des Straßenſtreifens ſich hinzog, da wohnte ſie. O könnte er hingehen und ſie rufen, wie damals, als das Luftſchiff auf ſie wartete, könnte er ſie wieder zur Erde zurückführen und dafür ihren dankbaren Blick erhalten! Doch es ging nicht. Sie durfte nicht fort, ſie konnte nicht, ſelbſt wenn er verſucht hätte, ſie fortzubringen. Aber er ſelbſt! Ihm ſtand es frei, er beſaß die Erlaubnis, mit nach der Erde zu gehen, er hatte die Vollmacht hier vor ſich, die er eben mit den übrigen Briefſchaften an Ill zurückſchicken wollte. In wenigen Tagen ging das Raumſchiff. Ill fuhr zu dieſem Zweck ſelbſt an die Polſtation, um der Abreiſe beizuwohnen. Er konnte mitreiſen. Er konnte ihr den Wunſch erfüllen, mit Torm ſelbſt zu ſprechen. — Nein doch, nein! Es war unmöglich. Würde ihm Torm glauben können, wenn er ohne Isma kam? Und in dieſe Verhältniſſe! Unter dieſen Umſtänden! Sich gewiſſermaßen entſchuldigen? Von allen Seiten beargwöhnt und angefeindet, würde er überhaupt jetzt etwas zur Verſöhnung beitragen können? Nein, wenn er überhaupt zur Erde zurückging, da konnte es nur ſein, wenn die Menſchen begriffen hatten, was die Nume ihnen bringen und wie ſie dieſelben aufzunehmen haben. Er wollte auf dem Mars bleiben, bis er zurückkehren konnte als ein Herr und Beglücker der Menſchen. Ell ſchloß die Papiere für Ill in die Mappe und fügte ſeinen Paß für das Raumſchiff hinzu. Er brauchte ihn nicht. 36. Saltners Reiſe Saltner lenkte ſeinen Radſchlitten, deſſen er ſich ſehr bald zu bedienen gelernt hatte, Frus Haus zu. Wie oft hatte er in dieſen zwei Monaten, die er ſchon auf dem Mars weilte, den Weg zurückgelegt und die kürzeſte Verbindung ausprobiert! Heute hatte er weite Umwege gemacht und im nächtlichen Park ſeinen Gedanken nachgehangen. Sonſt konnte es ihm immer nicht ſchnell genug gehen, wenn er über die ſchmalen Parkwege hinglitt, die nach Las Wohnung führten. Wenn ihm das Verhältnis des Mars zur Erde Sorge machte, bei La fand er Troſt und Ermunterung, von ihr wußte er ja, daß ſie ihn nicht für gering hielt, weil er nur ein Menſch war — —. Sie liebte ihn, die Nume, die herrliche. Sollte er nicht glücklich ſein? Und doch — das Wort: „Vergiß nicht, daß ich eine Nume bin“, das ſie zu ihm geſprochen, als ſie zuſammen auf die Erde hinabblickten, es ging ihm nicht aus dem Sinn, was er damals kaum beachtet, nicht verſtanden hatte. Das Wort hatte er nicht vergeſſen, aber vielleicht die Warnung, die es enthielt. Sollte er jetzt daran erinnert werden? Durfte er es wagen, die Bitte auszuſprechen, die ſie ihm verſagen mußte? Warum war er ſeit zwei Tagen nicht mehr bei La geweſen? Er hatte viel zu tun gehabt, gewiß; die Erdkommiſſion hatte von ihm verſchiedene Gutachten verlangt, auch Frau Torm hatte lange Unterredungen mit ihm, die Briefe nach der Erde nahmen ſeine Zeit in Anſpruch. Zweimal hatte er auch La durch das Telephon angeſprochen, doch beide Male war ſie nicht zu Hauſe geweſen. Er wußte nicht einmal, womit ſie ſo eifrig beſchäftigt war. Seit acht Tagen war ſie mit ihrer Mutter allein. Fru hatte ſich bereits nach dem Pol begeben, um die Ausrüſtung der Raumſchiffe zu leiten. Es hatten lange Erwägungen in der Erdkommiſſion ſtattgefunden, welche Kapitäne und Ingenieure bei der wichtigen und verantwortlichen Expedition nach dem Südpol der Erde zu verwenden ſeien. Schließlich wollte man, obgleich an tüchtigen Leuten kein Mangel war, doch des Rates Frus, als eines der bewährteſten Erdkenner, nicht entbehren, und er hatte ſich entſchloſſen, die techniſche Leitung der Expedition zu übernehmen. Es war auch davon die Rede geweſen, daß La ihn begleiten ſolle. Die Ausſicht, La ſo bald wieder zu verlieren, hatte Saltner ſchmerzlich erregt, und er hatte nun befreit aufgeatmet, als er hörte, daß La ihren Wunſch, auf dem Mars zu bleiben, durchgeſetzt habe. Er ſchmeichelte ſich, daß ihre Liebe zu ihm der Hauptbeweggrund geweſen ſei, der ſie hier zurückhielt — er hatte ſich deſſen geſchmeichelt. Aber warum war er in den letzten Tagen ſo zweifelhaft geworden? Warum hatte er nicht die Zeit gefunden, ſie aufzuſuchen? Er konnte es ſich nicht verhehlen, er war eiferſüchtig. Faſt jedesmal in der letzten Zeit hatte er Ell bei La getroffen, oder ſie war während ſeiner Anweſenheit von Ell aus der Ferne angeſprochen worden. Und wie begegnete ſie Ell! Jedes Wort, jeder Blick zwiſchen ihnen war ſofort verſtanden, ihren Geſprächen vermochte er nicht zu folgen, es waren zwei Nume, die ſich unterhielten, die ſich gefielen, die —. Es konnte ja gar kein Zweifel ſein, wer mußte nicht La lieben, der ſie näher kennenlernte? Und er, wie konnte er ſich mit dem Martierſohn vergleichen, der La ebenbürtig war und doch den eigentümlichen Reiz des Menſchentums beſaß! Er hätte dieſen Ell haſſen mögen, er nannte ihn einen Verräter an der Menſchheit und einen Räuber ſeines Glücks. Und doch, konnte man den einen Verräter nennen, der nur zu ſeinem eigentlichen Vaterland zurückkehrte, das ihm durch ein unverſchuldetes Geſchick geraubt war? Und welches Recht hatte er ſelbſt an La? Was entbehrte er überhaupt? Sie entzog ſich ihm nicht um Ells willen, ſie war ebenſo lieb und gut wie früher, ja vielleicht ſorgſamer und zärtlicher wie je, ſie zeigte ihm in jedem Augenblick, wie wert er ihr war. Aber ſie zeigte es auch Ell. Das ſtörte ihn, das empörte ihn, ſie aber fand es offenbar ganz in Ordnung. Sie war eine Martierin. Sie hatte ihn ja gewarnt; wenn er ſie liebte, mußte er mit der Sitte der Martier rechnen. Er aber war ein Menſch — — Saltner näherte ſich der breiteren Straße, wo La wohnte. In ſeine Gedanken verſunken hatte er nicht bemerkt, daß ein Transport der Umzugsgeſellſchaft ihm entgegenkam. Er hatte nur gerade noch Zeit, zur Seite auszuweichen und den Zug an ſich vorüberzulaſſen. Ein Haus, auf breiten Gleitkufen ſtehend, wurde von einer Reaktionsmaſchine vorwärtsgeſchoben. Die Fenſter waren geſchloſſen, es war alles dunkel im Hauſe. Die Bewohner ſchliefen offenbar. Wenn ſie am Morgen aufwachten, ſtand ihr Haus viele Hunderte von Kilometern entfernt. Nun war die Bahn wieder frei. Die Straße lag, von den breiten Streifen des Fluoreszenzlichtes an beiden Seiten erleuchtet, hell vor ihm. Noch eine Minute, und ſein Schlitten war vor ihrem Haus. Ob er ſie heute noch würde ſprechen können? Es war ſchon ziemlich ſpät geworden. Ob er nicht ſeinen Beſuch auf morgen aufſchieben ſollte? Er hatte eine dringende Bitte an ſie, aber wie, wenn ſie ſich dadurch beleidigt fühlte? Er mochte gar nicht daran denken, daß auch La ihn abweiſen könnte. Da war das Nachbarhaus, an ſeinen tulpenartig aufragenden Erkern kenntlich, und hier —. Er hielt den Schlitten an. Frus Haus war verſchwunden, die Stelle war leer. Saltner traute ſeinen Augen kaum. La war wirklich fortgezogen, ohne ihn zu benachrichtigen? Auf dem Raſenplatz, wo das Haus geſtanden hatte, zeigte ſich eine Tafel. Sie enthielt nur die Worte: „Verzogen 29,36 nach Mari, Sei 614.“ Saltner ſtand ratlos. 29,36 — das war die Zeit der Abreiſe. Er verglich den Kalender, den er ſich zur Umrechnung der martiſchen Zeit angelegt hatte, da ihm das duodezimale Zahlenſyſtem und die Angabe der Stunden und Minuten in Bruchteilen immer noch Schwierigkeiten machte. Seine Uhr zeigte 29,37 — das war ein Unterſchied von zehn Minuten —, vor zehn Minuten erſt hatte der Transport des Hauſes begonnen. So war es gewiß Las Wohnung geweſen, die er an ſich hatte vorüberſchieben ſehen. Sie konnte noch nicht weit fort ſein. Wenn er ſeinen leichten Schlitten in volle Eile verſetzte, konnte er den Transport vielleicht noch einholen, ehe er die Gleitbahn erreichte, die ihn dann mit größter Geſchwindigkeit davontrug. Schon wandte Saltner ſein Fahrzeug — doch — was hätte dies genutzt? Er konnte doch La nicht in der Nacht aus dem Schlaf ſtören. Nachreiſen konnte er auch morgen noch. Er notierte ſich die Adreſſe. Mari — er wußte freilich nicht, wo dieſer Staat oder Bezirk lag, ob die Entfernung groß ſei — doch das läßt ſich ermitteln. Alſo nach ſeiner Wohnung! Er war ſeit Mittag nicht zu Hauſe geweſen. Gewiß, zu Hauſe würde er auch Aufklärung finden, warum La ſo plötzlich verzogen war. Saltners Wohnung war ganz in der Nähe. Als er die Tür öffnete, flammten die Lampen im Haus auf, und das erſte, was er beim Eintritt ins Zimmer erblickte, war ein Zettel mit den deutſchen Worten: ‚Ich ſprach ins Grammophon. La.‘ Saltner eilte an das Inſtrument und löſte den Verſchluß. Das leichte Klopfen ertönte, womit der Beginn der Rede angezeigt wird. Dann vernahm er Las melodiſche, tiefe Stimme, er glaubte ſie vor ſich zu ſehen, wie ſie mit zärtlichem Vorwurf ſagte: „Wo ſteckteſt du denn, mein geliebter Sal, dreimal habe ich dich angerufen, bei Frau Torm habe ich dich geſucht — du warſt aber fortgegangen und ſie gleichfalls, da bin ich in deine Wohnung geeilt, wo du auch nicht biſt, und jetzt habe ich nur noch Zeit, dir ſchnell ein paar Worte ins Grammophon zu ſagen, damit du nicht denkſt, deine La wäre dir ohne Abſchied davongegangen. Denn höre nur! Wir ziehen in einer halben Stunde nach Mari, Sei 614. Mari liegt ziemlich weit von hier nach Südweſten, am öſtlichen Rand der Wüſte Gol. Gern tu ich’s nicht, wie gern wäre ich bei dir geblieben in unſerm ſchönen Kla! In Mari iſt es kühler, und das lockt meine Mutter. Aber der Hauptgrund iſt ein anderer. Ihr böſen Menſchen ſeid an allem ſchuld! Auf Gol werden die Verſuche zum Schutz der Luftſchiffe gegen die Geſchütze der Menſchen abgehalten, und dort kommt der Vater noch einmal hin, ſo daß wir vor ſeiner Erdreiſe noch Abſchied nehmen können. Bis hierhin würde es zu weit ſein für ihn. Dort werden wir auch Se noch einmal ſehen. Leb alſo wohl, mein lieber Freund! Wir können alle Tage miteinander ſprechen. Morgen zwiſchen drei und vier werde ich dich anſprechen, ſei alſo zu Hauſe. Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine Reiſe dahin nicht gern ſehen. Aber wenn erſt die Raumſchiffe fort ſind und mehr Ruhe bei uns herrſcht, dann wirſt du uns hoffentlich beſuchen. Alſo auf Wiederhören morgen! Deine La.“ Saltner hatte mit angehaltenem Atem gelauſcht. Nun ſtellte er den Apparat zurück und ließ ſich die Abſchiedsworte Las noch einmal ſagen. Dann dachte er lange darüber nach. Allerlei Fragen drängten ſich ihm auf. An die Wüſte Gol erinnerte ſich Saltner; La hatte ſie ihm gezeigt, als das Raumſchiff, das ihn nach dem Mars brachte, ſich der Außenſtation näherte. Sie war der große helle Fleck, nicht ſehr weit vom Südpol, den die Aſtronomen der Erde die Inſel Thyle I nannten. Sein Weg vom Pol nach Kla führte nicht weit davon vorüber, weil der direkte Weg damals im erſten Sommer noch durch Schnee unbequem gemacht war. Er erinnerte ſich, daß er auf ſeiner Fahrt aus dem Fenſter des Eilzugs zu ſeinem Erſtaunen im erſten Morgengrauen wolkenähnliche Gebilde geſehen hatte, fern im Weſten am Horizont, und daß man ihm geſagt hatte, daß dies die Morgennebel auf dem Hochplateau der Wüſte Gol ſeien. Auch daß die Verſuche mit den weittragenden Geſchützen der Erdbewohner dort vorgenommen wurden, hatte er gehört. Die Martier hatten für derartige Schießplätze nur auf ihren Wüſten Raum, und Gol lag dem Südpol am nächſten. Aber warum mußte La ihre Abreiſe ſo beſchleunigen? Sie ſagte, um ihren Vater noch einmal zu ſehen. Alſo mußte Fru ſehr bald, wohl morgen ſchon, dort erwartet werden, und daraus war zu ſchließen, daß auch das Raumſchiff bald abgehen werde. Er hatte ſomit keine Zeit zu verlieren, wenn er La noch perſönlich vor Abgang des Schiffes ſprechen wollte. Warum aber, wenn es ſich bloß um ein Zuſammentreffen mit dem Vater handelte, war ſie mit dem ganzen Haus übergeſiedelt? Es war doch noch ziemlich früh, um eine ſo ſüdlich gelegene Sommerfriſche aufzuſuchen. Und warum ſollte er ihr nicht nachkommen? Und was bedeutete dieſe hingeworfene Bemerkung über Se? Doch über dieſe Fragen nachzudenken, war noch Zeit auf der Reiſe; denn La nachzueilen, um ſie zu ſprechen, dazu war Saltner ſofort entſchloſſen. Was er mit ihr zu beraten, von ihr zu erbitten hatte, das konnte er nicht telephoniſch erledigen, dazu mußte er ihr Aug’ in Auge ſehen; fürchtete er doch mit gutem Grund, daß auch ſie ſich weigern würde. Aber dieſem Schritt, der ihm ſchwer genug wurde, konnte und durfte er ſich nicht entziehen, und er mußte ſofort geſchehen, ſolange noch das Raumſchiff den Mars nicht verlaſſen hatte. Er hatte Isma das Verſprechen gegeben, La um Hilfe anzugehen, das mußte er halten. Wichtigeres jedoch lag ihm ſelbſt am Herzen. Er hielt es für ſeine Pflicht, die Staaten der Erde von den Maßnahmen der Martier zu unterrichten. Er erinnerte ſich jenes Wortes von Grunthe, daß ſie Kundſchafter ſeien, an deren getreuen Dienſten vielleicht das Wohl und Wehe der ziviliſierten Erde hinge. Nicht von den Erklärungen allein, welche die Regierung der Martier abzugeben belieben würde, ſollten die Menſchen erfahren, ſondern auch von den Anſichten, die hier auf dem Mars in der großen Antibatenpartei herrſchten, und von dem Urteil, das er, als Menſch, über das Vorgehen der Martier ſich gebildet hatte. Er mußte verſuchen, ſeine von den Martiern nicht kontrollierten Briefe nach der Erde zu befördern, ſelbſt in der ſchmerzlichen Ausſicht, ſich La zu entfremden. Sie hatte geſagt: „Ich erwarte dich vorläufig nicht in Sei, man würde deine Reiſe hierher nicht gern ſehen.“ Er ließ ſich die Worte noch einmal wiederholen. Das war alſo eine Meinungsäußerung Las, ein Rat vielleicht, kein direktes Verbot. Warum hatte ſie ſich ſo unbeſtimmt ausgedrückt, nicht mit der gewohnten Klarheit? Folgte ſie vielleicht einem fremden Wunſch, der mit dem eigenen nicht übereinſtimmte, oder war ſie mit ſich ſelbſt im Zwieſpalt? „Man würde deine Reiſe nicht gern ſehen.“ Wer iſt das ‚man‘? Sie hat alſo nicht geſagt, daß ſie ſelbſt ſie nicht gern ſehen würde. Das ‚man‘ aber, die andern, alſo wohl die Regierung, die Martier, Ill, Ell und wer ſonſt, was ging ihn das an? Sie ſollten nicht eher davon erfahren, als bis er dort wäre; hatte er erſt mit La geſprochen, ſo war ihm alles übrige gleichgültig. Alſo vor allen Dingen ſofort nach Mari! Saltner war müde, er hätte ſich gern niedergelegt. Aber zum Schlafen hatte er unterwegs Zeit. Er wußte, daß die Perſonenbeförderung auf große Entfernungen mit den ſchnellen Radbahnen alle Stunden ſtattfand, er konnte alſo jede Stunde abreiſen. Seine Vorbereitungen waren ſchnell erledigt, eine kleine Handtaſche, der Reiſepelz, den er noch von der Erde mitgebracht, und ſein ‚Energieſchwamm‘, das iſt ſein Kapital, aus welchem er die im Geldverkehr übliche Münze abzapfen mußte. Es war dies eine Büchſe mit einem äußerſt feinen und dichten Metallpulver, das in ſeinen Poren den höchſt kondenſierten Äther enthielt und dadurch eine beſtimmte Arbeitsmenge repräſentierte. Ein Gramm dieſes Pulvers hatte einen Wert von etwa fünftauſend Mark, denn eine gleichwertige Arbeitskraft konnte man in dem geeigneten Apparat daraus entwickeln. Dieſe Währungseinheit hieß ein ‚Eck‘ und war zugleich das Zehntauſendfache der Strahlungseinheit. Man pflegte ſich ein bis zwei Zentigramm, fünfzig bis hundert Mark, in die im Kleinverkehr gebräuchliche Münze einzuwechſeln, was in jedem offenen Geſchäft geſchehen konnte. Die Perſonenbeförderung auf den Radbahnen, die aber nur auf Strecken über dreihundert Kilometer ſtattfand, war ſehr bequem, und Saltner wußte damit Beſcheid. Um Fahrpläne, Anſchlüſſe und dergleichen brauchte man ſich nicht zu kümmern. Die Beförderung war ungefähr in derſelben Weiſe geordnet wie diejenige der Briefe auf der Erde. Die Überführung der Paſſagiere an den Kreuzungsſtrecken fand ohne Zutun derſelben auf dem kürzeſten Weg durch die Bahnverwaltung ſtatt. Saltner begab ſich nach der nächſten Station, die er mit Hilfe der Stufenbahn in einer Viertelſtunde erreichte. Hier ſtanden, in langen Reihen aufgeſtellt, die Reiſecoupés; Schalter, Billets, Schaffner, alles dies gab es nicht. Ein einziger Beamter achtete darauf, daß, ſobald eine Anzahl Coupés beſetzt war, ſofort neue herbeigeſchoben wurden. Jede Perſon nahm ein ſolches Coupé für ſich in Anſpruch. Sie waren etwa einundeinviertel Meter breit, zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch. Sie bildeten alſo eine Kammer von ausreichender Größe für eine Perſon und waren mit allen Reiſebequemlichkeiten verſehen. Ein Handgriff genügte, um den vorhandenen Seſſel und Tiſch in ein bequemes Bett zu verwandeln. Auch ein Automat, der gegen Einwurf der betreffenden Münzen Speiſe und Trank lieferte, fehlte nicht. Der Eingang zum Coupé war von der ſchmalen Seite aus. Sie ſtanden auf Gleitkufen und wurden vor Abgang der Züge geräuſchlos auf die Wagen der Radbahn geſchoben. Saltner trat vor ein unbeſetztes Coupé, zog einen Thekel, eine Goldmünze im Wert von etwa zehn Mark, aus der Taſche und ſteckte ſie in die hierzu angebrachte Öffnung an der Tür. Die bisher verſchloſſene Tür ſprang auf, und Saltner trat ein. Die Zeit des Eintritts markierte ſich ſelbſttätig an der Tür, und Saltner hatte nunmehr das Recht erhalten, ſich einen vollen Tag lang in dem Coupé aufzuhalten und hinfahren zu laſſen, wohin er Luſt hatte. Aus einem im Wagen befindlichen Käſtchen nahm er ein kleines Kärtchen, um die Adreſſe ſeines Coupés, ſein Reiſeziel, daraufzuſchreiben. Jetzt ſtutzte er einen Augenblick. Genügte auch die Angabe ‚Mari Sei‘? Wenn es vielleicht noch ein anderes Mari gab, und er, ſtatt in der Nähe des Südpols, ſich am Äquator oder am Nordpol wiederfand? Aber das Coupé war ſelbſtverſtändlich mit der erforderlichen Bibliothek verſehen. Es fand ſich da das Meiſterwerk ſtatiſtiſcher und tabellariſcher Kunſt, das Mars-Kursbuch, in welchem die Beförderungszeiten, Wege und Reiſedauer angegeben waren. Durch eine höchſt ſcharfſinnig konſtruierte, verſchiebbare Tabelle konnte man die Wegdauer zwiſchen je zwei beliebigen Stationen ſofort finden. Als Saltner ‚Mari‘ nachſchlug, fand er, daß es allerdings noch einen Bezirk gleichen Namens auf der nördlichen Halbkugel gab und daß er die Bezeichnung ‚Gol‘ beizufügen hatte. Er ſchrieb alſo die Adreſſe auf das kleine Kärtchen und ſteckte dies in einen hierzu beſtimmten Rahmen im Innern der Tür. Dadurch erſchien die Adreſſe ſtark vergrößert und hell beleuchtet außen an der Tür. Ein leiſes Summen begann gleichzeitig. Dies dauerte ſo lange, bis der Wagen die Station verlaſſen hatte, und diente als Merkzeichen für den Reiſenden, daß er nicht etwa bei der Abholungszeit überſehen war. Wenn es wieder begann, ſo war es das Signal, daß das Reiſeziel nach Angabe der Adreſſe erreicht war. Saltner hatte aus dem Kursbuch erſehen, daß ſeine Reiſe acht Stunden in Anſpruch nehmen würde, denn die Entfernung betrug etwa 3.000 Kilometer. Es war jetzt bald Mitternacht, er traf alſo am Vormittag ziemlich zeitig auf der Station Mari ein. Übrigens brauchte er ſich nicht darum kümmern, ob er zur rechten Zeit erwache, da ſein Coupé ſo lange auf der Station halten blieb, bis er die Adreſſe entfernt hatte oder der ganze bezahlte Tag abgelaufen war. Aber er wußte nicht, wie weit er noch von der Bahnſtation nach Las Wohnort habe. Darüber wollte er ſich am Morgen während der Fahrt vergewiſſern, da die Bibliothek des Coupés genaue Reiſehandbücher über alle Teile des Mars enthielt. Früher als am Nachmittag konnte er indeſſen nicht darauf rechnen, La anzutreffen, weil die Beförderung des Hauſes, die auf der Gleitbahn ſtattfand, mindeſtens die doppelte Zeit in Anſpruch nehmen mußte als ſeine Eilfahrt. Jetzt zog er den Handgriff, welcher das Coupé in ein Schlafzimmer umgeſtaltete, und legte ſich zu Bett. Kein Schienenraſſeln, kein Pfiff, kein Ruf und Signal ſtörte ihn. Er merkte noch, daß das leiſe Summen aufgehört und er ſomit ſeine Fahrt angetreten hatte. Er dachte, es ſei doch eine gute Einrichtung, daß hier jeder für zehn Mark ſeinen eigenen Salonwagen haben könne, bequemer, als es ſich auf der Erde ein Fürſt leiſten kann. Dreitauſend Kilometer —. Und es fiel ihm ein, das war gerade die Entfernung von Ses Wohnort —. Ob der wohl in der Nähe war? La wollte ſie ja wieder ſehen. Wie lange hatte auch er ſie nicht geſehen, obwohl geſprochen — aber ſehen —. Saltner entſchlummerte, während ſein Coupé, auf dem Radwagen ſtehend, unter den Häuſerreihen zwiſchen geradlinigen Kanälen nach Südweſten jagte. 37. Die Wüſte Gol Saltner hatte Se nicht wiedergeſehen, ſeitdem er mit Frus die Reiſe nach Kla angetreten hatte. Aber er hatte öfter mit ihr telephoniſch geſprochen — wenn ſie ihn anrief, und auch dies war in der letzten Zeit ſeltener geſchehen. Solange er mit La zuſammen war, verblaßte der Eindruck, den ſie auf ihn gemacht hatte, und La ſprach mit ihm nach ihrer Gewohnheit faſt niemals über Se. Das letzte, was er von Se gehört hatte, war ihre erneute Einberufung zum Dienſt in der chemiſch-techniſchen Abteilung des Arbeitsheeres. Nicht nur die Männer, ſondern auch die Frauen bildeten ſich auf dem Mars für einen beſonderen Beruf aus, doch beſtand zwiſchen der Art dieſer Ausbildung und des Betriebes der Berufsarten zwiſchen beiden Geſchlechtern ein weſentlicher Unterſchied. Nichts lag den Martiern ferner als der Gedanke einer ſchablonenhaften Gleichmacherei; Gleichheit gab es für ſie nur im Sinne der gleichen Freiheit der Beſtimmung als Perſönlichkeit, aber die tatſächlichen Verhältniſſe geſtalteten ſich durchaus verſchieden nach dieſer Selbſtbeſtimmung. Die Frauen erwählten daher Berufsarten, die ihren Eigentümlichkeiten entſprachen und ihnen insbeſondere eine gewiſſe Freiheit in der Wahl der Arbeitsſtunden geſtatteten. Se hatte einen wiſſenſchaftlichen und praktiſchen Kurſus in der Chemie durchgemacht. Da die Herſtellung aller Nahrungsmittel auf dem Mars chemiſche Studien vorausſetzte, war dies unter den Martierinnen einer der verbreitetſten Berufszweige. In dieſer Eigenſchaft war Se auch, als ſie ihre einjährige Arbeitspflicht abzuleiſten hatte, in die chemiſche Arbeitsabteilung eingetreten und auf ihren Antrag der Erdſtation zugeteilt worden. Sie war nicht, wie La, in Begleitung ihrer Eltern, ſondern in ihrer eigenen Dienſtleiſtung nach der Erde gegangen. Auf Grund dieſer beſonderen Anſtrengung konnte ſie nach der Rückkehr auf zwei Monate beurlaubt werden. Dieſer Urlaub war nun vorüber, und ſie hatte noch einige Monate ihrer Dienſtzeit zu abſolvieren. Sie war jetzt aber von der Abteilung für Lebensmittel in die artilleriſtiſche Abteilung verſetzt worden und bei den neuen Verſuchen beſchäftigt, zu denen der Konflikt mit den Engländern die Martier veranlaßt hatte. Saltner hatte davon nur ſoviel gehört, daß man entdeckt hatte, wie das Repulſit in eine neue Verbindung mit ganz wunderbaren Eigenſchaften umgewandelt werden konnte, die man jedoch, wenigſtens ihm gegenüber, bisher als Geheimnis behandelte. Se hatte damit zu tun, ſie wohnte daher jetzt ſeit einer Woche ebenfalls am Rand der Wüſte Gol, zwar nicht in Mari, aber dicht an der Grenze, im Bezirk Hed. Als Saltner durch das Schütteln ſeines Kopfkiſſens erwachte, deſſen Rüttel-Wecker er auf eine Stunde vor ſeiner Ankunft — nach ſeiner gewohnten Rechnung ſieben Uhr morgens — geſtellt hatte, zog er den Fenſtervorhang beiſeite und ſah zu ſeiner Verwunderung, daß der Tag noch nicht angebrochen war. Er hatte nicht berückſichtigt, daß er nach Weſten fuhr und daher an ſeinem Reiſeziel die Ortszeit um etwa vier Stunden zurück ſei. Er würde etwa um Sonnenaufgang in Sei ankommen. Dennoch machte er Toilette, benutzte den Frühſtücksautomaten und begann, ſich aus dem Reiſehandbuch über den Staat Mari zu unterrichten. Er erkannte daraus, daß Sei unmittelbar am Abhang der Wüſte Gol läge und die Station ebenfalls, aber ungefähr hundert Kilometer ſüdlicher. Die Radbahn zog ſich in einer Strecke von dreihundert Kilometern direkt am Oſtabhang der Wüſte Gol hin, ſo daß er dieſe zur Rechten hatte. Um nach Sei zu gelangen, wo die Radbahn nicht anhielt, mußte er von der Station aus die letzten hundert Kilometer auf der Stufenbahn zurückfahren. Da ihm die Wege und die Lage der Wohnung Las nicht genau bekannt waren, mußte er eine Stunde auf den Weg von der Station bis zum Haus rechnen. Es blieben ihm alſo noch ungefähr ſechs Stunden zur freien Verfügung, da er nicht eher bei La eintreffen wollte, als zu der Zeit, die ſie zur telephoniſchen Unterhaltung beſtimmt hatte. Er nahm an, daß ſie dieſe Zeit gewählt habe, weil ſie dann ſicher in ihrem neuen Wohnort angekommen ſei. Das Fenſter ſeines Coupés, welches der Tür gegenüberlag, ſah nach Oſten. Noch konnte er keinen Schimmer der Dämmerung erkennen, die freilich auf dem Mars nur kurz und ſchwach war. Dennoch lag über der Gegend ein rötliches Licht, das er ſich nicht erklären konnte. Die Monde des Mars gaben keinen derartigen Schein. Wo die Reihe der Häuſer, unter denen der Zug fortraſte, unterbrochen war, und das war in dieſer Gegend mehrfach der Fall, ſah er, daß das rötliche Licht von Weſten her auf die hier weniger dicht belaubten Rieſenbäume einfiel. Um nach der Seite zu ſehen, auf welcher die Wüſte Gol lag, mußte Saltner die Tür ſeines Coupés öffnen. Sie führte auf den ſchmalen Wandelgang, der ſich durch den Wagen hinzog. Hier konnten die Inſaſſen der Coupés ſich ergehen. Hier ſah man durch die großen Fenſter, als der Zug eine Häuſerlücke paſſierte, die Felſenmauern der Wüſte dunkel aufragen, über ihnen aber lag eine roſig glänzende Lichtſchicht. Die Nebel über der Wüſte, in ihrer Höhe von mehreren tauſend Metern, waren bereits von der Morgenſonne beleuchtet. Der Beamte, welcher den Radwagen begleitete, durchſchritt den Wandelgang und ſagte zu jedem der wenigen ſich hier aufhaltenden Paſſagiere leiſe: „Bitte einzuſteigen.“ Der Zug näherte ſich der Station, und während des Haltens auf dieſer mußte ſich jeder in ſeinem Coupé befinden, er verlor ſonſt das Recht der Weiterbeförderung. Denn ſobald der Wagen hielt, klappte die ganze Seitenwand herab und die einzelnen Coupés wurden mit großer Gewandtheit ſortiert, um je nachdem auf der Station zu bleiben oder auf die kreuzenden Linien übergeführt zu werden. Bald verriet das erneute leiſe Summen an ſeiner Tür Saltner, daß ſein Beſtimmungsort, die Station Mari, erreicht war. Er packte ſeine Sachen zuſammen und trat aus dem Coupé ins Freie. Er fand die Luft ſo kalt, daß er ſeinen Pelz umhing. Es waren nur wenige Coupés auf der Station zurückgeblieben, und ihre Inſaſſen waren noch nicht zum Vorſchein gekommen; ſie ſchienen es vorzuziehen, ihren Schlaf nicht vorzeitig zu unterbrechen. Während Saltner noch unſchlüſſig ſtand, was er jetzt beginnen ſolle, trat jedoch aus einem der Coupés ein Fahrgaſt, der, nachdem er einen Blick auf den Himmel geworfen hatte, dem Ausgang der Station zuſchritt wie jemand, der genau mit der Örtlichkeit vertraut iſt. Er trug das dunkle Arbeitskleid eines Bergmanns und ſchien keine Zeit zu verlieren zu haben. Saltner gedachte ihn anzureden und folgte vorläufig ſeinen Schritten. Der Bergmann überſchritt die hinter der Station vorüberführende Stufenbahn auf einer Brücke und trat dann in den Eingang eines Hauſes. Da Saltner hier zögerte und der Martier bemerkte, daß ihm Saltner gefolgt war, wandte er ſich nach ihm um und ſagte: „Wenn Sie noch zum Sonnenaufgang hinaufwollen, müſſen Sie ſich beeilen, der Wagen geht gleich ab.“ „Ich bin ganz fremd hier“, erwiderte Saltner. „Wenn Sie erlauben, ſchließe ich mich Ihnen an.“ Der Bergmann machte eine höfliche Bewegung und ging voran. Sie gelangten an einen gondelartig gebauten Wagen, welcher die Aufſchrift trug: ‚Abariſche Bahn nach der Terraſſe‘. Saltner ſtieg mit dem Martier ein, ein Schaffner nahm ihnen eine kleine Fahrgebühr ab. Der Wagen, der nur ſchwach beſetzt war, begann ſehr bald ſich zu bewegen. Er glitt erſt mit ſchwacher Steigung aufwärts, dann, als die faſt ſenkrecht abfallende Felswand der Wüſte erreicht war, ſehr ſteil empor, indem er ſich durch ſeine Schwereloſigkeit erhob. Ein Drahtſeil, an dem er hinglitt, ſchrieb ihm die Bahn vor. Vorſpringende Felswände verhinderten den Umblick. Die ganze Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Die Einrichtung war, wie Saltner erfuhr, noch nicht lange in Betrieb. Als Saltner den Wagen verließ, fand er ſich auf einer kahlen Felsſtufe, die ſich, ſo weit er ſehen konnte, in nördlicher wie ſüdlicher Richtung einige hundert Schritt breit hinzog. Sie war mit zahlreichen Baulichkeiten bedeckt, die meiſt elektriſche Schmelzöfen enthielten. In der ganzen Längserſtreckung der Terraſſe lief ein Bahngeleis hin. Sie war eine Stufe am öſtlichen Abfall der Wüſte Gol. Nach Weſten hin erhob ſich das Gebirge noch weiter und trug das Hochplateau der Wüſte, die ſich in einer Erſtreckung von etwa 600 Kilometer von Norden nach Süden und 1.000 Kilometer nach Weſten hin ausdehnte. Über derſelben glänzten, in ihren oberen Schichten hell beleuchtet, große Wolkenmaſſen, die ſich in der Nacht gebildet hatten, jetzt aber ſchon unter den Strahlen der Sonne zu ſchwinden begannen. Als ſich Saltner dem Tal zuwendete, bot ſich ihm ein herrlicher Anblick. Sein Auge ſchweifte weithin über die Landſchaft, die vom Widerſchein der erleuchteten Nebel ſchwach erhellt war. Nur im Südoſten erhob ſich ein heller rötlicher Schimmer, das baldige Nahen der Sonne anzeigend. Zwiſchen dem grünlichen Grau der Baumkronen, auf die er hinabblickte, zogen ſich, noch künſtlich erleuchtet, die geradlinigen Streifen breiter Straßen hin. Am dunkeln, klaren Himmel ſtanden die Sterne, einer aber von ihnen, gerade im Oſten, ſtrahlte mit beſonders hellem Licht, ein glänzender Morgenſtern. Saltner konnte ſich von ſeinem Anblick nicht losreißen. Ein tiefes Heimweh ergriff ihn. Zum erſtenmal ſeit ſeiner Landung auf dem Mars ſah er die Erde wieder. Die Stimme des Bergmanns, der ſich zu ihm geſellte, weckte ihn aus ſeiner Träumerei. „Nicht wahr“, ſagte dieſer, „das iſt ſchön. Da unten ſieht man das nicht vor lauter Bäumen, oder man muß erſt zwiſchen die Maſchinen auf die Dächer ſteigen. Jetzt iſt die Ba am hellſten, Sie haben ſie wohl noch nie ſo deutlich geſehen? Die letzten Monate hat ſie zu nahe an der Sonne geſtanden.“ „Ich habe ſie ſchon ganz in der Nähe geſehen“, ſagte Saltner, „denn ich bin ſchon dort geweſen.“ „So, ſo“, erwiderte der Bergmann lebhaft, „da ſind Sie alſo ein Raumſchiffer. Das freut mich, daß ich einmal einen treffe, ich habe nämlich noch keinen geſehen. Muß ein ſeltſames Handwerk ſein! Sie kamen mir gleich ſo fremdartig vor, einen ſolchen Mantel ſah ich noch nie.“ „Der iſt von dem Fell der Tiere, wie ſie auf der Erde leben.“ Der Bergmann befühlte neugierig das Pelzwerk. „Da ſagen Sie mir doch“, begann er wieder, „iſt es denn wahr, was die Zeitungen jetzt ſo viel ſchreiben, daß es dort auch Nume gibt? Ich meine, ſo wie wir, mit Vernunft?“ „Etwas Vernunft mögen ſie ſchon haben.“ Der Bergmann ſchüttelte den Kopf. „Viel wird es wohl nicht ſein“, ſagte er. „Warum wären ſie ſonſt nicht ſchon zu uns gekommen? Wir glauben nämlich hier nicht recht daran, daß dort viel zu holen iſt, wir meinen, die Regierung nimmt nur jetzt den Mund recht voll, weil nächſtes Jahr Wahlen zum Zentralrat ſind. Da heißt es, wenn wir auf die Erde gehen, da können wir die Sonne ſozuſagen mit Händen greifen, da bekommen wir ſoviel Geld, daß jeder den doppelten Staatszuſchuß erhält.“ Saltner zuckte plötzlich zuſammen und wandte ſich ab. Ohne daß die Dämmerung ſich merklich verſtärkt hätte, hatte unvermittelt ein blendender Sonnenſtrahl ſeine Augen getroffen. Das aufgehende Geſtirn beſchien die Terraſſe, und bald verbreitete ſich ſein Licht auch über die tieferliegenden Lande. Der Bergmann verabſchiedete ſich, er müſſe nun an die Arbeit. Saltner begleitete ihn noch ein Stück. So ſtark wirkte die Sonnenſtrahlung, daß ſchon jetzt Saltner ſeinen Pelz nicht ertragen konnte. Er ließ ihn auf der Station zurück. Die Nebel von den Höhen hatten ſich verzogen. Saltner wandelte die Luſt an, die felſigen Abhänge hinaufzuklimmen. Das Steigen in der geringen Schwere des Mars ſchien ihm ein Kinderſpiel. Zunächſt aber ging er mit dem Bergmann bis an den Eingang des Stollens, in welchem dieſer zu tun hatte. Überall ſah man auf der Terraſſe dieſe Öffnungen, die zu den Mineralſchätzen des Berges führten. Im Geſpräch erfuhr Saltner, daß der Bergmann auf einige Zeit unten im Lande geweſen war, um ſeinen Sohn zu beſuchen, der auf der Schule ſtudierte, und daß man ſich hier in der Tat wieder ganz andere Vorſtellungen von der Erde machte als im politiſchen Zentrum des Planeten. Man glaubte, daß man nur nach der Erde zu gehen brauche, um alsbald mit unermeßlichen Schätzen zurückzukehren. Die Jugend hatte ſich daher maſſenhaft gemeldet, um nach der Erde mitgenommen zu werden. Der Bergmann verhielt ſich dagegen durchaus ſkeptiſch und hatte ſeine Reiſe hauptſächlich unternommen, um ſeinen Sohn von der beabſichtigten Erdfahrt zurückzuhalten. Er ſah jetzt, daß er ſich die Mühe hätte ſparen können, denn die Regierung hatte alle dieſe Meldungen rundweg abgeſchlagen. Eine andere Maßregel aber hatte die Erdkommiſſion getroffen, von der Saltner nur durch dieſe zufällige Unterhaltung erfuhr. Die Marsſtaaten beſaßen zwar ein ſtehendes Arbeitsheer, aber keine Soldaten, da Kriege und kriegeriſche Übungen bei ihnen als eine längſt veraltete Barbarei galten. Sie hatten nur eine Art Polizeitruppe zur Aufrechterhaltung der Ordnung in beſonderen Fällen. Es entſtand nun die Verlegenheit, woher die Leute zu nehmen ſeien, welche das techniſche Perſonal unterſtützen ſollten, falls es zu einem wirklichen Krieg mit den Menſchen, zu einer längeren militäriſchen Aktion auf der Erde kommen ſollte. Dazu gehörte eine Gewöhnung an große körperliche Strapazen, eine Abhärtung, wie ſie die Martier im allgemeinen nicht beſaßen. Man hatte deswegen an die kühnen und rauhen Bewohner der Wüſten, an die Beds gedacht. Man wollte dieſelben anwerben und für den Dienſt auf der Erde ausbilden. Die Aufforderung an ſie war ergangen. Dieſe Nachricht erfüllte Saltner mit Beſorgnis. Von dieſen Leuten war zu befürchten, daß ſie als Sieger ein weniger zartes Gewiſſen haben würden als die eigentlichen Träger der Kultur, die hochgebildeten Nume. Er ſah ſich dadurch nur in ſeiner Abſicht beſtärkt, ſeine Landsleute vor der Größe der drohenden Gefahr zu warnen. Der Bergmann war an ſeinem Ziel. Er empfahl Saltner, wenn er das Plateau der Wüſte ſelbſt beſuchen wolle, bis zur nächſten Station der Terraſſenbahn zu fahren und die von dort nach oben führende Bergbahn zu benutzen. Auf keinen Fall ſolle er ſich vom Rand der Wüſte entfernen, da auf derſelben nichts zu finden ſei als die großen Strahlungsnetze und in einigen ſchwer zugänglichen Schluchten die ärmlichen Wohnſitze der Beds. Saltner befolgte den Rat inſofern, als er die Terraſſenbahn benutzte und mit dieſer ein weites Stück nach Süden fuhr. Unterwegs brachte er nämlich in Erfahrung, daß er hier eine Station ‚Kaſt‘ erreichen könne, welche direkt über Sei lag, ſo daß er von da aus abwärts nur noch eine Viertelſtunde bis zu Las Wohnort hatte. Auf dieſe Weiſe ſtand ihm genügend Zeit zur Verfügung, um das Plateau zu erſteigen. Allerdings führte von hier keine Bahn hinauf, aber es lag ihm viel mehr daran, durch eine Fußwanderung die ſeltſame Gebirgsbildung kennenzulernen. In einer ſteil herab ziehenden engen Schlucht klomm er raſch aufwärts. Einige unten beſchäftigte Leute riefen ihm etwas nach, das er nicht verſtand, es ſchien ihm eine Warnung zu ſein, nicht mit ſo großer Geſchwindigkeit aufwärts zu ſpringen; aber dieſe Martier konnten ja nicht wiſſen, daß er auf Erden gewohnt war, ein dreimal ſo großes Gewicht auf noch ganz andere Höhen zu ſchleppen. Die Wände der Schlucht verdeckten ihm zwar die Ausſicht nach der Seite und, da die Schlucht nicht gerade verlief, auch nach oben und unten, aber ſie ſchützten ihn dafür vor den Strahlen der Sonne. Und er ſah bald, daß er ohnedies nicht weit gekommen wäre. Denn wo die Sonne das Geſtein traf, glühte es ſo, daß man es mit der bloßen Hand kaum berühren konnte. Im Schatten aber war die Luft kühl. Etwa dreiviertel Stunden mochte er ſo geſtiegen ſein, als die Wände der Schlucht ſich verflachten; er näherte ſich dem Rand des Plateaus. Mitunter war es ihm, als höre er in der Ferne ein Geräuſch wie Donner, er ſchob es auf Sprengungen in den Bergwerken. Jetzt hörte der Schatten auf. Zwiſchen Felstrümmern mußte er ſich emporarbeiten. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er empfand heftigen Durſt, und noch immer wollte ſich die ebene Hochfläche nicht zeigen. Da endlich erkannte er einen Gegenſtand, der wohl nur das Dach eines Gebäudes ſein konnte. Er eilte darauf zu, und plötzlich blickte er auf eine weite Ebene, nur hier und da von einzelnen Felsriegeln unterbrochen. Eben wollte er, aus den Felstrümmern des Abſturzes herausſteigend, den Rand des Plateaus betreten, als er ſich durch einen Draht von weißer Farbe gehemmt ſah, der an dieſem Rand ſich hinzog. Er achtete nicht darauf, ſondern überſtieg ihn. Die Sonne, gegen die kein Schirm ihn ſchützte, brannte ſo furchtbar, daß er jeden Augenblick umzuſinken fürchtete und nur daran dachte, ein ſchattenſpendendes Dach zu gewinnen. Er ſah jetzt das Haus dicht vor ſich, und einige eilende Sprünge brachten ihn in den Schatten eines Pfeilers. Nachdem er ſich hier einen Augenblick erholt, blickte er ſich erſtaunt um. Wenn das ein Haus war, ſo war es ein ſehr ſeltſames. Wie eine Brücke ruhte es ſchwebend auf zwei ſchmalen Pfeilern. Es hatte die Geſtalt eines Bootes, auf das man ein zweites mit dem Kiel nach oben geſetzt hatte. Dazwiſchen war ein etwa meterhoher Zwiſchenraum, nach welchem eine Leiter hinaufführte. Saltner überlegte. „Das Ding ſieht beinahe aus“, ſagte er bei ſich, „wie das Luftſchiff am Nordpol, das ich freilich nur ſehr von weitem geſehen habe. Ob das hier vielleicht ſo eine Art Trockenplatz für friſchen Anſtrich iſt? Ich möchte mir das Ding einmal von innen betrachten.“ Da er ringsum niemand bemerkte und ihm der ſchmale Schatten des Pfeilers keinerlei Bequemlichkeit bot, beſchloß er die Leiter hinaufzuſteigen und ſich in dem ſeltſamen Bau umzuſehen. Er fand jetzt, daß das, was er für einen leeren Zwiſchenraum gehalten hatte, von einer durchſichtigen Subſtanz verſchloſſen ſei, die jedoch eine Öffnung am Ende der Leiter freiließ. Er ſtieg hinein. Niemand befand ſich hier. In der Mitte war ein freier Raum mit Sitzen und Hängematten. Ringsum, unten, oben und beſonders an den Enden des länglichen Baus, waren Verſchläge mit unbekannten Apparaten. Drähte liefen von dort nach unten und durch die Pfeiler jedenfalls nach dem Erdboden, wo ſie unterirdiſch weitergeleitet werden mochten. Saltner hütete ſich wohlweislich, irgend etwas zu berühren. Es wurde ihm einigermaßen unheimlich. Aber er fühlte ſich ſo matt, daß er jedenfalls erſt friſche Kräfte ſammeln mußte, ehe er den Rückweg antreten konnte. Vorſichtig zog er an einer der Hängematten, und da ſich nichts in dem Raum rührte, legte er ſich hinein. „Ich bin doch neugierig, was das für eine Medizin ſein wird“, dachte er. „Jetzt nur nicht die Zeit verſchlafen, bloß einen Augenblick ruhen.“ Aber erſchöpft ſchloß er die Augen. 38. Gefährlicher Ruheplatz Eine Viertelſtunde mochte er ſo im Halbſchlummer gelegen haben, als ein gewaltiger Krach ihn emporſchrecken ließ. Der ganze Bau war in eine zitternde Bewegung geraten. Eilends ſprang Saltner empor und ſchaute ſich um. Auf dem Felsboden, vielleicht hundert Meter hinter ihm nach dem Rand des Plateaus zu, lag eine gewaltige Staubwolke. Jetzt krachte es auf der anderen Seite. Eine neue Wolke von Trümmern und Staub erhob ſich vom Boden. „Da hat eine Granate eingeſchlagen!“ ſagte ſich Saltner. Im Moment war ihm die Situation klar. Die Schießverſuche der Martier auf der Wüſte Gol! Er hatte gehört, daß die Martier, ihren Erfahrungen und den von Ell mitgebrachten Büchern folgend, Geſchütze konſtruiert hatten, die, in ihren Wirkungen wenigſtens, den auf der Erde üblichen glichen. Nun ſchoſſen ſie mit menſchlicher Artillerie nach ihren eigenen Luftſchiffen. Er ſaß alſo gerade in dem Ziel ſelbſt drin! Die erſte Granate war zu weit gegangen, die zweite zu nahe, die dritte würde ſicherlich treffen. Und jetzt ſofort mußte der Schuß erfolgen! Da hatte er ſich ja einen recht geeigneten Ort zur Ruhe ausgeſucht! Ob noch Zeit war, hinauszuſpringen? Inſtinktiv wollte er es tun, aber er faßte ſich. Draußen war es offenbar noch gefährlicher — die Martier erwarteten ja wohl, daß das Ziel Widerſtand leiſte. Freilich, dieſe dünnen Wände! Jetzt ſah er, wo das Geſchütz ſtand. Es blitzte auf. Er empfahl ſeine Seele Gott und richtete ſeinen Blick ſtandhaft gegen die Schußrichtung. Er hörte das Heranſauſen des Geſchoſſes. Und wie ein Wunder ſchien es ihm, was er ſah. Etwa zehn Meter vor ſeinem Standpunkt, in gleicher Höhe wie das Schiff, in welchem er ſich befand, wurde die Granate ſichtbar, weil ſie plötzlich langſam heranſchwebte. Noch auf fünf, auf vier Meter näherte ſie ſich — Saltners Züge verzerrten ſich krampfhaft, aber er konnte den Blick von dem Verderben drohenden Geſchoß nicht abwenden. Jetzt ſtand es ſtill, ohne zu explodieren — und vor ſeinen Augen verſchwand die ſtählerne Spitze, der Bleimantel, die Sprengladung löſte ſich unſchädlich auf und der Reſt des Geſchoſſes, zu einer mürben Maſſe zerſetzt, ſenkte ſich langſam, wie ein Häufchen Aſche, zu Boden. Saltner glaubte zu träumen. Aber ſchon vernahm er das Heranſauſen einer zweiten Granate. Dasſelbe Schauſpiel — nahe vor der Spitze des Schiffes, gegen welche ſie gerichtet war, verzehrte ſie ſich in der freien Luft. Und ſo ein drittes und viertes Mal. Für ſeine Perſon fühlte er ſich jetzt im Augenblick ſicher. Aber wie gebrochen ſank er auf eine Bank. Mit tiefem Schmerz gedachte er der Menſchheit, deren gewaltigſte Kampfmittel vor der Macht dieſer Nume wirkungslos in nichts zerfloſſen. Er hatte wohl geſehen, daß dieſe letzte Probe mit einem jener Rieſengeſchoſſe angeſtellt worden war, denen die ſtärkſte Panzerplatte nicht ſtandhält. Aber auch dieſes war in der freien Luft vor ſeinen Augen verſchwunden. Es mußte ſich in der Entfernung von drei bis vier Meter vor dem Schiff eine unſichtbare Macht befinden, die jede Bewegung und jeden Stoff vernichtete. Ein eigentümliches Zittern hatte während der ganzen Beſchießung in dem Schiff geherrſcht, und es ſchien ihm, als wenn auch die Sonnenſtrahlung rings um das Schiff matter wäre. Das hörte nun auf. Bald ſah er, wie ſich über die Ebene eine Art von gedecktem Wagen heranbewegte. Ohne Zweifel wollten die Schützen die Wirkung ihrer Verſuche in Augenſchein nehmen. Hier entdeckt zu werden, war Saltner im höchſten Grade bedenklich. Er war ſicher, daß man ihn als Spion behandeln und nicht glimpflich mit ihm verfahren würde. Ehe er ſeine Unſchuld dartun konnte, hätte er mindeſtens viel Zeit verloren. Auf jeden Fall wäre ſeine Abſicht vereitelt worden, heute noch La ſeine Briefe zu überreichen. Und doch war ihm jetzt mehr als je daran gelegen, ſeinen Landsleuten mitzuteilen, daß ein kriegeriſcher Widerſtand gegen die Martier ausſichtslos ſei. Wenn er entfloh? Aber den Rand der Schlucht konnte er nicht mehr erreichen, ohne geſehen zu werden. Und auf der flachen Ebene war kein Verſteck. Doch vielleicht im Schiff ſelbſt? Es war wenigſtens das einzige, was er verſuchen konnte. Es gab da verſchiedene Seitenräume — freilich, man würde ſie wohl bei der Unterſuchung betreten. Sein Blick fiel auf den Fußboden. Hier war eine Falltür. Zum Glück kannte er jetzt den üblichen Mechanismus des Verſchluſſes. Er kroch in den unteren Raum, der offenbar zur Aufbewahrung von Vorräten diente. Jetzt war er leer bis auf einige Haufen eines heuähnlichen Stoffes, den Saltner nicht kannte. Aber er hatte keine Wahl, er kroch in eine Ecke und verſteckte ſich. Wenn man das Heu, oder was es war, nicht durchwühlte, konnte man ihn nicht finden. Inzwiſchen war der Wagen angelangt, und die Martier ſtiegen aus. Es waren nur vier Männer und eine Frau. Sie betrachteten zufrieden die Aſchenreſtchen der Geſchoſſe, ſtiegen in das Schiff und überzeugten ſich, daß es vollkommen unverſehrt war. Keines der feinen Inſtrumente hatte einen Schaden erlitten. Saltner hörte, wie ſie das Schiff wieder verließen. Schon glaubte er ſich gerettet. Er lauſchte aufmerkſam, konnte aber nur hören, daß eine Unterhaltung geführt und Anweiſungen erteilt wurden, ohne daß er die Worte zu verſtehen vermochte. Dann vernahm er deutlich, wie der Wagen ſich wieder entfernte. Er verließ ſein Verſteck. Alles war ſtill. Vorſichtig öffnete er die Falltür: das Schiff war leer. Er näherte ſich der Ausſichtsöffnung und ſpähte nach dem ſich entfernenden Wagen. Jetzt konnte er verſuchen, den Rand des Plateaus zu gewinnen. Er wandte ſich um und ſchritt nach dem Ausgang zu. In dieſem Augenblick erſchien in demſelben eine weibliche Geſtalt. Saltner prallte zurück, dann ſtürzte er wieder vorwärts — dieſe einzelne Martierin konnte ihn nicht aufhalten. Er wollte an ihr vorüber, die, ebenfalls erſchrocken, zur Seite trat. Schon ſtand er an der Öffnung, da hörte er ſeinen Namen. „Sal, Sal! Was haben Sie hier zu tun?“ Er drehte ſich um und erkannte Se. Sie faßte ſeine Hände und zog ihn zurück. „Oh“, ſagte ſie, „mein lieber Freund, warum müſſen wir uns hier treffen? Das durften Sie nicht ſehen! Wie konnten Sie ſich hierherwagen?“ „Ich bin unſchuldig, teure Se, glauben Sie mir, ich bin durch Zufall hierhergeraten.“ „Wie ſind Sie über den weißen Draht gekommen? Wiſſen Sie denn nicht, was das bedeutet?“ „Ich bin einfach darübergeſtiegen —“ „Und haben die Geſetze verletzt und ſich der höchſten Lebensgefahr ausgeſetzt.“ „Ich bedaure meine Unwiſſenheit. Und ich hoffe, ich darf Sie bald in ſicherer Lage wieder ſprechen. Jetzt verzeihen Sie wohl, wenn ich mich ſo ſchnell wie möglich davonmache.“ „Das geht ja nicht, Sal, das darf ich nicht zugeben — ſo ſehr ich es Ihnen wünſchte. Aber ich bin hier nicht privatim, ich habe das Nihilitdepot zu verwalten, ich darf Sie nicht freilaſſen, das hängt nicht mehr von mir ab.“ „Aber von mir! Leben Sie wohl, auf Wiederſehen!“ Er ſchwang ſich auf die Leiter. „Um Gottes willen, Sal!“ rief Se. „Keinen Schritt von hier, es iſt Ihr Verderben! Ich muß Sie feſthalten!“ „Wie wollen Sie das?“ rief er lachend. „Ich drehe dieſen Zeiger, und der Nihilitpanzer bildet ſich um das Schiff. Es iſt ein Spannungszuſtand des Äthers, der momentan jede Kraft vernichtet, jedes Geſchehen aufhebt. Alles, was in ſeinen Bereich gerät, verzehrt ſich, jede Energie wird ihm entzogen, es ſchwindet in nichts. Da, ſehen Sie!“ Das eigentümliche Zittern und die Trübung des Lichtes begann wieder. Se ergriff einen Hammer, der im Schiff lag, und ſchleuderte ihn durch die Öffnung hinaus. In etwa drei Meter Entfernung verſchwand er ſpurlos. „Sie können nicht fort“, ſagte ſie. „Kommen Sie herein.“ Saltner ſetzte ſich. Beide ſahen ſich traurig an. Er ergriff Ses Hände. „Wenn ich Sie bitte“, ſagte er. „Bei unſerer Freundſchaft! Ich muß jetzt fort! Hören Sie mich!“ Er erzählte, was ihn herbeigeführt, daß er La ſprechen müſſe, was er von ihr wünſche. Las Briefe nach der Erde würden nicht kontrolliert, ſie konnte die ſeinigen an Grunthe adreſſieren — — Se ſchüttelte traurig den Kopf. „Das kann La nicht tun, das wird ſie nie tun, ſie darf es ebenſowenig wie Ell. Bitten Sie ſie nicht erſt — Saltner, ſie will nicht darum gebeten ſein.“ „Wie kann ſie wiſſen?“ „Haben Sie das nicht herausgehört aus dem, was ſie Ihnen ſagte? Wenn nun Ell mit ihr geſprochen hätte, ehe ſie in Ihre Wohnung ging, wenn er Ihre Abſicht ihr mitgeteilt hätte — während Sie von Ell nach Hauſe fuhren, war Zeit genug dazu. Und etwas Derartiges hat ſie ſicher ſeit Tagen erwartet, das war doch leicht zu ahnen. Warum iſt ſie fortgezogen, und warum ſollen Sie nicht nach Sei kommen? Weil La den Konflikt vorausſah. Sie war in Widerſpruch mit ſich ſelbſt. Sie wollte die Bitte vermeiden, die ſie Ihnen abſchlagen mußte. Und vielleicht — doch ich habe kein Recht, in Las Gefühle zu dringen.“ Saltner klammerte ſich an Ells Namen. Er alſo war ihm zuvorgekommen! Und es erſchien ihm, als gelte es nur Ells Einfluß zu beſiegen. „Ich muß zu ihr!“ rief er verzweifelt. „Se, ich beſchwöre Sie, laſſen Sie mich frei!“ „Ich darf ja nicht. Und Sie werden es mir noch danken, Saltner. La liebt Sie, vielleicht mehr, als Sie ahnen, ſie wird es nicht ertragen, daß Sie in Trauer, in Zorn, in Verbitterung von ihr gehen, weil ſie Ihrem Wunſch nicht folgen kann. Wenn Sie an der Ausführung Ihres Willens verhindert werden, ſo zürnen Sie lieber mir!“ „Und wenn ich Sie bäte, Se, die Briefe zu befördern, würden Sie es mir auch abſchlagen?“ „Ich müßte es.“ Sie war aufgeſtanden und blickte auf die Ebene hinaus. Dann wandte ſie ſich zurück und trat dicht an ihn heran, mit ihren großen Augen ihn zärtlich anblickend. „Mein lieber Freund, ſeien Sie vernünftig. Der Wagen mit meinen Begleitern kommt zurück. Ich war hiergeblieben, um den Nihilitapparat neu zu laden, und jene hatten nur friſchen Vorrat zu holen. Ihre Unwiſſenheit wird Sie entſchuldigen. Man wird Sie höchſtens nach Kla zurückſchicken. Aber ich darf nicht eigenmächtig handeln. Zürnen Sie mir nicht!“ Saltner ſah, daß der Wagen in der Ferne auftauchte. Fünf Minuten mußten ſein Schickſal entſcheiden. Einen Moment zögerte er unter Ses mächtigem Einfluß. Aber er raffte ſich zuſammen; ſein Entſchluß war gefaßt. „Ich zürne Ihnen nicht, geliebte Se“, ſagte er. „Nur mögen Sie mir nicht zürnen, aber ich kann nicht anders. Leben Sie wohl!“ Er umſchlang ſie feſt mit ſeinem linken Arm, indem er mit der rechten Hand den Zeiger des Nihilitapparates zurückdrehte. In ihrer Überraſchung und dem Beſtreben, ſich ihm zu entwinden, hatte Se dies gar nicht bemerkt. Er drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn und ſchwang ſich mit einem Satz aus der Öffnung. Da wußte ſie, was geſchehen war. Im Augenblick, als Saltner den Boden erreichte, berührte Ses Hand wieder den Zeiger. Drückte ſie ihn herum, ſo verzehrte das Nihilit den Freund. Und wenn ſie es nicht tat, ſo hatte ſie einen Verräter entfliehen laſſen. Sie preßte die Hände an ihre Stirn — nur einen Augenblick — dann ſchaute ſie auf. In weiten Sätzen entfernte ſich Saltner und verſchwand hinter den Felstrümmern am Abhang der Wüſte. — Wie er den Berg hinabgelangte, er wußte es kaum. Am meiſten fürchtete er, am Ausgang der Schlucht von den dort beſchäftigten Martiern angehalten zu werden. Er umging ihn durch eine halsbrecheriſche Kletterei. Völlig erſchöpft gelangte er in die Reſtauration neben dem Bahnhof. Hier in dem kühlen, ſeparaten Speiſezimmer, das er ſich anweiſen ließ, fand er Zeit, ſich zu erholen. Wenn ihn Se verraten hatte, ſo war freilich ſeine Flucht nutzlos. Man würde ihn in Sei, oder wohin er auch ſonſt ſich wandte, erreichen. Aber er vertraute darauf, daß Se nicht ſprechen würde. Niemand ſonſt hatte ihn oben geſehen. So benutzte er den zu Tal gehenden Wagen nach Sei und fand nach einigem Umherirren die von La angegebene Platznummer. Eben entfernten ſich die Monteure, welche das neu eingetroffene Haus an die verſchiedenen im Boden liegenden Leitungen angeſchloſſen hatten. Es war die Zeit, um welche La mit ihm ſprechen wollte, als Saltner in ihr Zimmer trat. „Da bin ich ſelbſt!“ rief er. „Ich mußte dich wiederſehen!“ La ſtand wortlos. Dann atmete ſie tief auf, preßte die Hände zuſammen und ſagte leiſe: „O mein Freund, warum haſt du mir dies getan?“ „Warum nicht? Ich ſehnte mich nach dir, La, und ich bedarf deiner Hilfe.“ „Meiner Hilfe?“ ſagte ſie warm. Sie hoffte einen Augenblick, es könne ſich um etwas anderes handeln, als was ſie fürchtete. „Wenn es mir möglich iſt, wie gern bin ich dir zu Dienſten.“ Sie zog ihn neben ſich auf einen Seſſel. Er hielt ihre Hand feſt. „Ich habe eine große Bitte, für Frau Torm und für mich.“ La wich zurück. „Sprich ſie nicht aus! Ich bitte dich, ſprich ſie nicht aus, damit dich meine Weigerung nicht kränkt. ...“ „Du weißt —?“ „Ich weiß, um was es ſich handelt.“ „Von Ell!“ „Durch ihn. Sieh, das iſt unmöglich! So wenig du damals am Nordpol der Erde zögerteſt, die Pflicht für dein Vaterland zu erfüllen, ſo wenig kann ich jetzt um deinetwillen das Geſetz durchbrechen. Das Geſetz verbietet den Menſchen, unkontrollierte Botſchaft nach der Erde zu ſenden. Hätte ich die freie Überzeugung, daß es ungerecht und töricht ſei, ſo dürfte ich mein Gewiſſen fragen, ob ich es übertreten will. Es wäre ein Konflikt, aber ich könnte ihn auf mich nehmen. Doch ich kann mich davon nicht überzeugen. Was ihr auch berichtet, es kann nur Verwirrung anſtiften, und Ismas private Wünſche können nicht in Frage kommen.“ Saltner hatte ihre Gründe kaum gehört. Er blickte finſter vor ſich hin. „Durch Ell!“ ſagte er dann bitter. „Natürlich, wann ſpräche er nicht mit dir, wann träfe ich ihn nicht bei dir, wann hörteſt du nicht auf ihn mehr als auf mich?“ La ſeufzte. „Ich wußte es ja, daß es ſo kommen würde. Oh, hätteſt du auf meinen Rat gehört und wäreſt nicht hergereiſt.“ „Ich werde dich nicht ſtören; ſobald Ell kommt, gehe ich.“ „Warum? Er wird wohl kommen. Aber warum entrüſteſt du dich? Haſt du je bemerkt, daß ich dich weniger liebe?“ „Aber du liebſt ihn?“ La ſah ihn mit flammenden Augen an. „Wie darfſt du fragen“, ſagte ſie ſtolz, „was kaum das eigene Ich ſich fragt?“ Aber ihr Ausdruck wurde plötzlich unendlich traurig und zärtlich. Sie faßte ſeine Hände und neigte ſich zu ihm. „Aber wie kann ich dir zürnen?“ ſagte ſie. „Mich nur müßte ich ſchelten. Doch habe ich dir nicht geſagt: Vergiß nicht, daß ich eine Nume bin? Ach, ich vergaß wohl, daß du ein Menſch biſt, und du weißt nicht mehr, was ich dir ſagte: Liebe darf niemals unfrei machen! Und du willſt mich unfrei machen? Willſt dem Gefühl gebieten? Iſt ein Nume ſo klein und einfach, daß ein einzelner ſeinen Kreis erfüllen könnte? Iſt nicht jedes Individuum nur ein kleiner Ausſchnitt, nur eine Seite von dem, was das Weſen des Mannes, das Weſen der Frau iſt? Wer kann ſagen, ich repräſentiere alles, was du lieben kannſt?“ „Das alſo war es! Was vermag ich dagegen? Daß du eine Nume biſt, wußte ich, und ich wußte, daß du mir nicht angehören könnteſt fürs Leben. Aber ſo dachte ich mir deine Liebe nicht. O La, ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben werde, aber deine Liebe teilen — mit jenem —, das vermag ich nicht. Ich bin ein Menſch, und wenn du ihn liebſt, ſo muß ich ſcheiden.“ Saltner ſaß ſtumm. Er konnte ſich nicht aufraffen zu gehen, es war ihm, als müßte La ihn noch halten, er hoffte auf ein Wort von ihr. Auch ſie ſchwieg, ſie atmete lebhaft, mit einem Entſchluß kämpfend. Dann ſagte ſie zögernd: „Das glaube nicht, Sal, daß Ell dabei im Spiel iſt, wenn ich dir deine Bitte wegen der Briefe abſchlage. Daß er mich benachrichtigte, war nur zu unſerm Beſten, wenn du mir gefolgt hätteſt. Ich wollte einer Auseinanderſetzung ausweichen, weil ich wußte, daß ſie dich kränken müßte, daß du mich mißverſtehen und an meiner Liebe zweifeln würdeſt — nach Menſchenart — und weil — weil ich ſelbſt nicht wußte, wie ich dies ertragen könnte. Ja, Sal, um meinetwillen wollt’ ich dich nicht ſehen —“ Saltner kniete zu ihren Füßen und ſchlang die Arme um ſie. „O La!“ rief er, „ſo habe ich noch die Hoffnung, daß du mich erhörſt, daß du meine Bitte erfüllſt?“ „Du weißt nicht, was du verlangſt, weißt nicht, welch namenloſe Qual dieſe Stunde mir bereitet. Du verlangſt mehr als mein Leben, du verlangſt meine Freiheit, meine Numenheit. — Wenn ich dir nachgebe, wenn ich dieſem Rauſch der Gegenwart unterliege — o mein Freund —, dann bin ich keine Nume mehr, dann bin ich ein Menſch! Aus dem reinen Spiel des Gefühls verfalle ich in den Zwang der Leidenſchaft, die Freiheit verlöre ich und müßte niederſteigen mit dir zur Erde. Und kann deine Liebe das wollen?“ Saltner barg ſein Haupt zwiſchen den Händen, ſeine Bruſt hob ſich krampfhaft. „Verzeihe mir, La, verzeihe mir“, kam es endlich von ſeinen Lippen. La nahm ſeinen Kopf zwiſchen ihre Hände und blickte ihn an, ihre Augen ſtrahlten in einem verklärten Glanze. „Du ſollſt es wiſſen, mein Freund“, ſagte ſie langſam, „ich liebe Ell nicht, ich liebe nur dich.“ „La!“ hauchte er ſelig. Tränen traten in ihre Augen, und mit gebrochener Stimme ſagte ſie: „Und dies iſt das Schickſal, das uns trennt.“ Er ſah ſie ſprachlos an. „Ich bin eine Nume, und weil ich ihn nicht liebe, weil ich fühle, daß ich ihn nicht lieben kann, darum müſſen wir ſcheiden. — Darum müſſen wir ſcheiden“, wiederholte ſie leiſe, „denn in dieſer Liebe zu dir verlöre ich meine Freiheit. Was ich heute ſprach, darfſt du nie wieder hören. Steh auf, mein Freund, ſteh auf und glaube mir!“ Saltner wußte nicht, wie ihm geſchah. Er ſtand vor ihr, er begriff ſie nicht und wußte doch, daß es nicht anders ſein konnte. „Ob wir uns wiederſehen, weiß ich nicht. Jetzt nicht, jetzt lange nicht.“ — Sie ſchluchzte auf und ſchlang die Arme um ſeinen Hals. Lange ſtanden ſie ſo. „Noch dieſen einen Kuß! Leb wohl, leb wohl!“ La riß ſich von ihm los. „Leb wohl“, ſagte er wie geiſtesabweſend. Dann ſchloß ſich die Tür hinter ihm. Mechaniſch ſuchte er ſeinen Hut und ſchritt aus dem Haus. 39. Die Martier ſind auf der Erde! Auf der Erde hatte die Nachricht von der Beſetzung des Nordpols durch die Martier und der Exiſtenz eines Luftſchiffes, mit welchem ſie ſiebenhundert Kilometer in der Stunde in der Erdatmoſphäre zurückzulegen vermochten, ein Aufſehen erregt wie kaum ein anderes Ereignis je zuvor. Der Bericht Grunthes und die von ihm vorgelegten Beweiſe ließen keinen Zweifel zu, überdies war das Luftſchiff in Italien, der Schweiz, Frankreich und England geſehen worden, ja, die Ankunft Grunthes und das Verſchwinden Ells und Frau Torms waren auf keine andere Weiſe zu erklären. Die Schriften Ells, welche jetzt herauskamen, gaben eine hinreichende Auskunft über die Möglichkeit techniſcher Leiſtungen, wie ſie von den Martiern vollzogen wurden. Als daher Kapitän Keswick, ſobald er mit der ‚Prevention‘ die erſte Telegraphenſtation berührte, ſeinen Bericht an die engliſche Regierung abgab und Torm nach Friedau telegraphierte, daß er glücklich gerettet ſei, erregten dieſe Nachrichten ſchon nicht mehr die Verwunderung, die man auf der ‚Prevention‘ erwartet hatte. Wohl aber wurde in England die anfänglich für die Martier vorhandene Begeiſterung ſtark abgekühlt und machte einer in der Preſſe ſich äußernden, etwas bramarbaſierenden Entrüſtung Platz, daß man dieſen Herrn vom Mars doch etwas mehr Reſpekt vor der britiſchen Flagge beibringen müſſe. Indeſſen fehlte es nicht an Stimmen, die zur äußerſten Vorſicht rieten und die Gefahren ausmalten, welche den Nationen des Erdballs von einer außerirdiſchen Macht drohten, der ſo ungewöhnliche und unbegreifliche Mittel zur Durchſetzung ihres Willens zu Gebote ſtänden wie den Martiern. Dieſe Sorge, die Bedrohung durch eine unbeſtimmte Gefahr, beherrſchte das Verhalten der Regierungen aller ziviliſierter Staaten. Man wußte weder, was man zu erwarten habe, noch wie man einem etwaigen weiteren Vorgehen der Martier begegnen ſolle. Ein äußerſt lebhafter Depeſchenwechſel fand ſtatt, man erwog den Plan, einen allgemeinen Staatenkongreß zu berufen, und konnte ſich vorläufig nur noch nicht über das vorzulegende Programm und den Ort des Zuſammentritts einigen. Während man ſich auf der einen Seite einer gewiſſen Solidarität der politiſchen Intereſſen aller Staaten gegenüber den Martiern bewußt war, zeigten ſich doch auf der andern Seite ſehr verſchiedene Auffaſſungen über den zu erwartenden kulturellen Einfluß der Martier. Die Preſſe aller Nationen beſchäftigte ſich aufs eifrigſte mit der Mars-Frage, und eine unüberſehbare Menge von Meinungen und abenteuerlichen Hypotheſen erfüllte die Blätter und erhitzte die Gemüter. Die Quelle aller dieſer Erwägungen war das Buch von Ell über die Einrichtungen der Martier und die Erklärungen, welche Grunthe aus ſeinen Erfahrungen am Nordpol dazu geben konnte. Ein Verſtändnis derſelben, wenigſtens im größeren Publikum, war jedoch nicht zu erreichen. Der Sprung von der techniſchen und ſozialen Kultur der Menſchen zu der Entwicklung, welche dieſe bei den Martiern erreicht hatte, war zu groß, als daß man ſich in letztere hätte finden können. Gerade die erſten Mahnungen Grunthes, man möge ſich unter keinen Umſtänden in einen Konflikt mit den Martiern einlaſſen, weil ihre Macht alle menſchlichen Begriffe überſtiege, fanden am wenigſten Gehör; dazu waren ſie ſchon viel zu wiſſenſchaftlich in der Form. Man ſtellte ſich wohl vor, daß ſich die Martier durch wunderbare Erfindungen eine ungeheure Macht über die Natur angeeignet hätten, aber man hatte keinerlei Verſtändnis dafür, wie ihre ethiſche und ſoziale Kultur ſie den Gebrauch dieſer Macht benutzen, mäßigen und einſchränken ließ. Vor allem blieb das eigentliche Weſen ihrer ſtaatlichen Ordnung trotz der Erläuterungen in Ells Buch ein Rätſel. Die individuelle Freiheit war ſo überwiegend, die Entſcheidung des einzelnen in allen Lebensfragen ſo ausſchlaggebend und ſo wenig von ſtaatlichen Geſetzen überwacht, daß vielfach die Anſicht ausgeſprochen wurde, das Gemeinſchaftsleben der Martier ſei durchaus anarchiſtiſch. In der Tat, die Form des Staates war auf dem Mars an kein anderes Geſetz gebunden als an den Willen der Staatsbürger, und ſo gut ein jeder ſeine Staatsangehörigkeit wechſeln konnte, ſo konnte auch die Majorität, ohne in den Verdacht der Staatsumwälzung oder der Staatsfeindſchaft zu kommen, von monarchiſchen zu republikaniſchen Formen und umgekehrt übergehen. Keine Partei nahm das Recht in Anſpruch, die alleinige Vertreterin des Gemeinſchaftswohls zu ſein, ſondern in der gegenſeitigen, aber nur auf ſittlichen Mitteln beruhenden Meſſung der Kräfte ſah man die dauernde Form des ſtaatlichen Lebens. Es gab keinen regierenden Stand, ſo wenig es einen allein wirtſchaftlich oder allein bildend tätigen Stand gab. Vielmehr war zwiſchen dieſen Berufsformen ein ſtetiger Übergang, ſo daß ein jeder, ganz nach ſeinen Fähigkeiten und Kräften, diejenige Betätigungsform erreichen konnte, wozu er am beſten tauglich war. Dies war freilich nur möglich infolge des hohen ethiſchen und wiſſenſchaftlichen Standpunktes der Geſamtbevölkerung, wonach die Bildungsmittel jedem zugänglich waren, aber von jedem nur nach ſeiner Begabung in Anſpruch genommen wurden. Natürlich bedeutete das nicht die Herrſchaft des Dilettantismus, ſondern jede Tätigkeit ſetzte berufsmäßige Schulung voraus, der Eintritt in höhere politiſche Stellen vor allem eine tiefe philoſophiſche Bildung. Aber der Fähige konnte ſie erwerben. Und dies beruhte wieder darauf, daß die Beherrſchung der Natur durch Erkenntnis die unmittelbare Quelle des Reichtums in der Sonnenſtrahlung erſchloſſen hatte. Andere wieder behaupteten, die Staatsform der Martier ſei durchaus kommuniſtiſch. Auch hierfür ſchien manches zu ſprechen. Denn wenn auch, was Ell nicht genügend hervorgehoben hatte, die Verwaltung der großen Betriebe der Strahlungsſammlung, des Verkehrs und ſo weiter tatſächlich in der Hand von Privatgeſellſchaften lag, ſo war doch das Anlagekapital Staatseigentum. Es exiſtierte auch eine ſtaatliche Konzentration der wirtſchaftlichen Tätigkeit, obwohl dieſe der Arbeit des einzelnen völlig freie Hand ließ und keineswegs die Güterproduktion durch Vorſchriften regelte. Aber die Zentralregierung, deren Mitglieder auf eine zwanzigjährige Amtsdauer erwählt wurden, ſetzte unter Einwilligung des Parlaments einen ‚Strahlungsetat‘ feſt, das heißt, es war dadurch für ein Jahr im voraus beſtimmt, welches Maximum von Energie der Sonne entnommen, alſo auch welches Maximum mechaniſcher Arbeit auf dem Planeten geleiſtet werden konnte. Sie ſetzte auch ein beſtimmtes Kapital feſt, das jeder als ein zinsloſes Darlehen in Anſpruch nehmen konnte, falls ſeine eignen Arbeitsmittel durch ungünſtige Verhältniſſe in Verluſt geraten waren. Im übrigen aber war ein jeder auf ſeinen eigenen Fleiß angewieſen. Auf dem Kulturſtandpunkt der Menſchheit erſchienen die Einrichtungen des Mars als Utopien, und mit Recht; denn ſie ſetzten eben Staatsbürger voraus, die in einer hunderttauſendjährigen Entwicklung ſich ſittlich geſchult hatten und theoretiſch an der rechten Stelle alle die Mittel gleichzeitig zu benutzen wußten, deren Gebrauch im Lauf der ſozialen Lebensformen nach irgendeiner Seite erprobt worden war. Ein Teil der Regierungen der Erdſtaaten befürchtete nun, daß das Beiſpiel der Martier die Veranlaſſung zu übereilten Reformen, vielleicht zu gewaltſamen Umwälzungen geben würde. Die agrariſche Bevölkerung geriet in Beſtürzung über die drohende Konkurrenz der Lebensmittelfabrikation ohne Vermittlung der Landwirtſchaft. Auf der anderen Seite begrüßten die Arbeiterſchaft und alle für ſchnellen Kulturfortſchritt enthuſiasmierten Gemüter die Martier als die Erlöſer aus der Not, deren Erſcheinen nun bald bevorſtünde. Durchweg aber war man im unklaren, was geſchehen würde und was geſchehen ſolle. Als im Oktober die Parlamente der meiſten Staaten zuſammentrafen, gab es überall Interpellationen an die Regierungen über die Marsfrage. Und überall lautete die Antwort ausweichend dahin, es fänden Erwägungen ſtatt über einen allgemeinen Staatenkongreß, worüber man indeſſen Näheres noch nicht mitteilen könne. Überall ſprachen dann die Führer der verſchiedenen Parteien die Anſichten über den Mars aus, die ſie vorher in ihren Blättern hatten drucken laſſen. Einige wollten die Martier enthuſiaſtiſch aufnehmen, andere ſie dilatoriſch behandeln, andere ſie überhaupt von der Erde zurückweiſen. Wie man das machen ſolle, wußte freilich niemand zu ſagen. Der Erfolg war jedoch in allen Staaten der gleiche: neue Bewilligungen zur Vermehrung des Heeres und der Flotte. Zum Glück für die Regierungen, die dadurch Zeit zur Beratung gewannen, hörte man nun nichts mehr von den Martiern. Das Luftſchiff ließ ſich nicht wieder ſehen, die Martier ſchienen verſchwunden. Da plötzlich kam im Januar die Nachricht vom Wiedererſcheinen eines Luftſchiffs in Sydney. Am 2. Januar telegraphierte der Gouverneur von Neuſüdwales nach London, daß in Sydney mehrere Luftſchiffe eingetroffen ſeien, beſtimmt, eine außerordentliche Geſandtſchaft der Marsſtaaten nach London zu bringen, falls die engliſche Regierung ſich bereit erkläre, mit derſelben wie mit der bevollmächtigten Geſandtſchaft einer anerkannten Großmacht zu unterhandeln. Die Martier hatten ſofort in Sydney einen berühmten Rechtsanwalt als Agenten engagiert, der die Verhandlungen mit den Behörden führte. Daß ſie vom Mars mehr als 2.000 Kilogramm Gold in Barren mitgebracht und bei der Bank of New South Wales deponiert hatten, war eine ſo vorzügliche Empfehlung, daß ganz Neuſüdwales für ſie eingenommen war. Die diplomatiſchen Verhandlungen waren inzwiſchen nicht weitergekommen. Auf Englands erneute Anregung einigte man ſich jetzt endlich dahin, daß man die Marsſtaaten als politiſche Macht anerkennen wolle, wenn ſie gewiſſe Garantien gäben, daß ſie ſich dem auf der Erde geltenden Völkerrecht unterwärfen. Daraufhin beantwortete die engliſche Regierung die Depeſche der Marsſtaaten im Prinzip bejahend, knüpfte aber verſchiedene Bedingungen an die Bewilligung weiterer diplomatiſcher Verhandlungen. Sie verlangte von den Martiern außer der Anerkennung der völkerrechtlichen Gewohnheiten der ziviliſierten Erdſtaaten, daß genau feſtgeſetzt werde, worüber mit der Geſandtſchaft verhandelt werden ſolle, und daß kein anderer Punkt zur Verhandlung käme, nachdem man die Martier in London zugelaſſen habe. Ihrerſeits verſprach natürlich die Regierung der Geſandtſchaft den völkerrechtlichen Schutz auf der Erde. Der Bevollmächtigte der Marsſtaaten, Kal, ging hierauf ohne weiteres ein und ſtellte folgende Forderungen zur Verhandlung in einer Depeſche vom 22. Januar: 1) Formelle Entſchuldigung der engliſchen Regierung wegen des Angriffs, den die Mannſchaft des Kanonenboots auf die beiden Martier und der Kapitän auf das Luftſchiff unternommen hatten. 2) Beſtrafung des Kapitäns Keswick und des Leutnants Prim. 3) Entſchädigung für die beiden Martier von je hunderttauſend Pfund. 4) Anerkennung der Hoheitsrechte der Marsſtaaten auf die Polargebiete der Erde jenſeits des 87. Grades nördlicher und ſüdlicher Breite. 5) Anerkennung der Gleichberechtigung der Martier mit allen andern Nationen in bezug auf Niederlaſſung, Verkehr, Handel und Erwerb. Gleichzeitig depeſchierte Kal an die Regierungen aller größeren Staaten den Wunſch der Marsſtaaten, über die beiden letzten Punkte in Verhandlung zu treten. Die Antworten ließen auf ſich warten. Die Regierungen der Erde verhandelten zunächſt untereinander, da ſie in ihren vorangegangenen Verabredungen übereingekommen waren, gemeinſam vorzugehen, falls die Martier mit allgemeinen Fragen des internationalen Verkehrs an ſie herantreten ſollten. Die Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und Japan traten dafür ein, den Martiern entgegenzukommen, Deutſchland, Öſterreich-Ungarn und andere zögerten noch, Rußland verhielt ſich ablehnend. Die engliſche Regierung war zuerſt geneigt, Verhandlungen einzuleiten. Aber ſobald die Forderungen der Martier in der Bevölkerung bekannt geworden waren, erhob ſich ein allgemeiner Entrüſtungsſturm. Das Nationalgefühl forderte ungeſtüm die Ablehnung des Anſinnens der Martier, das britiſche Selbſtbewußtſein laſſe nicht zu, daß man mit einem Haufen Abenteurer in Verhandlungen über Entſchuldigungen und Entſchädigungen trete. Es kam zu einer bewegten Parlamentsſitzung, in welcher das friedlich geſtimmte Miniſterium geſtürzt wurde. Ein Toryminiſterium, zu entſchiedenem Vorgehen geneigt, trat an die Stelle und erklärte ſofort, daß es jede weitere Unterhandlung mit den Marsſtaaten zurückweiſe. Die ablehnende Note, welche nach Sydney zur Mitteilung an den Geſandten der Marsſtaaten geſchickt wurde, war in ſehr kühlem und herablaſſendem Ton gehalten. Die übrigen Staaten hatten jetzt, nachdem England eigenmächtig vorgegangen war, keine Veranlaſſung, ſich gegenſeitig zu binden, und erklärten nunmehr ſämtlich im Prinzip ſich zu Unterhandlungen bereit, indem ſie ſich jedoch völlige Freiheit ihrer weiteren Entſchließungen vorbehielten. Sobald die Martier in Sydney aus den Zeitungen, die ſie aufs ſorgfältigſte verfolgten, entnommen hatten, daß ſie in England vermutlich auf kein Entgegenkommen rechnen durften, ſandte Kal nach dem Mars die Lichtdepeſche, derzufolge die verabredeten Verſtärkungen abzuſenden ſeien. Ein Luftſchiff vermittelte täglich den Verkehr zwiſchen Sydney und dem Südpol, von deſſen Außenſtation die Lichtdepeſchen abgingen. Aber auch ſchon vorher hatte ſich eine anſehnliche Macht am Südpol angeſammelt. Es waren drei neue Raumſchiffe angelangt, nachdem die früheren, um ihnen Platz zu machen, zurückgegangen waren, und hatten neue Luftſchiffe und Mannſchaften gelandet. Gegenwärtig befanden ſich bereits vierundzwanzig Luftſchiffe am Südpol, ſämtlich mit Nihilitpanzern, Repulſitgeſchützen und Telelyten ausgerüſtet, eine furchtbare Macht, deren militäriſchen Oberbefehl ein energiſcher Martier aus dem Norden namens Dolf führte. Es ließ ſich berechnen, daß binnen vier Wochen die Streitmacht der Martier auf 48 Fahrzeuge angewachſen ſein würde. Mit dem letzten der Raumſchiffe, deſſen Ankunft im März zu erwarten war, wollte Ill ſelbſt eintreffen, um die Leitung der Erdangelegenheiten zu übernehmen. Inzwiſchen hatte man Kal eine Anzahl anderer bedeutender Männer zur Seite geſtellt, die als Geſandte an die Regierungen der Großmächte gehen ſollten. Als die Note der großbritanniſchen Regierung Kal übermittelt war, telegraphierte ſie dieſer ſofort nach dem Mars. Die Antwort traf noch denſelben Tag ein. Sie beſagte nur, daß Kal genau nach den Inſtruktionen verfahren ſolle, welche für den Fall einer ablehnenden Haltung Englands feſtgeſetzt ſeien. Am 15. März ſei das Hauptquartier nach dem Nordpol zu verlegen, woſelbſt im Laufe des März nach und nach noch vierundzwanzig Raumſchiffe mit durchſchnittlich je ſechs Luftſchiffen eintreffen würden. Damit würde die Macht der Martier auf der Erde auf 144 große und eine Anzahl kleinerer Luftſchiffe mit 3.456 Mann gebracht ſein, eine Flotte, die den Martiern genügend ſchien, den Kampf im Notfall mit der geſamten Erde aufzunehmen. Die Note der engliſchen Regierung war vom 18. Februar datiert. Am zwanzigſten erfolgte die Antwort Kals. Sie beſagte, daß die Regierung der Marsſtaaten hiermit an die großbritanniſche Regierung das Ultimatum richte, bis zum 1. März ſämtliche geſtellte Forderungen zuzugeſtehen, widrigenfalls ſich die Marsſtaaten als im Kriegszuſtand mit England betrachten würden. Dieſe Erklärung wurde gleichzeitig allen andern Regierungen mitgeteilt. Am 23. Februar drängte ſich in Berlin auf der Wilhelmſtraße, Unter den Linden und vor dem königlichen Schloß eine ungeheure Menſchenmenge. Es hatte ſich das Gerücht verbreitet, eine Geſandtſchaft der Martier ſei eingetroffen, ſie befinde ſich im Palais des Reichskanzlers und werde vom Kaiſer empfangen werden. Die Schauluſt der Menge ſollte jedoch nicht befriedigt werden, dagegen wurde der geſamten Bevölkerung eine andere Überraſchung zuteil durch eine Nachricht, welche der Reichsanzeiger in einer Extraausgabe brachte. Es wurde darin mitgeteilt, daß ſich allerdings in der Nacht eine Geſandtſchaft der Martier in Berlin befunden, die Stadt aber bereits am Morgen verlaſſen habe. Die Beziehungen zur Regierung der Marsſtaaten ſeien äußerſt freundliche, und man hoffe, daß auch ein Einvernehmen mit England hergeſtellt werden würde. Bald darauf teilte der Telegraph aus allen Hauptſtädten ähn- liche Nachrichten mit. In aller Stille nämlich hatten die Martier mit den Mächten einzeln verhandelt, und in der Nacht vom 22. zum 23. Februar waren gleichzeitig in Washington, Paris, Berlin, Wien, Rom und Petersburg Geſandtſchaften der Martier heimlich eingetroffen, um durch mündlichen Verkehr mit den leitenden Staatsmännern die Lage zur Klärung zu bringen. In Berlin hatte ein Luftſchiff mehrere Stunden im Garten des Reichskanzlerpalais gelegen, und der martiſche Geſandte hatte ſich mit dem Reichskanzler beſprochen. Aber weder aus Deutſchland noch aus irgendeinem andern Staat konnte man erfahren, was der Gegenſtand und das Reſultat dieſer Unterredungen geweſen ſei. Man vermutete, daß es ſich um Erklärungen der Martier über ihre Abſichten und um die Vermittlung der Mächte zwiſchen den Marsſtaaten und Großbritannien handle. Man bezweifelte nicht, daß die Martier friedliche Verſicherungen gemacht hätten, aber man ſetzte kein Vertrauen darauf, daß die Vermittlungsvorſchläge der Mächte bei England günſtige Aufnahme finden würden. Sie waren wohl auch hauptſächlich in der Abſicht zugeſagt, die Geſchäftswelt einigermaßen zu beruhigen; denn auf die erſte Nachricht vom Ultimatum der Martier hatten die Börſen aller Länder mit einem gewaltigen Sturz aller engliſchen Werte geantwortet, und die dadurch eingeriſſene Panik dauerte fort. Die Nachrichten aus England aber wurden nicht günſtiger. Die Stimmung war kriegeriſch. Nur wenige Blätter wagten einem Nachgeben gegen die Martier das Wort zu reden, und ſie wurden tumultuariſch überſchrien. Krieg gegen den Mars war die Loſung geworden. Krampfhaft rüſtete man in Heer und Flotte, obwohl man nicht wußte, in welcher Form man einen Angriff zu gewärtigen habe. Fieberhafte Tätigkeit herrſchte in den Arſenalen und Werkſtätten, wo man hauptſächlich damit beſchäftigt war, die Konſtruktion der Geſchütze ſo umzuändern, daß ſie eine größere Elevation geſtatteten. Denn man erwartete, den Kampf mit einem Gegner führen zu müſſen, der ſich in der Luft befand. Man tröſtete ſich mit der Sicherheit, daß die Martier jedenfalls nicht imſtande ſeien, außerhalb ihrer Luftſchiffe irgend etwas auszurichten, weil ihre Körper unter dem Einfluß der Erdſchwere zu Kraftleiſtungen, ja zur einfachen Bewegung untauglich ſeien. Man hoffte daher, wenn man ſich nur die Luftſchiffe vom Halſe halten konnte, nichts Ernſtliches zu befürchten zu haben und den auf der Erde fremden Gegner bald zu ermüden. 40. Ismas Leiden Inzwiſchen war man auf dem Mars recht ungeduldig. Nachdem die Abreiſe des erſten Raumſchiffs ſich bereits verzögert hatte, vergingen weitere fünfundzwanzig Tage, bis die erſte kurze Lichtdepeſche die glückliche Ankunft desſelben auf der Außenſtation am Südpol der Erde meldete. Dann dauerte es wieder einige Tage, bis man erfuhr, daß die übrigen Raumſchiffe ebenfalls angelangt und die Luftſchiffe in Betrieb geſetzt ſeien. Die Verzögerung der Antwort ſeitens der britiſchen Regierung wirkte verſtimmend. Man war daher angenehm überraſcht, als man vernahm, daß die Regierung zu einem tatkräftigen Vorgehen entſchloſſen war, und als das Ultimatum an England bekannt wurde, wurden dem Zentralrat und insbeſondere Ill lebhafte Ovationen dargebracht. Die nach der Erde mit Verſtärkung abgehenden Schiffe wurden mit begeiſterten Abſchiedshuldigungen gefeiert. Man bedauerte nur, daß die Nachrichten von der Erde ſo kurz und ſpärlich waren, weil man auf den ſchwierigen Verkehr durch Lichtdepeſchen angewieſen war. Mit Spannung ſah man der Rückkehr des erſten Raumſchiffes entgegen, welches ausführlichere Nachrichten bringen mußte. Aber da die Planeten jetzt von Tag zu Tag ſich weiter voneinander entfernten, dauerte die Überfahrt länger. Jetzt war ſeine Ankunft indeſſen jeden Tag zu erhoffen. Ill wollte nur dieſes Ereignis abwarten, um ſich ſelbſt nach der Erde zu begeben. Niemand aber erſehnte die Ankunft des Schiffes ungeduldiger als Isma. Sollte es ihr doch Nachrichten von der Erde bringen. Sie wußte zwar, daß ſie mit dieſem Schiff noch keinen Brief von ihrem Mann erhalten konnte, denn es hatte die Erde verlaſſen, ehe eine Antwort auf ihr Schreiben in Sydney eintreffen konnte. Aber ſie hoffte auf Zeitungen, die ja über die Rückkehr Torms Auskunft geben mußten. Isma lebte einſam und traurig in Ills Haus, und alle Bemühungen der guten Frau Ma, ſie zu erheitern, waren vergeblich. Ell begleitete Ill auf ſeinen häufigen Reiſen nach dem Südpol und der Schiffsbauſtätte. Bei Isma ließ er ſich nicht mehr ſehen, und heimlich bereute ſie ihre leidenſchaftliche Trennung von dem alten Freund. La war in der Ferne. Zu andern Martiern vermochte ſie in kein vertrauteres Verhältnis zu kommen. Ihr einziger näherer Umgang war Saltner, der ſeinen Sprachunterricht in Kla wieder aufgenommen hatte. Aber auch er war nicht mehr der übermütige, luſtige Mann wie früher, und Isma bemerkte wohl, daß ihn noch eine andere Sorge drückte als das Heimweh und der Kummer um das Schickſal der Menſchen. Und doch war es ſchon ſchwer genug, hier in der Verbannung zu leben, während das Vaterland in drohendſter Gefahr ſchwebte. Und endlich, heute war die Depeſche gekommen, daß das Raumſchiff in der Nacht gelandet ſei. Kaum vermochte Isma ihre Aufregung zu beherrſchen. Doch die Aufgaben des Tages mußten erledigt werden, ſie zwang ſich zur Ruhe, obwohl ſie bei jedem Geräuſch hoffte, man bringe die erſehnten Nachrichten. Die franzöſiſche Konverſationsſtunde war beendet. Isma ſchloß die Klappe des Fernſprechers und ſetzte ſich an ihren Schreibtiſch. Er war ein Geſchenk Ells, der ihn nach dem Muſter ihres Schreibtiſches in Friedau aus der Erinnerung ſo gut wie möglich hatte herſtellen laſſen, weil er wußte, daß Isma die Schreibmaſchine und die Möbel der Martier nicht ſehr liebte. Sie zog wieder ihr Tagebuch hervor. Die Zeitrechnung machte ihr Schwierigkeiten, denn der Marstag war um 37 Minuten länger als der Erdentag, da ſie aber ſtets einen Marstag gleich einem Erdentag in ihrem Buch gerechnet hatte, ſo mußte ſie alle neununddreißig Tage einen Erdentag überſpringen, um nicht gegen den Kalender der Erde zu weit zurückzubleiben. Das war nun jetzt zum viertenmal der Fall — ſo lange weilte ſie auf dem Mars! Sie fand, daß heute auf der Erde der 27. Februar ſei, ein Sonntag! Und der Geburtſtag ihres Mannes! Wie glücklich hatte ſie dieſen Tag ſonſt verlebt, und mit welchen Hoffnungen im vorigen Jahr! Und wo mochte Hugo jetzt weilen? Der Troſt, den ſeine Rettung ihr gewährte, hatte nur auf kurze Zeit angehalten. Die Unmöglichkeit, ſich mit ihm ſo zu verſtändigen, wie es ihr Herz verlangte, erhöhte nur ihre Sehnſucht und ihre Sorge. Was hatte er von ihr gehört, in welchem Licht mußte ſie ihm erſcheinen, wie würde er ihre Handlungsweiſe beurteilen? Konnte er ihr Glauben ſchenken? Wie enttäuſcht und einſam mußte er ſich fühlen wenn er das Haus leer fand, wo er ſein Glück wiederzufinden hoffte! Das Herabfallen der Fernſprechklappe ſchreckte ſie aus ihren Gedanken. „Liebe Isma, ſind Sie da? Ja? Ich bringe Ihnen etwas!“ Es war die Stimme von Frau Ma. Im Augenblick war Isma aufgeſprungen. Schon erſchien Ma an der Tür. „Da, Frauchen“, rief ſie, „da haben Sie die ganze Poſt für Sie. Ein großes Paket, nicht wahr? Ill hat alle deutſchen Zeitungen aufkaufen laſſen, die in Sydney zu haben waren. Und nun ängſtigen Sie ſich nicht, es wird alles gut werden. Ich will Sie jetzt nicht ſtören.“ Sie küßte Isma auf die Stirn und ging. Das Paket, von einem leichten Korbgeflecht umhüllt, lag auf dem Tiſch. Ismas Hände zitterten, als ſie den Verſchluß auseinanderbog. Ein Haufen Zeitungen lag vor ihr. Sie ſetzte ſich und zwang ſich zur Ruhe. Syſtematiſch nahm ſie ein Blatt nach dem andern zur Hand, ſah nach dem Datum und entfaltete es. Die Blätter waren offenbar ſchon von einer kundigen Hand geordnet. Das erſte war vom 24. September vorigen Jahres. Gleich nach dem Leitartikel enthielt es in fettem Druck die Nachricht, daß das engliſche Kanonenboot ‚Prevention‘ auf der Rückkehr begriffen ſei. Es habe in der Nähe von Grinnell-Land einen ſiegreichen Kampf mit einem Luftſchiff, angeblich den Bewohnern des Planeten Mars gehörig, beſtanden. An Bord befinde ſich der Leiter der deutſchen Nordpolexpedition, Torm, der von wandernden Eskimos dahin gebracht ſei — — — Isma las nicht weiter. Sie ergriff ein neues Blatt. „Torm in London.“ Sie überflog nur die Zeilen. „Tiefergreifend wirkten auf den kühnen Forſcher die Nachrichten über das Schickſal der übrigen Expeditionsmitglieder, insbeſondere die glückliche Heimkehr Grunthes und die Rettung der wiſſenſchaftlichen Reſultate. Aber alles tritt im Augenblick in den Hintergrund gegenüber der Tatſache, daß die Martier —“ — Weiter — „Der Feſtabend der geographiſchen Geſellſchaft litt unter der getrübten Stimmung des Gefeierten, den traurige Familiennachrichten niederdrückten —“ Isma ſeufzte tief. Sie vermochte kaum zu leſen. Jeden Augenblick fürchtete ſie auf ihren Namen zu ſtoßen und die Verleumdung öffentlich ausgeſprochen zu ſehen. Aber es war nichts weiter geſagt. Ein anderes Blatt! „Torm in Hamburg. Begeiſterter Empfang.“ — Weiter! „Torm in Berlin. — Rührendes Wiederſehen von Torm und Grunthe. — Allgemein bedauerte man die Abweſenheit Friedrich Ells, des geiſtigen und pekuniären Vaters der Expedition, der ſich bekanntlich nach dem Mars begeben hat. — Wie wir hören, beabſichtigt Torm, ſeinen Wohnſitz vorläufig in Berlin zu nehmen —“ Isma atmete auf. Dieſe Zeitung wenigſtens ſchien diskret zu ſein — man wollte offenbar den verdienten Forſcher ſchonen. Und ſie, ſie ſollte ſchuld ſein, daß man ihn ſchonen mußte? Was mochten andere von ihr ſagen? Und warum ſagte man nicht offen, weshalb ſie fortgegangen war — Grunthe wußte es doch, er konnte ſie rechtfertigen. „Es glaubt ihm niemand!“ Wie ein Schrei entrang es ſich Isma. Mechaniſch blätterte ſie weiter. Da haftete ihr Auge auf einer Stelle. „Infolge der gehäſſigen Angriffe, die von gewiſſen Blättern gegen den Martier-Sohn Friedrich Ell gerichtet werden und die ſich bemühen, die Gattin unſeres großen Landsmanns Torm zu verleumden, ſehen wir uns gezwungen, von unſerm Grundſatz abzugehen, wonach wir um perſönlichen Klatſch uns nicht kümmern. Wir ſind jedoch in der Lage, aus beſter Quelle jene ſchamloſen Hetzereien zurückzuweiſen, die, ſoviel wir wiſſen, ihren Urſprung aus einem Artikel des Friedauer Intelligenzblattes genommen haben. Es war dort geſagt, jedermann in Friedau wiſſe, daß zwiſchen Ell und Frau Torm intime Beziehungen ſeit Jahren beſtanden hätten. Die Polarexpedition, ſo deutete man an, ſei von Ell angeregt, um Torm zu entfernen. Auf die Nachricht von ſeiner zu erwartenden Rückkehr habe Frau Torm ihr Haus verlaſſen und ſei aus Friedau verſchwunden. Man vermute, daß ſie mit ihrem Freund nach dem Mars gegangen ſei, und ſo weiter. — Dies alles iſt erbärmliche Lüge. Herr Dr. Karl Grunthe, der Begleiter Torms, an deſſen Wahrhaftigkeit wohl ſelbſt das Friedauer Intelligenzblatt nicht zu zweifeln wagen wird, ſchreibt uns, daß Frau Torm in ſeiner Gegenwart in einer mit Ell geführten Unterredung ſich entſchloſſen habe, das Luftſchiff der Martier zu benutzen, um auf demſelben Nachforſchungen nach dem Verbleib ihres verſchollenen Gemahls anzuſtellen und die Rettung desſelben zu betreiben. Ohne Zweifel iſt es dasſelbe Luftſchiff, welches in Konflikt mit dem engliſchen Kanonenboot ‚Prevention‘ geraten iſt, zu einer Zeit, als ſich Torm noch bei den Eskimos befand. Nicht aufgeklärt bleibt nur, warum das Luftſchiff Friedau eher als geplant, mitten in der Nacht, verlaſſen hat und warum es dann, entgegen der Zuſage des Befehlshabers, nicht nach Friedau zurückgekehrt iſt. Man kann hieraus die Befürchtung ziehen, daß ihm irgendein Unglücksfall zugeſtoßen iſt, und dies um ſo mehr, als der Kapitän Keswick verſichert, durch ſeine Beſchießung das Luftſchiff beſchädigt zu haben. Alle andern Schlüſſe aber ſind als Verleumdungen zurückzuweiſen. Der heldenmütige Entdecker des wahren Nordpols, den der unerklärliche Verluſt ſeiner geliebten Gattin tief niederdrückt, verdiente wohl, daß man ihn im eigenen Vaterland nicht noch in ſeinem Teuerſten beſchimpft.“ Die Nummer der Zeitung war bereits vom November des vorigen Jahres. Die folgenden Nummern, die bis zum Anfang Januar dieſes Jahres reichten, ſchienen nichts weiter über dieſe Angelegenheit zu enthalten. Wenigſtens fand Isma beim eiligen Durchblättern keine dahinzielende Notiz, und ſie hoffte ſchon, die Erklärung habe ihre Wirkung getan. Isma ſaß lange unfähig ihre Gedanken zu ordnen, den Kopf in die Hände geſtützt. Dann begann ſie weiterzuſuchen. Es folgten jetzt Exemplare anderer Zeitungen, ſogar einige Witzblätter. Da ſah ſie mit Abſcheu und Entſetzen, daß man offenbar im großen Publikum ſich nicht an die gegebene Aufklärung kehrte. Wo von Ell die Rede war — und ſein Buch über die Martier wurde überall erwähnt — da fand ſich auch irgendeine hämiſche oder witzelnde Bemerkung. Was mußte Torm dabei fühlen! Isma wollte nichts mehr ſehen, ſie ballte die Hände zuſammen. Da erblickte ſie auf der halbgebrochenen Seite eines Witzblattes unverkennbar das Geſicht Torms — ſie ſchlug das Blatt auf. Es war eine Karikatur — Torm in einem Luftballon auf dem Nordpol, über ihm ein Luftſchiff der Martier, worin Ell und Isma ihm lange Naſen drehen — — Sie las nicht, was darunter ſtand, ſie ſprang auf und ergriff den Reſt der noch nicht durchblätterten Papiere, um ſie fortzuſchleudern. Da, was fällt da herab? Ein zuſammengelegtes, geſchloſſenes Papier — eine telegraphiſche Depeſche — ein Formular des Telegraphenamts in Sydney — die Adreſſe iſt in engliſcher Sprache geſchrieben — ‚An die Geſandtſchaft der Marsſtaaten für Frau Torm‘. Isma reißt das Papier auf. Der Inhalt iſt deutſch, mit lateiniſchen Buchſtaben von einer engliſchen Hand geſchrieben. Die Buchſtaben tanzen vor ihren Augen, ſie kann ſie kaum entziffern. „Berlin, den 6. Januar. Herzlichen Dank für die Aufklärung durch dein langes, liebes Telegramm! Das Mißgeſchick, das dich fernhält, ſchmerzlich betrauernd, ſende ich innige Grüße in treuer Liebe und erhoffe baldiges, ungetrübtes Wiederſehen. Dein Torm!“ Das Telegramm entſank ihrer Hand, und ihre nervöſe Spannung löſte ſich in einem ſchluchzenden Weinen. Eine direkte Nachricht hatte ſie nicht erwartet. Sie wußte, daß die Martier am 2. Januar nach Sydney gekommen waren und das Raumſchiff bereits Mitte Januar die Erde wieder verlaſſen hatte. In dieſer Zeit konnte kein Brief nach Berlin gelangen. Dein langes, liebes Telegramm! Alſo man war ſo aufmerkſam geweſen, ihren ganzen Brief an Torm zu telegraphieren. Ein leichter Schreck durchzog ihr ſparſames Hausfrauenherz, wenn ſie an die ungeheuren Koſten dieſes Rieſentelegrammes dachte. Aber es verſöhnte ſie einigermaßen mit der Hartnäckigkeit der Martier, nur offene Briefe zuzulaſſen. Sie war glücklich über das Telegramm, das kein Wort des Vorwurfs enthielt, und doch wie wenig ſagte es! Aber was kann man auch in einem Telegramm ſagen! Sie las die wenigen Zeilen immer wieder. Ma trat in das Zimmer. „Sitzen Sie nun ſchon zwei Stunden über den Blättern, Frauchen? Und geweint haben Sie auch? Ärgern Sie ſich nur nicht. Was gibt es denn?“ Isma verſuchte zu lächeln. „Hätte ich nur das Telegramm eher gefunden“, ſagte ſie, „ſo hätten mich die dummen Menſchen weniger gekränkt.“ „Aber Sie haben ja den Korb auf der falſchen Seite geöffnet — es hat doch wahrſcheinlich obenauf gelegen. Und nun kommen Sie gleich einmal mit mir! Saltner iſt da, er hat auch Nachrichten, von ſeiner Mutter und von Grunthe. Und Ell hat die Depeſche hergeſchickt, die er von Ihrem Mann bekommen hat. Es iſt doch nett von Ell, daß er alle euere Briefe an ihre Adreſſe hat telegraphieren laſſen und ſofortige telegraphiſche Antwort beſtellt hat.“ Isma erhob ſich. „Ich komme ſogleich“, ſagte ſie. Alſo Ell hatte ſie es zu verdanken, daß ſie ſchon eine Antwort bekommen hatte! Während ſie ihre Augen kühlte und ihr Haar ordnete, bedrückte ſie der Gedanke, daß ihr Brief zwanzig Seiten, eng beſchrieben — das waren gewiß an die viertauſend Worte — enthalten hatte. Wenn Ell das alles telegraphieren ließ, das war ja eine Depeſche für zwanzigtauſend Mark! Früher hätte ſie bei Ell überhaupt nicht daran gedacht, daß zwiſchen ihnen ein Abwägen des Gebens oder Nehmens beſtehen könne, aber jetzt war es ihr peinlich, ſich ſo verpflichtet zu fühlen. Bei ihrem Eintritt in das Empfangszimmer hielt ihr Saltner zuerſt freudeſtrahlend ein Telegramm entgegen, das ſie gar nicht zu entziffern vermochte. Es war von ſeiner Mutter. Aus den abgebrochenen, nicht ganz dialektfreien Sätzen, welche die gute Frau in der Abſicht, recht kurz zu ſein, gebaut hatte, war durch den engliſchen Telegraphiſten ein unmögliches Kauderwelſch geworden. Saltner aber genügte es vollſtändig, daraus die Freude der Mutter über ſein Wohlbefinden zu erſehen, und jedes verſtümmelte Wort machte er mit rührender Sorgfalt zu einem beſonderen Studium. Grunthe hatte nur kurz an Saltner telegraphiert, daß die plötzliche Abreiſe Ells ſehr ſtörend für die Stimmung der Bevölkerung in bezug auf die Martier ſei, da er ſelbſt die gegen Ells Schriften erhobenen Bedenken nicht genügend widerlegen könne. Die politiſchen Verhältniſſe bezeichnete er als ziemlich troſtlos; ſeine Anſicht, daß man alle von den Martiern geſtellten Forderungen bewilligen müſſe, um ihnen jede Veranlaſſung zu nehmen, ſich in die menſchlichen Angelegenheiten einzumiſchen, finde wenig Anhänger. Man unterſchätze die Macht der Martier und baue auf ihre Unfähigkeit, ſich außerhalb ihrer Schiffe auf der Erde zu bewegen, während doch rückhaltloſes Vertrauen und reiner Wille die einzigen Mittel ſein würden, den Einfluß der Nume zum Beſten zu lenken. Isma hatte die Zeilen nur durchflogen, um nun in Ruhe Torms langes Telegramm an Ell zu leſen. Es trug das Datum vom 8. Januar. Zunächſt war es rein geſchäftlich gehalten, ein Bericht des Leiters der Nordpolexpedition an deren Veranſtalter. Was Isma am meiſten intereſſierte, die perſönlichen Schickſale Torms, war nur kurz geſchildert. Dann aber hieß es: „Ich bedauere tief, daß Sie den heldenmütigen, aber übereilten Entſchluß meiner Frau unterſtützten und Friedau unter ſo ungewöhnlichen Umſtänden verließen. Mir perſönlich, wie dem allgemeinen Intereſſe entſtehen dadurch Schwierigkeiten, die ſich noch gar nicht abſehen laſſen. Bieten Sie allen Einfluß auf, um Ismas Rückkehr zu ermöglichen, und kommen Sie ſelbſt, um Ihre Sache zu führen. Wirken Sie darauf hin, daß die Marsſtaaten keine anderen Beſtrebungen verfolgen, als ganz allmählich einige ihrer techniſchen Fortſchritte uns zugänglich zu machen. Von jeder direkten Einwirkung befürchte ich Unheil für die Menſchen. Ich bleibe vorläufig in Berlin. Leider ſcheint in den maßgebenden Kreiſen Entſchlußloſigkeit zu herrſchen. Ich beſtätige dankend den Empfang der von Ihnen für die nachträglichen Koſten der Expedition angewieſenen Summe von 100.000 Mark. Torm.“ Isma ließ das Blatt ſinken. Sie fühlte ſich unſäglich elend. Um ihren Mann zu retten, hatte ſie ſich zur Reiſe entſchloſſen, und was hatte ſie erreicht! Welche Qualen hatte ſie ihm bereitet! Und den Freund abgezogen von ſeiner höchſten Pflicht, für den Frieden der Planeten zu wirken! Und ſie ſelbſt, einſam, machtlos, verbannt — — Sie ſprang auf und faßte Mas Hände. „Laſſen Sie mich fort“, rief ſie leidenſchaftlich. „Ich muß nach der Erde, ich muß zu meinem Mann! Ich muß Ell ſprechen. Wo iſt er?“ „Aber Frauchen, was iſt Ihnen? Zu Ell können Sie jetzt nicht, er iſt nach dem Pol gereiſt, um mit Ill zu konferieren. Aber beruhigen Sie ſich. Die nächſten Tage werden alles entſcheiden. Ich darf ihnen ſagen, wir verhandeln mit den Mächten, auch mit ihrem Vaterland. Sobald der Frieden geſichert iſt, ſollen Sie nach Hauſe.“ „Ich gehe natürlich mit“, rief Saltner. „Auf Ell rechnen Sie nicht, für ihn iſt es jetzt zu ſpät, oder noch zu zeitig. Was er verſäumt hat, kann er jetzt nicht einholen. Er hätte mit dem erſten Raumſchiff nach dem Südpol gehen und ſich ſofort nach Deutſchland begeben müſſen. Das wollte er nicht. Es war ein großes Unrecht.“ „Und wann“, ſeufzte Isma, „wann kommt endlich die Befreiung.“ Ma ſprach einige tröſtende Worte, als ſie plötzlich abberufen wurde. Schon nach wenigen Minuten kehrte ſie zurück. „Weinen Sie nicht mehr“, ſagte ſie zu Isma, „ich bringe Wichtiges für ſie, hoffentlich Gutes: Nachricht von Ill. Er hat telegraphiert, weil es vertraulich iſt, und beim Sprechen weiß man nie, wer zuhört. Nun, ich leſe ja ſchon, hören Sie nur: Soeben meldet Lichtdepeſche, daß ſämtliche Großmächte, falls England unſer Ultimatum nicht annimmt, Neutralität erklärt haben. Wir verpflichten uns gegen Verkehrsfreiheit, jeder Einmiſchung in politiſche Angelegenheiten uns zu enthalten. Leider Annahme des Ultimatums durch England ausſichtslos.“ Saltner ſprang auf. „Das iſt doch etwas! So wird der Krieg wenigſtens lokaliſiert, wenn man ſo ſagen darf. England geht es freilich an den Kragen, es iſt ja traurig. Aber wir haben Frieden, Gott ſei Dank! Nun dürfen wir zurück, nicht wahr?“ „Ich zweifle nicht“, ſagte Ma. „Gibt England nicht nach, ſo geht übermorgen, ſobald Ihr zweiter März anfängt, Raumſchiff auf Raumſchiff nach dem Nordpol, und Sie dürfen ſicher mitreiſen. In vier bis fünf Wochen können Sie daheim ſein. Aber Frauchen, was machen Sie, wie ſehen Sie aus? Gleich kommen Sie mit mir, Sie müſſen in Ihr irdiſches Schwerekämmerchen!“ Die Aufregung, die Sorge und nun die plötzliche Ausſicht auf Heimkehr hatten Ismas Widerſtandskraft gelähmt. Alles Blut war aus ihrem Geſicht entwichen, mit bleichen Wangen, einer Ohnmacht nahe, lag ſie auf ihrem Seſſel. Ma umfaßte ſie und führte ſie ſchonend auf ihr Zimmer. 41. Die Schlacht bei Portsmouth England hatte das Ultimatum abgelehnt. Hierauf ging an den Befehlshaber der martiſchen Streitkräfte auf dem Südpol der Erde die Weiſung, mit Gewaltmaßregeln unnachſichtlich, doch ohne Blutvergießen vorzugehen. Am zweiten März erfolgte die Kriegserklärung. Eine Mitteilung an die Regierungen und eine Proklamation an alle Völker der Erde beſagte, daß vom ſechsten März mittags zwölf Uhr an England und Schottland von jedem Verkehr abgeſchnitten ſein würden. Von dieſem Zeitmoment an werde die Blockade über die Küſte dieſer Länder effektiv ſein, und zwar in der Art, daß es keinem Schiff geſtattet ſein ſolle, die Zone von fünf bis zu zehn Kilometer Abſtand von der Küſte weder landwärts noch ſeewärts zu überſchreiten. Alle fremden Schiffe müßten bis dahin die engliſchen Häfen verlaſſen haben. Man lachte in England darüber als über eine Aufſchneiderei der Martier. Doch als es ſich in der Nacht vom zweiten zum dritten März herausſtellte, daß ſämtliche Kabel, welche England mit dem Kontinent und mit Irland verbanden, unterbrochen waren und die telegraphiſche Verbindung ſomit aufgehoben war, ohne daß eines der vor der Küſte kreuzenden Kriegsſchiffe bemerkt hatte, wie die hierzu erforderlichen Arbeiten ausgeführt worden ſeien, beeilten ſich die in den Häfen befindlichen fremden Schiffe, ſich zu entfernen. Die in England weilenden Ausländer ergriffen ſcharenweiſe die Flucht. Am Morgen des ſechsten März hatten alle fremden Schiffe, die es irgend ermöglichen konnten, England verlaſſen. Auch die Poſtdampfer legten nicht mehr in den engliſchen Häfen an. Die Flotte war, ſoweit ſie nicht in den Kolonien gebraucht wurde, vor Portsmouth verſammelt. Von allen Schiffen, von allen Befeſtigungen am Land, von den Anhöhen und den Landhäuſern auf Wight ſpähte man nach dem Gegner aus, der ſich anheiſchig gemacht hatte, ein Land von 230.000 Quadratkilometern Fläche mit einer Bevölkerung von 35 Millionen, geſchützt von der ſtärkſten Flotte der Erde, vom Weltverkehr abzuſperren. Nichts war zu ſehen. Die zwölfte Stunde rückte heran. Einige Schiffe, die von der Blockade noch nichts gehört hatten, paſſierten ungehindert die zu ſperrende Zone. Beſonders lebhaft war der Verkehr nach der Inſel Wight. Zahlreiche Perſonendampfer waren hier unterwegs, Boote aller Art belebten das Waſſer. Noch fehlten wenige Minuten zu zwölf Uhr. Die Kriegsflotte im Hafen ging unter Dampf. Majeſtätiſch verließ, allen voran, das neue Rieſenpanzerſchiff ‚Viktor‘ von 15.000 Tonnen mit ſeinen 30.000 indizierten Pferdekräften die Hafeneinfahrt. Die Kanonen donnerten ihren Salut. Nichts Verdächtiges zeigte ſich nach der Seeſeite zu. Aber eine Minute vor zwölf Uhr erſchienen plötzlich über dem Land ſechs dunkle Punkte, die ſich ſchnell vergrößerten. Im Fernrohr erkannte man ſie als Luftboote. In eine Reihe aufgelöſt hatten ſie im Augenblick alle Schiffe überholt und ſenkten ſich dem Waſſer zu. Es ſchlug zwölf Uhr. In demſelben Augenblicke wurde die bis dahin ruhige See lebhaft bewegt. Am öſtlichen Ausgang der Spithead-Bucht, dort wo der Abſtand zwiſchen Wight und der engliſchen Küſte die Breite von zehn Kilometern erreicht, erſchien eine gewaltige Brandung, wie durch ein Seebeben aufgewühlt. Die Schiffe, welche ſich in der Nähe befanden, beeilten ſich, den Wogen zu entgehen, indem ſie nach dem Land zurückkehrten. Nahe über der Oberfläche des Meeres ſchwebend, markierte ein Luftſchiff der Martier den Punkt, bis zu welchem der Abſperrungsgürtel ſich in die Bucht von Spithead hinein zog. Die übrigen verteilten ſich in der Nähe auf der Südſeite von Wight und öſtlich von Portsmouth. Die Martier hatten, indem ſie das Waſſer durch eine Reihe von Repulſitſchüſſen aufregten, nur die weiter als fünf Kilometer von der Küſte befindlichen Schiffe vertreiben wollen. Weiter durfte ſich von jetzt ab kein Schiff vom Land entfernen und keines näher als zehn Kilometer ſich der Küſte nähern. Indeſſen blieb der Verkehr weſtlich von dem markierten Punkt zwiſchen Wight und der Küſte ungehindert, die Inſel gehörte mit in den blockierten Bezirk. Ein großer engliſcher Dampfer, von Le Havre nach Southampton zurückkehrend, wurde ſichtbar. Schneller als ein Pfeil durch die Luft ſchießend, erreichte ihn eines der Marsſchiffe und rief ihm, dicht an Bord hinſchwebend, den Befehl zu, umzukehren. Wohl wußte der engliſche Kapitän, daß er ſein Schiff aufs Spiel ſetze, wenn er dem Gebot nicht folge. Aber von dem Ausguck haltenden Matroſen war ihm bereits gemeldet, daß die Kriegsflotte in der Bucht unter Dampf ſei und auf ihn zuhalte. Schon näherte ſich der ‚Viktor‘ dem Luftſchiff, welches die Sperrgrenze markierte; eine Granate ſauſte unter dem ſchnell aufſteigenden Luftſchiff fort. Unter dieſen Umſtänden glaubte der Kapitän, dem Befehl des Marsſchiffes Trotz bieten zu können, und ſetzte ſeinen Kurs fort. Aber ſofort richtete ein Schlag, der das Schiff an ſeinem Vorderteil traf, eine ſtarke Verwüſtung auf dem Deck an, und von dem Marsſchiff wurde ihm zugerufen, daß, wenn er nicht ſofort wende, ſein Schiff auf der Stelle in Grund gebohrt werden würde. Nun zögerte der Kapitän nicht länger und entfernte ſich wieder vom Land, in der Hoffnung, die Flotte werde den Weg bald freimachen. Inzwiſchen begann ſich die Kriegsflotte in einer Stärke von gegen dreihundert Schiffen, darunter zwanzig Panzerſchiffe erſter Klaſſe, in der Bucht von Spithead zu entwickeln und ſchickte ſich an, die blockierte Linie zu forcieren, auf der man nichts bemerkte als drei langſam hin- und hergleitende Luftſchiffe der Martier. Auf dieſe konzentrierte ſich jetzt das Feuer von vielleicht fünfzig Geſchützen ſtärkſten Kalibers. Geſchoß auf Geſchoß flog gegen die in mäßiger Höhe ſchwebenden Ziele. Aber ſeltſam! Nicht ein einziges Geſchoß ſchien zu treffen. Völlig ruhig, als exiſtierte für ſie der Angriff gar nicht, ließen die Martier die Flotte herankommen. Allen voran dampfte die Rieſenmaſſe des ‚Viktor‘. Sein gepanzertes Verdeck war, in Rückſicht auf die Erfahrungen der ‚Prevention‘ mit dem martiſchen Luftſchiff, mit einer beſonderen Konſtruktion von Schießſcharten verſehen, um einen in der Höhe befindlichen Gegner mit Gewehrkugeln begrüßen zu können. Aber das Marsſchiff, gegen welches ſich jetzt die Handfeuerwaffen richteten, ſchien gegen dieſelben gefeit zu ſein. Unheimlich erſchien dieſe Ruhe des Feindes, den man bald direkt über ſich erblicken mußte. Jetzt konnte man an einem der aus dem Hafen dampfenden Schiffe die Admiralsflagge unterſcheiden. Sofort hißte auch eines der Marsſchiffe, um ſich den Engländern, dem menſchlichen Gebrauch folgend, kenntlich zu machen, die Flagge, welche die Anweſenheit des oberſten Befehlshabers an Bord bezeichnete. Es war dasſelbe Schiff, das den von Le Havre kommenden Dampfer eben zurückgewieſen hatte. In noch nicht einer Minute hatte es die zehn Kilometer zurückgelegt, die es vom engliſchen Admiralsſchiff trennten, und hier legte es ſich direkt zur Seite des Kommandoturmes, in welchem ſich der Admiral, ein königlicher Prinz, neben dem Kapitän des Schiffes befand. Vergeblich richtete ſich ein Hagel von Geſchoſſen gegen das kühne Luftſchiff. Es ſchien in einem leichten Nebel zu ſchwimmen, in welchem Granaten wie Langblei wirkungslos zerrannen. Und nun geſchah etwas ganz Unerwartetes. Immer näher rückte das Luftſchiff dem Kommandoturm, und lautlos, ein unerhörtes Wunder, löſten ſich die ſtählernen Platten des Panzerturms auf der Seite des Luftſchiffs und verdampften oder verſchwanden in der Luft. Schutzlos ſahen ſich die Befehlshaber dem ſchwebenden Feind gegenüber. Aber kein Angriff auf ſie erfolgte. Durch den Donner der Geſchütze der in der Front befindlichen Schiffe geſchwächt, aber deutlich verſtändlich vernahmen ſie die engliſchen Worte: „Der Oberbefehlshaber der martiſchen Luftflotte, Dolf, beehrt ſich an Ew. kgl. Hoheit die Bitte zu richten, ſämtlichen unter Ihren Befehlen ſtehenden Schiffen die Weiſung zu erteilen, die Flagge zu ſtreichen und ſich binnen einer Stunde in den Hafen von Portsmouth zurückzuziehen. Ich würde mich ſonſt gezwungen ſehen, jedes Schiff, das nach zehn Minuten noch ſeine Flagge zeigt oder einen Schuß abgibt und das nach einer Stunde ſich nicht im Hafen befindet, zu verſenken, und müßte Ew. kgl. Hoheit für die entſtehenden Verluſte verantwortlich machen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, war das Luftſchiff verſchwunden. Aber ehe es noch in die Linie der Marsſchiffe zurückgekehrt war, hatte der ‚Viktor‘ den Punkt erreicht, den nach der Inſtruktion der Martier kein Schiff überſchreiten durfte. Da ging das dort befindliche Luftſchiff aus ſeiner Warteſtellung. Es ſenkte ſich direkt hinter dem Panzerſchiff bis dicht über die Oberfläche des Waſſers und drängte ſich an ſeine Rückſeite. Die Nihilithülle des Luftſchiffes, die es gegen jeden Angriff ſchützte, zerſetzte die fünfzig Zentimeter dicken Panzerplatten binnen ebenſoviel Sekunden. Ein Repulſitſchuß zerſtörte das Steuer, ein zweiter ſchlug ſchräg von oben nach unten durch das Schiff und zerbrach eine Schraubenwelle. Das Rieſenſchiff war unfähig, ſich zu bewegen. Jetzt erhob ſich das Luftſchiff wieder und ſchmolz das Dach des Kommandoturms ab. Mit Entſetzen ſah der Kapitän das Schiff über ſich ſchweben, während die von ſeiner Mannſchaft auf dasſelbe gerichteten Schüſſe nicht die geringſte Wirkung zeigten. Ratlos ſtarrte er in die Höhe. Dieſe Art des Kampfes mit einem unverletzbaren Gegner mußte auch den Tapferſten entmutigen. Aus dem Marsſchiff kam eine Stimme: „Die geſamte Beſatzung in die Boote. Das Schiff wird verſenkt. Wir müſſen ein Exempel ſtatuieren, damit unſre Befehle künftig beſſer befolgt werden.“ Der Kapitän ſah, daß er verloren war. Er ließ die Boote bemannen und abſtoßen. Er ſelbſt blieb im Kommandoturm, entſchloſſen, mit dem Schiffe, deſſen Flagge im Winde flatterte, unterzugehen. Die Boote entfernten ſich. Das Marsſchiff drängte ſeinen Nihilitpanzer an die Seite des Panzerſchiffes, dicht über der Waſſerlinie. Die eiſernen Wände öffneten ſich, während ſich das Marsſchiff in die Luft erhob. Es wandte ſich nach dem Kommandoturm, um den Kapitän an ſeiner Selbſtaufopferung zu verhindern. Aber ſchon neigte ſich der Koloß ‚Viktor‘ zur Seite. Mit wehender Flagge ſank er in die Flut, die ſich weitaufbrauſend über ihm und ſeinem Führer ſchloß. Der Kommandant des Marsſchiffes trieb ſein Boot dicht über den ſchäumenden Wirbel hin, um nach dem Kapitän des ‚Viktor‘ zu ſuchen. Die Woge brachte ihn nicht zurück. Die Augen der Martier verdüſterten ſich, und finſterer Ernſt lagerte über ihren Zügen. Noch einmal umkreiſte das Boot langſam die Stelle. „Wir ſollen den Willen der Menſchen brechen“, ſagte der Anführer, den Gedanken der Seinigen Worte leihend, „aber kein Menſchenleben ſoll mit unſerem Willen zugrunde gehen. Doch der Wille dieſes Tapfern war ſtärker als der unſere. Er konnte nicht leben, der das ſtärkſte Schiff der Erde nicht weiter als drei Seemeilen über den Hafen hinausgebracht hatte. Gott verzeihe uns, wir wollten nicht töten.“ Ein Signal weckte die Mannſchaft aus ihrer Stimmung, die mehr der eines Beſiegten als eines Siegers glich. Das Luftboot des Oberbefehlshaber Dolf war zurückgekehrt. „Vorwärts!“ rief er dem erſten Marsſchiff zu, „drei andere Panzerſchiffe durchbrechen die Linie. In den Grund mit ihnen!“ Der Offizier gehorchte ſchweigend. „Wir ſind keine Mörder“, murmelte es in der Mannſchaft. Aber das Luftboot ſtürzte ſich auf ein zweites Panzerſchiff und zerſchmetterte ihm das Steuer und die Maſchine. Ein Gleiches taten die übrigen Boote mit den engliſchen Schiffen, welche die Grenze der Blockade überſchritten. Als ein ſteuerloſes, hilfloſes Wrack trieben bereits ſieben Panzerſchiffe erſter Klaſſe auf den Wellen. Aber die Martier verſenkten ſie nicht, weil ſie jeden Augenblick erwarteten, daß der engliſche Admiral das Signal zur Ergebung und zum Rückzug der Flotte geben würde. Doch nichts dergleichen geſchah. Die zehn Minuten waren längſt abgelaufen. Die Flotte rückte weiter vor. Der Admiral konnte ſich nicht entſchließen, ſo ruhmlos die Waffen zu ſtrecken, obwohl ihn ein Grauen vor dem unerreichbaren Gegner umfing. Das Verderben nahm ſeinen Fortgang. Die Martier begnügten ſich überall damit, die Maſchinen und Steuervorrichtungen zu zerſtören. Obwohl ſie ihre ſicheren Repulſitſtröme nur auf das Material wirken ließen, traten trotzdem hier und da Exploſionen und Zerſchmetterungen ein, denen auch Menſchenleben zum Opfer fielen. Doch waren die Verluſte der Engländer an Mannſchaft gering, ihre Schiffe aber kampfunfähig. Bleiches Entſetzen bemächtigte ſich allmählich der Offiziere und Matroſen, als ſie ſahen, daß ſie dem Feind ſchutzlos preisgegeben waren. Ihre herrlichen Fahrzeuge waren ein Spiel der Wellen. Von den Luftſchiffen der Martier, die unverletzlich blieben, verließ nur von Zeit zu Zeit eines den Kampfplatz, um von einem in großer Höhe ſchwebenden Munitionsſchiff ſeinen Vorrat an Nihilit und Repulſit zu ergänzen. Eine halbe Stunde mochte dies nutzloſe Ringen gedauert haben, als auch das Admiralsſchiff manövrierunfähig wurde. Ein Luftſchiff überſegelte ſeine Maſten, und die Flagge verſchwand. Was ſich von Schiffen noch bewegen konnte, ſuchte in den Hafen zu fliehen. Aber dies nützte nun nichts mehr. Ein großer Teil der Schlacht war direkt unter den Kanonen der Feſtungswerke geſchlagen worden. Sie konnten die Vernichtungsarbeit der Martier nicht beeinträchtigen. Die Luftſchiffe gingen in den Hafen und zerſtörten ſyſtematiſch die Bewegungsmechanismen ſämtlicher Schiffe. Nun wurde von den Engländern die Parlamentärflagge aufgezogen. Die Martier verlangten als erſte Bedingung, daß die Mannſchaft der kampfunfähigen Schiffe geborgen werde. Alles, was an Handelsſchiffen und Booten aufzutreiben war, wurde darauf nach der Reede entſandt und brachte die Mannſchaft der außer Bewegung geſetzten Schiffe ans Land. Die Engländer hatten jetzt eingeſehen, daß es ganz nutzlos ſei, ihr Pulver zu verſchießen. Sie konnten nur noch darauf bedacht ſein, das Leben der Seeleute zu ſchonen und weiteren Materialſchaden zu vermeiden. Als alle Menſchen und die Hilfsflottille wieder im Hafen angelangt waren, legten ſich zwei der Marsſchiffe vor die Mündung und erklärten den Hafen für geſperrt. Die herrenloſen Schiffe trieben unter einem leichten Weſtwind allmählich in den Kanal hinaus und wurden nach und nach von franzöſiſchen, holländiſchen und deutſchen Dampfern geborgen, die ſich in großer Anzahl in ſicherer Entfernung von der Blockadelinie angeſammelt hatten und Zeugen des rätſelhaften Vernichtungskampfes geworden waren. Ähnliche Vorgänge wie bei Portsmouth, nur in kleinerem Maßſtab, ſpielten ſich überall ab, wo ſich Kriegsſchiffe an der engliſchen Küſte vorfanden. Die Martier hatten Punkt 12 Uhr am 6. März die geſamte Küſte von England und Schottland in ihrer Ausdehnung von faſt 4.800 Kilometer mit ihren Luftſchiffen beſetzt, deren ſie vorläufig 48 zur Verfügung hatten. So kam im Durchſchnitt eine Küſtenlänge von 100 Kilometer auf jedes Schiff. Doch dehnte ſich dieſe Strecke, je nach der Beſchaffenheit der Küſte, für manche Schiffe auf 500— 600 Kilometer aus, während ſich die Marsſchiffe vor den beſuchten Häfen dichter gruppierten. Wo ein Schiff ſich zeigte, ſtürzte ſofort ein Luftſchiff der Martier herbei und zwang es zur Umkehr oder vernichtete es im Fall des Ungehorſams auf eine ſolche Weiſe, daß ſich die Mannſchaft gerade noch nach der Küſte retten konnte. Von außen kommende fremde Schiffe wurden einfach durch einen ins Waſſer abgegebenen Repulſitſchuß zurückgetrieben. Tatſächlich gelangte außer den einheimiſchen, kleineren Fiſcherbooten, die man paſſieren ließ, kein Schiff mehr vom 6. März an nach der engliſchen Küſte, keines gelangte ins Ausland. An dieſem Tage ward die Macht Englands gebrochen. Die Flotte war vernichtet. Wut und Beſtürzung herrſchten im ganzen Land. In London war man ratlos. Niemand wußte, wie man ſich gegen einen ſolchen Feind verhalten ſolle. Das Miniſterium trat zurück, aber es fanden ſich keine Nachfolger. Man wollte um Frieden bitten, aber die aufgeregte Volksſtimme rief nach Rache. Endlich entſchloß man ſich, den Widerſtand fortzuſetzen, in der Hoffnung, daß ſich Hilfe von auswärts finden werde oder daß man irgendein Mittel entdecke, die Blockade zu brechen. So vergingen Wochen, in denen man nichts hörte, als daß die Martier in dieſem oder jenem Hafen noch ein armiertes Schiff entdeckt oder verſenkt, daß ſie hier eine Werft, dort ein Dock vernichtet hätten. Alle Verſuche, den geſperrten Gürtel heimlich im Schutz der Nacht zu paſſieren, blieben vergeblich. Die Marsſchiffe, einen Weg von hundert Kilometern in ſieben bis acht Minuten durchſauſend, beleuchteten mit ihren Scheinwerfern den geſperrten Streifen taghell, und ehe ein Schiff ſich weit genug entfernen konnte, war es aufgefunden. Selbſt der Nebel ſchützte nicht vor Entdeckung. Denn nach einigen Tagen hatten die Martier einen großen Teil der Küſte mit einem dünnen, ſchwimmenden Kabel umzogen, deſſen Berührung durch ein Schiff ihnen ſofort die getroffene Stelle anzeigte. Und keine Nachricht von außen! Der Handel unterbrochen, alle Arbeiter, deren Beſchäftigung von der Schiffahrt abhing, ohne Tätigkeit. Und ſchon begann die mangelnde Einfuhr der Lebensmittel in einer drückenden Erhöhung der Preiſe ſich zu zeigen. England war aus der Welt geſtrichen. Aber die Welt ging weiter. Neue Raumſchiffe kamen an mit neuen Luftbooten. Dieſe gingen nicht zur Verſtärkung der Blockade ab, ſondern ſie ſuchten die engliſchen Kriegsſchiffe in den Kolonien auf und bedrohten ſie mit Vernichtung, ſoweit nicht die Befehlshaber ſich in den Dienſt der Kolonien ſtellten. Letztere ſahen ſich plötzlich auf ſich ſelbſt angewieſen. Indien, Kanada, die auſtraliſchen Kolonien und das Kapland erklärten ſich für unabhängig und ſetzten ſelbſtändige Regierungen ein. Dasſelbe tat Irland. Die Marsſtaaten erkannten ſie als ſouveräne und neutrale Staaten an, und ſo gewaltig war der Eindruck, den die Vernichtung der engliſchen Flotte auf der ganzen Erde gemacht hatte, daß kein Staat Einſpruch gegen dieſe Veränderungen erhob. Keine Hand rührte ſich für England. Die anderen Nationen beeilten ſich vielmehr, die bisherigen Handelsgebiete Großbritanniens für ſich zu ſichern. Von den kleineren Kolonien zog jede Macht an ſich, was ſie zur Abrundung oder zur beſſeren Verbindung ihres Beſitzes für nötig hielt. Die Beute war vorläufig ſo reich, daß man ſich an diejenigen Gebiete noch nicht machte, die zu Streit unter den Erbteilern hätten Anlaß geben können. Im ſtillen verhandelten die europäiſchen Großmächte über eine Teilung des engliſchen Beſitzes am Mittelmeer und eine Auflöſung der Türkei. Jetzt erſt ließen die Martier Zeitungen der auswärtigen Staaten nach England gelangen. Was man dort längſt befürchtet hatte, war eingetroffen. Die Völker teilten ſich in die engliſche Erbſchaft, ohne ſich viel darum zu bekümmern, ob der Erblaſſer wirklich tot ſei. Das gab den Ausſchlag. Die Furcht, auch das Letzte zu verlieren, bändigte den engliſchen Nationalſtolz. Man bat um Frieden. Alles, was die Martier verlangt hatten, wurde zugeſtanden, nur den Kapitän Keswick und den Leutnant Prim konnte man nicht mehr beſtrafen. Sie waren bei einem Verſuch, die Blockade zu brechen, mit ihrem Schiff untergegangen, von den Martiern aber gerettet worden. Sie befanden ſich als Gefangene bereits am Nordpol. Aber auch den gegenwärtigen Zuſtand in den Kolonien und die Abmachungen der Mächte über die Türkei mußte England anerkennen. Dafür erklärten die Marsſtaaten, das nun wehrloſe England gegen alle etwaigen weiteren Angriffe auf ſeinen nunmehrigen Beſtand ſchützen zu wollen. England hatte einen Protektor. — — Nach einer durch ungeheuren Repulſitverbrauch beſchleunigten Fahrt von nur ſiebzehn Tagen war Ill auf dem Nordpol der Erde eingetroffen. Am fünften April war der Präliminarfriede geſchloſſen und die Blockade aufgehoben worden. Aber nicht nur das gedemütigte England beugte ſich dem Sieger, der unter den Kanonen von Portsmouth dreihundert Kriegsſchiffe binnen drei Stunden durch ein halbes Dutzend Luftſchiffe mit nur 144 Mann Beſatzung vernichtet hatte. Was die Nachrichten über die hohe Kulturaufgabe der Martier nicht vermocht hatten, das Entgegenkommen der ziviliſierten Erdſtaaten zu gewinnen, das brachte die Bezwingung Englands durch Nihilit und Repulſit alsbald zuſtande. Es begann ein förmlicher Wetteifer der Regierungen, die Gunſt des martiſchen Machthabers zu gewinnen, der aus dem reichen engliſchen Beſitz Länder und Meere verſchenkte. Die Marsſtaaten waren unter dem Namen ‚Polreich der Nume‘ nicht nur als ein Faktor im Rat der Großmächte anerkannt, ſie nahmen bereits tatſächlich die führende Stellung ein. Unter dem Titel eines Präſidenten des Polreichs und Reſidenten von England und Schottland übte Ill die Regierungsgewalt im Auftrag der Marsſtaaten aus. Alles dies war geſchehen, ohne daß ein Martier ſein Luftſchiff verlaſſen hatte. in dem großen, in einem Park Londons auf weiter Wieſenfläche ruhenden Luftſchiff empfing Ill die Miniſter Englands und die Geſandten der fremden Staaten. Es erregte daher trotz allem Ungewöhnlichen, das man im letzten Jahr erlebt hatte, nicht geringe Spannung und Befriedigung, daß der Präſident des Polreichs bei den Höfen und Regierungen in Berlin, Wien, Petersburg, Rom, Paris und Washington um einen perſönlichen Empfang nachſuchen ließ. Es verlautete, daß ſich daran die Einſetzung ſtändiger Botſchafter in dieſen Hauptſtädten und ein von den Martiern einzurichtender regelmäßiger Luftſchiffverkehr mit dem Pol anſchließen werde. Im ſtillen hoffte man, daß das geheimnisvolle Grauen, welches die Perſonen der Martier für die Menſchen umhüllte, verſchwinden werde, ſobald man Gelegenheit haben würde, ſie außerhalb des Schutzes ihrer Luftſchiffe unter der natürlichen Schwerkraft der Erde ſich beugen zu ſehen. Der einzige Menſch auf der Erde, der dieſe Hoffnung nicht teilte, war vielleicht Grunthe. Er war überzeugt, daß Ill dieſen Schritt nicht getan hätte, wenn nicht die Martier zuvor ein Mittel entdeckt hätten, ſich auch außerhalb ihrer Schiffe vom Druck ihres Körpergewichts zu befreien. 42. Das Protektorat über die Erde Torm bewohnte in Berlin zwei bequem eingerichtete Zimmer in einem Hotel garni der Königgrätzer Straße. Nach ſeiner Rückkehr war er überall der Held des Tages geweſen, den man nicht genug feiern konnte und um ſo mehr feierte, als Grunthe ſich ſehr geſchickt von der Öffentlichkeit zurückzuziehen wußte. Seit der Ankunft der Martier in Auſtralien und dem Ausbruch ihres Krieges mit England waren aber die beiden Polarforſcher, deren Reiſe die eigentliche Veranlaſſung war, daß die Martier mit den Staaten der Erde in Verbindung traten, ziemlich in Vergeſſenheit geraten. Das öffentliche Intereſſe hatte ſich jetzt wichtigeren Gegenſtänden zugewendet. Am 20. März, dem Tag nach der Ankunft Ills am Pol, hatte Torm zwei in Calais aufgegebene Depeſchen erhalten, datiert aus Kla auf dem Mars, vom 2. März. Die erſte enthielt nur die Worte: „Ich komme mit dem nächſten Raumſchiff. Deine Isma.“ Die zweite war von Saltner und beſagte, daß Frau Torm und er ſelbſt die Erlaubnis zur Heimreiſe erhalten hätten, da ſie aber zum Abgang des Regierungsſchiffes nicht mehr zurechtkommen könnten, erſt mit dem nächſten Schiff reiſen und daher vor Mitte April nicht bei ihm eintreffen würden. Auch Ell habe ſich entſchloſſen, ſie zu begleiten. Seitdem hatte Torm keine Nachricht mehr erhalten und konnte auch keine erwarten. Denn kein anderes Raumſchiff als der ‚Glo‘ legte, wie Grunthe erklärte, bei der jetzigen Planetenentfernung den Weg unter fünf Wochen zurück. Heute ſchrieb man den 12. April. Es war ein Feſttag in Berlin, das in verſchwenderiſchem Schmuck prangte. Die Geſandtſchaft des Mars ſollte vom Kaiſer empfangen werden. Unter Glockengeläut und Kanonendonner drängte ſich eine jubelnde Menge in den Straßen. In goldigem Eigenlicht wie die Morgenröte ſtrahlend, mit nie geſehenen Verzierungen geſchmückt, bewegte ſich ein glänzender Zug kleiner Luftgondeln, in Mannshöhe über dem Boden ſchwebend, durch die Straßen; von den Fenſtern aus überſchütteten die Damen den Zug, trotz der frühen Jahreszeit, mit koſtbaren Blumen. Brauſende Hurrarufe betäubten das empfindliche Ohr der Martier. Torm hatte ſeinen Platz auf der Tribüne im Luſtgarten nicht benutzt. Ihm waren dieſe Martier verhaßt. Hatten ſie ihm doch den Haupterfolg ſeiner Expedition und nun auch die Freude der Heimkehr ins eigene Haus geraubt. Unruhig ging er in ſeinem Zimmer auf und ab. Es klopfte, und Grunthe trat ein. „Sie ſind auch nicht draußen bei den Narren, ich dachte es mir“, empfing ihn Torm. Grunthe runzelte die Stirn und blickte finſter vor ſich hin. „Es iſt eine Schmach“, ſagte er, „die Menge bejubelt ihre Unterdrücker. Aber das tut ſie immer. Morgen wird ſie ebenſo in Paris, übermorgen in Rom jubeln, und noch viel ärger. Wenn man das ſieht, ſo kann man nur ſagen, dieſe Menſchen verdienen es nicht beſſer, als von den Martiern vernichtet zu werden. Sie werfen ſich ihnen zu Füßen, und ſo werden ſie als Mittel ihrer Zwecke zertreten werden.“ Torm zuckte die Achſeln. „Was ſollen ſie tun? Nihilit iſt kein Spaß.“ „Und ich ſage Ihnen“, entgegnete Grunthe faſt heftig, „kein Martier vermag den Griff des Nihilitapparates zu drehen, keiner einem Menſchen ſeinen Willen aufzuzwingen, wenn ihm der Menſch mit feſtem, ſittlichem Willen gegenübertritt, mit einem Willen, in dem nichts iſt als die reine Richtung auf das Gute. Aber jene Engländer — und wir ſind nicht beſſer — hatten nur das eigene Intereſſe, ihren ſpezifiſch nationalen Vorteil, nicht aber die Würde der Menſchheit im Auge, und ſo ſind ſie Wachs in den Händen der Martier. Sie können mir glauben, denn ich habe jenem Ill getrotzt, vor dem jetzt Kaiſer und Könige ſich neigen. Ich weiß es freilich, daß wir verloren ſind. Ich habe Ill geſehen, wie er mit ſeinen Martiern nur einige Schritte durch den Garten der Sternwarte von Friedau ſchlich, auf Krücken geſtützt und zuſammenbrechend unter der Erdſchwere. Und ich habe ihn heute geſehen, durch den Garten des Kanzlerpalais ſchreitend, aufgerichtet wie ein Fürſt, im ſchimmernden Panzerkleid; unter den Knien ſchützten ihn weit nach den Seiten ausgebogene Schäfte und über dem Haupt, auf kaum ſichtbaren Stäben, von der Schulter geſtützt, der glänzende diabariſche Glockenſchirm gegen die Schwere. So haben ſie es verſtanden, ſich von dem Druck der Erde unabhängig zu machen. Aber dies alles würde ihnen nichts nützen, wenn wir ſelbſt wüßten, was wir wollen.“ Auf der Treppe entſtand Lärm. Man vernahm eine helle Stimme. „Sakri, laſſens mich los! Ich kenn’ mich ſchon aus.“ „Das iſt Saltner“, rief Torm. Er ſtürzte zur Tür. Sie flog auf. „Da bin ich halt wieder! Grüß Gott viel tauſendmal!“ Er ſchüttelte beiden die Hände. „Und meine Frau?“ war Torms erſte Frage. „Machens ſich keine Sorge!“ ſagte Saltner. „Die Frau Gemahlin wird bald nachkommen, es geht ja jetzt alle paar Tage ein Schiff nach der Erde.“ „So iſt ſie nicht mitgekommen?“ rief Torm erbleichend. „Sie hat halt nicht gekonnt. Sie iſt ein biſſerl bettlägrig, aber ’s hat weiter nichts auf ſich, nur daß ſie der Doktor nicht gerad wollt’ reiſen laſſen.“ „So hat ſie geſchrieben?“ „Schreiben konnte ſie nicht. Aber grüßen tut ſie gewiß vielmals.“ „So haben Sie ſie gar nicht geſprochen?“ „Das war mir gerad in den Tagen nicht möglich, weil ſie noch zu ſchwach war. Aber der Doktor ſagt, ſie wird bald ſoweit ſein, daß ſie reiſen kann. Sie brauchen ſich wirklich nicht zu ängſtigen.“ Torm ſetzte ſich. „Und Ell?“ fragte er finſter. „Wo iſt Ell?“ „Er iſt zurückgeblieben, bis die Frau Gemahlin reiſen kann. Er wollte ſie nicht allein laſſen. Es iſt vielleicht unrecht, daß ich allein gereiſt bin und nicht gewartet hab. Aber ſchauen Sie, die Sehnſucht, und dann dacht’ ich, es wär doch beſſer, ich brächte Ihnen ſelbſt die Auskunft, als daß wir bloß ſchreiben ſollten.“ „Es iſt recht, daß Sie kamen“, ſagte Torm, ſich erhebend, „verzeihen Sie, daß ich zuerſt an mich dachte, ich habe Ihnen ja ſoviel und herzlich zu danken. Und jetzt komme ich ſogleich wieder mit einer Bitte. Sie ſollen mir einen Platz auf dem nächſten Raumſchiff erwirken, ich will nach dem Mars!“ Saltner und Grunthe blickten ihn erſtaunt an. „Das werden Sie doch nicht tun!“ rief Saltner. „Sie würden ſich mit der Frau Gemahlin verfehlen.“ „Das werde ich nicht. Ill iſt hier. Grunthe wird mir die Bitte nicht verweigern, er wird mit ihm ſprechen, uns eine Lichtdepeſche zu gewähren. Wir werden erfahren, ob Isma noch dort iſt, wir werden uns verſtändigen. Und wenn ihre Krankheit noch anhält, ſo werde ich reiſen. Ich werde.“ „Das Reiſen läßt ſich ſchon machen. Ich bin jetzt mit der Geſandtſchaft, das heißt heute im Nachtrab, angekommen, daher weiß ich’s. Von jetzt ab geht alle Wochen ein Luftſchiff von hier nach dem Pol, und von dort an jedem 15. des Monats ein Raumſchiff nach dem Mars, das Menſchen als Paſſagiere mitnimmt. Man will den Planetenverkehr eröffnen. Es koſtet hin inkluſive Verpflegung bloß 500 Thekel — 5.000 Mark wollte ich ſagen.“ Torm ſah ihn verwundert an. „Bloß?“ fragte er. „Ja, wir haben Geld. Fünftauſend Mark ſind die Währungseinheit.“ Torm ergriff ſeine Hand. „Setzen Sie ſich erſt und erzählen Sie dann.“ Saltner nahm Platz und begann zu ſprechen. Grunthe fragte mitunter dazwiſchen. Torm aber hörte nur halb, ſeine Gedanken waren auf dem Mars. Sie war krank! Und immer wieder kam ihm die Frage, wie konnte Saltner deſſen ſicher ſein? War ſie auch wirklich krank? Und wenn ſie nicht krank war? „Ich muß reiſen!“ rief er plötzlich. „Nun, nun“, ſagte Saltner beruhigend. „Im Moment können Sie nichts tun. Ill iſt jetzt gerade im Schloß.“ Torm ſank auf ſeinen Platz zurück. Erneuter Kanonendonner verkündete, daß ſich der Kaiſer neben dem Präſidenten des Polreichs vor dem jubelnden Volk zeigte. Grunthe ſtand auf und ſchloß das Fenſter. * * * Isma lag bleich und angegriffen auf ihrem Sofa. Langſam genas ſie von der ſchweren nervöſen Krankheit, die ſie unter dem Zuſammenwirken der ungewohnten Lebensverhältniſſe und der ſeeliſchen Aufregungen ergriffen hatte. Hil trat bei ihr ein. „Wann kann ich reiſen?“ war, wie immer, ihre erſte Frage. „Nun, nun“, ſagte er, „ſobald wir kräftig genug ſind.“ „Ach, Hil, das ſagen Sie nun ſchon ſeit vierzehn Tagen. Laſſen Sie es mich doch verſuchen!“ „Erſt müſſen wir einmal einen Verſuch machen, wie es Ihnen bekommt, wenn Sie hier in Ihrem Zimmer anfangen, wieder ein wenig mit der Welt zu verkehren. Es wartet da ſchon lange einer, der Sie gern einmal ſprechen und ſehen möchte, aber ich habe bis jetzt nicht erlaubt —“ „Und heute darf er kommen, ja?“ unterbrach ihn Isma lebhaft. Hil lächelte. „Es iſt ein gutes Zeichen, daß Sie ſelbſt danach verlangen. Aber hübſch ruhig, Frau Isma, und höchſtens ein Viertelſtündchen! So will ich es ihm ſagen laſſen.“ Er verabſchiedete ſich. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Ell eintrat. Eine leichte Blutwelle drängte ſich in Ismas Wangen, als ſie ihm langſam die ſchlanke Hand entgegenſtreckte, die er leidenſchaftlich küßte. Lange hielt er die Hand feſt, bis ſie ſie ihm ſanft entzog. „Sie ſind ſchon lange zurück?“ ſagte ſie endlich verlegen. „Auf die Nachricht, daß Sie reiſen dürften, kam ich hierher. Ich hätte Sie nicht allein reiſen laſſen, obwohl — doch ſprechen wir von Ihnen. Ich fand Sie erkrankt. Es war unmöglich, Sie wiederzuſehen.“ „Und Sie ſind mir nicht mehr böſe?“ „Isma!“ „Ich habe es eingeſehen, ich war ungerecht gegen Sie. Und ich war doch ſchuld, daß Sie Ihren Poſten auf der Erde verließen —“ „Sie wollten das Beſte. Ich aber habe eine Schuld auf mich geladen — und ich werde ſie büßen müſſen. Jetzt iſt für mich auf der Erde nichts mehr zu tun, aber die Zeit wird wieder kommen. Dann ſoll es nicht an mir fehlen.“ „Und Sie wollen mich begleiten?“ „Wenn Sie reiſen dürfen. Aber —“ „Was haben Sie, Ell? Seien Sie aufrichtig, ich beſchwöre Sie — ſagen Sie mir die Wahrheit! Sie glauben, ich werde nie wieder —“ „Um Gottes willen, Isma, wenn Sie ſo ſprechen, darf ich nicht hierbleiben. Sie dürfen ſich nicht erregen. Sicherlich iſt Ihr Geſundheitszuſtand in kurzer Zeit ſo vorgeſchritten, daß Sie die Reiſe antreten dürfen. Nein, ich dachte nur an Verzögerungen, die möglicherweiſe aus anderen Gründen eintreten könnten, falls ſich der Antritt der Reiſe nicht bald ermöglichen läßt —“ „Verbergen Sie mir nichts. Man ſagt mir ſehr wenig von der Erde. Ich denke, Ill iſt mit ſo großartigem Jubel in Berlin aufgenommen worden. Und mein Mann iſt geſund —“ „Darüber können Sie beruhigt ſein. Ich darf Ihnen noch mehr ſagen, Hil hat es jetzt erlaubt. Sollten Sie aus irgendeinem Grund an der Reiſe verhindert ſein, ſo werden Sie Ihren Mann doch bald wiederſehen. Er iſt an der Nordpolſtation und erwartet dort die Nachricht, ob Sie kommen oder ob er nach dem Mars reiſen ſoll.“ „Nach dem Mars will er kommen! Und das wiſſen Sie? Und ich —?“ „Briefe können noch nicht hier ſein. Es kam nur eine Lichtdepeſche von Ill. Aber Hil wollte Sie mit der Nachricht nicht aufregen — nun ſeien Sie auch vernünftig und zeigen Sie, daß Sie die Probe beſtehen und uns nicht wieder kränker werden.“ „Er will kommen! Aber wozu? Ich möchte doch lieber nach der Erde!“ „Das ſollen Sie ja auch. Nur für den Fall —“ „Was für einen Fall?“ „Wenn zum Beiſpiel die Verhältniſſe auf der Erde in der nächſten Zeit ſehr unruhig werden ſollten —“ „Ich denke, alles iſt jetzt friedlich.“ „Die letzten Nachrichten ſind weniger erfreulich.“ „Erzählen Sie, ſchnell! Unſre Viertelſtunde iſt bald um.“ „Die Mächte ſind in Streit geraten. Was ſoll ich Sie mit den politiſchen Einzelheiten ermüden, die ich ſelbſt nur mangelhaft hier kenne, weil bisher erſt Lichtdepeſchen hergelangt ſind. Es iſt der Streit um die engliſche Erbſchaft. Frankreich und Italien, Deutſchland und Frankreich, Öſterreich und Rußland rechten um ihre Grenzen im Kolonialbeſitz in Afrika, Aſien und der Türkei. Am Mittelmeer gibt es kaum einen Punkt, über den man ſich einigen kann. England iſt ohnmächtig, die Marsſtaaten ſchützen es in einigen Punkten, und gerade dieſe möchten die andern haben. Die Staaten rüſten gegeneinander, ſchon ſind an den Kolonialgrenzen Schüſſe gefallen, man muß darauf gefaßt ſein, daß ein Weltkrieg ausbricht. Dies werden die Martier auf keinen Fall zugeben, und ſo ſteht zu befürchten, daß wir zu neuen Gewaltmaßregeln gegen die Menſchen, diesmal auch gegen Deutſchland, getrieben werden. Deshalb wäre es gut, wenn Sie bald reiſen könnten, ehe vielleicht wieder eine Sperrung eintritt. Auf jeden Fall aber würde Torm hierherkommen dürfen. Das hat Ill ihm zugeſichert.“ Isma ſchüttelte den Kopf. „Was Sie da alles ſagen, verwirrt mich, ängſtigt mich —“ Und nach kurzem Schweigen fuhr ſie fort: „Aber ich will geſund ſein! Ich will gar nicht darüber nachdenken. ich fühle, daß ich Ruhe brauche. Ich danke Ihnen herzlich, Ell, daß Sie gekommen ſind. Nun weiß ich doch wieder, daß ich nicht verlaſſen bin.“ Sie reichte ihm die Hand. „Leben Sie wohl, Isma. Sie können ganz ruhig ſein. Sie werden bald geſund ſein.“ Er ſah ſie an mit den alten, treuen Augen und ging. Sie lächelte müde und lehnte ſich zurück. Die Lider fielen ihr zu. „Ich will geſund ſein“, dachte ſie. Aber ſie hörte ſchon nicht mehr, daß Hil bei ihr eintrat und ſie teilnahmsvoll betrachtete. * * * Eine Woche ſpäter, es war ein herrlicher Maitag, tobte eine aufgeregte Volksmenge in den Straßen der europäiſchen Städte. Überall hörte man Beſchimpfungen der Martier. Wo man vor vier Wochen gejubelt hatte und Hurra geſchrien, ertönte jetzt: „Nieder mit dem Mars!“ Die Geſchäfte mit Marsartikeln, die wie Pilze in die Höhe geſchoſſen waren, ſahen ſich genötigt, ihre Läden zu ſchließen. „Nieder mit den Glockenjungens“, hieß es in Berlin, wo man die Martier ihrer diabariſchen Helme wegen mit dieſem geſchmackvollen Titel beehrte. Die Menge demonſtrierte vor dem Gebäude, das die Marsſtaaten für ihre Botſchaft gemietet hatten. Auf dem flachen Dach ruhten die Luftſchiffe, bereit, in der nächſten Stunde die Hauptſtadt zu verlaſſen. Aber nicht weniger erregt, vielmehr erfüllt von einem heiligen Zorn, war die Stimmung auf dem Mars. Die Nachricht von einem ungeheuren Blutvergießen der Menſchen untereinander war angelangt. In der Türkei und in Kleinaſien, wo man hauptſächlich nur aus Furcht vor England ſich ſoweit im Zaume gehalten hatte, daß die europäiſchen Fremden ſich ſicher fühlen durften, war jetzt dieſe Schranke gefallen. Der mohammedaniſche Fanatismus flutete über. Auf einen heimlichen Wink der türkiſchen Regierung erhoben ſich die Maſſen. Ein entſetzliches Gemetzel begann gegen die Chriſten. Die Gebäude der Botſchaften wurden erſtürmt, Männer, Kinder und Frauen binnen einer Nacht in gräßlicher Weiſe gemordet. Und furchtbar war die Rache. So weit die Kanonen der fremden Kriegsſchiffe reichten, wurden am andern Tag die blühenden Küſten, Paläſte und Moſcheen Konſtantinopels in Trümmerhaufen verwandelt. Und nicht genug damit. Zwiſchen den europäiſchen Staaten ſelbſt entbrannte die Eiferſucht, wer die Trümmer mit ſeinen Truppen beſetzen ſollte. Der Krieg war ſo gut wie ausgebrochen, ehe er formell erklärt war. Tiefe Empörung ergriff die Bevölkerung der Marsſtaaten. Der Antibatismus gewann die Oberhand. Das Parlament forderte von der Regierung die ſofortige Unterdrückung der Greuel und die Herſtellung des Friedenszuſtandes auf der Erde. Am 12. Mai beſchloß das Parlament unter Zuſtimmung des Zentralrats folgendes: „Da die Menſchen nicht fähig ſind, aus eigener Macht unter ſich einen friedlichen Kulturzuſtand zu erhalten, ſieht ſich die Regierung der Marsſtaaten gezwungen, hiermit das Protektorat über die geſamte Erde zu erklären und jede politiſche Aktion der Erdſtaaten untereinander, ohne vorherige Zuſtimmung der Marsſtaaten, zu verbieten. Der Präſident des Polreichs der Nume auf der Erde wird beauftragt und bevollmächtigt, alle Maßregeln ſofort anzuordnen, die er für notwendig erachtet, um dem ausgeſprochenen Willen der Marsſtaaten auf der Erde, und zwar zunächſt in Europa, Geltung zu verſchaffen.“ Es war dieſer Beſchluß der Marsſtaaten und die von Ill hinzugefügte Erklärung, wodurch die Bevölkerung aller ziviliſierten Staaten in ſo außerordentliche Aufregung geraten war. Die Mitteilung an die Regierungen war gleichzeitig in Form einer Bekanntmachung in den europäiſchen Staaten von den Martiern verbreitet worden. Man zerriß jetzt die Blätter, die ſie enthielten, man entfernte die Plakate von den Häuſern. Die Bekanntmachung lautete folgendermaßen: „Indem ich den vorſtehenden Beſchluß der Marsſtaaten zur allgemeinen Kenntnis bringe, übernehme ich mit dem heutigen Tage in ihrem Namen die Schutzherrſchaft über alle Staaten der Erde und beſtimme wie folgt: Alle Regierungen und Nationen werden bis auf weiteres in ihren verfaſſungsmäßigen Rechten beſtätigt und ſind in ihren inneren Angelegenheiten frei, mit Ausnahme der unten angegebenen Beſtimmung über das Heerweſen. Alle internationalen Verträge und Kundgebungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der durch mich zu vollziehenden Beſtätigung der Marsſtaaten. Alle Kriegsrüſtungen ſind verboten. Die von den europäiſchen Regierungen ausgegebenen Mobiliſierungsbefehle ſind aufzuheben. Die Friedenspräſenzſtärke ihrer Heere wird auf die Hälfte der bisherigen herabgeſetzt. Die Hauptwaffenplätze werden unter Oberaufſicht eines von mir zu ernennenden Beamten geſtellt. Alle Regierungen werden eingeladen, bevollmächtigte Vertreter zu der Weltfriedenskonferenz zu entſenden, die am 30. Mai unter meinem Vorſitz am Nordpol der Erde wird eröffnet werden. Von der Bevölkerung der Erde erwarte ich, daß ſie die Bemühungen der Marsſtaaten, ihr die vollen Segnungen des Friedens und der Kultur zu bringen, mit allen Kräften unterſtützen wird. Gegeben am Nordpol der Erde, den 15. Mai Ill, Präſident des Polreichs der Nume. Bevollmächtigter Protektor der Erde.“ Mit klingendem Spiel und von der Menge mit Hochrufen begrüßt rückten zwei Kompagnien der Garde vor das Gebäude der Botſchaft der Marsſtaaten, um dasſelbe gegen etwaige Übergriffe der aufgeregten Bevölkerung zu ſchützen. Ein Adjutant begab ſich in das Haus, um dem Botſchafter zu melden, daß die Regierung Seiner Majeſtät dem Präſidenten des Polreichs nach dem bereits telegraphiſch übermittelten Proteſt nichts weiter mitzuteilen habe. Eine Viertelſtunde ſpäter erhoben ſich die Luftſchiffe der Martier und richteten unter dem tobenden Gejohle der Menge ihren Flug nach Norden. 43. Die Beſiegten Es war an einem regneriſchen Auguſtabend des Jahres, das auf die tumultuariſche Abreiſe der Geſandtſchaft der Marsſtaaten aus Berlin gefolgt war, als ein Mann, in einen Reiſemantel gehüllt, haſtig die menſchenleere Straße hinaufſtieg, die nach der Sternwarte in Friedau führte. Ein dichter Bart und der tief ins Geſicht gerückte Hut ließen wenig von ſeinen Zügen erkennen. Hin und wieder warf er aus ſcharfen Augen einen ſcheuen Blick nach der Seite, als fürchtete er, beobachtet zu werden. Aber niemand bemerkte ihn. Die Laternen waren noch nicht angezündet, und der leiſe niederrieſelnde Regen verſchluckte das letzte Licht der Dämmerung. Je näher der Fremde dem eiſernen Gittertor der Sternwarte kam, um ſo mehr verzögerte ſich ſein Schritt, als ſuche er einen Augenblick hinauszuſchieben, den er noch eben ſo eilig erſtrebte. Vor dem Tor ſtand er eine Weile ſtill. Er ſpähte nach den dunkeln Fenſtern des Gebäudes. Er nahm den Hut ab und trocknete die Stirn. Sein Geſicht war tief gebräunt und trug die Spuren harter Entbehrungen und ſchwerer Sorgen, die ihm das Haar gebleicht hatten. Mit einem plötzlichen Entſchluß zog er die Klingel. Es dauerte lange, ehe ſich ein Schritt hören ließ. Ein junger Hausburſche öffnete die Tür. „Iſt der Herr Direktor zu ſprechen?“ fragte der Fremde mit tiefer Stimme. „Der Herr Doktor Grunthe iſt ausgegangen“, antwortete der Diener. „Aber um halb neun kommt er wieder.“ „Iſt denn Herr Dr. Ell nicht mehr hier?“ „Den kenne ich nicht. Oder — Sie meinen doch nicht etwa — aber das wiſſen Sie ja —“ „Ich meine den Herrn Dr. Ell, der die Sternwarte gebaut hat.“ „Ja — der Herr Kultor reſidieren doch in Berlin —“ Der Fremde ſchüttelte den Kopf. „Ich werde in einer Stunde wiederkommen“, ſagte er dann kurz. Er wandte ſich um und ging. Der Herr Kultor? Was ſollte das heißen? Er wußte es nicht. Gleichviel, er würde ihn finden. Alſo Grunthe war hier. Das war ihm lieb, bei ihm konnte er Auskunft erhalten. Aber wohin inzwiſchen? Einige Häuſer weiter, in einem Nebengäßchen, leuchtete eine rote Laterne. Er fühlte das Bedürfnis nach Speiſe und Trank. Er wußte, die Laterne bezeichnete ein untergeordnetes Vorſtadtlokal; von den Gäſten, die dort verkehrten, kannte ihn gewiß niemand, würde ihn niemand wiedererkennen. Dorthin durfte er ſich wagen. Er trat ein und nahm in einer Ecke Platz. Das Zimmer war faſt leer. Er beſtellte ſich etwas zu eſſen. „Wünſchen Sie gewachſen oder chemiſch?“ fragte der Wirt. „Was iſt das für ein Unterſchied?“ Der Wirt ſah den Fremden erſtaunt an. Dieſer bedauerte ſeine Frage, da er ſah, daß er dadurch auffiel, und ſagte ſchnell: „Geben Sie mir nur, was das Beſte iſt.“ „Das iſt Geſchmacksſache“, ſagte der Wirt. „Das Gewachſene iſt teurer, aber wer nicht für das Neue iſt, zieht es doch vor.“ „Was eſſen Sie denn?“ fragte der Fremde. „Immer chemiſch, ich habe eine große Familie. Und — es ſchmeckt auch beſſer. Aber, wiſſen Sie, man will es mit keinem verderben — und das Gewachſene gilt für patriotiſcher. Ich habe ſehr patriotiſche Gäſte.“ „Vor allen Dingen bringen Sie mir etwas, ich habe nicht viel Zeit. Alſo chemiſch.“ „Kohlenwurſt, Retortenbraten, Mineralbutter, Kunſtbrot, alles modern, aus der beſten Fabrik, à la Nume.“ „Was Sie wollen, nur ſchnell.“ Der Wirt verſchwand, und der Fremde griff eifrig nach einer Zeitung, die auf dem Nebentiſch lag. Es war das ‚Friedauer Intelligenzblatt‘. Mit einer plötzlichen Regung des Ekels wollte er das Blatt wieder beiſeite ſchieben, aber er überwand ſich und begann zu leſen. Zufällig haftete ſein Blick auf ‚Gerichtliches‘. „Wegen mangelhaften Beſuchs der Fortbildungsſchule für Erwachſene wurden achtundzwanzig Perſonen mit Geldſtrafen belegt; eine Perſon wurde wegen dauernder Verſäumnis dem pſychologiſchen Laboratorium auf ſechs Tage überwieſen. Dem pſychophyſiſchen Laboratorium wurden auf je einen Tag überwieſen: drei Perſonen wegen Bettelns, eine Perſon wegen Tierquälerei, fünf Perſonen wegen Klavierſpielens auf ungedämpften Inſtrumenten. Die Klaviere wurden eingezogen. Der ehemalige Leutnant v. Keltiz, welcher ſeinen Gegner im Duell verwundete, wurde zu zehnjähriger Dienſtleiſtung in Kamerun, die beiden Kartellträger zu einjähriger Deportation nach Neu-Guinea verurteilt. Allen wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Der vom Schwurgericht zum Tode verurteilte Raubmörder Schlack wurde zu zehnjähriger Zwangsarbeit in den Strahlenfeldern von Tibet begnadigt.“ Kopfſchüttelnd ſah der Fremde nach einer andern Stelle und las: „Die Petition, welche mit mehreren tauſend Unterſchriften aus Friedau an den Verkehrsminiſter gerichtet war und die Bitte ausſprach, unſerer Stadt eine Halteſtelle für das Luftſchiff Nordpol-Rom zu gewähren, hat wieder keine Beachtung gefunden. Unſere Leſer wiſſen wohl, warum unſere Stadt bei gewiſſen einflußreichen Numen ſchlecht angeſchrieben ſteht. Wir werden uns trotzdem nicht abhalten laſſen, immer wieder darauf hinzuweiſen, daß das rätſelhafte Verſchwinden unſeres großen Mitbürgers und Ehrenbürgers Torm im Mai vorigen Jahres noch immer nicht aufgeklärt worden iſt, wie unangenehm die Erinnerung daran auch für manche ſein mag.“ Das Blatt zitterte in der Hand des Fremden. Seine Augen überflogen noch einmal die Stelle. Da trat der Wirt mit den Speiſen herein. Der Gaſt legte die Zeitung möglichſt unbefangen beiſeite. „Der Retortenbraten iſt leider ausgegangen“, ſagte der Wirt. „Aber die Kohlenwurſt iſt zu empfehlen, von richtiger Friedauer Schweinewurſt gar nicht zu unterſcheiden. Beſtes Mineralfett darin, nicht etwa Petroleum, die Kohle iſt aus atmoſphäriſcher Kohlenſäure gezogen, der Waſſerſtoff aus Quellwaſſer, der Stickſtoff iſt vollſtändig argonfrei, die Zellbildung nach neueſter martiſcher Methode im organiſchen Wachſtumsapparat hergeſtellt mit abſoluter Verdaulichkeit —“ „Es iſt wirklich ſehr gut“, ſagte der Gaſt, mit großem Appetit eſſend. „Aber wo haben Sie denn Ihre Chemie her?“ „Ich? Was meinen Sie denn? Muß ich nicht jeden Tag zwei Stunden in der Fortbildungsſchule ſitzen? Denken Sie, ich gehe nur hin, um meine zwei Mark Lern-Entſchädigung einzuſtreichen? Da war neulich einmal ſo ein König oder Herzog vom Mars hier durchgereiſt, der ſich die Erde beſchauen wollte, der wollte mich durchaus als chemiſchen Küchenchef mitnehmen, habe es aber abgeſchlagen, weil es auf dem Mars keine Hühner gibt. Und ein richtiges Rührei, das iſt das einzige Erdengut, wovon ich mich nicht trennen kann. Soll ich Ihnen vielleicht eins machen laſſen?“ „Ich danke, geben Sie mir noch ein Glas Bier.“ „Sofort. Nicht wahr, das iſt fein? Das exportieren wir ſogar nach dem Mars. So was haben ſie dort noch gar nicht gekannt, wie das Friedauer Batenbräu.“ „Verkehren denn auch Martier bei Ihnen?“ „Nume meinen Sie? Oh, ich könnte ſie ſchon aufnehmen, habe ein paar Extrazimmer. Gewiß verkehren ſie hier, ich meine, ſie werden noch verkehren, ich werde auf dem Mars annoncieren laſſen. Fritz, noch ein Bier für den Herrn! Das iſt mein Oberkellner. Iſt ſo vornehm daß er erſt abends um acht Uhr antritt. Sie werden gleich ſehen, wie voll mein Lokal wird, jetzt iſt nämlich die Fortbildungsſchule aus, dann kommen die Herren hierher.“ „Wo iſt denn die Fortbildungsſchule?“ „Die Kaſerne iſt gleich nebenan, in der nächſten Straße.“ „Das weiß ich, aber die Schule?“ Der Wirt machte wieder ein erſtauntes Geſicht. „Entſchuldigen Sie“, ſagte er, „ſind Sie denn nicht aus Europa? Dann müßten Sie doch wiſſen, daß die Kaſernen ſo ziemlich alle in Schulen umgewandelt ſind?“ „Ich war allerdings zwei Jahre verreiſt, in China und Indien —“ „Zwei Jahre! Ei, da wiſſen Sie wohl gar nicht —. Militär haben wir ja nicht mehr, bis auf fünf Prozent der früheren Präſenzſtärke. Dafür bekommt jeder eine Mark pro Stunde, die er in der Fortbildungsſchule ſitzt. Ich ſage Ihnen, gelehrt ſind wir ſchon, das iſt koloſſal. Nächſtens gebe ich ein philoſophiſches Buch heraus, auf das will ich Stadtrat werden, oder vielleicht Regierungsrat. Nämlich wegen der Schwerkraft. Auf dem Mars iſt doch alles leichter. Nun ſchlage ich vor, wenn man ſchwer von Begriffen iſt, ſo geht man auf den Mars, und dort — ah, guten Abend, Herr von Schnabel, guten Abend, Herr Doktor, guten Abend, Herr Direktor —, entſchuldigen Sie, ich will nur die Herren bedienen —“ Der Wirt wandte ſich zu den eingetretenen Gäſten, die ſich an ihren Stammtiſch ſetzten. Der Fremde hatte ſeine Mahlzeit beendet. Er ſah nach der Uhr, es war noch zu früh, um Grunthe zu treffen. Er rückte ſich tiefer in die Ecke, blickte in die Zeitung und wandte den Gäſten den Rücken zu. Sie waren ihm bekannt. Seltſam, dachte er im ſtillen, während er, ſcheinbar in ſeine Lektüre vertieft, auf ihre Stimmen hörte, wie kommen die Leute in dieſe Vorſtadtkneipe? Früher hatten ſie ihren Stammtiſch im ‚Fürſt Karl Sigmund‘, dieſer Schnabel führte da das große Wort. Er ſcheint auch jetzt wieder zu ſchimpfen. Die halblauten Stimmen der Stammgäſte waren deutlich vernehmbar, insbeſondere das hohe, quetſchige Organ Schnabels. „Haben Sie wieder den Knicks von der Warſolska geſehen“, ſagte Schnabel, „wie der Kerl, der Dor, rausging? Und wie die Anton die Augen verdrehte? Und die haben am allermeiſten geſchimpft, als die erſten Inſtruktoren herkamen. Und jetzt fletſchen ſie vor Vergnügen die Mäuler.“ „Und bei Ihnen war’s umgekehrt, lieber Schnabel“, ſagte Doktor Wagner, mit einem Auge blinzelnd. „Jetzt ſchimpfen Sie, aber ich kenne einen, der an den erſten Inſtruktor Wol einen großen Roſenkorb geſchickt hat mit den ſchönen Verſen: Sei mir gegrüßt, erhabner Nume, // Dich kränzet zu der Erde Ruhme // Ein Bat mit ſeiner ſchönſten Blume —“ „Ach, hören Sie auf“, rief Schnabel ärgerlich. „ich hatte mir die Geſchichte anders gedacht. Ich bin von den Numen enttäuſcht worden —“ „Und die Warſolska iſt wahrſcheinlich nicht enttäuſcht worden.“ „Die verdammten Kerle. Aber die Anton iſt doch eigentlich über die Jahre hinaus —“ „Pſt! meine Herren, Vorſicht!“ ſagte der Fabrikbeſitzer Pellinger, den der Wirt mit Herr Direktor angeredet hatte. „Das Klatſchgeſetz iſt bereits in erſter Leſung angenommen. § 1: Wer unberufenerweiſe das Privatleben abweſender Perſonen beurteilt, wird mit pſychologiſchem Laboratorium nicht unter zwölf Tagen beſtraft.“ Und ſein kahles Haupt über den Tiſch beugend, richtete er ſeine ſchwarzen Augen auf Schnabel und fuhr fort: „Wie ſagt doch der Dichter? Denn herrlicher als Kant und Hume // Hebt uns die Weisheit hoher Nume // Empor zu freiem Menſchentume.“ Darauf brach er in ein kräftiges Lachen aus. „Seien Sie endlich ſtill mit Ihren Verſen, es iſt gar nicht zum Lachen“, brummte Schnabel. „Es ſind ja auch gar nicht meine Verſe.“ „Na, meine auch nicht.“ „Ei, ei“, ſagte Wagner, „von wem haben Sie ſie denn machen laſſen?“ „Ich glaube, Sie wollen mich beleidigen!“ rief Schnabel. „§ 2 des Klatſchgeſetzes!“ ſagte Pellinger: „Der Begriff der Beleidigung iſt aufgehoben. Eine Minderung der Ehre kann nur durch eigene unwürdige Handlungen, niemals durch die Handlungen anderer erfolgen.“ „Das iſt die richtige dumme Martiermoral. Wie kann der Reichstag ſich auf ſolche Geſetze einlaſſen? Die Demokraten haben ja freilich die Majorität. Aber die Regierung! Sie dürfte ſich nicht von den Martiern einſchüchtern laſſen.“ „Die Regierung heißt Ell, Kultor der Numenheit für das deutſche Sprachgebiet in Europa“, ſagte Wagner. „Dieſer Schuft“, rief Schnabel. „Der Kerl hat elend vor meiner Piſtole gekniffen und iſt auf den Mars ausgeriſſen. Und jetzt ſpielt er hier den Diktator. Ich werde den Burſchen —“ „Pſt, meine Herren, Vorſicht!“ flüſterte Pellinger. „Schimpfen können Sie, ſoviel Sie wollen, Herr von Schnabel. Sehen Sie, das iſt eben das Gute an der Numenherrſchaft, das müßten Sie doch dankbar anerkennen, es kann Sie niemand wegen Beleidigungen verantwortlich machen. Aber um Himmels willen nicht vom Fordern reden. Seien Sie froh, wenn Ell Gründe hat, nicht auf Ihre Affäre vor zwei Jahren zurückzukommen. mit dem Laboratorium iſt es dann nicht abgetan, Sie kommen nach Neu-Guinea oder auf die neuen Strahlungsfelder in der Libyſchen Wüſte.“ „Sie beſchönigen natürlich alles, Herr Pellinger.“ „Wieſo?“ „Wie war denn das, als wir neulich von Leipzig zurückkamen und gemütlich in unſerm Wagenabteil ſchliefen. In — Dingsda — auf einmal wird die Tür aufgeriſſen — ſteht ſo ein Nume da in abariſchen Stiefeln mit ſeiner Käſeglocke über dem Kopf und winkt bloß mit der Hand. Im Augenblick iſt alles hinaus, und der Kerl ſetzt ſich allein in unſern ſchönen Wagen. Wir mußten in die vollgepfropfte dritte Klaſſe kriechen. Da haben Sie auch geſagt: Das iſt ganz in der Ordnung, als Nume kann der Mann ein Coupé für ſich allein beanſpruchen.“ „Wo ſoll er denn ſonſt mit ſeinem Helm hin? Und wenn kein anderes frei iſt? Wir ſind doch einmal die Beſiegten!“ „Deswegen brauchen wir nicht ſo feig zu ſein. Aber Sie haben ja auch damals den Kerl, den Ell, verteidigt —“ „Das möchte ich wirklich wiſſen“, fiel Wagner ein, „ob er an dem Verſchwinden von Torm unſchuldig iſt. Man ſagt doch, Torm habe ihn gefordert und ſei deshalb von den Martiern beſeitigt worden.“ „Das iſt nicht möglich“, rief Pellinger. „Damals exiſtierte das Duellgeſetz noch nicht.“ „Aber es war Krieg, und die Martier brauchten unſere Geſetze nicht anzuerkennen.“ „Da ſehen Sie wieder einmal, wie ungerecht Sie urteilen“, ſagte Pellinger. „Torm iſt verſchwunden, ehe Ell überhaupt auf die Erde zurückkam. Ich weiß es ganz genau. Ell iſt erſt nach dem Friedensſchluß am 21. Juni vorigen Jahres zurückgekehrt, Torm iſt aber ſchon beim Ausbruch des Krieges im Mai verſchwunden. Die Sache muß alſo anders liegen. Und Grunthe iſt auch der Anſicht, daß Ell unſchuldig iſt.“ „Ach, Grunthe!“ rief Schnabel. „Das iſt ein Mathematikus, der ſich den Teufel um Weiberangelegenheiten kümmert. Davon verſteht er nichts. Und daß die Frau hier dahinterſteckt, da will ich meinen Kopf verwetten. Warum ſäße ſie denn ſonſt jetzt in Berlin?“ Der Fremde hatte ſich plötzlich auf ſeinem Stuhl bewegt, ſich aber ſogleich wieder hinter ſeine Zeitung zurückgezogen. Doch war Pellinger dadurch auf ihn aufmerkſam geworden, er bedeutete Schnabel, ſeine Stimme zu mäßigen. „Erhitzen Sie ſich nicht“, ſagte er, „die Sache geht uns eigentlich gar nichts an. Ich möchte auch nicht gern nach dem neuen Klatſchgeſetz ins Laboratorium wandern.“ „Sie würden ſich aber ausgezeichnet zu Durchleuchtungsverſuchen des Gehirns eignen“, ſagte Wagner. „Das Opfer wären Sie eigentlich der Wiſſenſchaft ſchuldig. Sie brauchen ſich den Schädel nicht erſt raſieren zu laſſen.“ „Mein Gehirn iſt zu normal“, antwortete Pellinger. „Aber Sie müſſen ja wiſſen, Herr Doktor, wie’s dort zugeht, Sie ſind ja wohl ſchon einen Tag drin geweſen. Haben Sie nicht Übungen machen müſſen über die Ermüdung beim Kopfrechnen? Was hatten Sie denn eigentlich verbrochen?“ „Was Sie alles wiſſen wollen!“ ſagte Wagner etwas verlegen. „Ich wollte mir die Apparate einmal anſehen. Ich ſage Ihnen, da habe ich ein Inſtrument geſehen, mit dem kann man die Träume photographieren.“ „Ach was“, rief Schnabel, „flunkern Sie doch nicht ſo, ich war ja auch —“ „Ei, Sie waren auch ſchon einmal drin? Proſit, da gratuliere ich.“ Beide gerieten in ein Wortgefecht, während Pellinger aufmerkſam den Fremden am Nebentiſch beobachtete. Dieſer beglich jetzt ſeine Rechnung mit dem Wirt, ſtand dann auf, ſetzte den Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer, ohne ſich umzublicken. „Den Mann ſollte ich kennen“, ſagte Pellinger vor ſich hin. „Wie meinen Sie?“ „Oh, nichts. Es kam mir nur ſo vor, als wäre der Herr, der eben fortging, ein alter Bekannter. Aber ich habe mich wohl geirrt. Sie wollten ja erzählen, wie Sie ſich im Laboratorium amüſiert haben. Hahaha!“ 44. Torms Flucht Der Fremde war inzwiſchen auf die Straße getreten, wo jetzt der Schein der ſpärlichen Laternen auf dem feuchten Pflaſter glitzerte. Bald war er wieder vor der Sternwarte angelangt und wurde in das Haus geführt. Im Vorflur trat ihm Grunthe entgegen. „Was wünſchen Sie?“ fragte dieſer, den ſpäten Gaſt mißtrauiſch muſternd. „Ich möchte Sie in einer Privatangelegenheit ſprechen“, ſagte der Fremde mit einem Blick auf den Hausburſchen. Beim Klang der Stimme zuckte Grunthe zuſammen. „Bitte, treten Sie in mein Zimmer.“ Der Fremde ſchritt voran. Grunthe ſchloß die Tür. Beide blickten ſich eine Weile wortlos an. „Erkennen Sie mich wieder?“ fragte der Fremde langſam. „Torm?“ rief Grunthe fragend. „Ich bin es. Zum zweiten Male von den Toten erſtanden. Ja, ich habe noch zu leben, bis —“ Er ſchwankte und ließ ſich auf einen Stuhl nieder. „Wo iſt meine Frau?“ fragte er dann. „In Berlin.“ „Und Ell?“ „In Berlin.“ Torm erhob ſich wieder. Seine Augen funkelten unheimlich. „Und wie — wovon lebt ſie dort?“ ſagte er ſtockend. „Was wiſſen Sie von ihr?“ „Ich — ich bitte Sie, legen Sie zunächſt ab, machen Sie es ſich bequem. Was ich weiß, iſt nicht viel. Ihre Frau Gemahlin iſt vollſtändig ſelbſtändig und lebt in geſicherten Verhältniſſen. Sie hat alle Anerbietungen von der Familie Ills und von Ell zurückgewieſen und nur die Stelle als Leiterin einer der martiſchen Bildungsſchulen angenommen. Sie müſſen wiſſen, daß ſich vieles bei uns geändert hat —“ „Ich meine, was wiſſen Sie ſonſt? Was ſagt man —“ Er brach ab. Nein, er konnte nicht von dem ſprechen, was ihm am meiſten am Herzen lag, am wenigſten mit Grunthe. „Was ſagt man von mir?“ fragte er. „Meinen Sie, daß ich mich zeigen darf, daß ich wagen darf, nach Berlin zu reiſen?“ „Ich wüßte nicht, was Sie abhalten ſollte. Allerdings weiß ich ja auch nicht, was mit Ihnen geſchehen iſt, wie es kam, daß Sie plötzlich verſchwunden waren —“ „Werde ich denn nicht verfolgt? Bin ich nicht von den Martiern, die ja jetzt die Gewalt in Händen zu haben ſcheinen, verurteilt? Hat man keine Bekanntmachung erlaſſen?“ „Ich weiß von nichts — ich würde es doch aus den Zeitungen erfahren haben, oder ſicherlich von Saltner, von Ell ſelbſt — ich weiß wohl, daß Ell ſich bemüht hat, Ihren Aufenthalt ausfindig machen zu laſſen, aber ich habe das als perſönliches Intereſſe aufgefaßt, es iſt niemals eine Äußerung gefallen, daß man Sie — ſozuſagen — kriminell ſucht. ...“ „Das verſtehe ich nicht. Dann müſſen beſondere Gründe vorliegen, weshalb die Martier ſchweigen — ich vermute, man will mich ſicher machen, um mich alsdann dauernd zu beſeitigen. ...“ „Aber ich bitte Sie, ich habe nie gehört, daß Sie Feinde bei den Numen haben.“ Torm lachte bitter. „Es könnte doch jemand ein Intereſſe haben —“ Grunthe runzelte die Stirn und zog die Lippen zuſammen. Torm ſah, daß es vergeblich wäre, mit Grunthe von dieſen Privatangelegenheiten zu ſprechen. „Ich bin in der Tat“ ſagte er leiſe, „in den Augen der Martier ein Verbrecher, obwohl ich von meinem Standpunkt aus in einer berechtigten Notlage gehandelt habe. Und in dieſem Gefühl bin ich hierhergekommen und ſchleiche umher wie ein Böſewicht, in der Furcht, erkannt zu werden. Ich weiß nichts von den Verhältniſſen in Europa. Ich bin hierhergekommen, weil ich glaubte, Ell ſei hier, und mit ihm wollte ich ab—, wollte ich ſprechen, gleichviel, was dann aus mir würde. Mein einziger Gedanke war, nicht eher von den Martiern gefaßt zu werden, bis ich Ell perſönlich gegenübergetreten war. Und das werde ich auch jetzt ausführen. Ich gehe morgen nach Berlin. Ich habe noch Gelder auf der hieſigen Bank, aber ich habe nicht gewagt, ſie zu erheben, weil ich überzeugt war, man warte nur darauf, mich bei dieſer Gelegenheit feſtzunehmen.“ „Ich ſtehe natürlich zu Ihrer Verfügung, aber ich glaube, daß Ihre Befürchtungen völlig grundlos ſind. Und, wenn ich das ſagen darf, daß Sie auch Ell irrtümlich für Ihren Feind halten. Er hat ſich ſtets gegen Ihre Frau Gemahlin ſo rückſichtsvoll, freundſchaftlich und fürſorgend verhalten, daß ich wirklich nicht weiß, worauf ſich Ihr Argwohn ſtützt —“ „Laſſen wir das, Grunthe, laſſen wir das. Sagen Sie mir vor allem, wie iſt das alles gekommen, wie ſind dieſe Martier hier Herren geworden, wie ſind die politiſchen Verhältniſſe?“ „Sie ſollen alles erfahren. Aber ich bitte Sie, erklären Sie mir zunächſt, worauf Ihre Beſorgnis gegen die Martier ſich gründet — ich bin ja völlig unwiſſend über Ihre Erlebniſſe. Wir hatten die Hoffnung aufgegeben, Sie wiederzuſehen. Wo kommen Sie her, wo waren Sie, daß Sie ſo ohne jeden Zuſammenhang blieben mit den Ereigniſſen, welche die ganze Welt umgeſtürzt haben?“ „Nun gut, hören Sie zuerſt, was mir geſchehen iſt. Ich kann mich kurz faſſen. Sie wiſſen, daß ich die Abſicht hatte, ſelbſt nach dem Mars zu reiſen, falls meine Frau nicht kräftig genug war, die Reiſe nach der Erde anzutreten.“ „Gewiß. Ill bewilligte Ihnen eine Lichtdepeſche, und Sie erfuhren daraus, daß Sie nicht abreiſen ſollten, da Ihre Frau Gemahlin mit einem der nächſten Raumſchiffe nach der Erde käme. Sie gingen darauf Anfang Mai nach dem Nordpol, um Ihre Frau dort zu erwarten. Ich erhielt noch am 10. Mai einen Brief von Ihnen, in welchem Sie die Hoffnung ausſprachen, bald mit Ihrer Frau, die in den nächſten Tagen zu erwarten ſei, nach Deutſchland zurückzukehren. Am 12. war dann jener unſelige Tag der Protektoratserklärung — und ſeitdem war jede Spur von ihnen verſchwunden.“ „So iſt es“, ſagte Torm. „An dem Tag, dem 12. Mai kam das Raumſchiff, aber es brachte weder meine Frau noch Ell, ſondern die Nachricht, daß der Arzt die Reiſe für die nächſte Zeit noch unterſagt hätte. Ich geriet dadurch in eine gereizte Stimmung, die ſich noch ſteigerte, als ich erfuhr, daß die politiſchen Verhältniſſe ſich bis zum Abbruch der friedlichen Beziehungen zugeſpitzt hatten. Meine Pflicht rief mich nun unbedingt nach Deutſchland zurück; denn obwohl ſeit dieſem Tag der Verkehr mit Deutſchland aufgehoben war, mußte ich doch annehmen und erfuhr es auch bald aus ausländiſchen Blättern, daß das geſamte Heer mobiliſiert werde. Wie aber ſollte ich in die Heimat gelangen? Die Luftboote nach Deutſchland verkehrten nicht mehr, und auf meine direkte Bitte um Beförderung nach einem engliſchen Platz wurde mir erwidert, daß ich in meiner Eigenſchaft als Offizier der Landwehr während der Dauer des Kriegszuſtandes zurückgehalten werden müßte, es ſei denn, daß ich mich ehrenwörtlich verpflichtete, mich nicht zu den Waffen zu ſtellen. Das konnte ich ſelbſtverſtändlich nicht tun. Nach dem Mars zu gehen, war mir geſtattet, aber damit war mir nun nicht mehr gedient. Ich mußte nach Deutſchland. Wiederholte unangenehme Dispute mit den Offizieren der Martier, von denen die Inſel jetzt wimmelte, machten mir den Aufenthalt unerträglich. Ich erwog hundert Pläne zur Flucht, ſelbſt an unſern alten Ballon, der noch immer dort lagert, dachte ich. Endlich beſchloß ich auf eigene Fauſt die Wanderung über das Eis zu verſuchen, die mir ja ſchon einmal gelungen war. Im Fall der vorzeitigen Entdeckung konnte doch, wie ich meinte, meine Lage nicht verſchlimmert werden. Natürlich wurde ich entdeckt und zurückgebracht. Man kündete mir an, daß ich wegen Verdachts der Spionage die Inſel Ara nicht mehr verlaſſen dürfe — vorher hatte man meinen Beſuchen auf den benachbarten Inſeln nichts in den Weg gelegt — und daß ein Kriegsgericht oder dergleichen über mein weiteres Schickſal beſchließen würde. Schon glaubte ich, daß man mich nach dem Mars bringen würde; dann konnte ich wenigſtens hoffen, meine Frau zu treffen. Aber ich erfuhr bald, daß ich jedenfalls auf der Außenſtation interniert werden würde, von wo jede Flucht für mich unmöglich war. In dieſer Zeit dort untätig als Gefangener zu ſitzen, war mir ein entſetzlicher Gedanke. Ich faßte einen Entſchluß der Verzweiflung. Jetzt ſehe ich ein, daß es eine Torheit war. Doch Sie müſſen ſich in meine damalige Stimmung verſetzen — wenn Sie es können. Ich bildete mir außerdem ein, man werde mich daheim für einen fahnenflüchtigen Feigling halten, wenn ich nicht vom Pol zurückkehrte. Ich hatte auch keine Zeit zur Überlegung, denn am nächſten Tag ſollte das Kriegsgericht ſein, worauf ich ſofort in den Flugwagen gebracht worden wäre. — Kurzum, ich beſchloß, die Zeit zu benutzen, während der ich mich noch auf der Inſel frei bewegen durfte. Die Luftſchiffe zu betreten und zu ſtudieren, war mir immer erlaubt geweſen, ich kannte jetzt ihre Einrichtung genau und erinnerte mich an das Abenteuer, das Saltner auf dem Mars erlebt hatte, als er ſich in dem Luftſchiff des Schießſtandes verſteckte. Ich wußte, welches Schiff im Lauf der nächſten Stunden abgehen würde, denn ſowohl nach dem Schutzſtaat England als auch nach andern Teilen der Erde fand lebhafter Verkehr ſtatt. So glaubte ich, wenn es mir gelänge, mich in dem nach England gehenden Schiffe zu bergen, von den Martiern ſelbſt fortbefördert zu werden. Ich wollte es wagen. Ich verſah mich mit etwas Proviant, denn ich war entſchloſſen, im Notfall zwei Tage in meinem Verſteck zu verbleiben. Da fiel mir ein, daß ich ohne Sauerſtoff apparat unmöglich in der Höhe aushalten könnte, in der die Schiffe zu fahren pflegen. Hier blieb mir nichts anderes übrig, als zu ſtehlen. Ich eignete mir zwei von den Abſorptionsbüchſen der Martier an, mehr konnte ich nicht fortſchaffen. Trübes Wetter — wir hatten ja freilich keine Nacht — begünſtigte mein Vorhaben durch ein ſtarkes Schneegeſtöber, ſo daß kein Martier, der nicht durch ſein Amt gezwungen war, ſich auf dem Dach der Inſel ſehen ließ. So gelang es mir leichter, als ich glaubte, mich in das noch gänzlich unbeſetzte Schiff einzuſchleichen, deſſen Wächter in einer der Kajüten beſchäftigt war. Es war ein ausnehmend geräumiges Boot, und ich fand meine Zuflucht, wie damals Saltner, zwiſchen und hinter dem Stoff, den Saltner für Heu hielt, der aber, wie Sie jetzt wiſſen werden, den beſondern Zwecken der Diabarieverteilung dient. Bei gutem Glück rechnete ich, da noch drei Stunden bis zur Abfahrt des Schiffes waren, in acht oder neun Stunden in England zu ſein und dann das Schiff ebenſo unbemerkt verlaſſen zu können. Und wirklich hatte man mich noch nicht vermißt oder nicht im Schiff geſucht — das Schiff erhob ſich. Stunde auf Stunde verging, und ich ſchlummerte von Zeit zu Zeit in meinem dunklen Gefängnis ein. Nun ſagte mir meine Uhr, daß wir in England ſein müßten. Aber aufs neue verging Stunde auf Stunde, ohne daß das Schiff zur Ruhe kam. Ich bemerkte die Bewegung natürlich nur an dem leichten Geräuſch des Reaktionsapparats und dem Ziſchen der Luft. So oft ich aus Sparſamkeit mit dem Sauerſtoffatmen aufhörte, fühlte ich alsbald, daß wir noch immer in ſehr hohen Schichten ſein müßten, und ich geriet in große Sorge, ob mein Vorrat ausreichen würde. Endlich, nach mehr als zehnſtündiger Fahrt, als ich ſchon überlegte, ob ich mich nicht, um dem Erſtickungſtod zu entgehen, den Martiern ergeben ſollte, erkannte ich zu meiner unbeſchreiblichen Freude an der Veränderung der Luft, daß das Schiff ſich ſenke. Bald hörte ich auch aus dem veränderten Geräuſch, daß es mit Segelflug arbeite. Ich ſchloß daraus, daß man eine Landungsſtelle ſuche und ſich alſo nicht einem der gewohnten Anlegeplätze nähere. Können Sie ſich meinen Zuſtand, meine nervöſe Erregung vorſtellen? Seit zehn Stunden im Finſtern eingeſchloſſen, zuletzt unter Atemnot, in fortwährender Gefahr, entdeckt zu werden, ohne zu wiſſen, wohin die Reiſe geht, wo ich das Licht des Tages wieder erblicken werde und wie es mir möglich werden wird, unbemerkt dem Schiff zu entfliehen! Ich ſuchte mir einen Plan zu machen — aber wo würde ich mich dann befinden? Der Zeit nach zu ſchließen, mußten wir ſechs- bis ſiebentauſend Kilometer zurückgelegt haben. Ich konnte in Alexandria ſein oder in New-Orleans, ebenſogut auch in der Sahara oder in China. Wie ſollte ich dann weiterkommen, falls ich den Martiern entfliehen konnte? Ich mußte alles vom Augenblick abhängig machen. Endlich verſtummte das Geräuſch der Fahrt, ich fühlte den Landungsſtoß, das Schiff ruhte. Es kam nun darauf an, ob es die Martier verlaſſen würden. Wenn ich wenigſtens gewußt hätte, ob es Tag oder Nacht war. Aber das hing ja ganz davon ab, nach welcher Himmelsrichtung wir gefahren waren. Aus der Landung ſelbſt konnte ich nichts ſchließen, da ich nichts von der Beſtimmung des Schiffes wußte, für welche ebenſogut die Nacht als der Tag die paſſende Ankunftszeit ſein konnte, je nach den Abſichten der Martier. Noch eine Stunde vielleicht hörte ich über mir Tritte und Stimmen, dann wurde es ſtill. Ich ſchlich aus meinem Verſteck nach der Drehtür. Geräuſchlos öffnete ſich eine Spalte. Es war Nacht! Denn nur ein ganz ſchwaches Fluoreszenzlicht ſchimmerte durch das Innere des Schiffes. Man hatte alſo Grund, nach außen hin kein Licht zu zeigen, man wollte nicht bemerkt ſein. Nun öffnete ich die Drehtür vollends und ſpähte in den Raum. Die Martier lagen in ihren Hängematten und ſchliefen. Wachen befanden ſich jedenfalls außerhalb des Schiffes, aber nach innen konnten ſie nicht gut blicken und hatten auch dort nichts zu ſuchen. Ich konnte alſo ohne Bedenken aus dem untern Raum herausſteigen und zwiſchen den Hängematten nach dem Ausgang ſchreiten; ſelbſt wenn mich jemand hier bemerkte, hätte er mich doch für einen von der Beſatzung gehalten. So gelangte ich ungefährdet bis an die Treppe, die aufs Verdeck und von dort ins Freie führte. Die Luke ſtand offen, aber auf der oberſten Stufe der Treppe ſaß ein Martier, der, von ſeinem Helm gegen die Schwere geſchützt, nach außen hin Wache hielt. An ihm mußte ich vorüber. Ich ſtieg möglichſt unbefangen und ohne mein Nahen verbergen zu wollen die Stufen hinauf und drängte mich an ihm vorüber, indem ich die gebückte Haltung der Martier ohne Schwereſchirm annahm. Ich hatte keine andre Wahl, durch Liſt hätte ich nichts erreicht. So ſtand ich ſchon auf dem Verdeck, als der Martier mich anrief, wo ich hinwollte. Ich antwortete nicht, ſondern ſuchte nur nach der abwärts führenden Treppe. Sie war aber eingezogen. Da faßte der Wächter mich an und rief: ‚Das iſt ja ein Bat. Was willſt du?‘ Zugleich drückte er die Alarmglocke. Was im nächſten Augenblick geſchah, weiß ich nicht mehr deutlich. Ich höre nur einen Schmerzensſchrei, den der Martier ausſtieß, als er, von meinem Fauſtſchlag gegen die Stirn getroffen, die Treppe hinabſtürzte. Ich ſelbſt fühle mich das gewölbte Dach des Schiffes hinabgleiten, doch ich komme auf die Füße und laufe auf gut Glück vom Schiff fort, ſo ſchnell meine Beine mich tragen wollen. Die Nacht war klar, aber nur vom Sternenlicht erhellt. Der Boden ſenkte ſich, denn das Luftſchiff war, wie nicht anders zu erwarten, auf einem Hügel gelandet. Eine endloſe Ebene ſchien ſich vor mir auszudehnen; ich fühlte kurzes Gras unter mir. Als ich es wagte, mich einen Augenblick rückwärts zu wenden, bemerkte ich, daß hinter mir ſich eine Hügellandſchaft befand, die zu einem ſchneebedeckten Gebirge aufſtieg. Ich hoffte, irgendwo ein Verſteck zu finden, das mich vor den erſten Nachforſchungen der Martier verbarg, um mich dann im Lauf der Nacht noch möglichſt weit zu entfernen und bei den unbekannten Bewohnern des Landes Schutz zu ſuchen. Da plötzlich tauchte, wie aus der Erde geſtiegen, eine Reihe dunkler Geſtalten vor mir auf, die ſich ſofort auf mich ſtürzten und mich niederwarfen. Ich ſah Meſſer vor meinen Augen blitzen und glaubte mich verloren. In dieſem furchtbaren Augenblick wurde die Nacht mit einem Schlag zum Tag. Das Marsſchiff hatte ſeine Scheinwerfer erglühen laſſen. Wie eine Sonne in blendendem Licht ſtrahlend erhob es ſich langſam in die Luft, jedenfalls um mich zu ſuchen. Dieſer Anblick verſetzte die Eingeborenen, die mich überfallen hatten, in einen unbeſchreiblichen Schrecken. Zunächſt warfen ſie ſich auf den Boden, dann krochen ſie, ohne ſich um mich zu kümmern, auf dieſem fort und waren in wenigen Augenblicken ebenſo plötzlich verſchwunden, wie ſie gekommen waren. Ich war frei. Aber was ſollte ich tun? Wenn ich hier blieb, ſo mußte ich in wenigen Minuten von den Martiern entdeckt werden. Ich ſagte mir, daß ſich dort, wo die Eingeborenen verſchwunden waren, auch ein Verſteck für mich finden würde. In der Tat, wenige Schritte vor mir zog eine trockene Erdſpalte quer durch die Steppe. Ich ſtieg hinab und ſchmiegte mich in den tiefen Schatten eines Riſſes. Von oben konnte ich hier nicht geſehen werden. Die Martier hatten natürlich bald die Spalte bemerkt und ſchwebten langſam über derſelben hin, aber ich wurde nicht entdeckt. Noch mehrfach ſah ich das Licht aufleuchten, endlich verſchwand es. Auch von den Eingeborenen ſah ich nichts mehr. Etwa eine Stunde mochte ich ſo gelegen haben — es war unangenehm kalt —, als der erſte Schimmer der Dämmerung den Anbruch des Tages verkündete. Ich verzehrte den Reſt meines Proviants, und als es hell genug geworden war, lugte ich vorſichtig über die Ebene. Das Schiff mußte ſich entfernt haben, es war keine Spur mehr zu ſehen. Ich wanderte nun am Rande des Spaltes weiter. Nicht lange, ſo bemerkte ich, daß mir eine große Schar von Bewohnern des Landes entgegenkam. Ich blieb ſtehen und ſuchte durch Bewegungen der Arme meine friedlichen Abſichten verſtändlich zu machen. Erſt glaubte ich, das Schlimmſte befürchten zu müſſen, denn die Leute liefen unter lautem Geſchrei auf mich zu und ſchoſſen ihre langen Flinten ab, aber ſie zielten nicht auf mich. Bald erkannte ich, daß dies eine Freudenbezeugung ſein ſollte. Einige ältere Männer, offenbar die Anführer, traten an mich heran und verbeugten ſich mit allen Zeichen der Ehrfurcht. Dann kauerten ſie ſich im Halbkreis um mich nieder, und ich ſetzte mich ebenfalls auf den Boden. Allmählich verſtändigten wir uns durch Pantomimen, und ich folgte ihrer Einladung, ſie zu begleiten. Nach einer langen Wanderung erweiterte ſich die Spalte zu einem kleinen Tal, und hier fand ſich eine Niederlaſſung, wo ich mit allen Ehren eines angeſehenen Gaſtes aufgenommen wurde. Ich blieb einige Tage dort und wurde dann von meinen Gaſtfreunden nach Süden geleitet. Nach mehreren Tagereiſen erreichten wir eine ausgedehnte Stadt. Jetzt erſt wurde mir nach und nach klar, wo ich hingeraten war. Die Stadt war Lhaſa, die Hauptſtadt von Tibet, der Sitz des Dalai-Lama. Die Tibetaner waren durch die überirdiſche Erſcheinung des lichtſtrahlenden Luftſchiffes in ihrer Geſinnung völlig umgewandelt. Sie hielten mich für ein wunderbares Weſen, das in einem leuchtenden Wagen direkt vom Himmel gekommen war. Ich wurde auch in Lhaſa ſehr ehrenvoll aufgenommen, aber alle Bemühungen, von hier weiterzureiſen, waren vergebens. Man geſtattete nicht, daß ich mich aus der Stadt entferne. Und ſo war ich faſt ein Jahr in dieſer allen Fremden verſchloſſenen Stadt. Aber auch dies hatte ſchließlich ein Ende. Sie werden wahrſcheinlich wiſſen, daß die Martier jetzt auf dem Hochplateau von Tibet große Strahlungsfelder angelegt haben, um während des Sommers die Sonnenenergie zu ſammeln. Die Trockenheit des Klimas bei der hohen Lage von 5.000 Meter überm Meer ſagt ihrer Konſtitution am meiſten zu von allen Ländern der Erde. Das Schiff, mit welchem ich hingekommen war, ſtellte die erſten Nachforſchungen an, und bald hatten mehr und mehr Schiffe eine große Anzahl der Martier, vornehmlich die Bewohner ihrer Wüſten, die Beds, dahin gebracht. Die Tibetaner fühlten ſich dadurch beunruhigt und wandten ſich an die chineſiſche Regierung. Zugleich aber glaubten ſie, daß meine Anweſenheit, die ſie übrigens ſorgfältig geheimhielten, Urſache ſei, weshalb die wunderbaren Fremden durch die Luft in ihr Land kämen. So erhielt ich die Erlaubnis, mich einer Karawane anzuſchließen, die über den Himalaja nach Indien ging. Nach mannigfachen Abenteuern, mit denen ich Sie nicht aufhalten will, gelang es mir ſchließlich, mich bis nach Kalkutta durchzuſchlagen. Ich beſaß noch eine nicht unbedeutende Summe deutſchen Geldes, durch das ich mich hier wieder in einen europäiſchen Zuſtand verſetzen konnte. Indeſſen wagte ich nicht, mich bei den Behörden zu melden oder mich zu erkennen zu geben, da ich fürchtete, von den Martiern verfolgt zu werden. Aus den Zeitungen erſah ich, daß das Luftſchiff, welches von Kalkutta allwöchentlich nach London geht, in Teheran, Stambul, Wien und Leipzig anlegt. Von Leipzig benutzte ich den nächſten Zug nach Friedau. Und mein erſter Gang war hierher. Ich habe es vermieden, mit jemand zu ſprechen. Ich bin entſetzt über die Veränderung der Verhältniſſe. Nun ſagen Sie mir vor allem, was war unſer Schickſal im Krieg mit dem Mars?“ Grunthe hatte ohne eine Miene zu verziehen zugehört. Jetzt ſagte er bedächtig, ohne auf Torms letzte Frage zu achten: „Hatten Sie Ihren Chronometer und unſern Taſchenkalender mit?“ „Ja, aber —“ „So haben Sie doch wohl einige Ortsbeſtimmungen machen können? Ich meine nach dem Harzerſchen Fadenverfahren, mit bloßem Auge?“ Torm lächelte trüb. „Ich hatte freilich Zeit dazu“, ſagte er, „und habe es auch getan. Sie können ſie berechnen. Aber zuerſt —“ „Oh, entſchuldigen Sie“, unterbrach ihn Grunthe. „Sie wiſſen, ich bin ein ſehr unaufmerkſamer Wirt. Ich hätte ihnen doch zuerſt ein Abendeſſen anbieten ſollen. Allerdings habe ich nichts zu Hauſe, doch — wir könnten vielleicht —“ Seine Lippen zogen ſich zuſammen. Das Problem ſchien ihm ſehr ſchwer. „Ich danke herzlich“, ſagte Torm. „Ich habe gegeſſen und getrunken.“ „Um ſo beſſer“, rief Grunthe erleichtert. „Aber logieren werden Sie bei mir. Das läßt ſich machen.“ „Das nehme ich an, weil ich mich nicht gern hier in den Hotels ſehen laſſen möchte. Morgen fahre ich ja nach Berlin.“ „Wollen Sie denn nicht an Ihre Frau Gemahlin telegraphieren, daß Sie kommen? Ich habe die Adreſſe, da ich wegen der Abrechnungen — warten Sie, es muß hier ſtehen — ich kann unſern Burſchen nach der Poſt ſchicken.“ „Das iſt nicht nötig“, ſagte Torm. „Ich werde — doch die Adreſſe können Sie mir immerhin geben.“ Grunthe ſuchte unter ſeinen Büchern. „Ach, ſehen Sie“, ſagte er, „da finde ich doch noch etwas — im Frühjahr hat mich Saltner einmal beſucht — da ließ ich Wein holen, und hier iſt noch eine Flaſche. Gläſer habe ich von Ell. Sie müſſen da irgendwo ſtehen. Das trifft ſich gut — wiſſen Sie denn, was heute für ein Tag iſt? Der neunzehnte Auguſt. Heute vor zwei Jahren kamen wir am Nordpol an. Wie ſchade, daß Saltner nicht hier iſt, er könnte wieder ein Hoch ausbringen —“ Torm fuhr aus ſeinem Nachſinnen empor. „Erinnern Sie mich nicht daran“, ſagte er finſter. „Mit jener Stunde begann mein Unglück. Wie kam denn jener Flaſchenkorb —“ Er ſchlug mit der Hand auf den Tiſch und ſprang auf. Er unterbrach ſich und murmelte nur noch für ſich: „Ich ſtoße nicht mehr an.“ „Geben Sie nur die Gläſer her“, ſagte er darauf ruhiger. „Ja, wir wollen uns ſetzen. Und nun ſind Sie daran zu berichten.“ Grunthe blickte ſtarr vor ſich hin. „Wir ſind in der Gewalt der Nume“, begann er nach einer Pauſe. „Ganz Europa, außer Rußland. Wir beugen uns vor unſerm Herrn. Wir ſind Kinder geworden, die in die Schule geſchickt werden. Man hat ſogenannte Kultoren eingeſetzt über die verſchiedenen Sprachgebiete. Der größte Teil des Deutſchen Reichs, die deutſchen Teile von Öſterreich und der Schweiz ſtehen unter Ell. Man will uns erziehen, intellektuell und ethiſch. Die Abſicht iſt gut, aber undurchführbar. Das Ende wird entſetzlich ſein — wenn es nicht gelingt —, doch davon ſpäter.“ Grunthe ſchwieg. „Ich begreife noch nicht“, ſagte Torm, „wie war es möglich, daß wir in dieſe Abhängigkeit gerieten? Warum unterwarfen wir uns?“ „Entſchuldigen Sie mich“, antwortete Grunthe. „Ich bin nicht imſtande, von dieſen ſchmerzlichen Ereigniſſen zu ſprechen. Ich bringe es nicht über die Lippen. Laſſen wir es lieber. Ich werde Ihnen eine Zuſammenſtellung der Ereigniſſe in einer Broſchüre geben — hier ſind mehrere. Leſen Sie ſelbſt, für ſich allein. Sie werden auch müde ſein. Leſen Sie morgen früh. Reden wir von etwas anderm.“ Aber ſie redeten nicht. Der Wein blieb unberührt. Das Herz war beiden zu ſchwer. Einmal ſagte Grunthe vor ſich hin: „Es iſt nicht der Verluſt der politiſchen Macht für unſer Vaterland, der mich am meiſten ſchmerzt, ſo weh er mir tut. Schließlich müßte es zurückſtehen, wenn es beſſere Mittel gäbe, die Würde der Menſchheit zu verwirklichen. Was mir unmöglich macht, ohne die tiefſte Erregung von dieſen Dingen zu reden, iſt die demütigende Überzeugung, daß wir es eigentlich nicht beſſer verdienen. Haben wir es verſtanden, die Würde des Menſchen zu wahren? Haben nicht ſeit mehr als einem Menſchenalter alle Berufsklaſſen ihre politiſche Macht nur gebraucht, um ſich wirtſchaftliche Vorteile auf Koſten der andern zu verſchaffen? Haben wir gelernt, auf den eigenen Vorteil zu verzichten, wenn es die Gerechtigkeit verlangte? Haben die führenden Kreiſe ſittlichen Ernſt gezeigt, wenn es galt, das Geſetz auch ihrer Tradition entgegen durchzuführen? Haben ſie ihre Ehre geſucht in der abſoluten Achtung des Geſetzes, ſtatt in äußerlichen Formen? Haben wir unſern Gott im Herzen verehrt, ſtatt in Dogmen und konventionellen Kulten? Haben wir das Grundgeſetz aller Sittlichkeit gewahrt, daß der Menſch Selbſtzweck iſt und nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf? Oh, das iſt es ja eben, daß die Nume in allem vollſtändig recht haben, was ſie lehren und an uns verachten, und daß wir doch als Menſchen es nicht von ihnen annehmen dürfen, weil wir nur frei werden können aus eigener Arbeit. Und ſo iſt es unſer tragiſches Schickſal, daß wir uns auflehnen müſſen gegen das Gute! Und es iſt das tragiſche Geſchick der Nume, daß ſie um des Guten willen ſchlecht werden müſſen!“ Er ſtand auf und trat an das Fenſter. „Es ſcheint ſich aufzuklären. Vielleicht kann ich noch eine Beobachtung machen. Wollen Sie mitkommen? Ich zeige Ihnen dabei Ihr Zimmer.“ Torm ergriff die Broſchüren und folgte ihm. 45. Das Unglück des Vaterlands Torm ging unruhig in ſeinem Zimmer auf und ab. Seine Liebe zu Isma, das alte, feſte Vertrauen, das ſich wieder hervordrängte, die Mitteilungen Grunthes über Ells freundſchaftliches Verhalten, das alles kämpfte in ſeinem Innern mit dem feindlichen Argwohn, in den er ſich in der Einſamkeit ſeiner Verbannung immer feſter hineingelebt hatte. Die ſtets erneute Verzögerung der Heimkehr Ismas und das gleichzeitige Zurückbleiben Ells, wofür er keinen Grund einzuſehen vermochte, hatten allmählich in ihm den Verdacht erweckt, daß es Ell doch nicht ehrlich mit ihm meine. Von nun ab glaubte er überall die Hand Ells im Spiele zu ſehen. Die Verhinderung ſeiner Heimreiſe vom Pol ſchob er ebenfalls auf einen Einfluß Ells. Wer konnte wiſſen, welche Lichtdepeſchen zwiſchen den Planeten, zwiſchen Neffe und Oheim, gewechſelt wurden? Zu ſeiner verzweifelten Flucht hatte er ſich in einem Moment der Erregung entſchloſſen, der noch einen andern Grund hatte, als er Grunthe gegenüber ausſprechen wollte. Bei ſeinen Disputen mit den Martiern am Pol hatte er aus der hingeworfenen Bemerkung eines der martiſchen Offiziere entnommen, daß man nach den Geſetzen der Nume ihm überhaupt keinerlei Recht zuerkannte, die Rückkehr ſeiner Frau zu verlangen. Die formale Gültigkeit ſeiner Ehe war auf dem Mars nicht anerkannt. Niemand hätte es unter den vorliegenden Umſtänden Isma verdacht, wenn ſie ſich als frei erklärt hätte. Dies hatte Torm in die höchſte Aufregung verſetzt, und ein nagendes Gefühl der Eiferſucht hatte ihm einen Teil ſeiner ruhigen Beſinnung geraubt. Jetzt freilich mußte ihm Isma in anderm Licht erſcheinen. Hatte er denn irgendeinen beſtimmten Vorwurf gegen ſie zu erheben? Sie war ja zurückgekehrt, und ſie hatte ſich damit offenbar zu ihm bekannt. Sollte er nun zu Ell rückſichtslos vordringen und ſich vielleicht rettungslos der Gewalt der Martier ausliefern? War Ell unſchuldig, ſo war dieſes Opfer ganz unnötig gebracht. War Ell aber ſchlecht, ſo gab er ſich in ſeine Hand. Als er ſeinen Entſchluß gefaßt hatte, zuerſt zu Ell zu gehen, wußte er ja noch nicht, daß ſich dieſer in einer ſo unerreichbaren Machtſtellung befand. So ſchien es ihm jetzt doch als das richtige, ſich mit Isma in Verbindung zu ſetzen. Aber wie konnte das ohne Gefahr geſchehen? Und vor ſeinem Geiſt ſtieg die furchtbare Anklage auf, einen Nume bei der Ausübung ſeiner Pflicht verletzt, vielleicht getötet zu haben — —. Was ihm das Mittel werden ſollte, Isma wiederzugewinnen, die rückſichtsloſe Flucht, nun erſchien es ihm als ein verhängnisvolles Schickſal, das ihn für immer von ihr trennen ſollte. Unter dem Druck der ſchweren Anklage, die auf ihm laſtete, durfte er vor ihre Augen treten? Was ſollte er tun? Mechaniſch griff er nach einer der Broſchüren, an die er nicht mehr gedacht hatte. Sein Auge fiel auf die Überſchrift: „Das Unglück vom 30. Mai.“ Er begann zu leſen. Und der Schmerz um das Vaterland drängte die eigene Sorge zurück. „Ihr ſollt es einſt wiſſen, Kinder und Enkel“, ſo hieß es, „was uns geſchehen iſt, damit ihr weinen könnt und zürnen wie wir. Darum ſchreiben wir das Traurige auf, obwohl die Hand unwillig ſich ſträubt. Es war der Tag der großen Parade, an dem der oberſte Kriegsherr ſein herrliches Heer muſterte, das um die Hauptſtadt zuſammengezogen war. Von der zahlloſen, begeiſterten Menge der Zuſchauer umgeben, waren die glänzenden Regimenter vorübermarſchiert an der ‚einſamen Pappel‘. So hieß die Stelle nach einem Baum, der ſich einſtmals hier befunden hatte, wo der Monarch, umringt von der Mehrzahl der deutſchen Fürſten und ſeinen Generälen, die Heerſchau hielt. Nun hatten ſich die Truppen weiter auseinandergezogen und die Gewehre zuſammengeſtellt, während der Kriegsherr den Führern ſeine Anerkennung ausſprach. Und da geſchah es. Vor der Hauptſtadt des Reiches, an deſſen Grenzen man nirgends die Spur eines Feindes hatte beobachten können. Im Augenblick der größten Machtentfaltung des ſtärkſten Landheeres. Wie ein Schwarm von Raubvögeln ſchoß es vom Himmel hernieder, geräuſchlos, glänzende, glatte Ungetüme. Und im Moment, da man ſie bemerkte, waren ſie auch ſchon da und hatten die Schar der Anführer umringt. ‚Zu den Truppen!‘ hieß es. Die Kommandierenden ſtoben auseinander. ‚Zurück! Ergebt euch! Der Weg iſt geſperrt!‘ tönte es ihnen aus den feindlichen Luftſchiffen entgegen. Die Offiziere kümmerten ſich nicht darum, ſie ſprengten weiter. Aber nicht lange. Keiner paſſierte den Kreis, den die Schiffe abſperrten. Von einer unſichtbaren Macht zurückgeworfen, ſtürzten Roß und Reiter zuſammen. Enger ſchloß ſich der Ring der Schiffe, die nur wenige Meter über dem Boden ſchwebten, um die Fürſten und ihre Begleitung, ſo daß die geſtürzten Offiziere jetzt außerhalb des geſperrten Kreiſes lagen. Die Truppen, ſoweit ſie nahe genug waren, um den Vorgang zu beobachten, waren ſofort unter das Gewehr getreten. Als die Bataillonsführer bemerkten, daß ihre Kommandierenden nicht zu ihnen gelangen konnten, als ſie ſahen, daß die plötzlich erſchienenen Schiffe einen feindlichen Angriff bedeuteten, dem der oberſte Kriegsherr ſelbſt mit allen Fürſten und Generälen ausgeliefert war, da bebte ihnen wohl das Herz in der Bruſt unter der Verantwortung, die ſie auf ſich gelegt fühlten. Aber nun bewährte ſich der Geiſt unſeres Heeres in erhebender Weiſe. Nicht ein Augenblick der Verwirrung, nicht ein Moment des Schreckens trat ein. Die Truppen einer andern Nation, falls ſie ſich nicht in zuchtloſe Flucht aufgelöſt hätten, wären vielleicht in wahnſinnigem Todesmut zur Befreiung ihres Feldherrn vorgeſtürzt, um in den Repulſitſtrahlen und Nihilitſphären der Marsſchiffe ihren Untergang zu finden, ohne daß ſie auch das Geringſte hätten ausrichten können. Die deutſchen Offiziere indeſſen verloren ihre Inſtruktion auch in dieſem ſchrecklichen Moment nicht aus den Augen. Nach den Erfahrungen, die man in England gemacht hatte, war es von der deutſchen Heeresleitung als erſter Grundſatz ausgeſprochen worden, unter keinen Umſtänden Munition und Menſchenleben gegen ein mit Nihilitſphäre verſehenes Marsſchiff zu verſchwenden, da man wußte, daß dies ein völlig fruchtloſes Beginnen ſei. Die Truppen waren überhaupt nicht zuſammengezogen worden, um ſich irgendwo in offenem Kampf mit den Martiern zu verſuchen. Man hatte vielmehr ein ganz anderes Syſtem der Verteidigung aufgeſtellt, und von dieſem auch im Moment der äußerſten Überraſchung nicht abzuweichen, das war die höchſte Aufgabe, welche die Disziplin zu leiſten hatte. Man ſagte ſich, daß den Machtmitteln der Martier gegenüber eine Armee im freien Feld wie in den Forts der Feſtungen ohnmächtig und dem Untergang geweiht war, daß aber ihrerſeits die Martier machtlos ſein würden, wenn ſie verhindert würden, ſich der Organe der Regierung zu bemächtigen. Man hatte deswegen die Truppen lediglich zum Schutz der Hauptſtädte als der Zentralpunkte der Staatsverwaltung zuſammengezogen. Hier ſollten ſie verhindern, daß die öffentlichen Gebäude von den Martiern beſetzt und in Beſchlag genommen würden. Man nahm mit Recht an, daß in den Städten, mitten zwiſchen den Häuſern der friedlichen Bürger, die Martier von gewaltſamen Zerſtörungen abſehen würden; daß ſie, wenn ſie einen Einfluß auf die Regierung gewinnen wollten, gezwungen ſein würden, ihre ſchützenden Schiffe zu verlaſſen und den feſten Boden zu betreten. Und hier ſollte dann die ſtarke militäriſche Beſatzung es unmöglich machen, daß die Kaſſen, die Büros, die Archive und die leitenden Amtsperſonen ſelbſt in feindliche Gewalt gerieten. Deswegen hatte jedes einzelne Bataillon bereits ſeine beſtimmte Inſtruktion, wohin es ſich beim erſten Erſcheinen der Feinde ſofort zu begeben habe. Dies allein war auszuführen. Die große Parade war zum Verderben ausgeſchlagen. Aber in Erinnerung an hergebrachte und liebgewordene Gewohnheiten hatte der oberſte Kriegsherr geglaubt, dieſelbe ohne Gefahr anordnen zu können, weil trotz des ſorgfältigſten Nachrichtendienſtes noch keinerlei Spur einer feindlichen Annäherung gefunden worden war. Nun war der Feind dennoch da. Jeder ſah ein, daß man nichts tun konnte, als der urſprünglichen Anordnung zu folgen. Auf die feindlichen Luftſchiffe ſchießen oder gegen ſie anſtürmen wäre Unſinn geweſen. Das ganze große Feld war noch von Zuſchauern überflutet, die ſich jetzt in eiliger Flucht nach der Stadt zurückwälzten. Auf den Chauſſeen drängten ſich die Wagen, darunter die Equipagen, welche die fürſtlichen Gemahlinnen und Prinzeſſinnen vom Paradefeld fortführten. So taten die Truppen ihre einfache Pflicht. Sie marſchierten, ſo ſchnell ſie konnten, auf den im voraus feſtgeſetzten Wegen nach ihren Beſtimmungsorten. Nur das erſte Gardegrenadierregiment und das Gardeküraſſierregiment blieben zur perſönlichen Bedeckung des Kriegsherrn zurück. Der Monarch blickte mit finſterem Ernſt auf ſeine Umgebung, auf die feindlichen Schiffe und die betäubt oder tot am Boden liegenden Offiziere, um welche jetzt Ärzte und Krankenträger bemüht waren. Dann riß er den Degen aus der Scheide und rief: ‚Meine Herren! Hier gibt es nur einen Weg hindurch!‘ Er ſpornte ſein Pferd an. Seine Begleitung warf ſich ihm entgegen und beſchwor ihn, ſich dem ſichern Verderben nicht auszuſetzen. Er wollte nicht hören. ‚Nun denn‘, rief da der greiſe General von Dollig, ‚zuerſt wir!‘ Und einen Teil der Offiziere mit ſich fortreißend, jagte er im Galopp gegen die unſichtbare Schranke, die ſich nur durch eine Staubſchicht über dem Boden verriet. Sobald man bei den außerhalb des Ringes der Marsſchiffe haltenden Schwadronen der Gardeküraſſiere die Bewegung in der Begleitung des Feldherrn wahrgenommen hatte, ließen ſie ſich nicht länger zurückhalten. Unter brauſendem Hurraruf ſprengten die glänzenden Reitermaſſen heran, um ihren Feldherrn aufzunehmen oder mit ihm unterzugehen. Es war ein furchtbarer Moment. Starres Entſetzen faßte alle, die den Vorgang zu bemerken vermochten. Und als ob die Kühnheit des Entſchluſſes den übermächtigen Feind bezwänge, ſo kam jetzt neue Bewegung in ſeine Schiffe. Sie erhoben ſich, als wollten ſie den Weg freigeben. Gleichzeitig aber ſenkte es ſich von oben herab wie eine dunkle, langgeſtreckte Maſſe, die eben erſt auf dem Feld erſchien. Wie ein breites, ſchwebendes Band, von den Luftſchiffen begleitet, dehnte ſich dieſe Maſſe jetzt in den kurzen Sekunden aus, welche die heranſtürmende Kavallerie zur Annäherung brauchte. Und nun kam die erſte Reihe der Reiter in den Bereich ihrer Wirkung, und gleich darauf zog die ſeltſame Maſchine über das ganze Regiment hinweg. Die Wirkung war ſo ungeheuerlich, daß die Schar der anſprengenden Fürſten und Generale ſtockte und ein Schrei des Entſetzens vom weiten Feld her herüberhallte. Kein einziges Pferd mehr ſtand aufrecht. Roß und Reiter wälzten ſich in einem weiten, wirren Knäuel, eine Wolke von Lanzen, Säbeln, Karabinern erfüllte die Luft, flog donnernd gegen die Maſchine in der Höhe und blieb dort haften. Die Maſchine glitt eine Strecke weiter und ließ dann ihre eiſerne Ernte herabſtürzen, wo die Waffen von den Nihilitſtrömen der Luftſchiffe vernichtet wurden. Noch zweimal kehrte die Maſchine zurück und mähte gleichſam das Waffenfeld ab. Keine Hand vermochte Säbel oder Lanze feſtzuhalten, und wo die Befeſtigung an Roß und Reiter nicht nachgab, wurden beide eine Strecke fortgeſchleift. Die Hufeiſen wurden in die Höhe geriſſen, und dadurch waren ſämtliche Pferde zum Sturz gebracht worden. Jene Maſchine war die neue, gewaltige Erfindung der Martier, eine Entwaffnungsmaſchine von unwiderſtehlicher Kraft für jedes eiſerne Gerät — ein magnetiſches Feld von koloſſaler Stärke und weiter Ausdehnung. Mit Hilfe dieſes in der Luft ſchwebenden Magneten entriſſen die Martier ihren Gegnern die Waffen, ohne ſie in anderer Weiſe zu beſchädigen, als es durch das Umreißen unvermeidlich war. Während die Kavallerie aus ihrer Verwirrung ſich aufzuraffen verſuchte, war der Luftmagnet ſchon weitergezogen und hatte ſich der Infanterie genähert. Vergeblich umklammerten die Soldaten mit beiden Händen ihre Gewehre, eine unwiderſtehliche Gewalt zerrte ſie in die Höhe, und mancher, der nicht nachgeben wollte, wurde ein Stück in die Luft geſchleudert, um dann ſchwer zu Boden zu ſtürzen. In wenigen Minuten war das 1. Garderegiment entwaffnet. Die Maſchine flog weiter, um die auf dem Marſch befindlichen Regimenter einzuholen und dasſelbe Manöver an ihnen vorzunehmen. Binnen kurzem mußte ſo ſelbſt die ſtärkſte Armee kampfunfähig gemacht ſein. Auch die Geſchütze der Artillerie wurden fortgeriſſen. Während der Monarch und ſeine Begleitung in tiefer Erſchütterung auf das Unfaßliche ſtarrten, ſenkte ſich aus der Höhe dicht vor ihnen ein ſchlankes Schiff hernieder, das ein leuchtender Stern als das Admiralsſchiff bezeichnete. Demſelben entſtieg, während die übrigen die Abſperrung aufrecht erhielten, der Befehlshaber der Martier. Zwei Adjutanten begleiteten ihn. Über ihren Köpfen glänzten die diabariſchen Helme. So traten ſie langſam einige Schritte vor, die großen Augen ſcharf auf die Offiziere gerichtet. Unwillkürlich wichen alle zur Seite, eine Gaſſe öffnete ſich, und der Nume ſtand dem Monarchen gegenüber. Der Martier grüßte mit einer ehrfurchtsvollen Handbewegung und ſagte: ‚Mein Auftraggeber, der Protektor der Erde, lädt Ew. Majeſtät und Ihre hohen Verbündeten zu einer Beſprechung ein und bittet, zu dieſem Zwecke dieſes Schiff allergnädigſt beſteigen zu wollen. Ich bemerke, daß es unmöglich iſt, dieſen von unſerer Repulſitzone umgebenen Platz auf andere Weiſe zu verlaſſen.‘ Niemand wagte ſich zu bewegen. Lange blickte der Fürſt mit ſtrenger Miene in das Auge des Numen, der den Blick ruhig erwiderte; keiner zuckte mit einer Wimper. Dann ſteckte der Monarch mit einer entſchloſſenen Bewegung den Degen in die Scheide und ſprach nachdrücklich: ‚Sie haben einen General gefangengenommen, nichts weiter. Seine Majeſtät, mein Herr Sohn, befindet ſich nicht unter uns.‘ ‚Ew. Majeſtät werden ihn im Schiffe finden‘, ſagte der Nume mit einer Verbeugung. Der Feldherr ſchwang ſich vom Pferd. Hoch aufgerichtet, die Hand auf dem Griff des Degens, ſtieg er die herabgelaſſene Schiffstreppe hinan. Das Luftſchiff, das bereits vor einer Stunde die Kommandierenden der Armeekorps in Königsberg, Breslau und Poſen aufgehoben hatte, entfernte ſich nach Weſten — —“ Torm ließ die Blätter aus ſeiner Hand ſinken. Das alſo war das Unglück vom dreißigſten Mai! Er nahm die Broſchüre wieder auf, er blätterte weiter, er blickte auch in die übrigen Hefte. An demſelben Tag waren die Feſtungswerke von Spandau durch die Martier zerſtört, die Kriegsvorräte unbrauchbar gemacht worden. Man hatte die Fürſten nach Berlin geführt, die ganze Stadt wurde jetzt zerniert. Wo ſich Truppen im Freien zeigten, erſchienen alsbald die Elektromagnete der Martier und entriſſen ihnen die Waffen. Nach drei Tagen waren alle größeren Waffenplätze außer Funktion geſetzt. Jetzt liefen die Nachrichten aus Wien, Paris, Rom ein. Die Martier waren überall in ähnlicher Weiſe vorgegangen. Zuerſt hatten ſie ſich der Perſonen der Fürſten, Präſidenten und Miniſter bemächtigt. Man hatte den Kaiſer von Öſterreich auf der Jagd, den König von Indien während eines großen Empfanges aufgehoben, der Präſident der franzöſiſchen Republik ſpielte gerade mit dem Kriegsminiſter eine Partie Billard, als er in das Luftſchiff der Martier eingeladen wurde. Die Kammer wurde im Palais Bourbon eingeſchloſſen, bis der Friedensvertrag unterzeichnet war. Die gefangenen Fürſten dankten zugunſten ihrer Thronerben ab, und die jungen Nachfolger konnten zuletzt nichts anderes tun, als in die Friedensbedingungen der Martier willigen, da ihre Armeen machtlos waren und ein längerer Widerſtand nur zu einer Auflöſung der ſtaatlichen Ordnung geführt hätte. Rußland allein war vorläufig von einem Angriff der Martier verſchont geblieben. Die Gründe dafür wußte man nicht, doch nahm man allgemein an, daß die Martier nur eine günſtige Gelegenheit abwarteten, bis ihnen die Zuſtände in den weſtlichen Staaten mehr freie Hand ließen. Das Protektorat über die Erde blieb erklärt, war aber zunächſt nur für die weſtlichen Staaten Europas durchgeführt. Hier wartete in jeder Hauptſtadt ein Reſident der Marsſtaaten und ein Kultor ſeines Amtes. Zwar war die Freiheit der Verwaltung im Innern garantiert, doch tatſächlich war auch in bezug auf Geſetzgebung und Regierungsmaßregeln der Wille der Marsſtaaten im letzten Grunde ausſchlaggebend. Die allgemeine Entwaffnung bis auf eine Präſenzſtärke von ein halb Promille der Bevölkerung war eine der Friedensbedingungen geweſen. Trotz allen Sträubens mußten die Fürſten ſie annehmen, da es tatſächlich unmöglich geweſen wäre, den techniſchen Machtmitteln der Martier gegenüber ohne ihren Willen eine Truppe auszubilden. Eine Reihe von Vorteilen in volkswirtſchaftlicher Beziehung wurde nun angebahnt. Produkte des Mars wurden eingeführt, neue Betriebsformen von Fabriken, vor allem die Herſtellung künſtlicher Nahrungsmittel. Die Landwirte wurden vorläufig damit beruhigt, daß ihnen aus den Fonds der Marsſtaaten große unverzinsliche Darlehen gegeben wurden, um die Koſten der Umwandlung des Fruchtbetriebs in Maſchinenbetrieb durch Sonnenſtrahlung zu beſtreiten. Ingenieure der Martier leiteten die Einrichtung der Strahlungsfelder, zu denen vorläufig nur unfruchtbarer Boden benutzt wurde. Alles dies aber waren bloß vorbereitende Schritte, die eigentlich mehr erziehen als wirtſchaftlich nützen ſollten. Die Ausbeutung der Sonnenenergie ſuchten die Martier auf den großen Wüſten und Steppen Aſiens, Afrikas und Nordamerikas. Sie hatten deshalb mit Rußland und den Vereinigten Staaten neue Verhandlungen angeknüpft. Inzwiſchen erſtrebten ſie in Europa rein ideale Ziele. Kriegskoſtenentſchädigung verlangte man nicht, die großen Summen, die für das Militär erſpart wurden, kamen den Fortbildungsſchulen zugute. Die Martier wollten die Menſchheit für ihre höhere Auffaſſung der Kultur und Sittlichkeit erziehen, und dem ſollte die Einſetzung der Kultoren, die Einrichtung obligatoriſcher Fortbildungsſchulen dienen. Torm war zu abgeſpannt, um weiterzuleſen. Er legte die Papiere beiſeite. Ein einzelnes Blatt ſchob ſich vor. Er ſah alsbald, daß es ein Flugblatt ſei, zu irgendeinem beſtimmten Zweck verbreitet, und ſein Blick richtete ſich nur noch einmal darauf, weil er mit fetten Lettern die Worte gedruckt ſah: „Glaubt nicht an ihren Edelmut“, „Die Mörder von Podgoritza“, „Aber auch ſie ſind ſterblich“. Er las das Blatt jetzt durch, einmal, zweimal. Es handelte von der ſogenannten ‚Beſtrafung‘ von Podgoritza in Montenegro. Dieſe Stadt war tatſächlich von den Martiern dem Erdboden gleichgemacht worden. Allerdings hatte man den Einwohnern Zeit gelaſſen, ſie zu räumen, aber nicht alle hatten gehorcht; da waren die Nume zum erſtenmal auf der Erde ſchonungslos vorgegangen und hatten ohne Rückſicht auf Menſchenleben ihre Drohung ausgeführt. Es waren wohl einige hundert Perſonen dabei umgekommen, wütende Männer, die ſich den Luftſchiffen entgegengeworfen hatten. Aber warum war dieſes ungewöhnliche Strafgericht ergangen? Es war kurz nach der Unterwerfung der weſteuropäiſchen Staaten geweſen, als ein großes Luftſchiff der Martier, das von einer wiſſenſchaftlichen Expedition zurückkam und zum Zweck einer kleinen Ausbeſſerung in der Nähe von Podgoritza anlegte, in der Nacht unvermutet von bewaffneten Bewohnern der Stadt und Umgegend überfallen worden war. Die Martier waren überraſcht und bis auf den letzten Mann, zum großen Teil im Schlaf, niedergemacht worden. Es war der einzige Verluſt, den die Nume bisher auf der Erde erlitten hatten und die Empörung in den Marsſtaaten war ungeheuer. Man war nahe daran, die ganze Menſchheit für die Bluttat unziviliſierter Albaner verantwortlich zu machen. Etwas Derartiges war den Martiern bisher undenkbar geweſen; und ſo wurde beſtimmt, daß die Strafe ausnahmsweiſe nach menſchlicher Art, das heißt durch Vernichtung des Gegners, vollzogen werde, weil man glaubte, ſonſt bei der barbariſchen Bevölkerung keinen Eindruck zu erzielen. Dieſe Handlungsweiſe der Martier wurde nun in Europa ausgebeutet, um ſie in üblem Licht darzuſtellen. Aber warum machte die Tat auf Torm einen ſo tiefen Eindruck? Immer und immer wieder beſchäftigte ihn die Frage, welches Schiff es wohl geweſen ſei, von dem kein Lebender zu den Martiern zurückkehrte. Und eine Vermutung ſtieg in ihm auf, an die er kaum zu glauben wagte. 46. Der Kultor der Deutſchen „Unmöglich, Herr Kultor, unmöglich“, ſagte der Juſtizminiſter Kreuther, indem er ſeine hohe Stirn mit dem Taſchentuch tupfte. „In dieſer Form, welche der Reichstag dem Geſetzentwurf zum Schutz der individuellen Freiheit gegeben hat, iſt er für uns unannehmbar. Sie müſſen das ſelbſt zugeben. Es würden die Paragraphen 95 bis 101 des Strafgeſetzbuches hinfällig werden.“ „Und was ſchadet dies?“ fragte der Kultor kühl. Er lehnte ſich bequem in ſeinen Stuhl zurück und ließ ſeine großen Augen ruhig von einem der beiden ihm gegenüberſitzenden Herrn zum andern wandern. Der Juſtizminiſter blickte ihn faſſungslos an. Sein Begleiter, der Miniſter des Innern, von Huhnſchlott, richtete ſich gerade auf und zerrte an ſeinem grauen Backenbart. „Was das ſchadet?“ ſagte er mit mühſam zurückgehaltener Empörung. „Das heißt, die Majeſtät ſchutzlos machen, das heißt, jeder pöbelhaften Gemeinheit einen Freibrief ausſtellen, das heißt, unſre heiligſten, angeſtammten Gefühle angreifen und die Autorität untergraben.“ „Sie irren, Exzellenz“, antwortete der Kultor mit einem überlegenen Lächeln. „Es heißt nur, die Wahrheit feſtlegen, daß die Majeſtät ebenſowenig durch Äußerungen anderer beleidigt werden kann, wie die Vernunft überhaupt, daß die ſittliche Perſönlichkeit dadurch nicht berührt wird. Die Verleumdung bleibt ſtrafbar wie jede Schädigung, und die Autorität iſt genügend geſchätzt durch die Unverletzlichkeit der Perſon der Fürſten. Wir können es aber als keine Schädigung der Perſon erachten, wenn jemand ohne ſeine Schuld lediglich beſchimpft wird. Das iſt eben die Grundanſchauung, die wir durchführen wollen, daß es keine ſolche Beleidigung gibt, daß die Injurie nicht denjenigen verächtlich macht und in der öffentlichen Meinung herabſetzt, den ſie treffen ſoll, ſondern denjenigen, der ſie ausſpricht. Wir erſtreben mit dieſem Geſetz, einen Teil unſres allgemeinen Erziehungsplanes durchzuführen. Die Menſchen ſollen lernen, ihre Ehre allein zu finden in dem Bewußtſein ihres reinen ſittlichen Willens, und ſie ſollen verachten lernen den äußern Schein, der dem Schlechten ebenſo zugute kommt wie dem Ehrenmann. Wir wollen die Erziehung zur innern Wahrheit, indem wir den Schutz des Geſetzes dem entziehen, was dazu verleitet, die Ehre im Urteil oder Vorurteil der Menge zu ſehen. Alle unſre Maßregeln, die volkswirtſchaftlichen wie die ethiſchen, haben nur das eine Ziel, den Menſchen das höchſte aller Güter zu verſchaffen, die innere Freiheit.“ Der Juſtizminiſter ſchüttelte den Kopf. „Das iſt ein kindlicher Idealismus“, dachte er, aber er wußte nicht gleich, wie er dies, was er für beleidigend hielt, höflich ausdrücken ſolle. „Herr Kultor“, ſagte von Huhnſchlott, „das bedeutet eine gänzlich von der unſrigen abweichende Weltanſchauung, das kann nur die Umſturzideen fördern. Wir bitten Sie inſtändig —“ „Das iſt keine neue Weltanſchauung“, unterbrach ihn der Kultor ſtreng, „es iſt nur der Kern der Religion, zu deren äußeren Formen Sie ſich ſo eifrig bekennen. Es iſt die innere Freiheit im Sinne des Chriſtentums, nur daß ſein Begründer, im Zuſammenſturz der antiken Welt, machtlos im römiſchen Weltreich, ſie allein finden konnte in der Verachtung und Flucht der Welt und daß ſeine angeblichen Nachfolger ſie bloß verſtanden als den Verzicht des Armſeligen zugunſten des Mächtigen. Wir aber ſind die Herren der Natur und der Welt und wollen nun der Pflicht nicht vergeſſen, für jeden dieſe innere Freiheit zu ermöglichen, ohne daß er auf die Güter dieſes Lebens zu verzichten braucht. Und darum, meine Herren, iſt es ganz vergeblich, daß Sie ſich weiter bemühen. Sie werden dem Geſetz die Zuſtimmung der Regierung geben.“ Der Kultor erhob ſich. Die Miniſter ſtanden ſogleich auf und ſahen ſich verlegen an. „Verzeihen Sie, Herr Kultor“, begann der Juſtizminiſter nach einer Pauſe, „wir haben dieſe Unterredung als eine private nachgeſucht; ich ſehe, daß ſie leider erfolglos war. Was werden Sie tun, wenn das Geſamtminiſterium Ihnen eine offizielle Vorſtellung macht?“ „Ich werde auf der Sanktionierung des Geſetzes beſtehen.“ „Und wenn der Bundesrat dennoch ablehnt?“ „Er wird es nicht.“ „Ich würde eher meine Demiſſion einreichen, als die Annahme empfehlen“, ſagte Kreuther mit Haltung. „Das Miniſterium iſt darin einig“, fügte Huhnſchlott hinzu. „Das täte mir leid, meine Herren, aber es würden ſich andere Miniſter finden.“ „Und wenn nicht?“ rief Huhnſchlott auffahrend. „Dann wird Ihnen der Herr Reſident die Antwort erteilen. Bemühen Sie ſich nur zu ihm, ich weiß, was er Ihnen antworten wird. Hätten Sie ſich der Protektoratserklärung vom 12. Mai vorigen Jahres unterworfen, ſo wäre eine Einmiſchung in innere Angelegenheiten ausgeſchloſſen. So aber wird er ſie auf Artikel 7 des nordpolaren Friedensvertrages vom 21. Juni verweiſen. Die Garantien für den Rechtsbeſtand der Verfaſſung ſind aufgehoben, wenn ſich die Regierung weigert, diejenigen Maßregeln zu unterſtützen, welche die Marsſtaaten für notwendig zur wirtſchaftlichen, intellektuellen oder ethiſchen Erziehung der Menſchheit hält.“ „Die Entſcheidung des Kultors und des Reſidenten iſt noch nicht maßgebend“, erwiderte Huhnſchlott finſter. „Es ſteht uns der Appell an den Protektor der Erde offen.“ „Appellieren Sie“, ſagte der Kultor. Die Miniſter verbeugten ſich förmlich und verließen das Zimmer. Langſam ſtiegen ſie die breite Treppe hinab. In der Vorhalle ſtanden zwei rieſenhafte Beds unter ihren diabariſchen Glockenhelmen Poſten und ſenkten ſalutierend ihre Telelytrevolver. Die Miniſter grüßten mechaniſch und ſtiegen in den vor der Tür haltenden elektriſchen Wagen. Er rollte aus der bedeckten Auffahrt auf den regennaſſen Aſphalt der breiten Straße. Huhnſchlott warf einen Blick rückwärts auf das flache Dach des Gebäudes, wo die glatten Rücken dreier Marsſchiffe durch den grauen Schleier des herabrieſelnden Regens glänzten und ihre Repulſitrohre nach drei Richtungen drohend der Hauptſtadt entgegenſtreckten. Kreuther war dem Blick gefolgt und ſeufzte tief. „Zum Kanzlerpalais“, rief Huhnſchlott dem Wagenführer zu und murmelte einen Fluch zwiſchen den Zähnen. Der Kultor war an eines der hohen Fenſter des Gemaches getreten und blickte hinüber auf den Verkehr der Straße. Seine Stirn zog ſich finſter zuſammen. Das tut’s freilich nicht, ſo gingen ſeine Gedanken, aber die Gängelbänder müſſen fort, wenn die Kinder allein und aufrecht zu gehen lernen ſollen. Und dieſe Huhnſchlotts ſind die gefährlichſten Feinde der Selbſtzucht; doch ihre Macht iſt gebrochen. Sie werden nicht wagen, ſich zu widerſetzen. In ſeinen Augen leuchtete es triumphierend auf. Es muß gelingen! Er wandte ſich nach ſeinem Arbeitszimmer. „Die Berichte der Herren Inſtruktoren!“ ſprach er ins Telephon. Der Aufzug beförderte ein dickes Aktenbündel herauf. Er begann darin zu blättern und ſich Notizen zu machen. Sein Auge verfinſterte ſich wieder. Die Beſtrafungen wegen Verſäumnis der Fortbildungsſchulen vermehrten ſich von Monat zu Monat. Auf dem Land hatte man jetzt während der Erntezeit die Einrichtung überhaupt pauſieren laſſen müſſen. Und wie oft waren die Lehrpläne falſch aufgeſtellt! Nicht wenige Inſtruktoren ließen Dinge lehren, zu denen die Vorkenntniſſe fehlten. Aber es fanden ſich doch auch erfreuliche Erfolge. In manchen Landesteilen, beſonders bei der induſtriellen Bevölkerung, drängte man ſich nach den Bildungsſtätten. Merkwürdigerweiſe zeigte ſich auch in Süddeutſchland, ſogar in Tirol, ein Fortſchritt in der Popularität der Schulen. Hier ſtand den Beſtrebungen der Nume die feſte Organiſation der kirchlichen Macht feindlich gegenüber; es ſchien zuerſt, als würde es unmöglich ſein, gegen den Fanatismus der von der Geiſtlichkeit gelenkten Bevölkerung aufzukommen. Aber gerade in dieſen Gegenden wurde der Beſuch, trotz der lokalen Schwierigkeiten in den Gebirgen, immer lebhafter, es gründeten ſich ſelbſtändige Vereine, zahlreich wurden Lehrer verlangt. Der Kultor ſann lange über die Urſache dieſer Erſcheinung nach. War es die natürliche Oppoſition gegen die Macht, die bisher das Nachdenken gefliſſentlich vom Volk ferngehalten hatte? Brauchte man dem menſchlichen Geiſt nur die Freiheit und die Gelegenheit des Denkens zu geben, um ſicher zu ſein, daß er ſeinen Aufflug gewinnen werde? Oder waren die Inſtruktoren hier geſchickter? Der Kultor las einige der Einzelberichte, und er ſah mit Vergnügen, wie gut es die Sendboten der Numenheit verſtanden hatten, ſich vollſtändig nach den kirchlichen Gewohnheiten der Bevölkerung zu richten. Nirgends ſuchten ſie Zweifel zu erwecken, nirgends gegen die traditionelle Form zu verſtoßen. Sie beſchränkten ſich zunächſt auf rein praktiſche Kenntniſſe, deren Wirkung ſich ſofort in der Hebung des wirtſchaftlichen Lebens zeigte. So gewannen ſie Vertrauen. Der Weg iſt lang, dachte der Kultor, aber er iſt der einzig mögliche. Der Kultor blickte auf ſeine Notizen und ſprach eifrig in den vom Mars eingeführten Phonographen, der ihm zum Feſthalten ſeiner Gedanken diente. Er entwarf eine Erläuterung zur Inſtruktion der einzelnen Bezirkskultoren. Die ſüddeutſchen Erfolge ſollten zum Vorbild genommen werden. Als er einiges aus der Statiſtik anführen wollte, ſtutzte er bei einer Zahl, die von den übrigen auffallend abwich. Wie kam es, daß in dem Bezirk von Bozen die Reſultate ſo ungünſtig waren? Er ſuchte in den Akten den Bericht des Inſtruktors. Es war die erſte Arbeit eines neu hingekommenen Beamten. Die Inſtruktoren mußten ſehr häufig wechſeln, das war ein großer Übelſtand; ſie vertrugen das Erdklima nicht. Eben begann der Kultor den Bericht zu leſen, als ihm gemeldet wurde, daß der Vorſteher des Geſundheitsamtes von ſeiner Inſpektionsreiſe zurückgekehrt ſei und anfrage, ob er ihn ſprechen könne. „Ich bitte, ſogleich“, war die Antwort. Die Tür öffnete ſich, und ein älterer Herr trat ein. Trotz der diabariſchen Glocke, die über ſeinem Haupt ſchwebte, ging er gebückt und mühſam. Der Kultor ſprang auf und eilte ihm entgegen. „Mein lieber, teurer Freund“, ſagte er, ſeine Hände faſſend, „was iſt Ihnen? Sie ſehen angegriffen aus, ſind Sie nicht wohl? Machen Sie es ſich bequem. Legen Sie den Helm ab, und ſetzen Sie ſich hier auf das Sofa unter dem Baldachin, dieſes Eckchen iſt auf Marsſchwere eingerichtet. Ihre Reiſe hat Sie gewiß ſehr angeſtrengt?“ „Es muß meine letzte ſein. Sobald ich meinen offiziellen Bericht abgegeben habe, ſpäteſtens in zwei bis drei Wochen, komme ich um Urlaub ein. Ich hoffe, Sie werden mir keine Schwierigkeiten machen.“ „Sie erſchrecken mich, Hil! Selbſtverſtändlich können Sie reiſen, ſobald Sie wollen, ſollen Sie reiſen, wenn es Ihre Geſundheit erfordert. Aber mir tut es von Herzen leid. Und wie ſollen Sie erſetzt werden? In dieſem unausgeſetzten Wechſel der Beamten — wir haben nun ſchon den vierten Reſidenten — waren Sie mir die feſteſte Stütze. Indeſſen, ich hoffe, es handelt ſich nur um eine vorübergehende Indispoſition. Das feuchte Wetter —“ „Ja das Wetter! Sehen Sie, Ell — ich ſpreche im Vertrauen —, an dem Wetter wird unſre Kunſt zuſchanden. Der Winter läßt ſich allenfalls ertragen, aber gegen dieſe feuchte Wärme kommen wir nicht auf. Oft habe ich geglaubt, wenn unſre Beamten ſchon nach wenigen Wochen um Urlaub einkamen, es liege an ihrer Willensſchwäche. Ich habe jetzt auf meiner Reiſe durch die Tiefebene und durch die feuchten Waldtäler der Gebirge geſehen, daß dieſes Klima für den Numen, der ſich wenigſtens einen Teil des Tages im Freien aufhalten muß, wie es doch auf Reiſen unvermeidlich iſt, in gefährlichſter Weiſe wirkt. Der Regen, der Regen! Wer dieſe Himmelsplage erfunden hat! Bald prickelt es von allen Seiten in mikroskopiſchen Waſſertröpfchen, bald brauſt es in Sturzgüſſen hernieder, bald fällt es mit jener eintönigen, hypnotiſierenden, tödlichen Langeweile herab wie heute. Die Luft, mit Dampf geſättigt, lähmt die Tätigkeit der Haut und läßt uns erſticken. Ich war manchmal wie verzweifelt. Wir dürfen niemand länger als ein halbes Jahr im Winter oder ein Vierteljahr im Sommer hier laſſen, oder wir bringen Lungen und Herz nicht wieder geſund nach dem Nu. Was nutzen uns die trefflichen antibariſchen Apparate, wenn das infame Waſſer uns im wahren Sinne des Wortes erſäuft? Da oben am Pol war das nicht ſo merklich, wir lebten ja auch mehr nach unſrer eignen Weiſe. Aber hier in Deutſchland —. Warum mußten Sie ſich auch gerade dieſes Volk zu Ihrem Experiment auserſehen? Es gibt doch Gegenden, in denen wir einigermaßen beſſer fortkommen würden, zum Beiſpiel die großen Steppen im Oſten, und überall, wo es trocken iſt —“ „Aber mein verehrter Hil! Unſre Kulturbeſtrebungen können wir doch nur dort betreiben, wo wir die Bevölkerung am beſten vorbereitet finden, alſo wo die Volksbildung die vorgeſchrittenſte iſt. Deswegen mußte ich Deutſchland wählen, und vornehmlich darum, weil ich es am beſten kenne. Höchſtens an England hätte ich, aus andern Gründen, denken können, aber dort iſt es noch viel feuchter. Und aus allen andern Staaten klagen die Kultoren und Reſidenten ebenſo. Hier liegt ein ganzer Stoß von Urlaubs- und Entlaſſungsgeſuchen von Leuten, die noch keine drei Monate im Lande ſind. Doch Sie ſetzten ja ſo viele Hoffnung auf das Anthygrin. Hat ſich denn dieſes Heilmittel nicht bewährt?“ „Das Anthygrin iſt in der Tat ein ausgezeichnetes Spezifikum gegen das Erdfieber, und mit dem Chinin zuſammen hält es uns einige Zeit aufrecht. Aber es wird nicht lange vertragen, andere Organe werden ruiniert. Ich habe es jetzt ſehr ſtark anwenden müſſen, und nun bin ich hauptſächlich deswegen ſo ſchwach, weil ich nichts mehr eſſen kann.“ „Sie ſollten ſich an Menſchenkoſt gewöhnen. Man muß ſich eben nach dem Land richten. Im übrigen müſſen wir uns damit abfinden, daß unſre Beamten ſchnell wechſeln. Wir wollen verſuchen, ihnen öfter einen kürzeren Urlaub in günſtigere klimatiſche Verhältniſſe, etwa nach Tibet, zu geben. Dort hat ſich ja jetzt eine vollſtändige Marskolonie entwickelt. Und wiſſen Sie, Sie brauchen Ihren Bericht nicht hier abzufaſſen, Sie können das tun, wo Sie ſich wohler fühlen, vielleicht in den Alpen, oder auch weiter fort. Ich ſtelle Ihnen ein Regierungsſchiff zur Verfügung.“ „Ja, wenn wir in der Lage wären, jedem ein Luftſchiff mitzugeben — das wäre freilich das beſte Mittel. Zehntauſend Meter in die Höhe, das kuriert beſſer als Anthygrin und alle Mittel.“ „Das können wir freilich uns vorläufig nicht leiſten, aber in einigen Jahren, wenn wir die Energieſtrahlung auf der Erde beſſer ausnutzen können, wird es hoffentlich möglich ſein. Etwas ließe ſich inzwiſchen ſchon tun. Man könnte einige Schiffe zu einer Höhen-Luftſtation einrichten und ſo doch abwechſelnd den einzelnen Erleichterung ſchaffen.“ „Tun Sie darin bald, was Sie tun können.“ „Ich kann jetzt nicht größere Geldmittel verlangen. Der Etat für dieſes Jahr iſt erſchöpft. Wir haben koloſſale Anlagekoſten gehabt.“ „Ganz gleich, mögen es die Menſchen bezahlen.“ Ell ſah den Arzt erſtaunt an. „Nun ja“, lenkte Hil ein, „es klingt etwas roh. Schließlich wird es doch darauf hinauskommen. Doch entſchuldigen Sie meine — meine Ausdrucksweiſe. Ich fühle ſelbſt, daß ich jetzt ſo leicht heftig, nervös gereizt bin. Man lernt ja die Menſchen nicht gerade ſehr hoch ſchätzen — übrigens iſt das die allgemeine Anſicht bei unſern Beamten, daß es ganz gut wäre, lieber Steuern zu erheben als Entſchädigungsgelder zu zahlen.“ „Ich verſtehe Sie gar nicht mehr, lieber Freund. Das wäre die Anſicht bei unſern Beamten? Dagegen würde ich mich doch recht ernſtlich erklären.“ „Da es mir einmal ſo — wie man hier redet — herausgefahren iſt, ſo mag es denn auch geſagt ſein“, erwiderte Hil, „obwohl ich erſt in meinem Bericht davon ſprechen wollte, weil ich ihnen erſt darin die formellen Belege für meine Beobachtungen geben kann. Es iſt allerdings eine Gefahr da, eine moraliſche, die Ihnen in der Auswahl der Beamten ganz beſondere Vorſicht auferlegen wird. Es iſt mir im allgemeinen aufgefallen, daß die Inſtruktoren nach einigen Monaten nicht mehr die Ruhe und das heitere Gleichmaß der Geſinnung haben, die wir an den Numen gewohnt ſind. Der Umgang mit den Menſchen, wenigſtens in der autokratiſchen Stellung, die ſie einnehmen, wirkt — verzeihen Sie den Ausdruck — gewiſſermaßen verrohend, und das äußert ſich zunächſt in der Sprechweiſe, in einer Geringſchätzung der äſthetiſchen Form, weiterhin in einer Überſchätzung der eigenen Bedeutung, ſchließlich in einer ſchon das ethiſch Statthafte überſchreitenden Selbſtherrlichkeit. Ja, ich habe leider einzelne Fälle beobachtet, wo man direkt von einer Pſychoſe ſprechen kann, ich möchte ſie geradezu den ‚Erdkoller‘ nennen.“ „Aber ich bitte Sie, da muß ſofort eingeſchritten werden. Darüber werden Sie mir eingehend berichten.“ „Als Arzt, gewiß. Das andere wird Sache der revidierenden Unterkultoren ſein, wenn nicht gar des Reſidenten. Denn es können politiſche Verwicklungen entſtehen. Bis jetzt iſt die Sache noch verhältnismäßig harmlos, und ich werde die betreffenden Herren ſchon morgen zur Beurlaubung vorſchlagen. Da komme ich zum Beiſpiel — ich weiß den Namen nicht auswendig — auf eine Kreuzungsſtation, wo ich umſteigen muß. Aber der neue Zug kommt nicht und kommt nicht — er hat über eine halbe Stunde Verſpätung. Ich erkundige mich dann bei dem Zugführer und höre: Ja, der Herr Bezirksinſtruktor iſt ein Stück mitgefahren. Ich frage, warum das ſo lange aufgehalten habe. Der Herr Bezirksinſtruktor habe einen eigenen Wagen verlangt, der mußte erſt geholt werden. Dann könne er aber den Lärm und Dampf der Maſchine nicht vertragen, und ſo mußte man den Wagen erſt an das Ende des Zuges bringen und noch einige leere Wagen dazwiſchenſchalten. Und endlich mußte man mitten auf der Strecke an einem Dorf halten, weil es ihm beliebte, dort auszuſteigen.“ „Und ſagten Sie nicht, daß die Bahnbeamten ſolchem unberechtigten Verlangen nicht nachgeben durften?“ „Die zuckten die Achſeln und meinten, was will man tun? Man darf ſich den nicht zum Feind machen.“ „Die feigen Toren! Aber der Inſtruktor muß ſofort von ſeinem Amt ſuſpendiert und vor das Disziplinargericht geſtellt werden. Das iſt ja unerhört, wenn ſich dieſe Angaben beſtätigen, ich werde aufs genaueſte unterſuchen laſſen. Wie kann ein Nume ſeine Berechtigungen ſo überſchreiten!“ „Es würde ihm auf dem Nu nie einfallen. Hier achtet er niemand als ſeinesgleichen. Die Theorie, daß Bate keine Numenheit beſäßen, iſt ja ſehr verbreitet.“ „Ich werde dafür ſorgen, daß ſich meine Beamten ihrer Pflicht erinnern, die Geſetze dieſes Staates als die ihrigen zu betrachten, ſo lange ſie hier ſind, und ſich keine privaten Vorrechte anzumaßen. Wie ſollen die Menſchen lernen, ſich dem Geſetz zu fügen, wenn Nume ſolche Beiſpiele geben? Ich hätte das nicht geglaubt. Warum aber beſchwert ſich niemand? Sobald die Preſſe über einen derartigen Fall berichtete, würde ich ſofort unterſuchen laſſen.“ Hil zuckte mit den Achſeln. „Die Unterſuchung iſt nicht immer ſehr angenehm. Es iſt ſchwer, alle Einzelheiten zu beweiſen. Übrigens ſind ſolche Fälle glücklicherweiſe noch vereinzelt. Sollten ſie ſich wiederholen, ſo würde die Preſſe nicht ſchweigen. Das ſehen Sie ja an dem Fall Stuh.“ „Was meinen Sie da?“ „Haben Sie denn die heutigen Mittagsblätter nicht geleſen?“ „Es war mir bis jetzt unmöglich. Aber ich würde natürlich nachher —. Doch was iſt denn geſchehen? Sie meinen doch nicht Stuh in Frankfurt?“ „Die Sache ſpielt in der Nähe von Frankfurt. Der Bezirksinſtruktor iſt vier Stunden im Regen gefahren — beachten Sie das —, kommt in einen kleinen Ort und iſt ſehr hungrig. Er läßt vor dem Wirtshaus halten. Es iſt Sonntag, alle Zimmer ſind überfüllt, der Wirt hat ſelbſt Taufe im Hauſe. Stuh geht in das Gaſtzimmer und beſtellt ſich Eſſen. Die Bauern rücken auch zuſammen und machen ihm eine Ecke frei. Nun kommt das Eſſen. Stuh ſagt dem Wirt, die Leute möchten jetzt das Zimmer verlaſſen, er wolle eſſen. Der Wirt ſtellt ihm vor, das könne er nicht verlangen, es ſei kein Raum im ganzen Hauſe frei; ſelbſt der Hausflur war beſetzt, und draußen regnete es in Strömen. Da wird Stuh von Hunger und Regen wütend und herrſcht die Leute an, ſie möchten ſich hinausſcheren, wenn ein Nume eſſe, habe kein Bat zuzuſehen. Die Bauern haben keine Ahnung, daß es uns nicht möglich iſt, ſo öffentlich den Hunger zu ſtillen. Sie halten die Anforderung für eine Unverſchämtheit und lachen Stuh einfach aus. Ganz nüchtern waren ſie auch nicht mehr. Kurzum, es kommt zum Streit. Stuh will nun hinaus, jetzt aber verhöhnen ihn die Bauern und klopfen ihm mit ihren Stöcken auf den Glockenhelm. Unglücklicherweiſe hat Stuh an ſeiner Uhr ein kleines Telelytſtiftchen. Er nimmt die Uhr heraus, hält ſie den Umſtehenden entgegen und ſagt: ‚Wenn ihr jetzt nicht macht, daß ihr hinauskommt, ſo laſſe ich hier einen Feuerregen heraus, daß ihr alle verbrennen müßt.‘ Das war ja natürlich eine Aufſchneiderei, mit dem Stiftchen konnte er höchſtens einem die Kleider verſengen. Und da nun nicht gleich Platz wird, ſo läßt er die Funkengarbe aus dem Stiftchen ſprühen. Nun denken die Leute wirklich, das Haus muß anbrennen, und drängen ſich zur Tür. Es entſteht ein Gewühl, und eine Menge Verwundungen kommen vor. Das ganze Haus gerät in Aufruhr. Stuh verriegelt die Tür und ſetzt ſich ruhig zum Eſſen. Als nun die Bauern ſahen, daß weiter nichts geſchehen war und ſie ſich nur ſelbſt geſtoßen und getreten hatten, wurden ſie wütend und wollten die Tür einſchlagen, um Stuh zu verhauen. Zum Glück war inzwiſchen Polizei herbeigekommen und brachte Stuh unverſehrt zum Ort hinaus. Aber Sie können ſich denken, welche Empörung jetzt in dem Städtchen herrſcht.“ „Das iſt unangenehm, ſehr unangenehm“, ſagte Ell. „Und ich kenne doch Stuh als einen ruhigen, menſchenfreundlichen Mann.“ „Der Regen, Ell! Fahren Sie einmal vier Stunden im Regen — mit Pferden, entſetzlicher Gedanke! Schon der Geruch kann einen wahnſinnig machen. Aber freilich, das können Sie nicht ſo nachfühlen —“ Ell war aufgeſtanden und auf und ab gegangen. Er blieb nun ſtehen und ſprach: „Aber das ſind Zwiſchenfälle, die ſich nicht vermeiden laſſen. Man muß ſie korrigieren, ihnen jedoch kein großes Gewicht beilegen. Unſere Aufgabe werden wir trotzdem erfüllen.“ „Ich zweifle nicht. Aber es ſind Symptome. Möchten ſie ſich nicht häufen! Indeſſen, ſie ſind nicht das Schlimmſte. Es gibt eine viel größere Gefahr. Deswegen kam ich her. Eine Gefahr für die Menſchen.“ „Sprechen Sie, Hil.“ „Wiſſen Sie, was bei uns Gragra iſt?“ „Das iſt, wenn ich mich recht erinnere, eine Kinderkrankheit auf dem Mars, die ohne jede Bedeutung iſt.“ „Ganz richtig, das iſt ſie jetzt, ſeit einigen tauſend Jahren. Die Kinder ſind ein paar Tage müde, bekommen einen leichten Ausſchlag, und dann iſt die Sache vorüber. Aber es war nicht immer ſo. Im agrariſchen Zeitalter war die Gragra eine furchtbare Plage, eine entſetzliche Peſt, welche ganze Landſtriche bei uns entvölkerte, nicht durch einen akuten Verlauf, ſondern durch eine langſame, chroniſche Vergiftung. Wir ſind ihrer Herr geworden, teils durch unſre Impfungen, teils durch die allmähliche Veränderung der Ernährung. Und nun — die erſten Spuren dieſer chroniſchen Form —, doch ſetzen Sie ſich her zu mir, ich muß leiſe ſprechen.“ Ell ließ ſich neben Hil nieder. Dieſer ſprach lange mit ihm. Ells Geſicht war tiefernſt geworden. „Das iſt ja furchtbar“, ſagte er. „Und was können wir tun?“ „Noch weiß kein Menſch von der drohenden Gefahr. Die menſchlichen Ärzte ſind noch nicht einmal auf dieſe leichten, ihnen unbekannten erſten Symptome aufmerkſam geworden. Und wenn die Krankheit allmählich ſtärker unter den Menſchen auftreten ſollte, werden Jahre vergehen, ehe ſie erkennen werden, daß es ſich um eine für ſie ganz neue Form von Bakterien handelt. Denn dieſe ſind ſo klein, daß ſie nur durch unſere beſonderen Strahlungsmethoden nachweisbar ſind. Ich habe die Überzeugung, daß die Krankheit in ihrer milden Form vom Mars eingeſchleppt worden iſt und daß die Bazillen unter den auf der Erde, reſpektive im menſchlichen Körper herrſchenden Verhältniſſen ſo günſtige Bedingungen für ihre Vermehrung gefunden haben, daß die alte perniziöſe Form, die bei uns ausgeſtorben war, wieder auftritt. In einigen Jahren werden wir die Verheerungen ſehen.“ „So müſſen wir ſofort die Ärzte auf dieſe Krankheit aufmerkſam machen —“ „Überlegen Sie das ſehr ſorgfältig, Ell. Wie geſagt, von ſelbſt würde kein Menſch auf Jahre hinaus auf die Urſachen der Erſcheinungen kommen, die ſich zweifellos mit der Zeit zeigen werden. Und bisher ſind die Symptome ſelbſt erſt für uns wahrnehmbar. Wollen Sie jetzt den Menſchen ſagen, wir haben Euch ein furchtbares Übel auf die Erde gebracht, ſchlimmer vielleicht als die Tuberkuloſe? Wäre das nicht der ſichere Weg, unſern Einfluß aufzuheben? Würde das nicht zu einem allgemeinen Aufſtand führen, den wir nur mit neuen Greueln unterdrücken könnten? Nein, es darf kein Menſch ahnen, daß wir ihm nicht bloß Heilſames auf der Erde verbreiten.“ „Aber wir müſſen die Menſchen vor dem drohenden Unheil ſchützen.“ „Es iſt, wie ich überzeugt bin, möglich, aber es iſt ſehr ſchwierig. Zunächſt müſſen die Nume ſich jeder unmittelbaren Berührung mit dem Körper der Menſchen enthalten, es ſei denn unter den beſonderen Vorſichtsmaßregeln, wie ſie der Arzt bei einer Unterſuchung anwenden kann. Und es fragt ſich, ob alle der Unſeren in dieſer Hinſicht zuverläſſig ſein werden. Für die Menſchen aber iſt zweierlei notwendig: Ernährung durch chemiſche Nahrungsmittel und allgemein durchgeführte Impfung. Unter dieſen Umſtänden würde auch die Berührung mit den Numen nichts ſchaden können. Aber dieſe Mittel werden nicht anwendbar ſein.“ „Die allgemeine Verbannung der agrariſchen Nahrungsmittel iſt jetzt noch nicht möglich, ſie wird ſich nur nach und nach einführen laſſen. Und bis dahin könnte ſchon viel Schaden geſchehen ſein. Die Impfung ließe ſich ja zwangsweiſe durchſetzen, aber man müßte doch den Grund mindeſtens andeuten, und wir würden jedenfalls auf Widerſtand ſtoßen und Unwillen erregen. Indeſſen, geſchehen muß etwas. Ich erwarte baldigſt die eingehenden Belege für die Richtigkeit Ihrer Anſicht und werde dann mit dem Reſidenten und dem Protektor konferieren. Es müßte wohl ſicher international vorgegangen werden. Ach Hil, was für eine neue große Sorge haben Sie mir da gemacht!“ „Es war meine Pflicht.“ „Gewiß, mein verehrter Freund. Und vergeſſen Sie nicht bei Ihren Beſprechungen mit den Kollegen, daß es ſich um ein Numengeheimnis handelt. Es iſt zu abſcheulich! Nichts iſt mir unangenehmer als der Zwang, mit der vollen Wahrheit zurückzuhalten. Und doch muß hier aufs ſorgfältigſte überlegt werden, ob wir reden dürfen. Darin haben Sie leider recht.“ Ell trat an das Fenſter und blickte, in Nachſinnen verloren, hinaus. Hil erhob ſich, um ſich zu verabſchieden. Plötzlich zuckte Ell, wie von einem innern Schreck ergriffen, zuſammen. Er drehte ſich ſchnell nach Hil um und ſagte: „Noch eins, Hil, noch eine Frage. Schenken Sie mir noch einen Augenblick. Ich möchte wiſſen —: Was halten Sie von der Gefahr, die der Aufenthalt auf dem Mars für die Menſchen bietet? Glauben Sie, daß diejenigen, die dort waren, zum Beiſpiel unſre Freunde, den Keim der Krankheit in ſich aufgenommen haben könnten?“ Ein leichtes Lächeln ſpielte um Hils Züge, als er antwortete: „Für Ihre Perſon können Sie ganz unbeſorgt ſein. Bei Ihrem Numenblut und Ihrer Bevorzugung der chemiſchen Nahrungsmittel —“ Ell winkte mit der Hand. „Nicht doch, ich dachte wirklich nicht an mich, ich dachte — zum Beiſpiel Saltner — und die Forſchungs- und Vergnügungsreiſenden. Wir können ja jetzt kaum Raumſchiffe genug ſtellen. Glauben Sie, daß wir den Verkehr beſchränken müßten?“ „In dieſer Frage haben wir noch keine Erfahrung. Indeſſen könnte es kein Bedenken erregen, wenn man die Impfung zum Beiſpiel für das Betreten der Raumſchiffe unter irgendeinem Vorwand zur Bedingung machte.“ „Aber diejenigen, die nun ſchon zurück ſind?“ „Saltner iſt auf der Reiſe nach dem Mars geimpft worden, weil ihm ſonſt das Ehrenrecht als Nume nicht hätte erteilt werden können. Und was — was Frau Torm betrifft, ſo kann ich Sie ebenfalls beruhigen. Ich habe es für gut gehalten, während ihrer Krankheit nach und nach die bei uns vorgeſchriebenen Impfungen zu vollziehen, und ich halte ſie jetzt überhaupt für vollſtändig wiederhergeſtellt.“ Ell, der Hil geſpannt angeblickt hatte, atmete auf. Er ſagte jetzt lächelnd: „Und halten Sie mich ſelbſt für einen Anſteckungsherd?“ „Nein, ich halte Sie in dieſer Hinſicht für ganz ungefährlich.“ „Ich danke Ihnen. Und wir wollen den Mut nicht verlieren. Ich will nachdenken, was wir tun können. Leben Sie wohl, und ſchonen Sie ſich. Beſtimmen Sie, wann Sie Höhenluft ſchöpfen wollen, das Luftſchiff ſoll zu Ihrer Verfügung ſtehen.“ Er begleitete Hil bis an die Tür und ſchüttelte ihm die Hand. Dann kehrte er zurück. Ein Seufzer entrang ſich ſeiner Bruſt. Lange ſchritt er im Zimmer auf und ab. „Nur den Mut nicht verlieren!“ ſagte er zu ſich ſelbſt. Dann glitt ein ſtilles Lächeln über ſeine Züge. „Ja, das wird mir gut tun“, dachte er. „Den Wagen!“ rief er ins Telephon. 47. Isma Die Martier beſaßen ein Verfahren zur Herſtellung von Akkumulatoren, die nur ein ſehr geringes Gewicht hatten. Dieſe waren ſehr bald auf der Erde eingeführt worden und hatten das Fuhrweſen umgeſtaltet. In Berlin waren die Pferde vollſtändig aus dem Verkehr geſchwunden. Die Nähe größerer Tiere war den Martiern wegen der damit verbundenen Unreinlichkeit und des Geruches ein Abſcheu, und der Umgang der Menſchen mit ihren Haustieren erſchien ihnen als einer der barbariſchſten Züge im Leben der Erde. In der Hauptſtadt waren jetzt nur noch elektriſche Wagen und Droſchken im Gebrauch. Der elegante Wagen des Kultoramts führte Ell durch einen großen Teil der Stadt, vom fernen Südweſt bis zum Südoſt. Als Ziel hatte er die Bildungsanſtalt 27 angegeben, die ſich in der ehemaligen Kaſerne des dritten Garde-Infanterieregiments befand. Vor einer Nebenpforte des großen Gebäudes verließ Ell den Wagen, der dort warten ſollte. Er trat in das Haus, aber er durchſchritt nur einige Korridore und Höfe und verließ es wieder durch einen Ausgang nach der Zeughofſtraße. Von hier kehrte er in die Wrangelſtraße zurück und trat nach wenigen Minuten in eines der dortigen Mietshäuſer, wo er in dem nach dem Garten zu liegenden Flügel drei Treppen hinaufſtieg. Hier wohnte Isma. Sie ſaß an dem weitgeöffneten Fenſter, aus welchem ihr Blick über die regenfeuchten Bäume des Gartens nach den dahinter anfragenden Häuſermaſſen und Schornſteinen ſchweifte. Das Buch, in dem ſie geleſen hatte, lag neben ihr. Von Zeit zu Zeit, wenn ſie ein Geräuſch von Tritten zu vernehmen glaubte, blickte ſie nach der Tür, als erwartete ſie, daß ſie ſich öffnen werde. Und nun klingelte es draußen. Sie ſtand auf und ſtrich ſich das Haar aus den Schläfen. Dann ging ſie auf die Tür zu, aus welcher ihr Ell entgegentrat. „Endlich“, ſagte er, ihre Hand ergreifend, „endlich wieder einmal bei Ihnen. Es tat mir zu leid, daß ich unſern letzten Abend nicht einhalten konnte, aber ich durfte die Einladung da oben nicht ablehnen. Fühlen Sie ſich auch ganz wohl?“ Sein Blick ruhte mit zärtlicher Beſorgnis auf ihren Zügen. „Es geht mir beſſer wie je“, ſagte Isma lächelnd. „Fühlen Sie gar keine Beſchwerden?“ fragte er weiter. „Kein Kopfweh, keine Müdigkeit?“ „Gar nichts. Sie fragen ja gerade, als wenn Sie Hil wären. Was haben Sie denn? Ich kann Ihnen wirklich nicht die Freude machen, mich pflegen zu laſſen. Aber wiſſen Sie, Ell, daß Sie mir eigentlich gar nicht gefallen? Sie ſtrengen ſich offenbar zu ſehr an, Sie ſehen angegriffen aus und ſollten ſich mehr ſchonen.“ „Ach, Isma, davon kann keine Rede ſein“, erwiderte Ell, indem er ſich neben ihr niederließ. „Mir iſt manchmal zumute, als wüchſe mir die Arbeit über den Kopf. Und dann die Sorge! Doch nichts davon! Dann gibt es kein andres Heilmittel für mich, als hier die drei Treppen hinaufzuſteigen —“ „Das freut mich, daß Ihnen das Treppenſteigen ſo gut bekommt. Ich könnte ja auch noch eine Stiege höher ziehen.“ „Oh, es genügt. Wenn ich nur die ſchmale Hand faſſen und Ihnen in die lieben Augen ſehen kann! Dann möchte ich wieder an die Menſchen glauben und wieder hoffen!“ „Sie dürfen ſo nicht ſprechen, Ell, Sie ängſtigen mich. Auf dem Weg zu Ihrem hohen Ziel darf es kein Schwanken geben. Dazu waren unſre Opfer zu groß, zu ſchmerzlich.“ Sie hob die Augen, die mit Tränen kämpften, wie bittend zu ihm empor. „Verzeihen Sie mir, Isma. Ich weiß es längſt, daß ich für mich kein Glück beanſpruchen darf, der ich mir anmaßte, es der Menſchheit zu bringen. Aber wenn ich hier bei Ihnen ſitze — und Sie wiſſen, daß ich die neue Kraft hier ſchöpfe —, ach, dann iſt es auch ſo unendlich ſchwer, auf das einzige zu verzichten, was ich je vom Leben für mich erſehnte. Und immer feſter wird mir die Überzeugung, daß beides zuſammengehört, wenn ich meinen Lauf erfüllen ſoll.“ „Noch iſt die Zeit nicht da, von uns zu ſprechen. O Ell, ſagen Sie, was quält Sie, was iſt geſchehen? Ich kenne Sie kaum wieder, noch vor kurzem waren Sie ſo ſiegesgewiß.“ „Es geht wohl vorüber. Gerade heute haben ſich allerlei Nachrichten gehäuft, die mir Schwierigkeiten machen. Die neuen Verhältniſſe wirken ungünſtig auf die Nume, das ruhige Gleichgewicht, das ſie in den feſten Kulturzuſtänden des Mars haben, wird zerſtört, es entſtehen Konflikte, und das Ende vom Liede wird ſein, daß ich von beiden Seiten für alles verantwortlich gemacht werde.“ „Das müſſen Sie tragen. Und Sie wußten es im voraus, Ell, als Sie das verantwortliche Amt annahmen, daß Sie angefeindet werden würden. Erinnern Sie ſich noch? Es war kurz nach meiner Krankheit, als ich wieder den erſten größeren Ausflug mit ihnen unternahm, zur Probe, wie Hil ſagte, ob ich das Reiſen vertrüge. Wir waren nach den großen Schleuſen der Emm-Kanäle gefahren, dort zeigten Sie mir, wie das Waſſer auf das zweihundert Meter hohe Wüſtenplateau gehoben wird. Und da ſagten Sie mir, daß der Zentralrat Ihren Vorſchlag über die Einſetzung von Kultoren angenommen habe und daß Ihnen das Kultoramt für den deutſchen Sprachbezirk angetragen ſei. Sie waren im Zweifel, ob Sie es annehmen durften, und Sie ſprachen ja ganz klar ihre Befürchtung aus. Ihre Landsleute, ſagten Sie, werden auf jeden Fall unzufrieden ſein, weil ſie die Bildungsanſtalten als einen Zwang empfinden werden, den die Reſultate doch erſt nach Jahren rechtfertigen würden. Die Nume aber würden es Ihnen nicht vergeben, daß ein Heer von Beamten unter Ihnen ſtehen ſolle, der Sie auf der Erde geboren ſind.“ „Ich weiß es, Isma, ich ſehe Sie noch dort an dem Geländer lehnen und in Nachſinnen verloren hinabblicken auf die Baumwipfel, und ich höre Ihr Wort: Wenn ich glaube, daß die Nume ſolchen Vorurteilen zugänglich ſind, ſo ſei es nicht notwendig, daß die Menſchen von ihnen lernen. Dann hätte ich meinen großen Kulturplan überhaupt nicht faſſen dürfen. Wenn ich aber an den Beruf der Nume glaube, die Menſchheit vom Druck ihrer Geſchichte zu erlöſen, ſo dürfe ich auch keinen Zweifel hegen, daß die Nume um der Sache willen ſich gern und frei unterordnen würden. Wenn mich der Zentralrat zu einem Amt beriefe, wie es noch niemals auf Erden ausgeübt worden, ſo geſchehe es, weil jeder weiß, daß ich der geeignetſte, gewiſſermaßen der geborene Vermittler ſei zwiſchen den Planeten und daß ich mein ganzes Leben lang auf eine ſolche Aufgabe mich vorbereitet habe. Und darauf —“ „Oh, ich habe es nicht vergeſſen, Ell“, fiel Isma ein. „Ich erinnere mich an jedes Wort. Denn in all meinem eignen Leid ſteht mir jener Moment vor Augen als der größte meines Lebens. Unter mir ſchwand mein eignes Daſein vor dem erhabenen Gefühl, daß wir der Menſchheit dienen müſſen, und ich war ſtolz und glücklich, in dem Augenblick bei Ihnen ſein zu dürfen, da von Ihrem Entſchluß der Beginn eines neuen Zeitalters abhing. Sie wieſen hinab, wo zwiſchen dem Laub die weiten Waſſerflächen ſchimmerten, und ſagten: Da unten, wo die Schmelzwaſſer des Pols in ihrem natürlichen Bett ſich ſammeln, ſind ſie klar und ruhig und verſiegen nimmer. Aber wir heben ſie mit unſern Maſchinen in den Sonnenbrand der Wüſte, und trübe verrinnen ſie allmählich in dem Bett, das Tauſende von Kilometern ſich hinzieht. Wer ſagt uns, wie der heitere Seelenſpiegel des Numen ſich trübt, wenn wir ihn künſtlich auf die Erde verſetzen und auf unüberſehbare Jahre ſeine Reinheit im Schlamm der Menſchheit vergraben? Und da erwiderte ich Ihnen: So weit die Kanäle ſich füllen, ſproßt das Leben in der Wüſte, und die Kultur des Mars beruht auf dieſen ſich ſelbſt verzehrenden Adern. — Würden die Nume dieſe Rieſenlaſten von Waſſer heben und verrinnen laſſen, wenn ſie nicht glaubten, daß es ſeine begebende Kraft auch behält in dem künſtlichen Bett? Und wer ſchafft es herauf? Es iſt doch die Vernunft, die die Natur leitet. Glauben Sie nicht an die Vernunft? Und als ich dies ſagte, da blitzte es drunten auf über den Bäumen, und helle Strahlen ſtiegen in die Höhe und mehrten ſich, und ſo weit der Blick reichte, zitterten die Lichtfontänen in der Luft, und die Leute liefen durcheinander und riefen ſich zu: ‚Der Friede iſt geſchloſſen! Die Erde gehört uns — —‘ Und Sie faßten meine Hand und ſagten: ‚Ja, ich glaube an die Vernunft!‘ Und ſehen Sie, Ell, ich glaube! An die Vernunft und an Sie! Und wenn ich das nicht mehr könnte —“ Sie brach ab. Ell aber ergriff ihre Hand und rief: „Sie können es, Isma, Sie können es! Mein Glaube an die Vernunft iſt nicht erſchüttert, und mich ſollen Sie nicht weichen ſehen aus feiger Schwäche. Aber die Vernunft iſt ewig, ich bin ein vergänglicher Zeuge ihres zeitlichen Geſetzes, und ich muß gefaßt ſein, daß ſie über mich hinwegſchreitet. Denn ich habe mir angemaßt zu beginnen, was zu vollenden Geſchlechter gehören. Wenn ich mich nun täuſchte in den Mitteln, die ich für die richtigen hielt?“ „Es wird nicht ſein. Es werden Fehler gemacht werden, das iſt natürlich. Aber die Grundlagen werden ſich bewähren. Sie müſſen Geduld haben.“ „Wie danke ich Ihnen, Isma, für Ihr Vertrauen, das mich vor mir ſelbſt rechtfertigt. Einen Fehler habe ich begangen von Anfang an, der mehr iſt als ein Fehler, daß ich eine Zeitlang die Erde vergaß —“ „O mein Freund, den büße ich für Sie —, davon nichts mehr —“ „Und das andere, wenn es ein Fehler iſt, ſo weiß ich nicht, wie ich ihn hätte vermeiden ſollen. Wenn ich auf die Menſchen wirken wollte, konnte ich es anders als durch die Mittel, an die ſie gewöhnt ſind, durch die Autorität der Macht? Und doch weiß ich, daß hier ein Widerſpruch liegt mit dem Zweck, den ich erſtrebe, der inneren Freiheit. Den Zuſtand will ich aufheben, daß irgendeine Klaſſe der Bevölkerung ihre Macht dazu mißbraucht, durch Einſchüchterung und Beherrſchung der übrigen die freie Entwicklung aller Kräfte und Meinungen zu verhindern, und was tue ich? Ich übe einen neuen Zwang aus, ohne zu wiſſen, ob ich die eingewurzelten Vorurteile zu brechen vermag. Ich hoffe es, doch ob ich es erlebe? Und was dann? Droht nicht eine neue Bürokratie über der alten?“ „Ell, vergeſſen Sie nicht den Glauben an die Nume! Es ſind nicht Menſchen, es ſind Nume, welche die Menſchheit erziehen. Sie werden ihre Zöglinge als freie Männer aus der Schule entlaſſen, ſobald ſie ſehen, daß ihre Lehrarbeit getan iſt.“ „Das iſt meine Hoffnung. Das iſt ja das abſolut Neue an der Umwälzung der Verhältniſſe. Die zur Macht gekommen ſind, ſind es nicht, wie die Geſchlechter der Menſchen, in der Abſicht, die Macht um ihrer ſelbſt, ihrer Klaſſe und Nachkommen willen zu erhalten, ſondern um ſie als freies Gut der Menſchheit, der geläuterten Menſchheit zurückzugeben.“ „Sie werden es.“ „Sie werden es, wenn ſie Nume bleiben. Wenn aber die Berührung mit der Erde ſie ihrer Numenheit entkleidet und die Menſchen ſie anſtecken mit ihrem Eigennutz? Wenn die alte Kultur zurückſchlägt in die Barbarei der Erde und aus den Kultoren gewöhnliche Deſpoten werden, wie Päpſte aus Apoſteln?“ Isma ſchüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, Ell, was Sie im Sinn haben“, ſagte ſie. „Es mögen auch ſolche Fälle vorkommen. Aber drüben, jenſeits der Erde, kreiſt der Mars mit ſeinen drei Milliarden Bewohnern. Dieſe ſind der feſte Kern der Kultur, der jede Entartung wieder aufheben wird.“ Ell blickte ſchweigend vor ſich hin. Er dachte daran, ob nicht in den Menſchen der Widerſtand der Natur zu groß ſein würde. Aber er ſprach es nicht aus. Seine Augen wandten ſich auf Isma. Sie hatte ſich in ihrem Seſſel zurückgelehnt und die Hände auf dem Schoß gefaltet. Ein einfaches ſchwarzes Kleid umſchloß ihre Geſtalt, und das feine Profil hob ſich wie eine Silhouette gegen das Fenſter ab, vor welchem der Tag bereits in Dämmerung überging. Er wollte ihr nicht neue Sorgen erwecken. Und doch, ſie jetzt ſchon verlaſſen? Es ſchien ihm unmöglich. Oh, wenn er ſie immer ſo neben ſich hätte, wie ganz anders müßte ſich der ſchwere Kampf des Lebens aufnehmen laſſen! Sie erſchien ihm begehrenswerter wie je, ſo lieb in ihrer treuen Freundſchaft, ſo groß in ihrem einfachen Vertrauen. „Isma“, kam es faſt unbewußt über ſeine Lippen. Sie reichte ihm ihre Hand hinüber mit dem milden, ernſten Lächeln, das ihre Züge mitunter in ſeiner Nähe verklärte. „Mein Freund“, ſagte ſie. „Isma“, ſprach er leiſe, „wollen Sie nicht bei mir bleiben?“ Sie drückte ſeine Hand, ohne ſie ihm zu entziehen. „Sie wiſſen, Ell“, antwortete ſie ebenſo leiſe, „daß ich es nicht darf, ja auch nicht will, ſo lange noch eine Möglichkeit iſt —“ „Aber wenn einmal die Zeit kommt, daß keine Möglichkeit mehr iſt?“ „Dann ſprechen wir wieder davon. Bis dahin —. Sie kennen meine Bitte. — Wo iſt die Grenze zwiſchen Gedanke und Wunſch? Und das iſt Frevel.“ „Aber ich darf annehmen, Isma —“ „Nehmen Sie an, was Sie wollen. Wenn mein Leben keinem andern gehört, wem könnte es gehören als der Idee, der wir dienen? Und dann mögen Sie nachdenken, wie das am beſten geſchehen kann.“ Sie entzog ihm ſanft ihre Hand und trat an das Fenſter. Er ſtellte ſich neben ſie. Schweigend blickten ſie hinaus, dann begann Ell: „Die Nachforſchungen ruhen niemals, und alles, was ſich hat ermitteln laſſen, weiſt jetzt auf eine Vermutung hin, die jede Hoffnung faſt mit Sicherheit ausſchließt.“ Isma zuckte zuſammen. Ell ſchwieg. „Sprechen Sie weiter“, ſagte ſie dann gefaßt. „Ich habe mir ja ſoviel hundertmal geſagt, daß ich nicht mehr hoffen darf. Und doch iſt das Wort der Gewißheit wie ein Stahl, der ins Herz trifft. Aber — ſprechen Sie weiter.“ „Er konnte die Inſel Ara nur verlaſſen durch Schwimmen nach einer der Nachbarinſeln, das war unſere Annahme. Dann mußte er in der Umgebung des Pols aufgefunden werden; es iſt jetzt dort kein Fleckchen mehr ununterſucht, wo Menſchen exiſtieren können. Demnach nahmen wir an, daß er unter das Eis geraten ſei —“ Isma bedeckte die Augen mit der Hand. „Eine Möglichkeit aber war noch da, ſo unwahrſcheinlich, daß man erſt ſpät daran gedacht hat. Wenige Stunden, bevor man ihn vermißte, ging ein Luftſchiff ab, das nach Tibet beſtimmt war, um dort Vermeſſungen zur Anlegung von Strahlungsfeldern zu machen. Wenn er ſich unbemerkt in dieſem verſteckt hätte obwohl ich nicht begreife, wie das geſchehen konnte —“ „Ell“, rief Isma, „warum haben Sie mir das nicht geſagt!“ „Weil ich Ihnen keine Hoffnungen erwecken wollte, die nur zu neuen Befürchtungen führen konnten. Jetzt haben Sie ſich damit vertraut gemacht, daß wir ihn verloren haben, und Gewißheit wird beſſer ſein als die Angſt. Denn dieſes Luftſchiff — der Zuſammenhang iſt mir ſelbſt erſt vor kurzem durch neue Unterſuchungen klar geworden — als das Unglück geſchah, war ich ſelbſt noch nicht auf der Erde, die Akten über Torm waren abgeſchloſſen, und die Vermutung, daß er ſich auf dem Schiff befand, iſt erſt durch meine erneute Aufnahme des Falles aufgetaucht —, jenes Luftſchiff war dasſelbe, das im Juni vorigen Jahres bei Podgoritza von den Albanern zerſtört und deſſen Beſatzung bis auf den letzten Mann ermordet wurde. Alſo auch dieſe Spur, wenn ſie überhaupt eine war, blieb hoffnungslos. Sind Sie mir böſe, daß ich jetzt davon geſprochen habe?“ Isma ſeufzte tief. „Nein, Ell, Sie müſſen mir alles ſagen, und ich muß es zu ertragen wiſſen.“ Sie blickte wieder ſtumm in den Abend hinaus. Plötzlich ergriff ſie mit einer krampfhaften Bewegung Ells Arm. „Aber wenn er auf dem Schiff war, Ell, wenn er darauf war —“ „Es iſt ja nicht ſicher, Isma, ich bitte Sie, beruhigen Sie ſich. Niemand weiß es, es iſt nur die einzige noch denkbare Vermutung —“ „Wenn er darauf war, wer ſagt Ihnen, daß er auch noch in Podgoritza darauf war? Konnte er nicht in Tibet das Schiff verlaſſen haben?“ „Wie ſollte er es unbemerkt im fremden Land, in der Wüſte verlaſſen? Und wenn man ihn bemerkte, hätte man ihn gefangen genommen, und das iſt auch, falls die erſte Vermutung überhaupt zutrifft, das Wahrſcheinliche. Er wird bei einem Fluchtverſuch vom Schiff entdeckt und als Gefangener unter der Beſatzung —“ „Dann aber kann er bei dem Überfall entkommen ſein“, unterbrach Isma haſtig. „Das iſt ſehr leicht möglich. O Ell, ich habe noch Hoffnung. Er wird ſich unter jene Halbwilden geflüchtet haben, dort muß er geſucht werden. Das müſſen Sie tun, Ell! Und wenn wir ihn finden — o Gott!“ Sie warf ſich auf einen Seſſel und ſchluchzte. Endlich wurde ſie ruhiger. „Er hat ja nichts mehr zu befürchten“, ſagte ſie, „nicht wahr? Mit dem Frieden iſt die Amneſtie für alles ausgeſprochen, was während des Krieges geſchehen iſt.“ „Nicht gerade für alles.“ „Aber für ſeine Flucht kann er nicht mehr beſtraft werden?“ „Nein, Isma. Aber ich bitte Sie, klammern Sie ſich nicht wieder an dieſe Unmöglichkeit. Oh, hätte ich doch nicht davon geſprochen! Faſſen Sie ſich! Ich kann Sie ſo nicht verlaſſen.“ „Sie haben recht“, ſagte ſie endlich. „Ich bin ſo töricht.“ Sie ſtand auf, ſchloß das Fenſter und ſchaltete das Licht ein. „Setzen wir uns noch ein wenig“, ſagte ſie dann. „Es iſt ja alles ſo unwahrſcheinlich, bei ruhiger Überlegung. Aber wer klammert ſich nicht an einen Strohhalm?“ „Sehen Sie, Isma, Sie müſſen ſich mit dem Geſchehenen abfinden, wie Sie es bisher getan. Wäre er in Podgoritza entflohen, ſo wäre er längſt hier, oder wir hätten Nachricht. Er hatte ja nun nichts mehr von den Martiern zu befürchten. Es iſt ſeitdem über ein Jahr vergangen, deshalb glaubte ich darüber ſprechen zu dürfen.“ Sie reichte ihm wieder die Hand. „Ich weiß ja“, ſagte ſie, „daß Sie es gut meinten. Aber eins müſſen Sie mir doch noch ſagen. Bei wichtigen Ereigniſſen wenden Sie ſonſt das Retroſpektiv an, um den Vorgang zu beobachten. Warum ging es denn nicht — der Überfall von Podgoritza zum Beiſpiel iſt doch wichtig genug —, warum wurde er nicht vorn Mars aus —?“ „Glauben Sie mir, Isma, ich hätte es durchgeſetzt, um Ihretwillen, das Retroſpektiv anzuwenden, wenn ich mir den geringſten Erfolg hätte verſprechen können. Aber an dem Tag der Flucht lagen dichte Wolken über dem Pol, die Landung des Schiffes in Tibet iſt, vermutlich wenigſtens, in der Nacht erfolgt, jedenfalls aber wird Torm, wenn er entfliehen wollte, die Nacht dazu benutzt haben. Auch wiſſen wir gar nicht, in welcher Gegend des weiten Hochaſien das Schiff angelegt hat, und es iſt doch unmöglich, dieſe großen Landgebiete mit dem Retroſpektiv abzuſuchen. Der Überfall von Podgoritza endlich fand ebenfalls in der Nacht ſtatt, und ehe wir etwas davon erfuhren, hatten die Räuber alle Spuren vernichtet. Die Tat kam erſt ſpäter durch den Verrat eines feindlichen Stammes an den Tag. Da war alſo nicht die geringſte Ausſicht, etwas in den Lichtſpuren des Weltraums zu leſen.“ „Ich ſehe es ein, Ell. Und es war recht, daß Sie ſprachen. Was haben wir auch Beſſeres in unſrer Freundſchaft, als das volle Vertrauen? Und nun —“ „Ich ſoll gehen?“ „Nein, nein, im Gegenteil. Sie ſollen noch bleiben, und wir wollen von gleichgültigeren Dingen reden, von gegenwärtigen, mein’ ich. Sie haben mir noch nichts von der Politik erzählt. Wie ſteht es mit dem Klatſchgeſetz? Was ſagt denn Herr von Huhnſchlott dazu?“ Jetzt lächelte Ell. „Er ſpeit Feuer und Flammen“, ſagte er. „Natürlich, dieſe Herren haben nie gelernt, daß ſich die Welt auch anders regieren laſſe als mit Polizeivorſchriften. Ich wünſchte, Sie hätten das Geſicht unſres geſchmeidigen Kreuther ſehen können, als ich ihm meine Auffaſſung der Lage auseinanderſetzte. Ich bin überzeugt, morgen bekommen wir die Sanktion. Sie werden nicht an Ill appellieren, wenn ſie klug ſind, denn er iſt viel rückſichtsloſer gegen die Vorurteile unſrer Regierungen als ich, der ich ihren hiſtoriſchen Zuſammenhang beſſer kenne. Ich gelte ja natürlich bei den Konſervativen als ein roter Revolutionär, auf dem Mars ſehen ſie mich als einen ſchwachmütigen Leiſetreter an.“ „Ich weiß wohl“, ſagte Isma. „Ich leſe ja die Marsblätter, namentlich die ‚Ba‘. Solche Dinge wie Zweikampf, Beleidigungsklagen und dergleichen kommen den Numen gerade ſo vor, wie uns etwa die Menſchenfreſſerei oder die Blutrache bei den Wilden, und ſie meinen, das müſſe man einfach mit Gewalt ausrotten.“ Ell erzählte, daß Hil von ſeiner Reiſe zurück ſei, und ſchilderte ſein Entſetzen über den Regen. Mit ſtiller Freude ſah er, daß Isma ihre Ruhe wiedergewonnen hatte. Es waren wohl zwei Stunden vergangen, als Ell ſich endlich herzlich von Isma verabſchiedete. Als er auf die Straße trat, war es bereits vollſtändig Nacht, und die Laternen brannten. Er ſchritt eilig die Straße entlang und beſtieg wieder ſeinen vor der Tür der Bildungsanſtalt haltenden Wagen. Er hatte den in einen Mantel gehüllten Mann nicht bemerkt, der wie zögernd vor der Tür des Hauſes geſtanden hatte, wo Isma wohnte. Bei Ells Erſcheinen hatte er plötzlich kehrtgemacht, dann aber ſchien es, als wolle er ihm eilig nachgehen, um ihn anzureden. Doch bald blieb er wieder zögernd zurück und blickte nur dem Wagen nach, der Ell ſchnell von dannen führte. 48. Der Inſtruktor von Bozen Durch die engen Felsſchluchten des Eiſacktales brauſte der von Wien kommende Schnellzug nach Süden und überholte die ſchäumenden Fluten des wild dahinſtürmenden Baches. Der größere Teil der Fahrgäſte drängte ſich an den Fenſtern, um das von der klaren Septemberſonne vergoldete Naturſchauſpiel zu genießen. Einer jedoch, offenbar kein Fremder in dieſer Gegend, kümmerte ſich wenig darum. Er ſaß in eine Ecke gelehnt, mit geſchloſſenen Augen in ſeine Gedanken verſunken, unter denen ſeine Stirn ſich von Zeit zu Zeit zu ſorgenvollen Falten zuſammenzog. Dann blickte er nach ſeiner Uhr, als ob der Zug ihn nicht ſchnell genug ſeinem Ziel zuführe. „Noch zehn Minuten“, murmelte er. Aus der Bruſttaſche ſeiner Joppe zog er einige Papiere, ein Telegramm und eine Zeitung. Er hatte ſie ſchon oft geleſen, dennoch blickte er wieder hinein, als könnten ſie ihm noch etwas Neues ſagen. Das Telegramm war von einem ſeiner Freunde und enthielt nur die Worte: „Komme ſofort zu Deiner Mutter, ſie bedarf Deiner.“ Die Zeitung war, wie das Telegramm, ſchon einige Tage alt. Aber er hatte ſie erſt zu Geſicht bekommen, als er geſtern von einer vierzehntägigen Studienreiſe in einſamen Gebirgsgegenden nach Lienz zurückgekehrt war. Sie enthielt die neuen Verordnungen, welche das Kultoramt in Berlin mit Ermächtigung der Reſidenten in Berlin, Wien und Bern und unter Beſtätigung der Regierungen in der vorigen Woche erlaſſen hatte. Die Schwierigkeiten, auf welche die Martier bei der deutſchen Regierung in bezug auf das Geſetz zum Schutz der individuellen Freiheit geſtoßen waren, hatten den Protektor der Erde darauf geführt, ſie in künftigen Fällen auf eine ſehr einfache Weiſe zu umgehen. Er hatte gefunden, daß Beſtimmungen über Beziehungen der Menſchen zu den Numen und Einrichtungen der Nume gar keiner Geſetzgebung durch die Erdſtaaten bedürfen, ſondern auf dem Verordnungsweg durch die Reſidenten erlaſſen werden können. Die Regierungen aber mußten, wie gern ſie es auch abgelehnt hätten, ſich der Macht beugen und ihr Ja dazu geben. Sie taten es immerhin lieber, als ſich einem Beſchluß der Oppoſition in den Parlamenten zu fügen. Die Verordnung hatte im allgemeinen Mißſtimmung hervorgerufen. Sie beſtimmte nämlich, daß jeder Menſch, ohne Unterſchied des Alters, ſich einer von den Bezirksinſtruktoren zu beaufſichtigenden Impfung unter Leitung martiſcher Ärzte zu unterziehen habe. Bis dieſe vollzogen ſei, dürfe kein Ungeimpfter ſich einem Numen bis zu einer gewiſſen Diſtanz nähern, keine von Numen bewohnte Räume betreten und die Luftſchiffe und Fahrzeuge der Martier nicht benutzen. Zuwiderhandlungen waren mit ſtrengen Strafen bedroht. Die Beſtimmungen waren lediglich in Rückſicht auf die Menſchen getroffen, um ſie vor den drohenden Verwüſtungen der Gragra zu ſchützen. Aber man hatte ſich geſcheut, dieſen Grund anzugeben, weil man fürchtete, dadurch eine größere Beunruhigung und Unzufriedenheit zu erregen als durch die Maßregel ſelbſt; man hatte die Impfung nur durch einen allgemeinen Hinweis auf Beſſerung des Geſundheitszuſtandes begründet. Der Beſchluß war von den europäiſchen Reſidenten gegen Ells Stimme gefaßt worden, der eindringlich vor einem derartigen deſpotiſchen Eingriff gewarnt hatte. Doch hatte ſich bei den maßgebenden Numen auf der Erde mehr und mehr die Anſicht herausgebildet, daß man die Menſchen nur durch Anwendung von Zwang zu ihrem Beſten leiten könne. Ell fühlte ſich durch den Beſchluß ſehr bedrückt, hatte ſich aber der Majorität fügen müſſen. Saltner ſteckte das Blatt kopfſchüttelnd wieder ein. „Es muß da noch etwas im Hintergrund liegen, worüber ſie nicht mit der Sprache herauswollen“, dachte er bei ſich. „Aber eine ſakriſche Dummheit bleibt’s doch, die ich dem Ell nicht zugetraut hätte. Oder vielleicht doch. Wie er ſich damals ausſprach —“ Er dachte an jene Stunde bei La, in der er ſich gegen Ells Pläne zur gewaltſamen Erziehung der Menſchen aufgelehnt hatte. Und er ſah die Geliebte wieder vor ſich mit der feinen Stirn unter dem ſchimmernden Haar, er ſah den tiefen Blick der dunklen Augen in zärtlicher Achtung auf ſich gerichtet und fühlte die unvergeßlichen Küſſe auf ſeinen Lippen. Wo mochte ſie weilen? Ob ſie ſeiner gedachte? Ob ſie wußte von dem Leid, das über die Menſchen gekommen war, ob ſie es mit ihm fühlte? Verloren! Verloren! Aus ſeinen Träumen weckte ihn der Pfiff der Maſchine. Die Berge waren zurückgewichen, grüne Hügel, auf denen Trauben und Kaſtanien reiften, zogen ſich zur Seite. Die Paſſagiere ſuchten ihr Handgepäck zuſammen, und der Zug hielt auf dem Bahnhof in Bozen. Saltner ſtieg aus und drängte ſich eilig durch die Menge. Am Ausgang fiel ihm ein Plakat auf, das durch ſeine gelbrote Farbe ſchon weithin als eine amtliche Bekanntmachung des martiſchen Bezirksinſtruktors kenntlich war. Er blieb ſtehen und las. Zuerſt war die allgemeine Verordnung über die Impfung mitgeteilt, die er ſchon kannte. Daran aber ſchloſſen ſich ſpezielle Beſtimmungen über den hieſigen Bezirk, Er traute ſeinen Augen nicht. Nach Angabe von Einzelheiten über die Ausführung der Impfung, die in den und den näher bezeichneten Lokalen ſtattfinde, ſtand da: Die als Beſcheinigung der vollzogenen Impfung erteilte Marke iſt ſichtbar an der Kopfbedeckung zu tragen. Wer ſich ohne dieſelbe einem Numen auf mehr als ſechs Schritt annähert, wird mit fünfhundert Gulden Geldbuße oder entſprechendem Aufenthalt im pſychologiſchen Laboratorium beſtraft. Unterredungen mit dem Inſtruktor finden nur noch telephoniſch ſtatt. Jeder Anordnung eines Numen gleichviel, worauf ſie ſich beziehe, iſt ohne Widerſpruch Folge zu leiſten. Den Numen ſteht das Recht zu, Menſchen, welche ſich ihnen ohne Erlaubnis nähern, mit der Telelytwaffe zurückzuweiſen. Das Halten von Haustieren in menſchlichen Wohnungen wird nochmals aufs ſtrengſte unterſagt. Saltner ballte die Fauſt. Er wandte ſich an einen neben ihm ſtehenden Herrn und ſagte: „Der hieſige Inſtruktor iſt wohl verrückt geworden?“ „Das iſt ſchon recht“, antwortete der ernſthaft. „Und das laſſen Sie ſich gefallen? Wie heißt denn der Kerl?“ „Der heißt Oß.“ „Der Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie ſich denn noch nicht in Berlin beim deutſchen Kultor beſchwert?“ „Das wird geſchehn. Aber es dauert halt eine Weile, und die Verordnung iſt erſt von geſtern.“ „Aber wenn Sie telegraphieren oder telephonieren?“ „Das wird nicht zugelaſſen. Es iſt ſchon einer nach Innsbruck gereiſt, aber ſie haben’s auch dort nicht zugelaſſen. Sie meinen, die Nume ſtecken halt alle unter einer Decke, und wenn es auch der Kultor erfährt, ſo wird es doch nichts nutzen.“ „Es wird nutzen, das können Sie mir glauben. So etwas hat ſich keiner herauszunehmen und nimmt ſich auch keiner woanders heraus. Das iſt nur eine Verrücktheit von dieſem Oß, und der wird ſehr bald abgeſetzt ſein.“ „Das mag ſchon ſein, ſo lange halten wir’s wohl aus. Aber die Hauptverordnung bleibt doch beſtehen, und dagegen iſt nichts zu machen. Ich mein’ ſo, den Oß werden ſie ſchon wegjagen, vielleicht gar bald, denn der Herr Bezirkshauptmann reiſt heute nach Wien und wenn nötig nach Berlin. Aber inzwiſchen müſſen wir folgen. Denn wenn ſich einer was gegen den Oß herausnähme und es ginge auch nachher dem Oß ſchlecht, ſo ginge es uns doch noch ſchlechter. Wir würden wegen Aufruhr nach Afrika oder ſonſtwohin geſchickt. Alſo laſſen wir’s lieber. Habe die Ehre!“ Damit lüftete er den Hut und wollte ſich entfernen. Gleich darauf wandte er ſich jedoch zurück und ſagte mit einem fragenden Blick: „Verzeihen Sie, ich irre mich doch wohl nicht, ſind Sie nicht der Herr von Saltner?“ „Mein Name iſt Saltner.“ „Dann nehmen Sie’s nicht übel, wenn ich mir einen Rat erlaube — Sie ſind ja doch auf dem Mars geweſen, und da muß wohl irgend etwas paſſiert ſein —, nehmen Sie ſich nur vor dem Oß in acht, ich weiß, daß der ſich ſchon mehrfach erkundigt hat, ob Sie nicht hier ſind — der muß irgend etwas gegen Sie haben. Laſſen Sie ſich lieber nicht hier ſehen, es kann ja nur ein paar Tage dauern, bis der Mann abgeſetzt iſt.“ Und vertraulicher fuhr er fort: „Sie haben ja vollſtändig recht, ich weiß, daß dieſe Bekanntmachung zu Unrecht beſteht und der Oß den Erdkoller hat — ich bin nämlich der Doktor Schauthaler.“ „Ach, jawohl“, ſagte Saltner, „ich erinnere mich jetzt ſehr wohl, entſchuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte.“ „Bitte ſehr. Nun alſo, ſolche Ausſchreitung wird ja rektifiziert werden. Aber laſſen wir uns dadurch zu irgendeiner eigenmächtigen Handlung hinreißen, ſo würde uns das trotzdem ſehr ſchlecht bekommen. Deswegen verſuch ich mein Möglichſtes, unſre Mitbürger zu beruhigen. Wenn Sie indeſſen etwas tun wollen, ſo bringen Sie ſich ſelbſt in Sicherheit, bis der Mann hier keine Gewalt mehr hat; vorläufig hat er ſie nun einmal, und Sie ſind dagegen ohnmächtig. Sie ſind ja doch mit dem Herrn Kultor befreundet, reiſen Sie ſofort zu ihm — in zehn Minuten kommt der Blitzzug von Venedig —, das Luftſchiff dürfen Sie jetzt nicht benutzen — aber auch ſo ſind Sie morgen in Berlin —“ „Ich danke Ihnen ſehr für den Rat, Herr Doktor, nur kann ich ihn leider nicht ſogleich befolgen. Ich habe hier zunächſt unaufſchiebbare Geſchäfte —. Aber ich werde dann —“ „Dann, Herr von Saltner, dann? Sie wiſſen nicht, ob Sie dann noch ein freier Mann ſind —“ „Das wollen wir doch ſehen! Da können Sie ganz unbeſorgt ſein!“ „Was nützt es Ihnen, wenn der Oß in ein paar Tagen vor das Disziplinargericht geſtellt wird, und Sie ſind inzwiſchen irgendwie verunglückt?“ „Ich verunglücke nicht ſo leicht. Aber was will denn der Mann von mir?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur privatim durch den Bezirkshauptmann, daß Sie geſucht werden, aber amtlich iſt es nicht. Es muß irgend etwas ſein, worüber der Oß vorläufig nicht reden will.“ Saltner runzelte die Stirn. „Nun, wie geſagt, ich danke Ihnen und will mich vorſehen. Jetzt entſchuldigen Sie mich, ich darf nicht länger zögern.“ Er ſchritt eilend durch die Straßen der Stadt, ohne auf die Umgebung zu achten. Was konnte dieſer Oß von ihm wollen? Wo hatte er ihn geſehen? Oß war ja der Name des Kapitäns geweſen, auf deſſen Raumſchiff ‚Meteor‘ Saltner die Reiſe nach dem Mars gemacht hatte, und dann war er ihm manchmal in Frus Haus begegnet. Sollte es derſelbe ſein? Er hatte ſich mit ihm ganz gut unterhalten, und der tüchtige, wenngleich etwas ſelbſtbewußte Mann war mit La und Se immer ſehr vertraut geweſen. Mit Se? Sein Gewiſſen ſchlug ihm. Das war das einzige, was er ſich hatte zuſchulden kommen laſſen, die Belauſchung der Schießverſuche und die Flucht aus dem als Ziel dienenden Schiff. Aber dann hätte ihn Se verraten müſſen, das war unmöglich, ganz unmöglich. Saltner hatte die Stadt durchſchritten und betrat die Brücke, welche über die Talfer führt. Drüben, jenſeits des Fluſſes, wohnte ſeine Mutter. Sie war diesmal ſchon früher als ſonſt von dem kleinen Häuschen, das ſie oben in den Bergen beſaß, in die Stadt herabgezogen, er ſelbſt hatte noch den Umzug mit ihr beſorgt und war dann auf eine Studienreiſe gegangen. Was war nun geſchehen? Es fiel ihm auf, wie leer die Brücke war, auf der ſonſt um dieſe Zeit, gegen Abend, ein reger Verkehr herrſchte. Als er die Mitte überſchritten hatte, blieb er ſtehen und wandte ſich nach alter Gewohnheit rückwärts, um einen Blick auf das entzückende Panorama zu werfen. Freudig hing ſein Auge, über die altertümlichen Giebel der Stadt wegſchweifend, an den rötlich ſchimmernden Zacken und Zinnen der Dolomiten, die der Roſengarten kühn in die Luft ſtreckte, und ſeine Seele ſchwebte über den freien Höhen. Aber er durfte nicht lange weilen. Die Sorge um die Mutter trieb ihn vorwärts. Wenige Schritte hatte er zurückgelegt, als ihm einige Leute entgegenkamen, die eilend an ihm vorüber der Stadt zuſchritten und ihn durch Winke zur Umkehr aufforderten. Er achtete nicht darauf, ſondern richtete ſeine Aufmerkſamkeit auf einen ſeltſamen Aufzug, der jetzt aus den Talfer-Anlagen herauskommend die Brücke betrat. Eine Anzahl Neugierige, halbwüchſige Jungen, liefen voran, hielten ſich aber immer in reſpektvoller Entfernung. Dann folgte auf einem Akkumulator-Dreirad ein Martier mit ſeinem diabariſchen Glockenhelm, ein rieſiger Bed oder Wüſtenbewohner, der hier ähnliche Dienſte verrichtete wie die Kawaſſen der Konſuln in der Türkei. Er ſchwang ein langes Rohr mit einem Fähnchen in der Hand, womit er die Begegnenden bedeutete, ſchleunigſt zur Seite zu weichen. Darauf folgte ein vierrädriger elektriſcher Wagen, auf deſſen Polſter in bequemer Stellung der Inſtruktor und zur Zeit Tyrann von Bozen, der Nume Oß, ruhte, ebenfalls von dem Glockenhelm gegen die Erdſchwere geſchützt. Den Beſchluß bildete wieder ein Bed auf ſeinem Dreirad. Saltner erkannte auf den erſten Blick, daß er wirklich ſeinen alten Bekannten, den ehemaligen Kapitän des Raumſchiffs ‚Meteor‘, vor ſich hatte. Er trat zur Seite in die halbkreisförmige Ausbuchtung eines Brückenpfeilers, um den Zug an ſich vorüberzulaſſen. Dem voranfahrenden Bed erſchien jedoch die Entfernung noch nicht genügend, er winkte mit ſeiner Fahne und rief ſein eintöniges: „Entfernt euch!“ Saltner blieb ruhig ſtehen. Er ſtreckte den linken Arm gegen den Bed aus und wandte ihm die Handfläche mit geſpreizten Fingern zu. Der Bed ſtutzte. Das war ein nur bei den Numen gebräuchliches Zeichen und bedeutete ungefähr ſoviel als: „Dein Auftrag geht mich nichts an, ich beſitze eine weitergehende Vollmacht.“ Dann rief er ihm auf martiſch in entſchiedenem Ton zu: „Fahr zu, ich bin ein alter Freund deines Herrn.“ Der Bed wußte nicht recht, was er davon denken ſollte, ließ ſich jedoch in der Meinung, es vielleicht mit einem Numen zu tun zu haben, einſchüchtern und fuhr weiter. Saltner, den ſein Stolz verhindert hatte, ſich fortweiſen zu laſſen, wollte doch lieber die Begegnung mit Oß vermeiden und blickte über das Geländer der Brücke in die Landſchaft, indem er dem Wagen den Rücken zukehrte. Oß dagegen hemmte den Wagen und herrſchte Saltner an: „Kann der Bat nicht grüßen!“ Saltner trat jetzt ohne weiteres auf den Wagen von Oß zu, grüßte höflich nach martiſcher Sitte und ſagte, ebenfalls martiſch ſprechend, ganz unbefangen: „Es freut mich ſehr, einem alten Bekannten zu begegnen. Wie geht es Ihnen, Oß?“ Dabei ſah er ihn, die Augen ſoweit wie möglich aufreißend, unverwandt an. Oß hatte Saltner ſofort erkannt. In ſeinen Augen blitzte es unheimlich, indem er ſeinen Blick auf Saltner richtete, als ob er ihn niederſchmettern wolle. Aber Saltner kannte die Augen der Nume. Dieſes unruhige Funkeln war nicht der reine Blick des Numen, aus dem der ſittliche Wille ſprach, er war getrübt von etwas Krankhaftem, Selbſtiſchem und beſaß nicht mehr die Kraft, den des Rechts ſich bewußten Menſchenwillen zu beugen. Er hielt den Blick aus, während Oß in hochmütigen Worten ihn anherrſchte: „Was fällt dem Bat ein? Wer ſind Sie? Wiſſen Sie nicht, daß Sie ſich ſechs Schritt entfernt zu halten und überhaupt nicht mit mir zu reden haben? Entfernen Sie ſich ſofort, oder —“ Er griff nach dem Telelytrevolver in ſeiner Taſche. Saltner trat jede Bewegung von Oß genau im Auge behaltend, vorläufig einen Schritt zurück und ſagte laut, jetzt auf deutſch, von dem er wußte, daß Oß, wie jeder Inſtruktor im deutſchen Sprachgebiet, es verſtand, ſo laut, daß es bis zu den Neugierigen vor und hinter dem Zug ſchallte: „Sie ſcheinen mich nicht mehr kennen zu wollen. Geſtatten Sie, daß ich Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Mein Name iſt Joſef Saltner, Ehrengaſt der Marsſtaaten auf Beſchluß des Zentralrats mit allen Rechten des Numen, und hier iſt mein Paß, lautend auf zwei Marsjahre, unterzeichnet von Ill, zur Zeit Protektor der Erde. Bitte, mit dem gehörigen Reſpekt zu betrachten.“ Er zog aus ſeiner Taſche das nach Art der Marsbücher an einem Griff befindliche Täfelchen und ließ es aufklappen. „Der Paß iſt noch nicht abgelaufen“, ſagte er darauf leiſer, „ich denke, Sie laſſen jetzt das Ding ſtecken. Erkennen Sie mich nun wieder?“ Dabei trat er unmittelbar an den Wagen heran. Er ſah, welche Überwindung es Oß koſtete, ſich zu bezwingen, aber dieſem Dokument gegenüber blieb ihm kein anderer Ausweg. Oß verſuchte jetzt möglichſt unbefangen zu lächeln und ſagte: „Ach, Sie ſind Sal — entſchuldigen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannte. Das iſt etwas anderes. Es freut mich ſehr, Sie zu ſehen. Aber warum beehren Sie mich nicht in meinem Haus? Hier auf der Straße bin ich gezwungen, ſehr vorſichtig zu ſein, Sie werden ja wiſſen —“ „Die Begegnung überraſchte mich, entſchuldigen Sie daher dieſe formloſe Begrüßung auf der Straße. Ich konnte nicht annehmen, daß der Unterzeichner jener Verordnung identiſch ſei mit dem Oß, den ich —“ „Herr, Sie ſprechen in einem Ton, den ich zurückweiſe.“ „Das nützt Ihnen nichts. Sie wiſſen ſo gut wie ich, daß derartigen Befehlen niemand Folge zu leiſten braucht.“ „Ich verbitte mir alle Einmiſchung in meine Angelegenheiten. Ich bin hier der alleinige Befehlshaber und werde Ihren Widerſpruch bändigen. Wenn Sie auch durch Ihren Paß dagegen geſchützt ſind, von meiner bisherigen Verordnung getroffen zu werden, ſo hindert mich doch nichts, über Sie ſelbſt einen ſpeziellen Befehl auszuſprechen, ſo lange Sie ſich in dem mir unterſtellten Bezirk befinden. Merken Sie ſich das. Ich habe Sie im Verdacht, gegen amtliche Anordnungen aufzuwiegeln. Sie werden ſich deshalb noch heute zu verantworten haben.“ Ohne Saltner Zeit zu einer Antwort zu laſſen, hatte Oß bereits ſeinen Wagen in Gang geſetzt und fuhr davon. Saltner blickte ihm ſpöttiſch nach und ſchritt dann eilig weiter. Wenige Minuten ſpäter ſtand er vor dem Haus ſeiner Mutter. Es war ein altes, nicht großes Haus. Im unteren Stockwerk wohnte Frau Saltner mit ihrer Bedienung, einer älteren Frau. Das obere wurde im Winter an Kurgäſte vermietet, war aber jetzt noch unbeſetzt. Saltner hatte den Hausflur ſchnell durchſchritten und die Tür des Wohnzimmers geöffnet. Es war leer. Der Platz an dem nach dem Garten ſich öffnenden Fenſter, an dem ſeine Mutter den größten Teil des Tages zu ſitzen pflegte, war unbeſetzt. Saltner erſchrak. Sollte ſie krank ſein und zu Bett liegen? Er ſchaute vorſichtig, um nicht zu ſtören, in das Schlafzimmer, aber auch hier war niemand. Beſorgt durchſuchte er nun das ganze Haus, weder ſeine Mutter noch ihre alte Magd und Gehilfin, die Kathrin, waren zu finden. Aber auch der Karo, der Hund, war nicht da, der ſonſt jeden Kommenden durch ſein Gebell anmeldete und ihm ſicher zuerſt entgegengeſprungen wäre. Wären die Frauen beide ausgegangen, ſo hätten ſie gewiß das Haus verſchloſſen. Doch vielleicht waren ſie nur auf einen Augenblick in den Garten gegangen. Eben wollte ſich Saltner Gewißheit holen, als ſich die Hintertür des Hauſes öffnete und die Kathrin hereintrat. Der Korb mit Obſt, den ſie trug, entfiel faſt ihren Händen, ſo ſchnell ſetzte ſie ihn zu Boden, als ſie Saltner erblickte. „Gelobt ſei die heilige Jungfrau!“ rief ſie aus. „Da iſt ja der Herr Joſef.“ „Grüß Gott, Kathrin“, ſagte Saltner. „Wo iſt denn die Mutter? Es fehlt ihr doch nichts?“ Die Dienerin brach ſogleich in einen Tränenſtrom aus. „Sie haben ſie ja, ſie haben ſie ja!“ rief ſie unter Schluchzen. „Was haben ſie denn? So reden Sie doch ſchon! Kommen Sie hier herein, Kathrin, und reden Sie vernünftig.“ Die Frau trat in das Zimmer, aber aus ihrem von Weinen unterbrochenen Redeſchwall konnte Saltner zunächſt nichts verſtehen als unzuſammenhängende Worte, wie „mit dem Karo hat’s angefangen“, „in den Arm wollen ſie ſtechen“, „den Hund haben’s genommen“, „mich wollen’s auch impfen“, „ſie haben ſie“, „im Laboratorium“ und „wenn ſie der Herr Joſef nicht ſchnell herausholt, ſo werden ſie ſie doch noch braten“ und „fünfhundert Gulden ſollt’ ſie zahlen“. Endlich beruhigte ſie ſich ſoweit, daß Saltner über den Zuſammenhang allmählich klar wurde. „Mit dem Karo hat’s angefangen.“ Die Hunde waren den Numen ein Greuel. War ihnen ſchon die Berührung mit Tieren überhaupt ein Zeichen der Barbarei, ſo waren ihnen die Hunde wegen ihres ekelhaften Treibens auf der Straße und ihres abſcheulichen Gekläffs ganz beſonders verhaßt. Sie machten ihnen den Aufenthalt auf der Erde um ſo unleidlicher, als ſie auch ihrerſeits gegen die Martier eine beſondere Abneigung zu haben ſchienen und ſie überall mit ihrem Gebell verfolgten. Es waren deswegen ſchon überall einſchränkende Beſtimmungen über das Herumtreiben der Hunde auf der Straße ergangen. Oß aber hatte kurzen Prozeß gemacht, nachdem er einmal von einem Hund angefallen worden war, und die Tötung aller Hunde befohlen. Dies war kurz nach Saltners Abreiſe geſchehen, und das erſte Zeichen der bei Oß im Ausbruch begriffenen nervöſen Überreizung geweſen. Die Polizeimannſchaften führten den Befehl möglichſt langſam und abſichtlich ungeſchickt aus und wußten es ſo einzurichten, daß viele ihre Lieblinge rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Das Haus von Frau Saltner hatte ſich aber Oß einmal zeigen laſſen und dabei den Hund bemerkt, ja, er hatte dann gefragt, ob denn das Vieh noch nicht totgeſchoſſen ſei. So mußte der arme Karo als ein Opfer zur Ziviliſation der Menſchheit fallen. Das hatte nun die Frauen, die innigſt an dem Hund hingen, in größte Aufregung verſetzt. Frau Saltner war ganz melancholiſch geworden und wurde von einer krankhaften Ängſtlichkeit ergriffen, ſobald jemand in das Haus trat. Nun war die Verordnung über das Impfen gekommen. Unglücklicherweiſe war ihr Straßenviertel das erſte geweſen, in welchem die Impfung vollzogen wurde. Sie ſtellte ſich dies als eine fürchterliche Operation vor und ſchickte zu einem Freund Saltners, um ſich Rat zu holen, was ſie tun ſolle. Alle ſeine Vorſtellungen waren vergebens, ſie ließ ſich nicht bereden, ebenſowenig wie Kathrin, zu dem Termin zu gehen, und der Freund wußte nichts Beſſeres zu tun, als an Saltner zu telegraphieren. Inzwiſchen war der Termin verfallen, und Frau Saltner wie ihre Dienerin wurden zu je fünfhundert Gulden Strafe verurteilt. Nun gab es erſt recht ein großes Wehklagen, das Geld war, zumal in Saltners Abweſenheit, nicht zur Stelle zu ſchaffen, und die beiden Frauen ſollten in das pſychophyſiſche Laboratorium zur Abbüßung der Strafe und zur Vollziehung der Impfung abgeholt werden. Die Beamten, welche die Anordnungen des Inſtruktors nur widerwillig vollzogen, hätten es gern geſehen, wenn die Frauen ſich auf irgendeine Weiſe unſichtbar gemacht hätten. Und als ſie endlich in das Haus traten, hatte ſich auch Kathrin verſteckt und war nicht zu finden. Frau Saltner aber ſaß auf ihrem Platz und ſagte nur: „Ich bin eine alte Frau und geh nicht eher hier fort, bis mein Sohn kommt. Ihr könnt machen, was ihr wollt.“ Da ſie keine andre Antwort erhielten und gegen die alte Frau, noch dazu die Mutter eines in der ganzen Umgegend gekannten und beliebten Mannes, keine Gewalt brauchen wollten, entfernten ſie ſich wieder und brachten irgendeine Entſchuldigung vor. Es war aber, als ob der Inſtruktor alles herausſuchte, womit er Saltner Kränkungen bereiten konnte, ſo daß er ſich perſönlich um die Einzelheiten kümmerte, wenn Saltner in Frage kam. Er ſchickte einen der Aſſiſtenten des Laboratoriums, einen jungen Nume, der hier ſeine Studien machte, mit ſeinen beiden Beds ab, und Frau Saltner wurde in einem Krankenſtuhl in das Laboratorium geſchafft. „Sie haben es gewagt, dieſe Schufte?“ rief Saltner wütend. „Eine faſt ſiebzigjährige Frau! Und das nennt ſich Nume! Und was hat denn die Mutter geſagt?“ „Gar nichts hat ſie geſagt“, antwortete Kathrin unter neuem Schluchzen, „als nur immer, mein Joſef, mein armer Joſef, und, ich überleb’s nimmer, und geweint hat ſie, aber geſagt hat ſie nichts mehr.“ Saltner ſtand ſtumm und überlegte, was zu tun ſei. Die Tränen traten ihm in die Augen, wenn er an die Angſt dachte, die ſeine Mutter ausſtand. Er wußte ja, daß ihr tatſächlich nichts geſchehe, daß man ſie als eine Kranke behandeln würde und ſie vielleicht ſicherer aufgehoben ſei als zu Hauſe. Denn wenn auch Oß unzurechnungsfähig war, der Leiter des Laboratoriums war ein Arzt, ein wohlwollender Mann, der ſeine Aufgabe ernſt im Sinn von Ell nahm, und die Strafanſtalt, als welche das Laboratorium diente, mit Rückſicht auf jeden individuellen Fall leitete. Aber die Angſt, die Furcht, die Vorſtellungen, die ſich ſeine Mutter machen mochte, und die Kränkung! Das konnte wirklich ihr Tod ſein. Nicht eine Stunde länger wollte er ſie in dieſer Beſorgnis allein laſſen, er mußte ſie herausholen. Kathrin begann aufs neue zu jammern. „Iſt es denn wahr, Herr Joſef, im Laboratorium, daß die Leute da gebraten werden —“ „Reden Sie nicht ſo dummes Zeug, Kathrin, gar nichts geſchieht ihnen, als daß ſie ein bißchen beobachtet werden, wie der Puls geht, wenn ſie ſo oder ſo liegen, oder wenn ſie kopfrechnen —“ „Kopfrechnen, Jeſus Maria, das könnt’ ich nun ſchon gar nicht.“ „Jedenfalls ſeien Sie ſtill, und hören Sie, was ich ſage, aber paſſen Sie genau auf. Ich werde jetzt gleich die Mutter holen.“ „Ach Herr Joſef, Sie werden ſich doch nicht dahin wagen!“ Aber Saltner ſprach nicht ſogleich weiter. Er ging im Zimmer auf und ab, während Kathrin lamentierte, und dachte ſeinen Entſchluß genau durch. Er dachte an die Warnung Schauthalers und an die Begegnung mit Oß und ſagte ſich, daß er ſelbſt keinen Augenblick ſicher ſei. Aber die Mutter durfte er nicht ohne die größte Gefahr für ihre Geſundheit länger in ihrer Angſt und Einſamkeit laſſen. Er mußte ſie und zugleich ſich in Sicherheit bringen. Er war in Sicherheit, ſobald er das Gebiet verlaſſen hatte, das Oß unterſtellt war. Die Inſtruktoren der Nachbargebiete würden ſolchen ungeſetzlichen Forderungen nicht nachgeben, außerdem konnte er ſich auch einige Zeit im verborgenen halten. Er mußte ſich nur hüten, etwas zu tun, was von der Oberbehörde der Nume aus verboten war, denn dadurch hätte er ſich auf der ganzen Erde der Verfolgung ausgeſetzt. Sonſt aber kam es allein darauf an, den Bezirk von Oß zu vermeiden, bis dieſer abgeſetzt war. Dieſer Bezirk erſtreckte ſich über das weſtliche Südtirol, fiel aber nicht mit der öſterreichiſchen Landesgrenze zuſammen, ſondern reichte nur bis an die Grenzen des deutſchen Sprachgebiets. Dieſe lief in wenigen Stunden Entfernung im Weſten, Süden und Oſten über die Berge. Dahinter war italieniſches Sprachgebiet, das einem Kultor in Rom unterſtand. Über dieſe Grenze mußte er zunächſt und auf der Stelle. Saltner ging an die Haustür, die er verſchloß, ebenſo verſchloß er, ſoweit dies Kathrin nicht ſchon getan hatte, die Fenſterläden. Aus einer Kaſſette in ſeinem Schreibtiſch nahm er Papiere, die er zu ſich ſteckte. Dann ging er in den Garten und rief die Dienerin zu ſich. „Kathrin“, ſagte er, „nun ſeien Sie ganz ſtill und tun Sie genau, was ich ſage. Ich werde die Mutter und Sie in Sicherheit bringen, aber wenn Sie nicht genau alles tun, kommen Sie doch noch ins Laboratorium. Schon gut! Jetzt gehen Sie — aber hier hinten zum Garten hinaus — zum Rieſer und ſagen ihm, er möchte ſogleich einſpannen und mit dem Wagen hinten am Tor, wo’s nach der Meraner Straße geht, warten. In einer halben Stunde iſt’s dunkel, dann komme ich. Es wäre aber eine wichtige und geheime Sache, er wird ſich’s ſchon denken. Dann laufen Sie ſchnell — iſt der Palaoro zu Haus, der Sohn, mein ich?“ „Er wird ſchon zu Haus ſein. Es gibt jetzt wenig Touren.“ „Er ſoll mit zwei zuverläſſigen Leuten und zwei Maultieren mit Frauenſätteln ſogleich nach Andrian aufbrechen, und wenn ich noch nicht da bin, mich dort erwarten. Er ſoll auch den Schlüſſel zur kleinen Hütte mitnehmen. Dann laufen Sie gleich wieder nach Hauſe, aber von hinten herein, und nehmen die Decken und etwas Zeug für die Mutter und für ſich, aber nur ein kleines Bündel — etwas zu eſſen ſoll der Rieſer beſorgen —, und kommen wieder zum Rieſer, wo der Wagen hält. Und das weitere wird ſich finden. Haben Sie alles verſtanden?“ „Ganz genau, Herr Joſef, ich laufe bald.“ 49. Die Flucht in die Berge Saltner verließ durch die Hintertür des Gartens ſeine Wohnung. In wenigen Minuten ſtand er vor der Kaſerne, die jetzt den Martiern als Laboratorium, Schule und Strafanſtalt diente. Er trat in das Wartezimmer und verlangte den dirigierenden Arzt oder deſſen Stellvertreter zu ſprechen. Beide hatten bereits die Anſtalt verlaſſen und ſich in die Stadt begeben. Der zweite Aſſiſtent, ein ganz junger Mann, der erſt vor kurzem vom Mars gekommen war, empfing ihn. Saltner ſtellte ſich vor und legitimierte ſich durch ſeinen Paß. Der junge Nume wurde außerordentlich höflich und etwas verlegen. Er ſagte ſogleich: „Sie kommen gewiß wegen Ihrer Frau Mutter. Ich muß geſtehen, ich weiß nicht recht, wie es zuſammenhängt, daß Ihre Frau Mutter hier feſtgehalten wird, wir wiſſen ja doch alle, mit welchen Ehren Sie als der erſte Bat auf dem Nu empfangen wurden — aber es liegt ein ausdrücklicher Befehl des Inſtruktors vor.“ „Das hängt einfach ſo zuſammen“, ſagte Saltner, „daß ich verreiſt war und meine Mutter mit den Verhältniſſen nicht Beſcheid wußte, auch während meiner Abweſenheit nicht über die Mittel verfügte, die geforderte Geldſtrafe wegen des verſäumten Termins zu bezahlen. Ich komme jetzt, um meine Mutter abzuholen, und deponiere hier Obligationen im Betrag von tauſend Gulden für meine Mutter und unſere Dienerin Katharina Wackner, mit dem Vorbehalt, die Gültigkeit der Verordnung auf dem Rechtswege zu beſtreiten. Wollen Sie die Güte haben, meine Mutter holen zu laſſen.“ „Ich bin ſehr gern bereit, Sie zu Ihrer Frau Mutter zu führen, aber das Geld kann ich nicht annehmen, Sie müſſen dasſelbe auf der Bezirkskaſſe deponieren, auf den erhaltenen Schein wird die Entlaſſung verfügt werden. Ich bin dazu nicht ermächtigt.“ „Das iſt aber äußerſt fatal. Ich kann meine Mutter keinen Augenblick länger hier laſſen, ſie wird dadurch im höchſten Grade deprimiert, und es ſteht für ihre Geſundheit das Schlimmſte zu befürchten.“ „Ich muß zugeben, es wäre ſehr wünſchenswert, daß Ihre Frau Mutter zu Ihnen käme — unſrerſeits würden wir ja gern ſofort —, wenn nicht —“ Er zuckte mit einem bedeutungsvollen Blick die Achſeln. „Indeſſen, es wird ſie beruhigen, wenn ich Sie inzwiſchen zu ihr führe. Ich möchte Ihnen gern in jeder Hinſicht gefällig ſein und Ihnen daher folgendes vorſchlagen. Um zehn Uhr kommt der Direktor zurück, es ſind dann noch einige Schlaf- und Traumverſuche anzuſtellen. Inzwiſchen fahre ich mit dem Geld nach der Kaſſe, vielleicht treffe ich noch einen Beamten, ich beſorge Ihnen den Schein, und darauf wird der Direktor die Entlaſſung verfügen.“ „Sie ſind außerordentlich liebenswürdig“, ſagte Saltner. „Es iſt nur fraglich, ob es nicht ſchon zu ſpät am Tage iſt — wollen Sie mir nicht auf Ihre Verantwortung meine Mutter anvertrauen?“ „Das iſt mir ganz unmöglich, ſo gern ich möchte.“ „Nun“, ſagte Saltner mit einem Geſicht, das wenig Freude verriet, „dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr freundliches Anerbieten anzunehmen.“ „Sehr gern. Sobald ich Sie zu Ihrer Mutter gebracht habe, fahre ich, und in einer halben Stunde bin ich wieder hier.“ Saltner war in verzweifelter Stimmung. Er konnte das Anerbieten des Numen nicht ablehnen, aber er konnte auch unmöglich dieſe Entwicklung der Angelegenheit abwarten. Denn abgeſehen davon, daß ſich heute vielleicht überhaupt nichts mehr erreichen ließ, ſo mußten doch noch gegen zwei Stunden vergehen, ehe die Entlaſſung vom Direktor zu erhalten war. Das war für Saltner ſo gut als die Vereitelung ſeiner Rettung. Denn ſelbſt wenn, was keineswegs ausgeſchloſſen war, Oß von der Zahlung nichts erfuhr, ſo mußte doch Saltner mit Gewißheit annehmen, daß noch in dieſer Stunde Oß ſeine Drohung ausführen und ihn perſönlich zur Rechenſchaft ziehen würde. Vermutlich war ſein Haus jetzt ſchon beſetzt; wenn er nicht zurückkehrte, ſo würde man ihn ſicher bei ſeiner Mutter ſuchen; er konnte jeden Augenblick erwarten, daß man ihn auf Grund einer beſonderen Order, die der Inſtruktor durchſetzen würde, hier verhaften werde. Jede Minute war ihm koſtbar. Das ging ihm durch den Kopf, während er mit dem Aſſiſtenten durch die Korridore nach dem Zimmer ſeiner Mutter ſchritt. Der Nume blieb vor einer Tür ſtehen. „Hier iſt es“, ſagte er, „gehen Sie allein hinein. Ich will inzwiſchen in Ihrem Intereſſe eilen.“ Saltner ſchoß ein Gedanke durch den Kopf. „Geſtatten Sie noch eine Frage“, ſagte er. „Wer vertritt Sie in Ihrer Abweſenheit von hier?“ „Dr. Frank, der frühere Stabsarzt.“ „Ich kenne ihn. Ich möchte mit ihm über meine Mutter ſprechen; würden Sie die Güte haben, ihm ſagen zu laſſen, daß er ſich hierher bemühe?“ „Sehr gern.“ Der Nume verabſchiedete ſich. Saltner blieb kurze Zeit pochenden Herzens vor der Tür ſtehen. Leiſe klopfte er an. Es erfolgte keine Antwort. Er öffnete die Tür geräuſchlos und trat in das Zimmer. Es war faſt dunkel, nur ein letzter Schein der Dämmerung ließ noch einen unſichern Überblick zu. Über einem Betſtuhl in der Ecke brannte eine ewige Lampe. Davor kniete Frau Saltner, in inbrünſtigem Gebet begriffen. Er hörte ſie leiſe Worte murmeln. Saltner wagte kaum zu atmen. Seine Augen füllten ſich mit Tränen. Und doch hing vielleicht alles an einer Minute. „Mutter“, ſagte er leiſe. Ihre Lippen verſtummten. Ihr Blick richtete ſich wie verzückt nach oben. „Mutter“, wiederholte er. „ich bin’s, der Joſef.“ Sie blieb in ihrer Stellung, als fürchtete ſie, durch eine Bewegung die Erſcheinung zu verſcheuchen. „Es iſt ſeine Stimme“, flüſterte ſie. „Die heilige Jungfrau hat mein Gebet erhört.“ Er kniete neben ihr nieder und umſchlang ſie mit ſeinem Arm. Jetzt erſt wandte ſie ihm das Geſicht zu. Mit einem Freudenſchrei fiel ſie ihm um den Hals. „Steh auf, Mutter“, ſagte er, „und komm ſchnell, ich bin hier, um dich abzuholen. Wir müſſen ſogleich gehen.“ Er zog ſie empor. Sie küßte ihn zärtlich. Sie ſprach kein Wort. Nun er da war, nun war es ihr wie ſelbſtverſtändlich, daß ſie fortgehen konnte. Sie ſuchte ihre Sachen zuſammen. „Laß nur alles liegen“, ſagte er, „es wird alles geholt werden. Nur dein Tuch nimm um, es wird kühl. So, nun komm!“ Ihre Knie zitterten, er mußte ſie ſtützen. Langſam gingen ſie zur Tür und betraten den Korridor. Nach wenigen Schritten kam ihnen Doktor Frank entgegen. „Guten Abend, Saltner“, ſagte er herzlich. „Nun werden Sie ja hoffentlich bald die liebe Frau Mutter wieder haben. Kommen Sie mit mir in mein Zimmer, und eſſen Sie mit mir zu Abend, dort können Sie alles gemütlich abwarten.“ „Lieber Freund“, antwortete Saltner, „ich danke Ihnen innig, aber ich muß Ihnen eine Überraſchung bereiten. Ich gehe jetzt mit meiner Mutter ſogleich fort. Ich habe Gründe, weshalb ich nicht warten kann.“ „Haben Sie denn den Schein und das Atteſt vom Direktor?“ „Nein, das brauche ich nicht, wir gehen ſo.“ „Aber ich bitte Sie, beſter Freund, das iſt unmöglich, das darf ich ja leider nicht zulaſſen —“ „Sie müſſen es.“ „Es geht nicht. Sie bringen mich in Teufels Küche. Es geht mir an den Kragen.“ „Ihnen kann gar nichts paſſieren. Kennen Sie die Verordnung von Oß, wo es heißt: ‚Jeder Anordnung eines Numen, gleichviel, worauf ſie ſich beziehe, iſt ohne Widerſpruch Folge zu leiſten‘, von den Menſchen nämlich?“ „Leider ja, ich kenne den Unſinn, muß mich aber danach richten.“ „Nun denn, führen Sie uns in Ihr Zimmer, ich will Ihnen etwas zeigen.“ Sie traten in das Sprechzimmer des Arztes. „Können Sie martiſch leſen?“ fragte Saltner. „Ich habe es einigermaßen lernen müſſen.“ „Dann ſehen Sie ſich das an.“ Er zeigte ſeinen Paß. „Erkennen Sie an, daß mir danach alle Rechte eines Numen ausnahmslos zuerkannt ſind?“ „Ich muß es anerkennen.“ „Demnach befehle ich Ihnen, meine Mutter und mich ſogleich aus dieſem Hauſe zu entlaſſen.“ Der Arzt ſah ihn verdutzt an. Dann blinzelten die Augen unter ſeiner Brille, und ein vergnügtes Schmunzeln ging über ſein ganzes Geſicht. Endlich lachte er und rieb ſich die Hände. „Das iſt gut!“ rief er. „Das nenne ich den Jäger in ſeiner eignen Falle gefangen. Ja, wenn Eure Numenheit befehlen, ſo muß ein armer Bat ja folgen. Aber um meiner Sicherheit willen möchte ich mir den Befehl doch ſchriftlich ausbitten.“ Er rückte Papier und Feder zurecht. Saltner ſchrieb eilig in martiſcher Sprache: „Auf Grund der Verordnung des Inſtruktors von Südtirol vom 18. September kommt Dr. Frank, in Vertretung des Direktors des Laboratoriums, meinem Befehl nach, Frau Marie Saltner aus der Anſtalt zu entlaſſen. Joſef Saltner, Ehrenbürger der Marsſtaaten. Bozen, am 20. September.“ Frank verbeugte ſich und nahm das Papier in Empfang. Er ſchüttelte Saltner die Hand und ſagte: „Nun wünſche ich recht glückliche Reiſe, denn Sie werden ſich wohl auf einige Zeit aus der Nähe verziehen. Ich begleite Sie bis vors Haus.“ Langſam ſtiegen ſie die Treppe hinab, denn Frau Saltner fiel das Gehen noch immer ſchwer. Da kam ihnen ein Diener eilig entgegen. „Herr Doktor“, rief er, „eben kommt der Inſtruktor vor die Tür gefahren. Er wird gleich hier ſein.“ Saltner ſtand erſtarrt. Im letzten Augenblick ſollte er ſcheitern? „Haben Sie nicht einen Nebenausgang, durch den Sie uns führen können?“ fragte er ſchnell. Frank verſtand. „Kommen Sie“, ſagte er. Und zu dem Diener: „Sagen Sie dem Herrn Inſtruktor, ich würde ſofort zur Stelle ſein. Sie ſehen, ich bin eben bei einer Kranken.“ Damit faßte er Frau Saltner unter den andern Arm, und ſie gingen ſchnell durch einen Korridor nach einer Nebentreppe und durch einige Wirtſchaftsräume in den Hof. Hier führte eine kleine Tür auf einen ſchmalen Weg, der ſich hinter dem Haus zwiſchen den Weingärten hinzog. Schnell ſchloß Frank die Tür hinter Saltner und ſeiner Mutter zu und eilte ins Haus zurück. Jetzt tat Eile not. „Wir müſſen uns eilen, Mutter“, ſagte er, „damit wir fortkommen, denn in unſerm Haus dürfen wir nicht bleiben. Ich habe einen Wagen beſtellt, wir wollen über die Berge, wo der Oß nichts mehr zu ſagen hat. Ich will dich deshalb das Stückchen tragen.“ „Du wirſt es ſchon recht machen“, ſagte ſie. Er nahm ſie auf den Arm wie ein Kind und ſchritt raſch und ohne Beſchwerden zwiſchen den Mauern dahin. Der Weinhüter kam ihm entgegen. Als er ihn erkannte, grüßte er ehrerbietig und öffnete ihm die Türen. So kam er ſchnell an die Stelle, wo der Wagen hielt. Kathrin ſaß ſchon darin, Rieſer ſtand ſelbſt bei den Pferden. Saltner hob ſeine Mutter hinein, Kathrin wickelte ſie in eine Decke und bot ihr Wein an. Saltner ſchwang ſich auf den Bock. Der Weinhüter war herangetreten. Hier kannte ihn jeder und liebte ihn, keiner hätte ihn verraten. Saltner beugte ſich zu dem Mann herab und ſagte: „Die Nume ſind hinter uns her, ſie dürfen uns nicht kriegen.“ „Schon recht“, ſagte der Hüter, „ich habe nichts geſehen, hier iſt niemand geweſen.“ Damit tauchte er wieder in das Dunkel der Mauern. Die Pferde zogen an, der Wagen rollte auf der Straße nach Meran davon. Saltner ſprach zurück in den halbgedeckten Wagen. Er erkundigte ſich, wie Kathrin ihre Aufträge ausgerichtet habe. Palaoro war zu Hauſe geweſen, er hatte geſagt, zwei zuverläſſige Leute, die beſten, die da ſeien, würden gern mit ihm kommen, weil es für den Herrn Saltner ſei. Aber ob er die Maultiere gleich bekommen würde, wüßte er nicht, doch werde er ſein Möglichſtes tun. Der Herr Saltner möge ſich nur nicht ſorgen, wenn es etwas ſpät in der Nacht würde. Dann wäre ſie nach Hauſe gelaufen und hätte die Sachen zuſammengepackt. Als ſie gerade wieder hinten zum Hauſe hinausgewollt, hätte es vorn gepocht. Da hat ſie das Licht ſchnell ausgelöſcht und zum Guckfenſter hinausgeſchaut. Dort iſt der Wagen des Herrn Inſtruktor geſtanden, und noch eine Menge von Fahrrädern mit den großen elektriſchen Lampen ſind dageweſen und wohl zehn Leute mit Glockenhelmen, die haben ins Haus gewollt. Da iſt ſie ſchnell hinten hinaus und hat die Tür verſchloſſen und iſt zum Rieſer gelaufen, und der iſt auch gerade mit dem Wagen gekommen. Die Häuſer des Ortes lagen hinter den Flüchtlingen. Die Nacht war klar, und eine Spur von Dämmerung erleuchtete den Weg. Saltner beſprach ſich mit dem Beſitzer des Fuhrwerks und ſetzte ihm auseinander, worauf es ankäme. Sobald Oß die Entführung aus dem Laboratorium erfahren haben würde, und das war jetzt natürlich ſchon geſchehen, würde er ſie jedenfalls verfolgen laſſen. Er konnte zwar nicht wiſſen, ob ſie ſich nicht in Gries verſteckt hielten, aber er würde jedenfalls auch ſeine fahrenden Gendarmen die Hauptſtraßen entlangſchicken. Dieſe mußten mit ihren ſchnellen elektriſchen Rädern auf den glatten Chauſſeen den Wagen bald einholen. Sie durften alſo nicht auf der Chauſſee bleiben, wenn auch die Fahrt auf dieſe Weiſe viel länger dauern mußte. Hatte Oß nach den umliegenden Ortſchaften telephoniſch den Befehl geſandt, ſie aufzuhalten, ſo war ihnen die Nachricht doch in jedem Fall vorangeeilt. Man mußte dann ſehen, wie man durchkam. „In der Hinſicht“, ſagte Rieſer, „brauchen Sie nichts zu befürchten, wenn nicht gerade ein Nume in Andrian iſt. Aber wie ſollte da einer hinkommen? Der Vorſteher ſieht gern durch die Finger, wenn er den Numen ein Schnippchen ſchlagen kann. Sie ſetzen ſich dann in den Wagen, und wenn ich mit dem Mann geſprochen habe, wird er Sie gar nicht erkennen.“ Sie hatten jetzt die Straße verlaſſen und verfolgten einen ſchlechten Feldweg, zwiſchen Obſt- und Weingärten oder Rohrfeldern. Die Schwierigkeit lag aber darin, über die Eiſenbahn und die Etſch hinüberzukommen. Dazu mußten ſie bis Sigmundskron heran, und hier galt es vorſichtig ſein. Die Mitte des Bozener Bodens war noch nicht erreicht, als ſie hinter ſich, wo die Straße nach Meran ſich etwas erhöht am Berg hinzieht, die unverkennbaren Lichter der Martier ſich in ſchneller Fahrt in der Richtung nach Terlan hinbewegen ſahen. Gleich darauf bemerkten ſie auch vor ſich Lichter, die in derſelben Richtung wie ſie auf den dunkel vorſpringenden Felſen von Sigmundskron hineilten. Sie waren aber auf der Chauſſee ihnen bereits voraus und verſchwanden bald hinter den Bäumen und Baulichkeiten des Orts. „Nun ſo ſchnell wie möglich ihnen nach“, rief Saltner. „Die fahren ſicher den Berg hinan, um zu ſehen, ob wir über die Mendel wollen. Bis ſie zurückkommen, muß der Weg frei ſein.“ „Sie werden aber nicht weit fahren“, ſagte Rieſer. „Denn das wiſſen ſie doch, daß ſie uns in der erſten halben Stunde einholen müſſen, wenn ſie auf dem richtigen Weg ſind.“ „Wir müſſen unſer Glück verſuchen.“ Ohne aufgehalten zu werden, paſſierten ſie den Ort und den Fluß und waren glücklich an der Stelle vorüber, wo links die Straße nach dem Mendelpaß abgeht. Sie wandten ſich rechts, um am Gebirge entlang ihr Ziel zu erreichen. Jetzt durften ſie hoffen, keinem Verfolger mehr zu begegnen. Die Straße führte hier ein großes Stück geradeaus, das ſie ſchon zurückgelegt hatten, und Saltner ſpähte vorſichtshalber noch einmal rückwärts. Da bemerkte er plötzlich, wie hinter ihnen das elektriſche Licht eines Rades auftauchte. Es näherte ſich nur langſam, da der Weg kein ſchnelles Fahren geſtaltete. Sie wurden verfolgt. Saltner verlor die Geiſtesgegenwart nicht. Er ſah, daß es nur ein einzelner Bed war, der dieſe Straße einſchlug; vielleicht hatte man ihm geſagt, daß ein Wagen dieſen Weg gefahren ſei. Er durfte es nicht darauf ankommen laſſen, daß der Wagen erkannt wurde. Der Bed hätte Hilfe herbeigeholt, und man hätte ihn jedenfalls noch in Andrian erreicht. Er fühlte nach der Telelytwaffe, die er vom Mars mitgebracht und heute zu ſich geſteckt hatte. Ohne Rieſer etwas von dem Verfolger zu ſagen, rief er ihm nur zu: „Fahren Sie weiter, ich komme gleich nach!“und ſprang während der Fahrt vom Wagen. Er mußte den Bed abhalten, ihnen zu folgen, aber er durfte ihn auch nicht zurückkehren laſſen, um zu melden, daß er durch einen Überfall verhindert worden ſei, die Verfolgung fortzuſetzen; vielmehr mußte er es ſo einrichten, daß der Bed an einen zufälligen Unfall glaubte. Und er hatte ſchon unterwegs daran gedacht, wie er das einrichten könne. Saltner ſprang hinter einen Baum, der ihn gegen das Licht der Laterne deckte. Die Telelytwaffe ließ ſich ausziehen, daß man wie mit einem Gewehr genau zielen konnte. Das Rad mit dem Bed näherte ſich hell beleuchtet und mochte noch etwa hundert Schritt entfernt ſein. Saltner ſetzte eine kleine Sprengpatrone ein und zielte an die Stelle, wo der diabariſche Glockenhelm von den beiden dünnen Stützen getragen wird, die ihn mit der Fußbekleidung verbinden. Wird dieſe Verbindung unterbrochen, ſo iſt die Diabarität aufgehoben, da der zu ſchützende Körper nach beiden Seiten gegen die Richtung der Schwerkraft gedeckt ſein muß. Es kommt beim Gebrauch des Telelyts nicht wie bei einem Schuß auf eine einzige Entladung an, ſondern man kann die Wirkung, die ſich wie das Licht in Ätherwellen fortpflanzt, einige Zeit wirken laſſen. Saltner war daher ſicher, wenn er auch bei den Schwankungen des Helms einigemal das Ziel verlor, doch den Sprengerfolg zu erreichen. Und in der Tat, nach fünf bis ſechs Sekunden begann der Helm ſich zu neigen, und die eine Stütze brach. Der Bed hielt erſchrocken ſein Rad an. Dieſen Moment der Ruhe benutzte Saltner, um auch die andere Stütze zu ſprengen. Der Helm fiel herab, und der Bed bückte ſich ſichtlich unter dem Druck der Erdſchwere. Er konnte jedenfalls ſo bald weder vorwärts noch rückwärts weit gelangen und war mit ſeinem Unfall ſo beſchäftigt, daß er nicht mehr auf den Weg achtete. In ſchnellen Sprüngen eilte Saltner dem Wagen nach. Ohne ein Wort zu ſagen, ſchwang er ſich wieder auf den Bock. Eine Stunde ſpäter traf der Wagen in Andrian ein. Rieſer ging voraus und überzeugte ſich, daß hier noch keine Nachforſchungen angeſtellt ſeien. Der Wirt brachte die Frauen in ſeiner eignen Wohnung unter, und auch Saltner legte ſich einige Stunden zur Ruhe, um die Ankunft der Führer abzuwarten. Um drei Uhr wurde er geweckt. Palaoro war mit zwei Führern und den Maultieren eingetroffen. Alles wurde ſogleich zum Aufbruch vorbereitet. Frau Saltner fühlte ſich vollkommen kräftig, die Befreiung von ihrer Angſt hatte ihr aufgeholfen. Nur die Füße konnte ſie nicht gut gebrauchen, aber auf dem bequemen Sattel des Maultiers hatte ſie keinerlei Beſchwerden. Es war noch finſter, als der kleine Zug aufbrach und auf ſchmalen Pfaden durch eine enge Schlucht zur Stufe des Mittelgebirges hinaufklomm. Sie waren erſt ein kurzes Stück vorwärts gekommen, als Palaoro in ſeine Taſche griff und zu Saltner ſagte: „Da habe ich doch noch etwas vergeſſen. Gehen Sie nur ruhig vorwärts, ich hole Sie bald wieder ein.“ Er ſchritt gemächlich den Weg zurück. Der Wirt, der zugleich Ortsvorſteher war, trat eben ins Haus, um ſich noch ein wenig aufs Ohr zu legen, als Palaoro herankam. Er überreichte ihm eine Depeſche und ſagte: „Das hat mir dieſe Nacht der Poſtmeiſter in Terlan mitgegeben. Er hatte nach allen Richtungen Boten ausſchicken müſſen, ſo daß er keinen mehr an euch hatte; da hab ich geſagt, ich wolle das Telegramm mitnehmen. Beinahe hätt’ ich’s vergeſſen. B’hüt euch Gott.“ Und ſchon war er mit raſchen Schritten in der Dunkelheit verſchwunden. Der Wirt ging langſam ins Zimmer und entfaltete beim Schein der Laterne das Telegramm. Es lautete: „Joſef Saltner mit Frau Marie Saltner und Katharina Wackner ſind, wo ſie auch auf diesſeitigem Gebiet betroffen werden, zu verhaften und ſogleich der hieſigen Gerichtsſtelle zuzuführen.“ Der Ortsvorſteher faltete das Papier zuſammen und ſprach: „Das hätte halt nachher ſchon vorher kommen geſollt.“ Dann ging er wieder zu Bett. Die Flüchtenden hatten das Mittelgebirge überſchritten und kletterten jetzt auf halsbrecheriſchen Pfaden die ſteilen Abſtürze des Gantkofels hinauf. Immer mit gleicher Sicherheit ging Palaoro voran, die Saumtiere folgten an der Hand ihrer Führer mit feſtem Tritt, und Saltner beſchloß den Zug. Die Sonne ging auf und vergoldete die Bergspitzen. Ohne Raſt, den Abgrund zur einen, die Felswand zur andern Seite, ſetzten die Reiſenden ihren Anſtieg fort. Nach vier Stunden war der Rücken erreicht, mit welchem das Mendelgebirge ſteil gegen das Etſchtal abbricht. Dieſer Rücken iſt die deutſch-italieniſche Sprachgrenze und das Ende des Oß’ſchen Machtbereichs. Menſchen und Tiere blieben ſtehen und erholten ſich. Der Blick hatte ſich nach Süden und Weſten geöffnet. Auf den ſchlanken Pyramiden der Preſanella, auf den ewigen Schneemaſſen der Ortler-Alpen glänzte ſtrahlend das Sonnenlicht. Drunten im Tal zogen Nebelſtreifen, und über ihnen ruhten dunkel die bizarren Formen der Dolomiten. Saltner winkte einen Gruß zurück ins Tal. „Auf Wiederſehen“, rief er, „wenn die Nebel vergangen ſind. Jetzt ſind wir frei!“ Noch eine Viertelſtunde mäßig bergab. Dann tat eine grüne, ſchmale Talſchlucht ſich auf, von einem friſchen Gebirgsbächlein durchrieſelt. Auf dem Raſen winkte eine Schutzhütte auf einem verborgenen, ſelten beſuchten Platz. Palaoro ſchloß auf. „Hier werden wir wohnen“, ſagte Saltner, indem er ſeine Mutter vom Maultier hob, „bis das Recht wieder eingezogen iſt in unſer Land.“ „Wo könnte es ſchöner ſein?“ ſagte ſie. „Und du biſt hier.“ 50. Die Luft-Yacht Die Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten ein prachtvolles Luftſchiff, das aus den äußerſten Höhen des Luftmeers von Norden her herabſchießend jetzt ſeine Geſchwindigkeit mäßigte und ſeine glänzenden Schwingen ausbreitend langſam und majeſtätiſch, in geringer Höhe über den Wogen, der nördlichen Küſte von Rügen entgegenſchwebte. Die Fiſcher in ihren Booten und die Badegäſte, die am Strand luſtwandelten, verfolgten das Schiff mit erſtaunten Blicken. An den Anblick von Luftſchiffen waren ſie gewöhnt, denn der direkte Weg vom Nordpol nach Berlin führte hier vorüber, wenn auch freilich dieſe Schiffe in viel größeren Höhen zu ziehen pflegten. Aber ein derartiges Fahrzeug hatten ſie noch nicht geſehen. Es war keines der furchtbaren Kriegsſchiffe, deren farbloſe Einfachheit nur die drohenden Öffnungen der Repulſitgeſchütze unterbrach, es war auch keines der langen und breiten Poſtſchiffe, die den Perſonenverkehr vermittelten. Für eines der Boote, die den höheren Beamten der Nume zur Verfügung ſtanden, war es zu groß und prächtig. Es war in der Tat ein Schiff, wie es bisher auf der Erde nicht verkehrt hatte, eine Privatyacht, von einem reichen Numen zu Vergnügungsreiſen erbaut. Seine glatte Oberfläche ſchimmerte rot und golden, auf beiden Seiten wie auf den jetzt ausgebreiteten Flügeln glänzte weithin ſichtbar der Name des Schiffes, als wäre er von rieſigen Edelſteinen gebildet, ein nach rechts offener Halbkreis. Wer martiſch zu leſen verſtand, erkannte darin den Namen ‚La‘. In der Mitte des Schiffes, auf deſſen unterer Seite, befand ſich ein kleiner Salon, ausgeſtattet in einer ebenſo koſtbaren als einfach wirkenden Eleganz und mit jeder Bequemlichkeit, die martiſche Kunſt zu erdenken vermochte. Eine hier zum erſtenmal angewandte Konſtruktion ließ nach beiden Seiten erkerartige Anſätze ſo hervortreten, daß ſie, ohne die Bewegung des Schiffes zu verhindern, eine freie Ausſicht nach den Seiten und nach unten geſtatteten. Auf einem freihängenden Polſter, wie auf einer Schaukel halb liegend, ruhte hier eine graziöſe weibliche Geſtalt in bequemem Morgenanzug, den der mit glänzenden Deli-Kriſtallen bedeckte Lisſchleier umhüllte. Es war Se. Sie beugte den ſchlanken Hals herab, um das Meer zu betrachten. Sobald ſie den Kopf bewegte, ſpielten die braunen Locken in den lichten Farben des Regenbogens. Von Zeit zu Zeit betrachtete ſie Einzelheiten durch ein Glas, dann ließ ſie wieder den Blick rückwärts über die ſchaumgekrönten Wogen in die uferloſe Ferne ſchweifen. Sie konnte ſich an dieſem Schauſpiel nicht ſattſehen. Daß es ſo viel Waſſer gab, Waſſer und immer Waſſer auf dieſer Erde, wie wunderbar kam es ihr vor, die bis jetzt nur das eisſchollenbedeckte und beſchränkte Meer am Nordpol erblickt hatte. Eine leiſe Berührung ihrer Schulter ließ ſie aufblicken. Die Herrin dieſes fliegenden Wunderbaus ſtand vor ihr. „Da biſt du ja, La“, rief ſie, ſich aufrichtend, der ihr zunickenden Freundin entgegen. „Haſt du endlich ausgeſchlafen?“ „Ich bin auch nicht ſo früh eingeſchlafen wie du. Ich glaube, du träumteſt ſchon, als wir geſtern vom Pol abreiſten.“ „Ich war furchtbar müde. Ich hatte ja den ganzen Tag gearbeitet, um mich noch rechtzeitig für dich freizumachen. Ach, La, das war doch einer deiner geſcheiteſten Gedanken, mich zu dieſer Reiſe einzuladen. Aber dieſe Eile! In der Nacht kommſt du mit dem ‚Glo‘ an, ganz unerwartet. Früh läßt mich dein Vater nach dem Ring holen, und abends muß ich ſchon mit dir fort nach Deutſchland. Ich habe noch gar keine Zeit gehabt, dich irgend etwas zu fragen.“ „Weil du geſtern gleich eingeſchlafen biſt.“ „Ich bin ganz ſtarr über dieſen fabelhaften Luxus, das heißt für ein Luftſchiff. Sonſt iſt es ja gerade ſo wie zu Hauſe, aber das auf einem Schiff zu haben, das iſt eben das Überraſchende. Wie biſt du nur dazu gekommen?“ „Das hat mir alles der Vater geſchenkt.“ „Und das konnte er?“ La nickte. „Aber du ſiehſt gar nicht ſo vergnügt aus, wie es ſich für eine ſolche Prinzeſſin ſchickt. Komm, ſetz dich her und geſtehe! Was iſt eigentlich mit euch vorgegangen? Ich verſuchte vorhin in dein Zimmer zu kommen, aber ich glaube gar, du haſt es mit einer akuſtiſchen Tür geſchloſſen, die nur auf das Stichwort aufgeht.“ La lehnte ſich auf die ſchwebenden Polſter und blickte zur Erde hinab. Dann ſagte ſie: „Du ſiehſt, wir ſind reiche Leute geworden. Der Vater hat eine wichtige Erfindung gemacht, eine Verbeſſerung am Fortbewegungsmechanismus der Raumſchiffe.“ „Das weiß ich natürlich, den Fru’ſchen Gleitrepulſor, der das Repulſit noch einmal ſo ſtark ausnutzen läßt. Das erſpart dem Staat Hunderte von Millionen im Jahr.“ „Nun ja, und einige davon haben wir als Ehrengabe bekommen. Dafür hat mir der Vater dies ſchöne Schiff geſchenkt und ein Reiſejahr für die Erde. Ich freue mich ſehr darüber.“ „Wenn du es nicht ſagteſt, würde man es kaum glauben. Was haſt du alſo noch für Sorgen?“ „Weißt du, Se, ſchreiben oder in die Ferne ſprechen kann man ſolche Sachen nicht. Drum hab ich dich vor allen Dingen abgeholt, denn das mußt du doch erfahren, daß wir mit Oß nicht mehr verkehren.“ „Aber Oß iſt doch an der Erfindung deines Vaters beteiligt, er war ja ſein Aſſiſtent bei den Verſuchen?“ „Ja, leider. Er hat auch vom Staat ſeine Million bekommen, und das iſt eben das Unglück, das iſt ihm in den Kopf geſtiegen.“ „Wieſo? Ein bißchen exzentriſch freilich war er ja immer. Weißt du noch? Damals am Pol, als Ill die Verſammlung abhielt und Grunthe und Saltner fortgegangen waren, da beantragte er doch, den Menſchen die perſönliche Freiheit abzuſprechen. Aber was hat er denn getan?“ „Es war damals nach dem Friedensſchluß mit der Erde, als der Vater die Verſuche machte, und Oß war deshalb viel bei uns, wir hielten uns auf der Außenſtation am Nordpol des Mars auf. Und da wollte er mich binden.“ „Im Spiel? Ja? Nun, das iſt doch noch kein Größenwahnſinn. Wer war denn dabei?“ „Ich wollte aber nicht.“ „Und das hat er übelgenommen, das kannſt du ihm nicht verdenken. Warum wollteſt du nicht?“ „Ich — ich war nicht in der Stimmung. Aber er hat das falſch verſtanden. Ich machte mir eben gar nichts aus ihm, und er bildete ſich ein, mir wäre das Spiel zu wenig. Er kam mit einem Antrag „Im Ernſt?“ La bewegte den Kopf bejahend. Ihre Augen blickten in die Ferne hinaus, aber ſie ſah nichts von der anmutigen Landſchaft, den buchengekrönten Kreidefelſen zu ihren Füßen. „Und du haſt ihn abgewieſen? La! Das iſt freilich ſchlimm. Das geht doch nicht. Du mußteſt das Spiel annehmen und dann ſo unausſtehlich ſein, daß er von ſelber —. Aber La, du Liebling, ich glaube gar, du weinſt?“ Sie zog ſie an ſich und ſtreichelte ihr die Wangen. „Warum regt dich das ſo auf, macht dich ſo traurig? Du bereuſt? Du liebſt ihn? Darf ich es wiſſen?“ „Wirklich nicht“, ſagte La mit ſo ruhiger Stimme, daß Se an ihrem Wort nicht zweifeln konnte. „Ich konnte nicht anders, ich mochte nichts von ihm wiſſen.“ „Ach ſo!“ Se faßte ihre Hand und drückte ſie leiſe. „Alſo ein anderer.“ Und bei ſich dachte ſie: „Alſo Ell!“ Aber das ſagte ſie nicht. Vor ſolchen Gewiſſensfragen blieb auch die Freundſchaft ſtehen. La erhob ſich heftig. „Laſſen wir das nun“, ſagte ſie. „Es iſt nichts daran zu ändern. Ich hätte auch jeden andern abgewieſen — das zu deiner Beruhigung. Ich wollte dir das nur mitteilen, damit du dich nicht wunderſt, wenn ich von Oß nichts mehr hören mag.“ „Und wo iſt er denn jetzt?“ „Ich weiß es nicht, ich habe mich nicht darum gekümmert. Der Nu iſt groß. Er iſt aus unſerer Umgebung verſchwunden.“ „Und deine Reiſe nach der Erde, nach Berlin? Hängt die damit zuſammen?“ fragte Se etwas neugierig. „Indirekt ja. Ich habe mich über die ganze Sache geärgert. Ich war, ich weiß nicht warum, in dieſem Jahr recht wenig zufrieden mit mir. Die Ärzte ſchickten mich hier- und dahin, aber ich war gar nicht krank, ich war nur — ich weiß nicht. Da kam der Vater auf die Idee, mich nach der Erde kommen zu laſſen. Er mußte wieder hierher zu den Erweiterungsbauten an der Außenſtation. Und da ſchenkte er mir vorher das ſchöne Schiff. Ich wollte die Mutter gern mitnehmen, aber es wäre für ſie zu anſtrengend geweſen. Da dachte ich an dich. Und nun hab ich dich ja.“ Sie küßte Se auf den Mund und ſprach weiter: „Sei mir gut und tu mir den einen Gefallen, wundere dich nicht über mich, ich weiß, was ich tue, auch wenn es dir ſeltſam vorkommt. Ich will nämlich einmal verſuchen, wie es ſich auf der Erde lebt, ob man überhaupt hier leben kann.“ Se lächelte ſtill für ſich. „In einem ſolchen Luftſchiff läßt es ſich ſchon leben“, ſagte ſie. „Und im Palaſt des Kultors wird es ſich wohl auch leben laſſen. Dort wirſt du ſicherlich dieſe La, ich meine die fliegende, in der wir ſitzen, unterbringen.“ „Nein, das werde ich nicht, ich will dir’s gleich verraten. Ich habe nur dem Vater nicht widerſprochen, als er es vorſchlug. Aber ich habe ganz andre Dinge vor. Ich will mir einmal die Bate in ihrer Heimat anſehen, nicht als Nume, ſondern wie ein Menſch möchte ich unter Menſchen verkehren. Wir wollen nicht in dem Schiff wohnen, ſondern in einem Hotel wie gewöhnliche Menſchen.“ Se ſah die Freundin erſtaunt an. „Was für Ideen du da ausheckſt“, ſagte ſie. „Zur Abwechslung wäre es vielleicht nicht übel, und ich wäre ganz gern dabei — wenn es nur ginge. Aber die Schwere, La, die Schwere! Wenn wir als Menſchen auftreten wollen, können wir doch nicht mit den Helmen über dem Kopf herumlaufen.“ „Könnten wir uns nicht ein bißchen an die Erdſchwere gewöhnen? Ein bißchen nur?“ fragte La, indem ſie Se ſchelmiſch anſah. „Nein“, rief Se abwehrend, „dazu bekommſt du mich nicht! Es iſt ja gar nicht dein Ernſt!“ „Höre einmal“, ſagte La, indem ſie ſich neben Se ſetzte und den Arm um ſie ſchlang. „Ich habe mir etwas ausgedacht und mir in Kla in aller Stille anfertigen laſſen. Darauf bin ich gekommen, wie ich in einem Blatt die neueſten Moden auf der Erde geſehen habe. Sieh einmal her.“ Sie holte vom Bücherbrett ein Journal der Erde und ſchlug es auf. „Siehſt du“, ſagte ſie, „man trägt jetzt dieſe merkwürdigen Hüte mit breiten Krempen, die bis über die Schultern hinausragen, und an beiden Seiten fallen Bänder herab. Ich vermute, daß unſre diabariſchen Glockenhelme das Muſter dazu geliefert haben, unſchön genug ſind ſie dazu. Da dachte ich mir, ſo ein Hut müßte ſich diabariſch herſtellen laſſen, und ich ließ einige Modelle aus Stellit anfertigen. Ich werde ſie dir dann zeigen. Sie ſehen aus wie dieſe Hüte. Die Verbindung geht durch dieſe Bänder, die allerdings an der Schulter befeſtigt werden müſſen. Von dort geht ſie an den Seiten unter den Kleidern fort bis an die Stiefel, die man aber unter den langen menſchlichen Frauenkleidern nicht ſieht. Dieſer Anzug ſchützt zwar nicht ſo gut wie der übliche Erdanzug mit Helm, aber in der Hauptſache genügt er völlig. Nur die Oberkleider und die Arme bleiben ohne Schutz, indeſſen das kann man ſchon aushalten, es iſt nicht ſo ſchwer; wir brauchen ja die Arme nicht zu bewegen, ſondern können ſie meiſt am Gürtel oder an einem Seitentäſchchen aufſtützen. Außerdem habe ich auch diabariſche Schirme gegen Sonne und Regen, die wir durch eine Stellitkette mit dem Anzug verbinden können. Auf der Straße können wir alſo überall ohne Beſchwerde gehen, nur dürfen wir die Hüte nicht abnehmen. Aber bei den menſchlichen Damen iſt es ja Sitte, bei vielen Gelegenheiten auch im Zimmer die Hüte aufzubehalten.“ „Das iſt fein. Man wird zwar gräßlich ausſehen, doch wir ſind ja auf der Erde, da nimmt man es nicht ſo genau. Aber ich bitte dich, wir können doch nicht zu Hauſe immer in Hüten ſitzen und damit zu Bett gehen.“ „Nein, das iſt nicht zu verlangen. Trotzdem, im Schiff möchte ich nicht wohnen, es braucht vorläufig niemand zu wiſſen, daß wir da ſind. Aber es gibt ja in Berlin Hotels für Nume, mit Zimmern, die abariſch gemacht werden können. Dort mieten wir uns ein, daß wir uns zu Hauſe erholen können. Das Schiff geht ſofort weiter, daß die Leute meinen, wir ſind mit irgendeinem Mietſchiff angekommen. Die Schiffer nehmen mit dem Schiff in einem der Vororte Quartier, ſo daß wir ſie jederzeit herbeirufen können.“ „Das haſt du alles ſehr hübſch ausgedacht. Aber wie kommen wir denn zu der nötigen menſchlichen Toilette?“ „Das iſt das wenigſte! Es gibt doch in Berlin große Magazine, wo man alles haben kann, was Menſchen brauchen. Sobald wir im Hotel angekommen ſind, laſſen wir uns von dort jemand kommen, und ich bin überzeugt, in einer Stunde ſind wir aufs Eleganteſte ausſtaffiert.“ „Du biſt gelungen! Was haſt du für Anſichten von meinem Geldbeutel!“ „Sei doch nicht töricht, Liebling. Du biſt mein Gaſt, und ich habe für dich zu ſorgen. Das iſt ganz ſelbſtverſtändlich.“ „Nun, meinetwegen. Ich will dir deine Freude nicht verderben.“ „Ich danke dir, gute Se. Und nun komm, ich will dir die Hüte zeigen. Wir wollen ſie einmal probieren. Auf dem Verdeck iſt Erdſchwere, und wir ſind dennoch gegen den Luftzug geſchützt.“ Die Probe wurde unter Lachen und Necken gemacht. Es ging alles nach Wunſch, und Se erklärte, daß ſie es wohl wagen würde, ſo ſpazieren zu gehen. Aber Geſicht und Haar müßten unter einem Schleier verborgen werden, und wenn ſie ſo ein bißchen gebückt einherhumpelten, werde man ſie ja wohl für zwei alte Erdmütterchen halten. „Aber wenn wir Ell beſuchen“, ſagte ſie fragend zu La, „da wirſt du doch nicht in dieſem Aufzug hingehen?“ Sie waren wieder in den Salon getreten, und La war gerade damit beſchäftigt, ihren Hut abzulegen. Währenddeſſen antwortete ſie unbefangen: „Ell zu beſuchen iſt gar nicht meine Abſicht. Wenigſtens nicht eher, als es die Höflichkeit unbedingt erfordert. Weißt du, wen wir zuerſt aufſuchen werden?“ „Nun dann vielleicht Grunthe?“ La lachte. „Das iſt wahr“, ſagte ſie, „den müßten wir eigentlich auch einmal heimſuchen. Aber im Ernſt, ich will zuerſt zu Isma. Wir haben uns einigemal geſchrieben.“ „Mir iſt alles recht“, antwortete Se. Und nach einer Pauſe begann ſie ein wenig zögernd, indem ſie La nur verſtohlen betrachtete: „Haſt du denn eigentlich wieder einmal etwas von Saltner gehört? Er iſt doch ſo ohne Abſchied vom Mars verſchwunden.“ La ergriff das neben ihr liegende Fernglas und richtete es auf die Landſchaft. Dabei ſagte ſie mit möglichſt gleichgültiger Stimme: „Nur indirekt, hin und wieder. Er lebt, ſoviel ich weiß, bei ſeiner Mutter da irgendwo in den Bergen. Übrigens hat er ſich bei mir verabſchiedet, aber, du weißt ja, er hat ſich damals auch mit Ell überworfen wegen der Briefe —“ Se ſah, wie Las Hand, die das Glas hielt, leiſe zitterte. Es war unmöglich, daß ſie etwas durch das Glas zu erkennen vermochte. „Ach ja“, ſagte Se, „ich weiß.“ Beide ſchwiegen. La ſah wieder angelegentlich nach der Landſchaft. Se blickte zu ihr hinüber. Sie konnte aus der Freundin nicht klug werden. Endlich ſagte ſie: „Übrigens, wenn wir ihn wiederſehen ſollten, die Bindung iſt aufgehoben. Ich will nicht mehr.“ La antwortete nicht. Es war ganz ſtill, man hörte das leiſe Ziſchen der treibenden Maſchine. Plötzlich unterbrach der laute Pfiff einer Lokomotive die Stille. Hundegebell wurde vernehmbar. „Oh“, rief Se, „das iſt Lärm, das iſt die Erde!“ „Ich glaube, wir müſſen ſchon weit über dem Binnenland ſein. Ich ſagte dem Schiffer, er ſolle von Sonnenaufgang an ganz tief und langſam fahren. Aber wir wollen nun etwas ſchneller vorwärts, die Landſchaft da unten iſt recht eintönig.“ La rief den Schiffer. „Können wir in einer Stunde am Ziel ſein?“ „In einer Viertelſtunde, wenn Sie wollen.“ „Eine Stunde genügt.“ Der Schiffer ging. „Wir wollen frühſtücken und Toilette machen, ganz einfach“, ſagte ſie zu Se. Das Schiff zog die Flügel ein. Wie ein Pfeil durchſchoß es die Luft. 51. Martierinnen in Berlin In der glänzend ausgeſtatteten Vorhalle des neuen ‚Marshotels‘ an der Straße ‚Unter den Linden‘ in Berlin ſtanden zwei elegant gekleidete Damen. In ihren gemeſſenen Bewegungen, mit denen ſie die Einrichtungen des Hotels aufmerkſam muſterten, machten ſie einen ebenſo vornehmen Eindruck, als er dem Reichtum ihrer Toilette entſprach. Ihr Geſicht war von einem dichten Schleier bedeckt, ſo daß es ſchwer war, über ihr Alter ein Urteil zu gewinnen. Als ſie im Begriff waren, auf die Straße zu treten, näherte ſich ihnen ein Kellner und fragte ehrerbietig: „Befehlen die Damen Plätze zur [Table d’hôte]?“ Se trat, entſetzt über dieſe Zumutung, einen Schritt zurück. Schnell gefaßt ſagte La: „Wir können darüber noch nicht entſcheiden.“ „Wagen gefällig?“ fragte der Portier. La ſchüttelte nur den Kopf und ging vorüber. Der Kellner und der Portier tauſchten einen Blick, aus dem wenig Hochachtung für die beiden Gäſte ſprach. Die Damen ſchritten die Straße entlang nach dem Opernplatz zu. Sie ſpannten ihre Sonnenſchirme auf, und ihre Bewegungen wurden ſichtlich freier und lebhafter. „Du haſt doch nicht etwa die Abſicht“, ſagte Se leiſe, „wirklich mit dieſen Baten eſſen zu wollen? Das iſt doch unmöglich.“ „Mit dem Hut und dem Schleier wird es nicht gehen, ſonſt aber — man muß ſich an alles gewöhnen.“ „Aber das iſt doch zu unanſtändig.“ „Wir ſind auf der Erde. In irgendeine der Reſtaurationen, die hier, wie es ſcheint, in jedem Hauſe ſind, wollen wir jedenfalls einmal eintreten. Sieh nur, wo man hinblickt, ſitzen Leute und trinken Bier. Das nennen ſie Frühſchoppen.“ Sie ſchritten weiter durch das Gewühl der Menſchen, über breite Plätze, dann in engere, noch dichter belebte Straßen hinein. Ihre Blicke ſchweiften über Gebäude und Denkmäler, über die begegnenden Perſonen und Wagen oder verweilten auf den glänzenden Auslagen in den Schaufenſtern. „Es gefällt mir gar nicht“, ſagte Se. „Alles iſt nüchtern, klein und eng. Man ſieht förmlich, wie die Schwere die Gebäude zuſammendrückt, die Dächer herabklappt. Die Wände, die Erker, alles iſt vertikal gezogen, eine horizontale Schwingung ins Freie ſcheint es gar nicht zu geben. Sieh nur, wie dieſer Balkon mühſam von unten geſtützt iſt! Und wie ärmlich und geſchmacklos all dies Zeug in den Läden! Und das iſt nun die Hauptſtadt! Wie mag es auf dem Lande ausſehen? Denn dieſe ganze Herrlichkeit reicht nicht weit, ſelbſt wenn man zu Fuß geht, iſt ſie in ein paar Stunden zu Ende.“ „Du mußt doch nicht immer unſre Verhältniſſe zum Vergleich heranziehen“, entgegnete La. „Im ganzen iſt es ſtaunenswert, was die Leute für ihre Kulturſtufe leiſten. Sie haben doch eine Induſtrie. Natürlich müſſen ſie ſich nach der Schwere richten und können nicht wie wir in die Luft hinausbauen. Aber wie angenehm kann man dafür hier im warmen Sonnenſchein gehen, ohne verbrannt zu werden. Und ſieh nur, dieſe entzückenden weißen Wölkchen, wie ſie über den blauen Grund ziehen. Das gefällt mir beſſer als unſer ewiger grüner Baumſchimmer oder der faſt ſchwarze Himmel darüber.“ „Mir ſcheint, du willſt dich zur Erdſchwärmerin ausbilden. Mich ſtößt ſchon dieſer entſetzliche Lärm ab. Die Leute unterhalten ſich ja ſo laut, daß man es auf mehrere Schritte hört. Und dort zanken ſich gar zwei auf offener Straße. Auch die Wagen ſind unausſtehlich geräuſchvoll, man hört das Rollen der Räder auf weithin. Wie muß das erſt geweſen ſein, als noch Pferde vor die Wagen geſpannt waren. Höre nur das unanſtändige Rufen der Wagenführer: He! He! Das Klingeln und Pfeifen! Ich möchte mir die Ohren verſtopfen.“ „Man gewöhnt ſich daran.“ „Was kommt denn dort? Hoch oben ſitzen Menſchen, und unten iſt ein Tier mit vier Beinen. So was habe ich noch nie geſehen, das müſſen wir uns betrachten.“ „Es ſind Reiter“, ſagte La. „Sie ſitzen auf Pferden. Es ſieht gut aus.“ „O nein, abſcheulich! Dieſe Tiere, wie häßlich. Und wie das riecht! O pfui! Komm, komm, das halte ich nicht aus.“ Aus der Tür eines Hauſes trat ein Nume, mit dem großen, glänzenden Glockenhelm über dem Kopf. Er ſchritt bis in die Mitte der Straße, um ſich nach ſeinem Wagen umzuſehen. Ein Teil der Vorübergehenden wich ihm in einem Bogen aus, andre, die gelbe Marken an der Kopfbedeckung trugen, gingen zwar dicht an ihm vorüber, blickten aber finſter nach der andern Seite. Gerade jetzt waren die Reiter bis hierher gelangt. Das Pferd des erſten ſcheute vor dem Helm des Martiers, der, ohne an ein Ausweichen zu denken, in der Mitte der Straße ſtand. Kerzengerade ſtieg es in die Höhe. Der gewandte Reiter behauptete ſich im Sattel, er wollte das Pferd an dem Martier vorüberbringen. In unregelmäßigen Sätzen ſprang es hin und her und ſchlug aus. So drängte es in die Zuſchauermenge hinein, die ſich ſchnell angeſammelt hatte. Dieſe ſtob erſchrocken auseinander, auch La und Se wurden geſtoßen, allgemeines Geſchrei entſtand. Schreckensbleich ſahen ſie, in die Ecke einer Haustür gedrückt, der Szene zu. Von den Sporen des Reiters getroffen, machte jetzt das Pferd einen gewaltigen Satz nach vorn. Es ſtreifte den Helm des Martiers und riß dieſen zu Boden. Die Reiter galoppierten davon, und ein Hohngeſchrei der angeſammelten Straßenjugend begleitete die Niederlage des Numen. Wütend ſprang der Nume in die Höhe, das Publikum beeilte ſich, aus ſeiner Nähe zu kommen. Ein Schutzmann hatte ſich inzwiſchen eingefunden und war dem Numen behilflich, in ſeinen Wagen zu ſteigen. „Wer waren die Reiter?“ fragte der Martier. „Es waren Herren vom Rennklub.“ „Gut, dieſem Unfug muß geſteuert werden.“ Der Nume fuhr davon. „Das geht ja hier entſetzlich zu“, ſagte Se ſchaudernd. „Man iſt ſeines Lebens nicht ſicher. Ich gehe nicht weiter.“ „Nur noch bis an jene Ecke. Dort in der Reſtauration hinter den großen Scheiben ſehe ich Damen in Hüten ſitzen, da wollen wir uns ein wenig erholen. Und dann fahren wir direkt zu Isma.“ Sie traten in das reich ausgeſtattete Lokal ein und ſchritten zwiſchen den Tiſchen, die Gäſte muſternd, hindurch, bis ſie neben einem der Fenſter an einem noch unbeſetzten kleinen Tiſch Platz fanden. Obwohl ihnen alle Verhältniſſe fremd und ungewohnt waren, ſo machte ſie das doch in keiner Weiſe befangen; es waren ja nur ‚Bate‘, die hier ihren barbariſchen Sitten huldigten, und ſie wollten ſich das nur einmal anſehen. So dachte wenigſtens Se. Sie rümpfte das Näſchen und ſagte: „Eine furchtbare Luft! Dieſe Gerüche und dieſer Lärm — wie kannſt du es nur hier aushalten.“ Das Gemiſch von Düften nach Bier, Tabak und geräucherten Würſtchen, in Verbindung mit dem Geräuſch der Stimmen, war für martiſche Sinne betäubend. „Wir können hier ein wenig das Fenſter öffnen“, ſagte La. Sie befanden ſich in dem großen Ausſchank einer ſüddeutſchen Brauerei. Ein Kellner ſetzte unaufgefordert zwei Glas Bier vor ſie hin, und eine Kellnerin brachte ihnen die Speiſekarte. Se amüſierte ſich. „Dieſen Topf ſoll man auſtrinken?“ ſagte ſie. „Aber wie macht man denn das, es iſt ja kein Saugrohr dabei?“ La warf einen etwas verzweifelten Blick umher, dann hob ſie das Glas und ſagte: „Wir müſſen eben trinken wie die Menſchen.“ Und ſie nahm einen tüchtigen Zug. Se verſuchte es gleichfalls, aber ſie kam nicht recht damit zu Rande. „Woher kannſt du das nur?“ fragte ſie lachend. „Ich glaube, du haſt dich auf deine Erd-Expedition vorbereitet!“ „Ich habe es wirklich eingeübt“, antwortete La. „ich habe mir nun einmal vorgenommen, unter den Menſchen ſo wenig wie möglich aufzufallen.“ „Und das ſagſt du ſo ernſthaft — man möchte es wirklich glauben. Nun, was ſteht denn auf dieſer wunderbaren Speiſekarte, die man mit beiden Händen halten muß?“ „Ich werde nicht klug daraus. Doch, da —“ ſie hielt inne, „— ich werde mir — dies da —“ Ein wehmütiges Lächeln ging flüchtig über ihre Züge, dann wandte ſie den Kopf ab und blickte ſinnend zum Fenſter hinaus. Se las die Stelle, die La mit dem Finger bezeichnet hatte, und warf dann einen verwunderten Blick auf die Freundin. Sie ſuchte in ihrem Gedächtnis, und nun hatte ſie es gefunden. Ihre Augen blitzten ſchelmiſch auf, und plötzlich ſagte ſie, ganz mit Saltners Akzent: „Ein Paar Geſelchte mit Kraut, die wenn i’ hätt’, ’s wär’ ſchon recht.“ La zuckte zuſammen. Sie ſah Se mit einem flehenden Blick an. Dieſe ergriff ihre Hand und ſagte, ihr Lachen unterdrückend: „Sei nicht böſe, liebe La, aber eine Nume, der bei der Erinnerung an ‚ein Paar Geſelchte‘, die ſie noch dazu nie mit ihren Augen geſehen hat, die Tränen in dieſe ſchönen Augen treten, das iſt doch ein Anblick, um Götter zum Lachen zu bringen. Aber es iſt wahr, dieſen würdigen Gegenſtand müſſen wir kennenlernen, aus Dankbarkeit an die luſtigen Zeiten. Und heute habe ich ſchon viel daraus gelernt“, ſetzte ſie im ſtillen für ſich dazu. Se beſtellte. Und wieder mußte ſie leiſe lachen. Sie ſah ſich mit La und Saltner auf der Ausſichtsbrücke des Raumſchiffs ſtehen, als ſich die leuchtenden Flächen des Mars zum erſtenmal vor den Ankommenden im Sonnenſchein ausbreiteten, und der Kapitän Oß, der zu Saltners Ärger La nicht von der Seite wich, ſagte: „Morgen werden wir landen. Es iſt ein hübſcher Raumſchifferglaube, daß der Wunſch in Erfüllung geht, den man bei der Landung ausſpricht; es muß aber etwas Praktiſches und etwas Kleines ſein. Was werden Sie denn ſagen?“ Er blickte La ſchmachtend an, die aber nicht antwortete. Da tat Saltner in ſeinem trockenen Ton den klaſſiſchen Ausſpruch von den Würſtchen. La und Se hatten lange gefragt, was denn dies ſei, und er hatte ſie immer mit dieſem Geheimnis geneckt, bis er es ihnen einmal erklärte, und dann war es eine ſcherzhafte Redensart geworden. „Das ſind ein paar patente Frauenzimmer“, ſagte ein Herr am Nebentiſch zu ſeinem Nachbar. „Es ſind Tirolerinnen, ich hab’ vorhin die eine ſprechen hören“, ſagte der andre. „Sie ſind gewiß von der Stürzerſchen Sängergeſellſchaft.“ Das Eſſen war gebracht worden. Die Würſtchen dampften verlockend auf den Tellern, nur nicht für die Freundinnen. Sie tauſchten verzweifelte Blicke miteinander. „Es iſt keine Waage unter dem Teller“, ſagte La, „man weiß nicht, wieviel man eigentlich zu ſich nimmt. Willſt du dir vielleicht lieber etwas Chemiſches geben laſſen?“ „Ich bringe es überhaupt nicht fertig, vor allen dieſen Leuten zu eſſen. Ich ſchäme mich halbtot.“ „Es kommt ja kein Nume herein, und niemand kennt uns. Ich will dir etwas ſagen — entweder, oder! In dem Schleier können wir überhaupt nicht eſſen. Wir drehen dem Publikum den Rücken zu und nehmen die Schleier ab. Ich ſtelle mir jetzt vor, ein Menſch zu ſein!“ Und mit einem kühnen Entſchluß löſte La den Schleier von ihrem Geſicht und begann zu eſſen. „Es iſt wirklich gut“, ſagte ſie. „Es iſt fett und ſchmeckt wie Al-Keht. Verſuch es nur!“ Se ſah ihr geſpannt zu. Sie bewunderte die Seelengröße der Freundin, aber ſie konnte ſich nicht zu dem gleichen Opfer für die Menſchheit entſchließen. „Es iſt zu viel“, ſagte La. „So wollen wir gehen. Die Leute ſehen uns zu. Himmel, da draußen geht ein Nume vorüber.“ Se drehte ſich ſchnell um, indem ſie den Schleier zu befeſtigen ſuchte. Indeſſen bezahlte La, und ſie verließen das Lokal. Die beiden Herren waren ihnen gefolgt. Als Se und La auf der Straße ſtehen blieben, um ſich nach einer Droſchke umzublicken, trat einer der Herren an ſie heran. „Die Damen ſind fremd und wiſſen den Weg nicht“, ſagte er, den Hut lüftend, „dürfte ich vielleicht die Ehre haben —“ Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, wendeten ſie ihm den Rücken zu und ſetzten ihren Weg fort. Sie bemerkten alsbald, daß die beiden ihnen unter anzüglichen Bemerkungen folgten. „Das iſt ja eine unverſchämte Geſellſchaft“, ſagte Se, „es iſt wirklich recht nett hier unter den Baten, man kann ſich nicht einmal frei bewegen.“ „Du mußt bedenken“, bemerkte La entſchuldigend, „das ſind ungebildete Leute, die nichts zu tun haben, ſonſt würden ſie um dieſe Zeit nicht im Gaſthaus ſitzen. Dort drüben ſtehen übrigens Wagen.“ „Ich werde ihnen aber erſt eine kleine Ermahnung geben. Paß auf, wie ſie verſchwinden werden.“ Sie neſtelte an ihrem Schleier und blieb dann ſtehen. Als ſich die beiden Herren dicht hinter ihr befanden, drehte ſie ſich plötzlich um und riß den Schleier herab. Der Glanz ihrer mächtigen Augen und das Gebietende ihres Blickes zeigte den Abenteuerluſtigen ſofort, daß ſie vor einer Nume ſtanden. Erſchrocken prallten ſie zurück. „Macht, daß ihr in die Schule kommt!“ rief ſie ihnen zu. Beide entfernten ſich aufs ſchleunigſte. Se lachte. „Aber nun habe ich wirklich Hunger“, ſagte ſie. „Isma muß mir etwas zum Frühſtück verſchaffen.“ Eine Droſchke brachte ſie vor das Haus, wo Isma wohnte. Enttäuſcht ſahen ſie ſich um, nachdem ſie den Hof überſchritten hatten. Kein Aufzug im Haus, und drei Treppen! Es war eine mühſame Partie. Se ſeufzte wiederholt. „Man braucht ja nicht in einem ſolchen Haus zu wohnen oder nicht ſo hoch“, ſagte La begütigend. „Man braucht glücklicherweiſe überhaupt nicht auf der Erde zu wohnen, ſollte ich denken.“ „Nun ja, ich meinte nur, wenn man — zum Beiſpiel amtlich —“ „Ach ſo.“ Endlich ſtanden ſie vor der Tür, welche die Aufſchrift ‚Isma Torm‘ trug. Sie hatten nun ihre Schleier abgenommen. Auf ihr Klingeln öffnete ſich die gegenüberliegende Tür, und eine ältere, freundliche Dame ſagte, Frau Torm ſei nicht zu Hauſe. Jetzt erkannte ſie, daß ſie zwei Damen vom Mars vor ſich habe und erſchöpfte ſich in Entſchuldigungen. Frau Torm werde ſogleich nach Hauſe kommen, es ſei jetzt ihre Zeit, und die Damen möchten nur einen Augenblick warten, es ſei alles geimpft im Haus, und ſie werde ſie ſogleich in Frau Torms Zimmer führen. Das geſchah denn, und die unterhaltende Dame ließ ſie nun allein. Die beiden Martierinnen ſahen ſich ſorgfältig in dem freundlichen und geräumigen Zimmer um. In dem lebensgroßen Porträt an der Wand erkannte Se ſogleich Ismas Gatten, deſſen Bild ihr in allen Schriften über die Erde begegnet war. Mit beſonderem Intereſſe betrachtete La die Einrichtung im einzelnen, nur irrte ſie ſich, wenn ſie glaubte, etwa hier den Typus des Wohnzimmers einer deutſchen Hausfrau vor ſich zu haben. Denn wenn auch die Tätigkeit der weiblichen Hand unverkennbar war, ſo enthielt doch die Einrichtung nicht nur viele Züge des Studierzimmers eines Mannes, ſondern auch allerlei, was von den landesüblichen Gewohnheiten abwich und an den Einfluß des Mars erinnerte. Da waren zahlreiche Kleinigkeiten, die von Ismas Planetenreiſe erzählten, eine Fluoreszenzlampe über dem Schreibtiſch hing an einem Lisfaden, ſo daß ſie in der Luft zu ſchweben ſchien, ein Bücherbrett war ganz nach martiſchem Muſter eingerichtet, und es fehlte ſogar nicht der Phonograph, ein Geſchenk Ells. Unter den Druckſachen, die auf dem Tiſch lagen, fiel La ein Flugblatt auf, das in mehreren Exemplaren vorhanden war. Es trug die Überſchrift: ‚An die Menſchheit!‘ und begann mit den Worten: „Numenheit ohne Nume! Das ſei der Wahlſpruch des allgemeinen Menſchenbundes, den wir aufrichten wollen unter allen Kulturvölkern der Erde.“ La las weiter. Der Inhalt feſſelte ſie. In feurigen Worten war die ideale Kultur der Martier geprieſen, aber ebenſo entſchieden eifriger Proteſt erhoben gegen die Form, welche ihre Herrſchaft auf der Erde angenommen hatte. „Ergreifen wir“, ſo hieß es, „was ſie uns bieten, mit klarer Einſicht und offenem Herzen, ſo werden wir ihrer ſelbſt nicht mehr bedürfen. Zeigen wir, daß wir das große Beiſpiel ihres Planeten begriffen haben, eine Gemeinſchaft freier Vernunftweſen zu bilden, in der die Ordnung herrſcht nicht durch die egoiſtiſche Gewalt einzelner Klaſſen, ſondern durch das lebendige Gemeinſchaftsgefühl aller. Das neue Zeitalter iſt vorbereitet. Der Mars hat uns den gewaltigen Dienſt geleiſtet, uns zu zeigen, wie die Not des Daſeins bezwungen werden kann durch eine reichere Ausbeutung der Natur und eine größere Selbſtbeherrſchung der Menſchen. Er hat die hiſtoriſchen Feſſeln gebrochen, die uns verhinderten, die neuen Ideen in der Menſchheit lebendig zu machen. Er hat die Völker geeint in dem gemeinſamen Bewußtſein, daß ſie als Kinder der Erde zuſammengehören und ihre häuslichen Streitigkeiten zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zuſammenzufaſſen; er hat uns gezeigt, daß es gilt, dem überlegenen und geeinten Planeten zu begegnen, nicht um ihn zu bekämpfen als einen Feind, ſondern um ſeiner Freundſchaft würdig zu werden und ihn als Bundesgenoſſen zu begreifen. Menſchliche Wiſſenſchaft und menſchliche Arbeit möge unſer Leben mit dem Bewußtſein durchdringen, daß es nur nötig iſt, dem Geſetz der Vernunft zu folgen, um auch unſern Willen auf der Höhe des ſittlichen Ideals zu halten. Wagen wir es zu denken und an uns ſelbſt zu glauben! Fahren wir fort zu lehren und zu lernen, damit wir verſtehen, was menſchliche Freiheit erfordert! Und aus der Vertiefung des befreiten Menſchengefühls heraus einigen wir uns in einem großen geiſtigen Bund, daß wir von uns ſagen können: Hier iſt die Menſchheit, hier iſt die Gemeinſchaft des Willens, uns frei unterzuordnen dem Geſetz der Vernunft, hier iſt die Erde, um dem Mars die Bruderhand zu reichen! Und dann, das laßt uns mit Gewißheit glauben, wird der ältere Bruder uns ebenſo frei die Hand entgegenſtrecken und ſprechen: Ihr ſeid würdig der Freiheit, die Ihr Euch gewonnen habt, nehmt ſie hin, wir verzichten freiwillig auf unſre Herrſchaft. Unſer Ziel iſt erreicht, wenn Ihr Menſchen ſeid.“ — Daran waren Mitteilungen über die Organiſation des Bundes geknüpft. Indeſſen hatte Se in den Zeitungen geblättert, als ſie plötzlich ausrief: „Höre, La, hier ſteht etwas, das dich intereſſieren wird, von Oß und Saltner —“ La griff nach dem Blatt. Noch hatte ſie kaum die Stelle gefunden, als die Tür ſich öffnete und Isma eintrat. Ihre Überraſchung war groß und die Begrüßung lebhaft. Und doch fühlte ſich Isma befangen. Warum hatte ihr Ell nichts von dem bevorſtehenden Beſuch geſagt? Sie fühlte ſich freier, als ſie im Lauf des Geſpräches vernahm, daß Ell gar nichts von dem Eintreffen Las wußte, und gewann bald die Überzeugung, daß es nicht der Wunſch war, Ell wiederzuſehen, der La nach der Erde geführt habe. La erzählte von ihren Eindrücken und Erlebniſſen auf dem Weg vom Hotel zu Isma, und Se erhielt die erſehnte Kräftigung. Dann brachte Se das Geſpräch auf den Zeitungsartikel über Oß und Saltner. Es war darin geſagt, daß auf Veranlaſſung des Inſtruktors für Bozen, Oß, der bekannte Forſchungsreiſende Saltner ſteckbrieflich verfolgt werde wegen öffentlicher Anreizung zum Ungehorſam gegen die Geſetze, Widerſtands gegen den vorgeſetzten Numen, Bedrohung des Inſtruktors, Mißbrauchs amtlicher Papiere und Befreiung von Gefangenen. Es war noch hinzugefügt, daß hoffentlich die Schwere der Anklage ſich nicht beſtätigen werde, da es bekannt ſei, daß gegen den Inſtruktor Oß ſelbſt eine Unterſuchung wegen Überſchreitung der Amtsgewalt ſchwebe und ſeine Abberufung bevorſtehe. Saltners Aufenthalt ſei unbekannt, doch werde von allen Behörden aufs angelegentlichſte nach ihm geforſcht. La ſagte kein Wort. Sie ſuchte ihre Erregung zu beherrſchen. Aber das Herz ſchlug ihr in Angſt und Sorge. Gewiß hatte Oß Saltner gereizt, um ſeine Rache an ihm nehmen zu können. Und ſie fühlte ſich ſchuldig als die geheime Urſache dieſer Gegnerſchaft. Sie horchte mit Bangigkeit auf die Erklärungen, die Isma jetzt auf Ses Frage gab. Ell hatte Isma am Tag vorher beſucht, an demſelben Tag, an welchem er genauere Nachricht über die Vorgänge in Bozen erhalten hatte und auch die erſten Mitteilungen an die Zeitungen gelangt waren. Die Klagen über Oß waren zuerſt beim Unterkultor in Wien erhoben worden. Dieſer befand ſich in der ſchwierigen Stellung, daß er amtlich dem Kultor des geſamten deutſchen Sprachgebiets in Berlin verantwortlich, in der Durchführung ſeiner Anordnungen aber an die Zuſtimmung der politiſchen Oberbehörde, nämlich an das öſterreichiſche Miniſterium gebunden war. Infolgedeſſen konnte er nicht ohne weiteres die Suſpendierung des Oß von ſeinem Amt verfügen, ſondern es wurden Verhandlungen mit der Wiener Regierung notwendig. Von dort aus konnte erſt an Ell berichtet werden. So waren mehrere Tage ſeit der Flucht Saltners vergangen, ehe Ell von derſelben erfuhr. Nun wurde auf Grund der Klage der Behörden und der Einwohner des Bozener Inſtruktionsbezirks die Disziplinarunterſuchung gegen Oß erhoben und der Unterkultor in Wien angewieſen, ſich perſönlich nach Bozen zu begeben. Man konnte annehmen, daß er heute daſelbſt eintreffen würde. Aber für Saltner wurde der Stand der Sache dadurch nicht gebeſſert. Seine Selbſthilfe war vom Standpunkt der Martier aus eine Geſetzesverletzung, die eine eindringliche ſtrafrechtliche Verfolgung erforderte, weil man die Autorität der Nume unbedingt aufrechterhalten wollte. Ell konnte daher nicht anders handeln, als die Maßregeln zu beſtätigen, durch welche die Verhaftung Saltners erzielt werden ſollte. Isma berichtete ausführlicher über die Beſchuldigung, die von dem Inſtruktor gegen Saltner erhoben wurde. Danach erſchien es, als hätte Saltner den Inſtruktor auf offner Straße inſultiert, die Einwohner zum Widerſtand aufgefordert, ſeine Mutter und die Magd endlich durch einen raffinierten Betrug aus dem Laboratorium entführt. Se dachte im ſtillen: Wie gut, daß man nicht weiß, was er ſchon auf dem Mars verbrochen hat! La jedoch ſagte mit künſtlicher Ruhe: „Man wird doch erſt hören müſſen, wie ſich die Sache von Saltners Seite aus anſieht.“ „Gewiß“, erwiderte Isma „und ich kann Ihnen auch darüber Auskunft geben. Ell hat nämlich geſtern einen Brief von Saltner ſelbſt erhalten, worin er ihm offen ſeine Handlungsweiſe darlegt und ihn um Hilfe gegen die ihm drohende Verfolgung angeht.“ „Einen Brief? So weiß man alſo, wo er ſich aufhält? So iſt er in Sicherheit?“ „Das kann man nicht ſagen. Der Brief iſt auf einer Station zwiſchen Bozen und Trient aufgegeben. Die dortigen Einwohner ſind natürlich alle auf Saltners Seite und werden ihn nicht verraten. Jedenfalls hat einer der Führer oder Träger, die ohne Zweifel bei Saltners Flucht beteiligt waren, den Brief zur Station gebracht. Saltner ſelbſt hält ſich wahrſcheinlich im Hochgebirge auf irgendeiner verſteckt liegenden Hütte auf.“ Isma erzählte nun, was Saltner getan hatte, nach ſeiner eigenen Schilderung in dem Brief, den Ell ihr geſtern vorgeleſen hatte. Se ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Das ſieht alles Saltner ganz ähnlich. Aber die Sache ſteht doch recht ſchlimm. Wenn man ihn bekommt, wird es ihm ſehr übel ergehen.“ „Warum?“ fuhr La plötzlich auf. „Ich glaube jedes Wort, was Saltner ſchreibt, und dann hat er ſich gar nichts zuſchulden kommen laſſen. Er hat Oß nicht angegriffen und ſich ſeinen Befehlen nicht widerſetzt, denn es waren ihm noch keine zur Kenntnis gekommen; und die Befreiung ſeiner Mutter hat er auf einem Weg bewirkt, der rein formell nicht anzugreifen iſt.“ „Ell iſt doch anderer Anſicht“, erwiderte Isma. „Er entſchuldigt zwar Saltner, der in ſeiner Lage und nach ſeinem Charakter nicht wohl anders handeln konnte, aber er glaubt doch, daß man ihn verurteilen wird. Und jedenfalls muß er dem Geſetze freien Lauf geſtatten, und, ſo leid es ihm tut, Saltner aufheben laſſen.“ La erblaßte in heimlicher Angſt. „Und wie glaubt man ſeiner habhaft zu werden?“ fragte ſie. „Ganz leicht wird es ja nicht ſein, aber in einigen Tagen bekommt man ihn ſicher. Nur wenige der dortigen Führer kennen ſeinen Aufenthalt, und von ihnen verrät ihn keiner. Auch die Kenner der dortigen Berge werden ſich nicht dazu hergeben. Nume können überhaupt nicht auf dieſe Höhen ſteigen und die verborgenen Schluchten durchſuchen. Aber der Wiener Unterkultor hat ein Luftboot zur Verfügung, und auch Ell würde nicht anders können, als ein ſolches bereitzuſtellen. Dann laſſen ſich die Berge mit Leichtigkeit abſuchen, und es iſt nicht denkbar, wie Saltner entkommen ſollte.“ „Wenn er aber doch entkäme?“ „Wohin reichte die Macht der Nume nicht?“ „Es handelt ſich zuerſt nur um die Behörden des Mars auf der Erde. Auf dem Nu ſelbſt hört jede obrigkeitliche Gewalt der Kultoren oder Reſidenten auf. Dann müßte erſt der Zentralrat ſelbſt die Auslieferung beſchließen. Und ſelbſt dieſer könnte nicht in den Privatbeſitz, in das Haus eindringen, um den Beſitzer zu verhaften.“ „Ich weiß wohl, aber wie ſollte Saltner auf den Nu gelangen? Und wenngleich, die Frage iſt ja eben, ob man dem Paß, den Saltner beſitzt, die Bedeutung zuerkennt, daß ihm auch jetzt noch die Rechte eines Numen zukommen. Man könnte ihn für ungültig erklären.“ „Es gibt ein unverletzliches Aſyl“, ſagte La leiſe, den Blick wie in weite Ferne gerichtet. Isma verſtand ſie nicht. Se ſah die Freundin an, als traute ſie ihren Ohren nicht. Dann legte ſie ihr liebkoſend die Hand auf die Schulter und ſagte lächelnd: „Ich glaube, du ſiehſt nun wieder zu ſchwarz. Saltner kann überhaupt nur ſo weit verfolgt werden, als das martiſche Schutzgebiet auf der Erde effektiv iſt. Er wäre alſo in außereuropäiſchen Staaten ſchon ſicher, denn um von dort eine Auslieferung zu erzwingen, wären Maßregeln erforderlich, die man um einer ſolchen Kleinigkeit willen nicht ergreifen wird. Und was Ell nicht geradezu tun muß, das wird er auch nicht tun.“ „Das glaube ich ja“, ſagte Isma. „Unter uns geſagt, Ell äußerte ſich geſtern: ich wünſchte nichts mehr, als daß wir Saltner nicht fänden, dann wird der Prozeß in abſentia geführt, und in einem Jahr kann bei der Amneſtie die Sache eingeſchloſſen werden.“ „Nun denn, ſo wollen wir uns nicht weiter Sorge machen. Saltner wird ſich ſchon zu helfen wiſſen. Sagen Sie uns lieber, was wir bei dem ſchönen Wetter hier machen ſollen.“ „Ich möchte doch wiſſen“, ſagte La zögernd, „wann etwa die Verfolgung Saltners durch die Luftſchiffe aufgenommen werden könnte.“ „Heute und morgen ſicher noch nicht, das weiß ich“, entgegnete Isma. „Denn Ell ſagte, daß der Kultor erſt die Verhandlung gegen Oß zu führen hat, und ſolange behält er ſein Schiff bei ſich. Soll ich noch einmal bei Ell anfragen?“ Sie wies auf das Telephon. „Ach nein“, ſagte La, „wir wollen uns noch gar nicht beim Herrn Kultor melden. Nun machen Sie Ihre Vorſchläge.“ „Das Wetter iſt eigentlich zu ſchön für Berlin.“ „Ach ja“, rief Se. „Wir wollen lieber hinaus. Haben Sie heute nachmittag für uns Zeit?“ „Bis heute abend, gewiß.“ „Was meinſt du, La, dann ſehen wir uns einmal Ihren deutſchen Wald dort in der Nähe von Friedau an, den Sie uns ſo ſchön geſchildert haben.“ La ſann nach. Dann nickte ſie und ſagte: „Das iſt mir ſehr recht.“ „Aber wohin denken Sie“, rief Isma. „Dazu brauchen wir ja allein fünf bis ſechs Stunden Eiſenbahnfahrt, um nur bis hin zu kommen.“ Jetzt lächelte La. „In zwanzig, in fünfzehn Minuten, wenn Sie wollen, ſind wir da. Machen Sie ſich nur zurecht, Sie ſollen ſogleich unſre Reiſegelegenheit ſehen.“ „Sie haben ein Luftſchiff?“ „Und was für eins!“ lächelte Se. „Wenn wir wollen, holt uns das größte Kriegsſchiff nicht ein.“ 52. Im Erdgewitter Aus den Wipfeln des weiten Bergwaldes ragt ein Felsvorſprung und blickt hinab auf das grüne Tal und die ſanften Höhenzüge, die es gegen die Ebene abſchließen. Hier, zwiſchen dem blühenden Heidekraut, hatten La und Se ſich gelagert, während Isma, auf den Aſt einer verkrüppelten Fichte gelehnt, träumeriſch in das Land hinausblickte. „Dies gefällt mir am beſten von allem, was ich bis jetzt auf der Erde geſehen habe“, ſagte Se, die violetten Blüten der Erika zu einem Kranz zuſammenfügend. „Und zwar darum, weil es ſo ſtill, ganz ſtill iſt, faſt wie auf dem Nu.“ „Und vieles iſt noch ſchöner“, fügte La hinzu. „Daß wir im milden Sonnenſchein hier ſitzen können, über uns das wunderbare Licht des Himmels! Wie leichte Federn ziehen die weißen Wolkenſtreifen dort oben ihre zierlichen Figuren, und wie ſeltſam es ſich da hinten ballt über der dunklen Wand, die der ſinkenden Sonne entgegenſteigt. Ach, ſeht doch, was iſt das, drüben auf der Wieſe am Rande des Waldes? Ein vorſintflutliches Geſchöpf.“ „Es iſt ein Hirſch“, ſagte Isma, „der auf die Wieſe tritt. Sehen Sie, wie er den Kopf hebt und die Luft einzieht, ob alles ſicher iſt. Ach, er verſchwindet wieder, vielleicht hat er uns bemerkt. Übrigens, die Wolken gefallen mir am wenigſten. Es ſieht aus, als ſollten wir ein Gewitter bekommen.“ „Ein Gewitter? Oh, davon haben wir geleſen. Das möchte ich einmal erleben. Ich kann mir keine Vorſtellung davon machen. Aber was blicken Sie denn immer dort hinüber in die Ebene?“ fragte La. „Sehen Sie dort hinten jenen dunklen Streifen?“ erwiderte Isma. „Links davon erblicken Sie zwei Türme, das iſt das Schloß von Friedau. Und über dem Streifen — es iſt ein bewaldeter Hügelrücken — glänzt ein heller Punkt in der Sonne. Das iſt die Sternwarte Ells — —“ „Wo?“ rief La eifrig, nach ihrem Glas greifend. „Ja, ich ſehe es ganz deutlich. Den Turm und die Plattform des Hauſes. Das möchte ich einmal in der Nähe ſehen. Es iſt ja gar nicht weit.“ „Doch mehr als zwanzig Kilometer.“ „In drei Minuten ſind wir drüben. Hätten Sie nicht Luſt, Ihre Heimat wieder einmal zu beſuchen?“ „Jetzt?“ ſagte Isma. „Was ſollte ich dort? Alles würde mich nur traurig ſtimmen. Nein, auf keinen Fall. Und noch dazu mit dem Luftſchiff, bei welchem die ganze Stadt zuſammenlaufen würde. Oh, Sie wiſſen nicht, wie man in Friedau über mich denkt.“ „Das iſt ſchade. Ich möchte ſo gern —“ La zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Ich möchte, offen geſtanden, gern einmal mit Grunthe ſprechen. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, ihn zu beſuchen, nicht wahr, Se?“ „Natürlich“, ſagte Se lächelnd. „Wir wollen einmal ſehen, was er für Augen macht. Und vielleicht weiß er, wo Sal —“ Sie unterbrach ſich auf einen Blick von La. „Ich aber muß, wie Sie wiſſen“, ſagte Isma, „gegen ſieben Uhr wieder in Berlin ſein, ich habe noch eine Vorleſung heute abend — und jetzt — es iſt ſchon fünf Uhr vorüber.“ „Nun, dann müſſen wir Sie freilich nach Hauſe bringen. Oder noch einfacher, wir können ja beides vereinigen — das Schiff führt Sie nach Berlin und holt uns dann wieder hier ab. Es iſt ſo ſchön hier, und ich ſitze ſehr gern noch ein Stündchen im Freien.“ Isma überlegte. „Aber dann iſt es doch beſſer“, ſagte ſie, „Sie ſuchen einen geſchützteren Ort auf, daß Sie eine Unterkunft finden können, falls das Gewitter heraufkommt. Hier wäre es auch für das Schiff nicht möglich, Sie während des Unwetters aufzunehmen, denn dann iſt alles dicht in Wolken gehüllt. Wollen Sie denn überhaupt mit dieſem auffallenden Schiff bei Grunthe ankommen?“ „Sie haben recht“, ſagte La, „er iſt imſtande und macht ſich vor uns aus dem Staub, wenn wir ihn nicht überraſchen. Sie kennen die Gegend, geben Sie uns einen Rat, wo wir uns am beſten wieder abholen laſſen können.“ „Sobald es dunkel iſt“, antwortete Isma nach einigem Nachſinnen, „findet Sie das Schiff nirgends beſſer als im Garten der Sternwarte ſelbſt. Dort hat ſich Ill, als er Grunthe vom Pol zurückbrachte und dann mit mir —, dort hat das Luftſchiff Ills zwei Tage unbemerkt von den neugierigen Friedauern gelegen.“ „Aber wie kommen wir dahin?“ „Wir fahren jetzt nach einer Stelle im Wald, von wo Sie in wenigen Minuten nach einem bekannten Ausſichtspunkt zu Fuß gelangen können. Von dort fährt die Bahn nach Friedau, jede Viertelſtunde geht ein Wagen. In fünfundvierzig Minuten kommen Sie damit nach der Stadt bis dicht an die Sternwarte. Daß auf der Sternwarte noch abends Fremdenbeſuch eintrifft, iſt ja nichts Ungewöhnliches.“ „Gut, ſo wollen wir es machen. Von halb neun Uhr an ſoll mein Schiff für uns im Garten der Sternwarte bereitliegen. Wenn Sie dem Schiffer bei der Rückfahrt von weitem die Stelle zeigen und die Lokalität ein wenig beſchreiben, findet er ſich zurecht. Er iſt ein ſehr geſchickter Mann. Nun laſſen Sie uns zum Schiff gehen.“ Ein ſchmaler Fußweg zwiſchen dichtem, jungem Fichtengebüſch, auf dem nur eine Perſon hinter der andern ſchreiten konnte, führte die drei Damen nach einer Lichtung, wo die ſchimmernde Luftyacht ‚La‘ ruhte. Kaum hatten ſie dieſe betreten, als ſie ſich in die Lüfte erhob und nach Ismas Weiſung einem der bewaldeten Hügel zuflog, mit denen der Höhenzug nach der Ebene hin abfiel. Hier fand ſich wieder eine Waldwieſe, auf welcher das Schiff ſich bequem niederlaſſen konnte. Isma führte La und Se durch den Wald bis nach einem ſorgfältig gebauten Promenadenweg. „Wenn Sie nun in dieſer Richtung weitergehen“, ſagte ſie, „ſo ſind Sie in fünf Minuten an dem großen Gaſthaus ‚Zur ſchönen Ausſicht‘, und unmittelbar unter demſelben liegt die Halteſtelle der Bahn. Sie können nicht mehr fehlen. Halten Sie ſich aber nicht auf, denn das Gewitter kommt näher, und auch ich muß mich eilen, damit ich vor ſeinem Ausbruch fortkommen „Seien Sie unbeſorgt und reiſen Sie glücklich!“ ſagte La. „Wir ſehen uns bald wieder. Sind Sie einmal im Schiff, ſo kann Ihnen kein Wetter etwas anhaben. Sie ſind im Augenblick darüber oder ſo weit, als Sie wollen.“ Nach herzlichem Abſchied ging Isma durch den Wald zurück, während La und Se auf dem bequemen Weg ſanft bergab ſtiegen. Bald gelangten ſie an eine Bank, von welcher ſich ein lieblicher Blick über den Wieſengrund des Tales mit ſeinen Villen und kleinen Teichen und weit in die Ebene hinaus eröffnete. La ließ ſich nieder und ſagte: „Hier wollen wir ſo lange warten, bis wir das Schiff erblicken und ſehen, daß Isma glücklich abgereiſt iſt.“ Längere Zeit ſaßen ſie ſchweigend, während ihre Blicke bald über das Land, bald über den Himmel ſchweiften. Der Sonnenglanz über der Ebene war verſchwunden. Nur die fernen Höhen im Oſten leuchteten noch in gelblichem Licht. Vergebens ſuchte La die Türme von Friedau aus dem Gewirr der dunklen Flecken und Streifen herauszuerkennen. Der Himmel hatte ſich mit einer gleichmäßigen Schicht von Grau überzogen, unter welcher jetzt von Weſten her dunkelbraune Wolkenmaſſen ſich heranſchoben. „Das Schiff müßte längſt ſichtbar ſein — ich glaube, wir dürfen nicht länger warten“, ſagte Se ängſtlich, indem ſie den drohenden Himmel muſterte. „Ich glaube auch, wir warten vergebens“, antwortete La. „Sie werden gleich bis über die Wolken geſtiegen ſein, und wir können ſie daher nicht ſehen. Horch, was iſt das?“ Ein dumpfes Rollen wurde vernehmlich, verſtärkte ſich und kehrte, von den Bergen zurückgeworfen, mit erneuter Schärfe wieder. Se faßte Las Arm. „Komm, komm“, ſagte ſie haſtig. La fühlte, wie ihr Herz lebhafter ſchlug, ſie zwang ſich, ruhig zu bleiben. „Wie wunderbar“, ſagte ſie, „das muß der Donner ſein. Laß uns noch lauſchen.“ „Nein, nein, das iſt nichts für mich.“ Ein Rauſchen und Brauſen kam durch den Wald. Plötzlich beugten ſich die Bäume unter der Gewalt eines Windſtoßes, ringsumher wirbelten Tannennadeln und dürre Zweige in einer Wolke von Staub. Die Martierinnen griffen nach ihren Hüten und banden ſie feſter. Sie zogen ihre faſt unſichtbaren Listücher aus dem kleinen Futteral, warfen ſie über den Kopf und hüllten ſich hinein. Lauter warnte der Donner. Von oben her ertönten eilende Schritte. Ein Herr, den Hut in die Stirn gedrückt, mit einem Wettermantel um die Schultern, kam ſchnell den Weg herab. Er grüßte, ohne die Damen genauer zu beachten. Einige Schritte nachher drehte er ſich noch einmal um. Er wollte ſie zur Eile mahnen, aber jetzt erkannte er, daß er Martierinnen vor ſich habe, und ſetzte ſeinen Weg ohne zu ſprechen fort. Der Wind hinderte La und Se an der Bewegung. Jetzt hörte er plötzlich auf, und ſie ſchritten ſchnell aus. Der Weg zog ſich in engen Windungen bergab; an der Stelle, an welcher ſie ſich befanden, hatten ſie jetzt das Wetter mit ſeinen finſtern Wolkenmaſſen vor ſich. „Das ſieht ſchrecklich aus“, ſagte Se. Sie hatte noch nicht ausgeſprochen, als ſie ſich mit einem leichten Schrei zurückwarf und an Las Arm klammerte, die ebenfalls erſchrocken ſtehenblieb. Ein blendender Blitzſtrahl war drüben jenſeits des Tales niedergefahren. Während ſie noch erſchüttert ſtanden, begannen einige große Tropfen zu fallen, und nun kam der Donner mit knatternden Schlägen, die ſich in ein langes Rollen auflöſten, und ehe noch der Widerhall geendet, zuckte ein neuer Blitz, näher und ſtärker — — Sie ſprachen nicht mehr, ſie liefen den Weg hinab. Jetzt brach der Regen in mächtigem Guß los, im Augenblick war der Weg mit rieſelnden Bächlein bedeckt. „Ich kann nicht mehr!“ ſtöhnte Se. La blieb ſtehen und ſah ſich um. „Da, dort!“ rief ſie. Der Weg machte wieder eine Windung. Hier ſtand, mit dem Blick ins Tal, ein kleiner Pavillon, nur aus Fichtenſtämmchen kunſtlos aufgezimmert und mit Baumrinde bedeckt; aus den ausgeſparten Fenſtern hatte man dieſelbe Ausſicht wie oben, nur beſchränkter, jetzt aber blickte man auf nichts als ſtrömende Waſſermaſſen. Hier fand man wenigſtens einen notdürftigen Schutz gegen den Regen. Die Freundinnen eilten in die Hütte. Als ſie eintraten, erhob ſich von der Bank an der einzigen Seite, die gegen den Regen und Wind geſchützt war, der Herr, der vorhin an ihnen vorübergegangen war. „Oh, ich bitte“, ſagte La, „laſſen Sie ſich nicht ſtören, wir finden ſchon Platz.“ Der Herr verbeugte ſich nur höflich, verließ aber die Hütte. Er ſtellte ſich vor derſelben neben die Tür unter das vorſpringende Dach. Ein Blitz, dem betäubender Donner im Moment folgte, ließ die Martierinnen zuſammenſchrecken, ſie ſanken erſchöpft auf die hölzerne Bank. „Das iſt ſchrecklich“, ſagte Se mit bebender Stimme. „ich zittere am ganzen Körper. Ich will nichts mehr wiſſen von dieſer Erde!“ La nahm ihre Hände zwiſchen die ihrigen. „Zage nicht“, ſagte ſie. „Es iſt leicht, ein freier Nume ſein, wo wir herrſchen über die Natur und mächtig leben wie die Götter. Aber hier, in der Gewalt der ſinnloſen Mächte, die uns fremd ſind und ungewohnt, müſſen wir den Mut des Willens erweiſen. Sieh, dieſer Menſch hat uns ſeinen Platz eingeräumt, uns, die er vielleicht haßt, und er ſteht draußen im Sturm und blickt furchtlos in das tobende Wetter. Was der Menſch kann, muß auch ich können, oder ich bin nicht wert der Erde. Und das will ich ſehen!“ Sie erhob ſich und trat an die Brüſtung des offenen Fenſters, unter welcher der Fels ins Tal abfiel, ſo daß gerade nur noch die Wipfel der hohen Tannen bis herauf reichten. Wind und Regen ſchlugen von der Seite herein, La kümmerte ſich nicht darum. Die Schulter an die Pfoſten des Fenſters gelehnt, ſtand ſie hochaufgerichtet, den Elementen trotzend, in ihren Lisſchleier gehüllt, deſſen Zipfel der Sturm zerzauſte. Ihre großen Augen richteten ſich gegen den Himmel, als wollte ſie den Wetterſtrahl herausfordern. Und wie zürnend über die Verwegenheit der Nume öffnete ſich die Wolke, und die feurigen Schlangen züngelten nach dem Talgrund, und gleichzeitig dröhnte ein Donnerſchlag, der die Luft erzittern machte. Geblendet und betäubt hatten alle einen Moment die Augen geſchloſſen. „La, La“, rief dann Se, „was fällt dir ein, was ſoll das heißen?“ La ſtand aufgerichtet wie zuvor an ihrem Platz. Sie ſchüttelte ſtolz das Haupt und ſprach heiterer als vorher, faſt jubelnd: „Ich kann es, ich kann’s!“ „Wozu das alles!“ rief Se. „Komm her zu mir, du wirſt völlig naß.“ „Ich will es. Dieſer junge Planet tobt wie ein Jüngling in Launen und Übermut, nicht achtend der Geſchöpfe, die er behüten ſoll. Unſer Nu iſt ein Greis, der uns verwöhnt hat in ſeiner ſicheren Ruhe. So verwöhnt, daß wir die Gefahr ſuchen mußten draußen im Weltraum. Auf der Erde iſt die Jugend mit ihrem Wetterunfug, mit ihrer blinden Torheit, mit ihrem ſchwankenden Wechſel von Leid und Glück. Zum Leid ward ſie mir, zum Glück ſoll ſie mir werden!“ Sie ſchwieg, noch einmal vom Rollen des Donners unterbrochen. Aber ſie hatte den Blitz nicht mehr geſehen, das Wetter war über ihrem Haupt hinweggezogen. Se antwortete nicht. Das Geſchick der Freundin ſtand vor ihrer Seele wie eine Frage, deren Antwort mächtiger und immer deutlicher ſich ihr aufdrängte und die ſie ſich dennoch nicht zu geben wagte. Jetzt lauſchte ſie wieder auf den Donner, deſſen Stärke ſich verringert hatte. Sie fühlte ſich freier. Der Nachlaß der elektriſchen Spannung oder die Entfernung der Gefahr, ſie wußte nicht, was es war, aber ſie atmete auf. Ihr Blick richtete ſich nach dem Weg, wo ſie das Knirſchen von Tritten vernahm. Der Fremde entfernte ſich. Er hatte den Hut in die Hand genommen, deutlich ſah ſie ſein Profil, als er jetzt, einen Blick nach den Wolken werfend, um die Ecke des Weges bog. Und wie ein Aufleuchten der Erinnerung durchzuckte es ſie. Das Bild hatte ſie geſehen, oft geſehen, und erſt heute, die große Kreidezeichnung über Ismas Schreibtiſch — nur freilich, älter ſah dieſer Mann aus, abgehärmter und dennoch, es konnte nicht anders ſein ... doch es war ja nicht möglich — — Sie wollte etwas zu La ſagen. Aber dieſe ſtand ganz in den Anblick der Gegend verſunken. Und nun fing La aufs neue zu ſprechen an, nur mit ihrem eigenen Gedankengang beſchäftigt. Und Se wandte wieder der Freundin allein ihre Aufmerkſamkeit zu. Wie in einer ſtillen Freude begann La: „Sieh, der Regen wird ſanfter, drüben über dem Wald wird’s hell. Und dort über dem Land, o welch ein frohes Wunder, in bunten Farben flammt der Bogen über den Himmel, und grollend zieht der Donner unter ihm hinweg.“ Se ſtand auf und trat neben La. Die Schritte des Fremden waren längſt verhallt. Sie ſchlang den Arm um die Freundin und fragte: „Was iſt es mit dir, La? Ich verſtehe dich nicht!“ La blickte ſchweigend in die Ferne, wo die untergehende Sonne und der abziehende Regen in wunderſamer Farbenſchlacht ſich bekämpften. Dann zog ſie Se an ſich und ſagte: „Ich liebe die Erde.“ Se blickte ihr in die Augen. „Es wird wohl nicht die ganze Erde ſein“, ſagte ſie mit ſtillem Lächeln. „Komm, wir wollen uns auf dieſe Bank ſetzen — der Regen rieſelt noch immer im Gebirge —, bis die Waſſer von dem Weg ſich ein wenig verlaufen haben, und du wirſt mir beichten, was du darfſt, oder wenigſtens, was du vorhaſt; denn ich ahne wohl, was du fühlſt, aber das Ganze, Ungeheure, was du zu wollen ſcheinſt, vermag ich nicht zu begreifen.“ „Du vermagſt es wohl nicht zu begreifen“, ſprach La mit kaum hörbarer Stimme, indem ſie Se folgte. „So hab ich auch eine, es iſt die der Vernunft im zeitloſen Willen, daß ich ſein ſoll und daß wir das eine, dasſelbe Ich ſein ſollen — das iſt die oft zu mir geſagt, und wer vermöcht’ es wohl, der es nicht erlebt? Aber nun weiß ich, daß es ſo ſein muß. Glaube nicht, ich hätte vergeſſen, daß ich eine Nume bin. Ich habe gekämpft um meine Freiheit, um meine Würde, und mit bittern Tränen hab ich ſie mir errungen, glaubt’ ich ſie mir errungen mit jenem Abſchiedskuß in Sei. Ein Marsjahr iſt dahingegangen ſeitdem, zweimal hat die Erde ihren Sonnenlauf vollbracht, aber frage nicht, wie ich die Zeit durchlebte! — Ich habe mich aufgerieben in dieſem nutzloſen Kampf. Ich hatte ja nicht geſiegt, ich war geflohen vor mir ſelbſt. Freiheit und Würde hatte ich nicht gewonnen in meiner Seele, nur Weltraum und Sonne, die trennenden Mächte der Planeten, hielten mich in dem leeren Schein, daß der Nu meine Heimat und ich eine Nume ſei. So lebt’ ich, mich ſelbſt betrügend und verzehrend, bis der Morgenſtern wieder leuchtete. Da trieb es mich her. Würde des Numen! Iſt ſie noch Würde, wenn ſie erhalten wird durch den äußeren Zwang? Nein, Se, es wurde mir klar, Würde wie Freiheit wiedergewinnen konnte ich nur, wenn ich ſelbſt mich hingab, um ſie in dieſer Welt des Scheines zu verlieren. Und wie ein Zeichen heiliger Beſtimmung wurden mir die Mittel der Macht, die in meine Hände gegeben war. Verſuchen wollt’ ich, ob ich auf der Erde das ſein kann, was der Geringſten Eine unter den Menſchen ihm hier ſein könnte. Ihm! Se, dies eine Wort verſtehſt du nicht — ihm? Warum ihm? Das iſt das Geheimnis, das unauflösliche, das weder Menſchen noch Nume wiſſen. Ihm, weil ich bin, weil wir ſo wollten, ehe noch Mars und Erde vom uralten Sonnenſchoß ſich trennten. Ein lächerlicher Zufall, daß ihm der Leib gebildet ward in dieſem, mir in jenem Abſtand vom Sonnenball! Die Beſtimmung iſt nur Liebe. Dieſer Beſtimmung folgen iſt Freiheit. Dieſer Beſtimmung genügen iſt Würde. Ich habe die Erde verſucht, ich kann ich gehe jetzt hin, ich hole ihn und rede zu ihm, hier bin ich, und anders kann ich nicht ſein. Als Nume oder als Menſch, wie du mich haben willſt, ich bin La, deine La. Und nun, meine Se, ſchilt nicht, läſtre nicht, es nutzt nichts. Komm mit, laß uns zur Station hinabſteigen, Grunthe ſoll mir ſagen, wo er iſt.“ ihren Mächten trotzen. Und damit du’s weißt, was ich will — „Ja, wer denn?“ „Wer? Es gibt nur einen Menſchen.“ 53. Schwankungen Die Wohnung Torms auf der Gartenſtraße in Friedau ſtand noch immer verſchloſſen, die Jalouſien vor den Fenſtern waren herabgelaſſen, niemand betrat die Räume. Isma hatte ſich nicht entſchließen können, die Wohnung aufzugeben, es war ihr, als gäbe ſie damit die letzte Hoffnung auf, noch einmal in ihre Häuslichkeit zurückzukehren, als raubte ſie ihrem Mann das Heim, das er vielleicht in Schmerz und Elend ſuchte und erſehnte. Und dennoch lebte Torm in Friedau in tiefſter Verborgenheit. Er wohnte bei Grunthe. Es war nichts Ungewöhnliches, daß fremde Gelehrte ſich längere Zeit auf der Friedauer Sternwarte zu Studien aufhielten und dann Ells Gäſte waren. So fiel es auch den wenigen nicht auf, die darum wußten, daß bei Grunthe ein ausländiſcher Aſtronom wohnte, der ſich nirgends in der Stadt ſehen ließ. Torm war am Tag, nachdem er von Grunthe die erſchütternden Nachrichten über die Umwandlung der Verhältniſſe in Europa erhalten hatte, nach Berlin gereiſt. Die Sehnſucht trieb ihn, zu Isma zu eilen, ihr die Sorge, die Trauer um den Verſchollenen zu nehmen, glücklich bei ihr zu ſein und mit ihr vereint dann zu erwarten, was ſein Geſchick über ihn beſtimmen werde, wenn ſeine Rückkehr bekannt geworden ſei. Das war ja doch das Natürliche, zu ihr gehörte er, um zu ihr zu gelangen hatte er ſich in die neuen Gefahren geſtürzt und — in die Schuld. Seine Zweifel waren zerſtreut, ſein Vertrauen zurückgekehrt. Wenn ſie ihn nicht liebte, wenn ſie nicht feſt an ihm hielt, was hätte ſie gehindert, ihn zu verlaſſen, um den mächtigen Freund zu wählen? Was ſie offen tun konnte, warum hätte ſie es heimlich tun ſollen? Nein, ſie hatte es nicht getan, und da ſie es nicht getan, was ging Ell ihn an? Nicht zu Ell wollte er, ſondern zu ihr. Aber ohne vorherige Nachricht. Erſt mußte er mit ihr beſprechen, was zu tun ſei, wie ſie es halten wollten, ehe jemand erfahren durfte, daß er gerettet ſei, wo er ſich aufhalte. Und in dieſem Sinne hatte er Grunthe gebeten, das Geheimnis ſeiner Wiederkehr zu bewahren. Wie würde er Isma antreffen, wie würde ſie ihm begegnen? Er konnte ſich kein Bild davon machen, vergebens verſuchte er ſich im Beginn ſeiner Fahrt das Wiederſehen auszumalen. Noch immer lag der Gedanke, als ein Geächteter zu reiſen, wie ein Druck auf ihm, unwillkürlich ſah er die Mitreiſenden darauf an, ob ſie ihn wohl erkannten. Mitunter erſchien er ſich als ein Fremder, der ſich eine Entſchuldigung erſinnen müſſe, um ſeinen Beſuch zu rechtfertigen, und er mußte ſich erſt daran erinnern, daß er als der Gatte zu ſeiner Frau fahre, die ſeit zwei Jahren ſeine Wiederkehr erhoffte. Dazwiſchen ſtellte er Betrachtungen über das Verhalten der Paſſagiere an. Es fiel ihm eine Änderung darin auf, die ſeit ſeiner letzten Fahrt durch Deutſchland auf der Eiſenbahn vor ſich gegangen war. Das war vor dem Antritt ſeiner Entdeckungsreiſe geweſen, denn bei ſeiner Wiederkehr war er als Triumphator empfangen, überall in Extrazügen eingeholt worden und nicht als einfacher Paſſagier gereiſt. Ein Typus der Reiſenden war ganz verſchwunden, der anſpruchsvolle, geringſchätzig auf die andern herabblickende, hochmütige Elegant. Man ſah vornehme Leute, aber keine Überhebung; nicht nur ein höflicher, faſt ein kameradſchaftlicher Ton herrſchte überall; die verſchiedenen Berufsarten und Stände hatten ſich unter dem allgemeinen Druck näher aneinander geſchloſſen, ſuchten ſich beſſer zu verſtehen. Und ebenſo auffallend war das Fehlen aller Uniformen. In Halle kaufte ſich Torm eine Zeitung, er gedachte, ſich den übrigen Teil der Fahrt damit zu unterhalten. Aber alsbald ſtieß er auf eine Nachricht, die ihm neue Sorgen erweckte. Die Zeitung brachte die erſte Mitteilung über den ‚Fall Stuh‘ bei Frankfurt, wo die Bauern in einem Ort ſich an dem durchreiſenden Inſtruktor vergriffen hatten. Es war hinzugefügt, daß bereits vier der Tumultuanten als Rädelsführer verhaftet ſeien und der Inſtruktor die Überweiſung an den Numengerichtshof verlangt habe. In dieſem Fall fürchte man ſehr ſtrenge Strafen für die Schuldigen. Im Anſchluß hieran behandelte ein Artikel die Frage nach der Gerichtsbarkeit, ſofern in einer Streitfrage Nume in Betracht kämen. In dem Friedensvertrag war feſtgeſetzt, daß Nume überhaupt nur von martiſchen Richtern abgeurteilt werden konnten, aber es war nicht ganz klar, in welchen Fällen Menſchen, die ſich gegen Nume vergingen, vor die martiſchen ſtatt vor die Landesgerichte kämen. Sicher war dies in politiſchen Prozeſſen, aber ob ein Tumult, wie gegen Stuh, zu den politiſchen zu zählen ſei, war fraglich. Es wurde nun darauf hingewieſen, daß der Protektor der Erde, als oberſte Inſtanz in Kompetenzkonflikten, in einem ähnlichen Fall entſchieden hatte, daß es ſich um eine Auflehnung gegen martiſche Anordnungen zur Kulturleitung der Menſchen und ſomit um ein hochverräteriſches Unternehmen handle, das vor das Numengericht gehöre. Es handelte ſich um einen jungen Mann namens Erbelein, der wegen Verſäumnis der Fortbildungsſchule ins pſychophyſiſche Laboratorium geſchickt worden war und ſich hier den Anordnungen nicht gefügt hatte. Aus einem Schrank mit Chemikalien hatte er eine Flaſche mit einem Narkotikum entwendet, ſeinen Beobachter eingeſchläfert und ſich entfernt. Von zwei Beds verfolgt und eingeholt, hatte er dieſelben plötzlich überrumpelt und einen von ihnen nicht unbedenklich verletzt. Dies war als offene Empörung angeſehen und mit der ſchwerſten Strafe belegt worden, mit lebenslänglicher Deportation nach einem Dorf der Beds in einer der ödeſten Wüſtengegenden des Mars. Durch dieſen Präzedenzfall, der in den Hauptſachen ganz mit ſeiner eigenen Verſchuldung übereinſtimmte, fühlte ſich Torm ſchwer betroffen. Das alles und noch mehr hatte er ſich ja auch zuſchulden kommen laſſen. Er hatte ſich dem Spruch des Kriegsgerichts entzogen, Sauerſtoff entwendet, ohne Befugnis ein Luftſchiff benutzt, endlich einen Wächter bei Ausübung ſeines Berufes niedergeſchlagen. Er konnte ſich nun die Frage beantworten, was ihm bevorſtand, wenn er für ſeine Handlungsweiſe zur Verantwortung gezogen wurde. Und nun entdeckte er in demſelben Blatt eine weitere Notiz, die ihn ſtutzen ließ. Es war darin geſagt, daß die Regierung des Polreichs der Nume auf der Erde infolge der allgemeinen Teilnahme, die das Verſchwinden des hochverdienten Forſchers Torm hervorgerufen habe, nochmals in allen Teilen der Erde ſorgfältige Nachforſchungen nach ſeinem Verbleib anſtellen ließe. Es läge die Möglichkeit vor, daß er auf eine noch nicht aufgeklärte Weiſe doch im Mai vorigen Jahres den Pol verlaſſen habe und ſich vielleicht in unzugänglichen Gegenden oder bei wilden Völkerſchaften aufhalte. Es war nicht geſagt, daß er eines Verbrechens wegen verfolgt würde. Aber war das nicht vielleicht bloß eine Vorſichtsmaßregel, ſollte ihm nicht eine Falle geſtellt werden? Und wenn er nun plötzlich auftauchte, würde man dann nicht die Anklage gegen ihn erheben? Die Flucht vor dem Kriegsgericht mochte durch die Amneſtie beim Friedensſchluß von der Anklage ausgeſchieden ſein, die Gewaltätigkeit bei der Flucht in Tibet aber jedenfalls nicht. Wenn dieſe neuen Nachforſchungen jetzt erſt geſchahen, weil vielleicht dieſe ſeine Tat erſt jetzt den Martiern bekannt geworden war? Torm ließ ſein leichtes Gepäck auf dem Bahnhof und trat unſchlüſſig in den leiſe herabrieſelnden Regen hinaus. Zu Fuß verfolgte er den weiten Weg nach Ismas Wohnung, gleichſam als wollte er dem Zufall noch eine Beſtimmung über ſein Schickſal einräumen. Dabei muſterte er die eilend einherſchreitenden Fußgänger, und je näher er dem Oſten der Stadt kam, um ſo unruhiger fühlte er ſein Herz ſchlagen. So oft eine ſchlanke Frauengeſtalt ihm begegnete, immer durchzuckte ihn der Gedanke, ob es nicht Isma ſein könnte, und wenn er die fremden Züge erkannte, wußte er kaum, ob er ſich enttäuſcht oder befreit fühlte. Es war bereits dunkel geworden, als er die Wrangelſtraße erreichte und nach den Hausnummern ſpähte. Jetzt ſtand er vor Ismas Haus. Er mußte ſich entſcheiden. Er ſchämte ſich ſeiner ſelbſt. So kam er nach Hauſe, den die gebildete Welt als den Entdecker des wahren Nordpols gefeiert hatte? Heimlich wie ein Flüchtling, der das Licht des Tages ſcheut, der die Schwelle des Hauſes zu betreten zögert? War es denn ſein Haus? Nein, auch ſie war ja geflüchtet —. Und ſeine Frau? War ſie es denn noch? Nicht mehr nach dem Geſetz des Nu — wenn ſie nicht wollte! Aber ſie wollte doch wohl! Nein, nein, nicht mehr dieſen Zweifel! Aber er! Was brachte er ihr? Den ſonnigen Schein des Ruhmes, darin er vor ſie zu treten hoffte, um mit ihr auf den Höhen des Lebens zu wandeln? Konnte er ſie zurückführen in das verlaſſene Haus, in die friedliche Heimat? Brachte er ihr den Frieden und die Ruhe, und nicht vielmehr neue Sorge und raſtloſe Flucht? Riß er ſie nicht heraus aus einem ſtillen Glück, aus einer ſich begnügenden Tätigkeit, um ſie in unüberſehbares Leid zu ſtürzen? Das alles zog noch einmal, in einen Moment ſich zuſammendrängend, vor ſeinem Bewußtſein vorüber, und ſchon wandte er den Fuß, um wieder in das Dunkel der Straße zurückzutreten. Da öffnete ſich die Tür. Der Portier hatte ihn durch ſein Fenſter vor der Haustür ſtehen ſehen. „Zu wem wünſchen Sie?“ fragte er mißtrauiſch. „Wohnt Frau Torm hier?“ fragte Torm heiſer. „Jawohl, im hinteren Flügel, drei Treppen.“ „Wiſſen Sie vielleicht, ob ſie zu Hauſe iſt?“ „Jawohl, es iſt eben Beſuch nach oben.“ Einen Moment zögerte Torm. Dann ſagte er: „Ich will wiederkommen.“ Die Tür ſchloß ſich hinter ihm. Langſam ſchritt er die Straße hinauf. Beſuch? Wer war es? Gleichviel — ſie mußte allein ſein, wenn er ſie wiederſehen wollte. Beſuch! Und er, der totgeglaubte, nach drei Jahren heimkehrende, der überall geſuchte Gatte, er ließ ſich abſchrecken durch das Wörtchen Beſuch! Das trennte ihn von ihr, der Heißerſehnten. Warum? Er ſchauderte vor ſich ſelbſt. Warum? Weil er nicht ſagen konnte, hier bin ich, dein Hugo, mit dem das Glück wieder einkehrt am Herd! Weil ſie nicht ſagen konnte, hier iſt er, den ihr jubelnd bewillkommt habt, hier iſt mein Gatte! Weil er vor ihr ſtehen mußte als ein Verbrecher, über welchem das Schwert hängt, die lebenslängliche Verbannung. Weil er ſeinen Blick niederſchlagen mußte vor ihr, als ein unbeſonnener Verletzer des Geſetzes! Weil er wieder fort mußte von ihr auf immer, oder ſie mit ſich ziehen ins Elend, wenn ſie ihm folgte in die Wüſten des feindlichen Planeten —. Nein, nein, dann lieber dieſen Schmerz ihr erſparen! Dann lieber ſie in dem Glauben laſſen, daß er verſchollen ſei, unter dem Eis, oder wo auch immer — — Und ſo ſchritt er die Straße hinab und wieder hinauf, und fragte ſich nochmals, welcher Beſuch? Und die Tür öffnete ſich jetzt, und der heraustrat — — es war Ell. Ja, er durfte bei ihr ſein, er, der ihn hinausgelockt in die Gefahren des Pols, er —. Und nun war es ihm, als müſſe er ſich auf ihn ſtürzen —. Doch der ſah ihn nicht, er ſchritt ruhig, aufgerichtet voran, ein glänzender Wagen hielt in der Nähe, er ſtieg hinein. Torm wandte ſich um. Wieder ſuchte er durch den Regen den Weg nach dem Bahnhof. Der Nachtzug führte ihn nach Friedau zurück. Er ſagte Grunthe, daß er erſt noch nähere Aufklärung über die Abſichten der Martier und das Schickſal des nach Tibet gegangenen Schiffes abwarten wolle, ehe er es wage, ſich zu erkennen zu geben. Solange wolle er verſuchen, verborgen zu bleiben. Bereitwillig bot ihm Grunthe das abgelegene ſtille Aſyl der Sternwarte zum Aufenthalt an. Hier weihte er Torm in ſeine ſchon längſt vorbereiteten Beſtrebungen ein, einen allgemeinen Menſchenbund zu gründen, der durch eine freiwillige Aufnahme der von den Martiern gebotenen Kulturmittel ſich von der Fremdherrſchaft der Martier unabhängig zu machen ſuchen ſollte. Von hier aus reichten die Fäden der durchaus nicht geheimgehaltenen Verbindung zu den führenden Geiſtern aller Kulturſtaaten. Hier entwarf Grunthe mit Torm den Aufruf mit dem Motto: ‚Numenheit ohne Nume!‘ Und ſie trafen damit einen Ton, der in der Seele der Völker widerhallte. In Millionen und Abermillionen Köpfen und Herzen waren dieſelben Gedanken, dieſelben Gefühle mächtig, es bedurfte nur der Anregung, um ſie zur lebendigen Bewegung auszulöſen. Das Wort war gefunden und geſprochen. Die Menſchen waren ja einig, weil ſie es ſein mußten; es war nur erforderlich, daß ſie es nun auch freiwillig ſein wollten. Nicht Verbrüderung aus Schwärmerei, ſondern gleiche Ziele aus Vernunft. Zahllos ſtrömten die Zuſtimmungen in den organiſierten Zentren der Vereinigung zuſammen. Es war klar, daß der Menſchenbund bald eine Macht werden mußte, mit der man zu rechnen hatte. Alle politiſchen und wirtſchaftlichen Parteien konnten ſich an der großen Kulturaufgabe beteiligen, die er ſich geſtellt hatte, mit Ausnahme einer extremen Gruppe, deren oligarchiſche Intereſſen vor dem bloßen Gedanken der Gleichberechtigung aller zurückſcheuten. Aber ihr Grollen war unſchädlich, weil ihr Einfluß auf die Regierung gebrochen war und die Verlockung fortfiel, welche ſo viele nach Macht und Karriere ſtrebende Kreiſe der Bevölkerung verleitet hatte, die kulturfremden, kavaliermäßigen Gewohnheiten nachzuahmen. Und ſelbſt Anhänger von Lebensanſchauungen, denen der Gedanke des Menſchenbundes anfänglich höchſt unſympathiſch geweſen war, begannen ſich damit zu befreunden. Der Fabrikbeſitzer Pellinger, der ſich leicht für alles begeiſterte, was einem verſöhnenden Ausgleich dienen konnte, hatte ſich den Beſtrebungen des Bundes eifrig gewidmet und gehörte bald zu den Vertrauensmännern Grunthes. Seine Vermutung, daß der Fremde, der auf der Sternwarte wohnte, niemand anders wie Torm ſei, war ihm bald zur Gewißheit geworden, als er ihm bei Grunthe begegnete. Er verbarg dies Grunthe nicht, und dieſer hielt es für das beſte, ihm gegen Zuſicherung der Verſchwiegenheit zu ſagen, daß Torm allerdings hier ſei, aber aus politiſchen Gründen ſich verſteckt halten müſſe. Herr von Schnabel ſetzte Pellingers Bemühungen, ihn für den Menſchenbund zu gewinnen, zuerſt hartnäckigen Widerſtand entgegen. Mit Leuten, die auf dem Standpunkt eines Ell ſtänden, könne er ſich nicht befreunden. Er liebte es, ſich als einen beſonderen Verteidiger der Ehre des verſchollenen Torm aufzuſpielen, indem er behauptete, daß Frau Torm durch Ell kompromittiert ſei, der ſich der Verantwortung in feiger Weiſe entzogen habe. Und da Torm nicht gegen Ell vorgehen könne, ſo müſſe wenigſtens, ſeiner Anſicht nach, jeder anſtändige Menſch ſich von Beſtrebungen fernhalten, die darauf hinführten, daß niemand mehr für ſeine Ehre mit der eignen Perſon eintreten könne. Die Gerüchte über Frau Torm ſeien noch immer nicht verſtummt, und wenn Torm da wäre, ſo müſſe er, ob es nun verboten ſei oder nicht, durch irgendeine Herausforderung Ruhe ſchaffen. Pellinger lachte ihn aus. Er könne ihn verſichern, daß alle dieſe Gerüchte auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältniſſe beruhten. Das ſei ganz gleichgültig, meinte Schnabel, man dürfe eben die Gerüchte nicht dulden. „So?“ ſagte Pellinger. „Und was, meinen Sie, würde dadurch gebeſſert werden, wenn Sie zum Beiſpiel dergleichen behaupteten und Torm Sie forderte? Ich will jetzt einmal gar nicht von dem unentſchuldbaren Frevel ſprechen, der in der kulturwidrigen Einrichtung des Zweikampfes ſelbſt liegt, ſondern die Sache rein praktiſch betrachten. Wird denn dadurch irgend etwas bewieſen? Würde man nicht erſt recht ſagen, es muß doch etwas Wahres dran ſein?“ „Jedenfalls würde man Achtung vor dem Mann bekommen.“ „Meiner Anſicht nach müßte man ihn verachten; denn er hätte eine unſittliche Handlung begangen. Ein Mann wie Torm kann auf die Achtung derer verzichten, die ſie an ſo verwerfliche Bedingungen knüpfen. Und ſo jeder Mann von ſittlichem Ernſt. Der ſchiene mir verachtungswert, der nicht ſeine eigne Würde und das Bewußtſein ſeines Rechts ſo hochſchätzte, daß ſie nicht gekränkt werden können durch das Gerede des Pöbels in Glacéhandſchuhen.“ „Na, na, Sie ſprechen da in einer Weiſe, die — die etwas eigentümlich —“ „Ja, Herr von Schnabel, ich habe mich auch überzeugt, daß wir alle mehr auf unſern eignen Wert und unſer freies Urteil bauen müſſen als auf die ſogenannte Anſicht der Geſellſchaft, die ſich auf Irrtümern aufbaut. Dadurch ſind wir im Begriff, den Wert dieſer Geſellſchaft zu heben. Es müſſen ſich diejenigen zuſammenfinden, die der Unabhängigkeit ihres Urteils ſich freuen. Das allein ſind die Gentlemen. Ich bin überzeugt, auch Sie werden ſich noch bei uns einfinden, wenn Sie ſich die Sache überlegen. Daß Torm ebenſo denkt, darauf kann ich Ihnen mein Wort geben.“ Herr von Schnabel ging einige Tage in verdrießlichen Gedanken umher. Auch Dr. Wagner war dem Menſchenbund beigetreten. Die Zahl derer, die ſeinen Anſichten beiſtimmte, wurde immer kleiner. Er wälzte Pellingers Worte hin und her. Endlich ſuchte er Grunthe auf. Es war ein langes Geſpräch, das ſie führten. Vornehmlich drehte es ſich um die Perſönlichkeit von Ell und die Ziele des Menſchenbundes. Als Herr von Schnabel die Sternwarte verließ, war er Mitglied geworden. Nicht irgendein beſonderes, durchſchlagendes Ereignis hatte ſeine Sinnesänderung bewirkt. Der Sieg des Idealismus übte eine aſſimilierende Kraft der Veredelung aus. 54. Auf der Sternwarte Es begann bereits zu dunkeln, als die beiden Freundinnen nach kurzer Wanderung bergab die Halteſtelle der elektriſchen Bahn erreichten. Sie nahmen ſogleich in dem bereitſtehenden Wagen Platz, der ſich nach wenigen Minuten in Bewegung ſetzte. Die helle Beleuchtung im Innern des Wagens verhinderte ſie, etwas von der anmutigen Gegend, durch die ſie fuhren, zu erkennen. Trotzdem verging ihnen die Zeit raſch, denn La war glücklich, zum erſtenmal von der leidenſchaftlichen Liebe und Sehnſucht ſprechen zu können, die ſie ſo lange ſtillſchweigend und duldend hatte im Herzen verbergen müſſen. Se hörte ihr teilnehmend zu, manchmal ſchüttelte ſie leiſe den Kopf, immer aber mußte ſie wieder mit Bewunderung auf die Freundin blicken, die mutig und entſchloſſen den unerhörten Schritt vom Nu zur Erde wagen wollte. Wenn ſie dann ihre Augen glückſtrahlend leuchten ſah, ſo konnte ſie nicht zweifeln, daß ſie alle Hinderniſſe ſiegreich zu überwinden wiſſen werde. Sie ſaßen allein in ihrem Wagenabteil und konnten darum ungeſtört miteinander plaudern. Und dabei fragte Se: „Eines, liebſte La, iſt mir doch noch bedenklich. Du ſagſt, zwei Jahre lang, zwei Menſchenjahre, haſt du ihn nicht geſehen, nicht direkt mit ihm verkehrt. Das iſt lange Zeit für einen Mann. Deiner biſt du ſicher, aber weißt du denn, wie es mit ihm ſteht? Ob er dich denn noch will? Haſt du nie dieſen Zweifel gehabt?“ „Niemals“, ſagte La entſchieden. „Niemals ſeit jenem Augenblick, da ich ihn unter Tränen in meinen Armen hielt, da ich ihm geſtand, daß ich ſein bin. Das war kein Spiel, das waren keine Küſſe und Liebesworte, die wie Frühlingsblumen im Sonnenſchein ſprießen und über Nacht im Strauß verwelken. Das wiſſen wir beide, die unſer Wiſſen um das Glück mit dem Wiſſen um das Elend erkauften, daß wir uns nie gehören können. O Se, du Kleinmütige, du weißt nicht, wie ſtolz die Liebe macht; ich weiß jetzt, wie man es werden kann. Glaubſt du, daß der vergeſſen kann, um den dieſe Augen aus Liebe weinten? Nein, ich bin La, ich bin ſeine La, und das denken wir beide zu jeder Stunde, denken’s und fühlen’s in tauſend Schmerzen, und ob wir es uns auch niemals wieder ſagen, wir zweifeln nicht.“ La ſchwieg und verſank in Träumerei. Sie ſchloß die Augen und wollte ſich nach ihrer Gewohnheit im Sitz zurücklehnen. Aber der unbequeme Hut erinnerte ſie ſogleich, wo ſie war. Se lächelte. „Ich habe mich ſchon lange darüber geärgert“, ſagte ſie, „daß dieſe Bahn ſo unbequeme Sitze hat. Bei mir gehen die kleinen Erdenleiden in keinem großen auf, und ich merke unter anderm auch, daß die heutigen Strapazen und Erregungen uns ganz ſchwach zur Friedauer Sternwarte werden kommen laſſen. Aber ich habe mich nicht wie heute früh auf die Erde verlaſſen, ſondern mir eine ganze Schachtel Energiepillen eingeſteckt.“ „Ich auch“ ſagte La und zog das Büchschen aus ihrem Reiſetäſchchen. „Ach ſieh doch“, neckte ſie Se. „Alſo hat das Zutrauen zu den ‚Geſelchten‘ doch ſeine Grenzen.“ „Närrchen, wozu haben wir denn unſre Vernunft? Doch nicht, um das Kleine über dem Großen zu vergeſſen, ſondern alles in ſeinem richtigen Verhältnis als Zweck und Mittel abzuwägen.“ „Aha, du ſprichſt ſchon im Grunthe-Ton. Da werden wir wohl bald da ſein, hier ſieht man bereits erleuchtete Straßen. Nun ſchnell die Pillen geſchluckt.“ Nicht lange darauf hielt der Wagen an der Endſtation. Die Fahrgäſte in den übrigen Abteilen des Wagens waren alle ſchon unterwegs ausgeſtiegen. Die beiden Martierinnen ſtanden allein auf der Straße und ſahen ſich ziemlich ratlos um. Der Wagenführer ſchaltete ſeine Lichter um und verſchwand in der benachbarten Reſtauration, um ſich in ſeiner kurzen Ruhepauſe zu ſtärken. Kein Menſch war auf der Straße ſichtbar. Der Boden war noch feucht und teilweiſe mit den Reſten des Gewitterregens bedeckt. Die breite, von Vorgärten begrenzte Straße endete hier in einem kleinen, mit Bäumen beſetzten Platz, von welchem dunkle Alleen nach drei Seiten ausgingen. Man konnte nicht erkennen, wo ſie hinführten, denn zwiſchen den dichtbelaubten Bäumen verſchwand das Licht der ſpärlichen Gasflammen, die ſie erhellten, und nur ſo weit konnte man ſehen, als die Strahlen der elektriſchen Bogenlampen an der Endſtation der Straßenbahn reichten. „So alſo ſieht es in Friedau aus“, ſeufzte Se. „Und das iſt noch eine Reſidenzſtadt! Wie mag es da erſt auf dem Lande ſein, wo —“ „Halte keine Reden“, unterbrach ſie La, „ſondern komm, die Sternwarte wird ſchon zu finden ſein.“ Sie ſpähte nach jemand aus, den ſie nach dem Weg fragen könnte. Eine Laterne tauchte in der Hauptſtraße auf, es war die eines Radfahrers, der in eine der Alleen einbog. „Dort hinaus muß alſo noch irgend etwas liegen, denn es fahren noch Menſchen hin“, ſagte La in unverwüſtlicher Laune. „Weißt du, wer das war?“ rief Se. „Als er bei der Bogenlampe vorüberfuhr, erkannte ich ihn. Es iſt derſelbe Menſch, der während des Gewitters bei dem Pavillon ſtand. Und — ich bin vorhin nicht dazu gekommen, mit dir darüber zu ſprechen — iſt dir nicht eine ſeltſame Ähnlichkeit aufgefallen?“ „Mit wem? Ich habe kaum auf ihn geachtet.“ „Mit Ismas Mann. Nach den Bildern. Ich bilde mir ein, es iſt Torm.“ „Wie töricht. Das würde doch Isma zuerſt wiſſen —“ „Wenn er aber Gründe hätte, ſich zu verbergen? Du haſt ja gehört —“ „Dann wäre er doch nicht nach Friedau gegangen, wo ihn jeder Menſch kennt.“ „Und niemand ſucht. Er ſieht jetzt nicht mehr ſo aus, wie er damals ausgeſehen hat. Ich glaube gern, daß ihn kein Menſch wiedererkennt. Der Bart iſt anders, das Haar ergraut, die Geſichtsfarbe gebräunt, die Wangen eingefallen — aber ich habe den Blick für den Charakter der Phyſiognomie, ich ſehe durch alle Veränderungen hindurch —“ „Aber warum ſollte er ſich vor ſeiner Frau verbergen?“ „Es iſt mir auch ein Rätſel. Immerhin wäre es ſonderbar, wenn es zwei ſo ähnliche Individuen gäbe. Doch ſieh, da kommt jemand.“ Der Wagenführer trat aus der Reſtauration. Seine Abfahrtszeit war gekommen. Auf Las Frage gab er den Damen bereitwillig Auskunft. Die Allee rechts, immer bergan, in ein paar Minuten kommt man an das Gitter. „Alſo die Allee, die dein Geiſtertorm hinaufgefahren iſt. Wären wir ihm nur gleich nachgegangen. Nun vorwärts“, ſagte La. Die Steigung war für die beiden Martierinnen beſchwerlich. Sie ſpannten jedoch ihre Schirme auf, und ſo kamen ſie bald vor das eiſerne Gittertor, das von einer Glühlampe beleuchtet wurde. Niemand war ihnen begegnet. „Es iſt furchtbar einſam hier“, ſagte La. „Das iſt noch das Beſte dabei“, ſagte Se. „Es iſt wenigſtens auch ſtill. Wie ſpät iſt es denn eigentlich?“ „Da oben leuchtet ja das Zifferblatt der Sternwartenuhr. Es iſt acht Uhr vorüber. Wir wollen ſchellen.“ Grunthe ſaß mit Torm, der ſoeben von ſeinem Ausflug zurückgekommen war, bei ihrem frugalen Abendeſſen, als ihm der Beſuch zweier Damen gemeldet wurde. Sein Aſſiſtent, der ſonſt die Beſucher der Sternwarte herumzuführen pflegte, war nicht anweſend, und es war ihm ſehr unangenehm, jetzt ſich ſtören zu laſſen, zumal durch Damen. Er ließ daher ſagen, er bedauere, aber die Sternwarte könne heute nicht gezeigt werden. Der Diener ging hinaus, kam jedoch nach einer Minute in großer Aufregung wieder herein. „Was gibt es denn?“ fragte Grunthe. „Zwei Damen vom Mars“, ſtammelte der Diener, indem er Grunthe ehrfurchtsvoll eine ſchmale, zierliche Karte überreichte. Sie war mit einer Nadel durchſtochen, an der eine kleine goldene Medaille hing. Dieſe Medaille war es, die den Diener in Aufregung verſetzt hatte. Jeder kannte dieſen Weltpaß der Nume, das Wappen des Mars auf der einen Seite, auf der andern die Worte: ‚Im Schutze des Nu.‘ Sie öffnete dem Beſitzer alle Türen. „Nume?“ ſagte Grunthe verwundert zu Torm. Er betrachtete die Karte. Sie trug keinen Namen, ſondern nur die flüchtig hingeſchriebenen martiſchen Zeichen: „Die Pflegerinnen von Ara bringen ſich in Erinnerung.“ Grunthes Stirn zog ſich zuſammen. Seine Lippen bildeten das in Klammern geſetzte Minuszeichen. So las er noch einmal die Karte. Dann löſten ſich ſeine Züge wieder zu einem höflicheren Ausdruck, und er ſagte zu dem Diener: „Ich bitte in die Bibliothek. Ich werde gleich kommen.“ „Es ſind La und Se“, ſagte er dann zu Torm, „die beiden Nume, die Saltner und mich nach unſerm Sturz gepflegt haben. Ich bin ihnen zu großem Dank verpflichtet. Ich muß ſie empfangen. Wollen Sie mitkommen?“ „Es würde mich intereſſieren. Dieſe La war ſehr freundlich gegen meine Frau während ihres Aufenthalts auf dem Mars. Aber ſie iſt auch eine Freundin Ells. Man weiß nicht, was ſie herführt. Hören Sie erſt, was ſie wollen.“ „Sie können nun einmal Ihr Mißtrauen nicht loswerden. Doch wie Sie wünſchen.“ Torm warf einen Blick durchs Fenſter. „Es iſt klar geworden“, ſagte er. „Ich will verſuchen, am großen Refraktor einige Platten zu exportieren. Die Damen kennen mich nicht, dort im Dunkeln können ſie mich überhaupt nicht erkennen. Wenn Sie ſie herumführen, könnte ich ſie mir dort einmal —; übrigens, nun fällt mir ein, vielleicht habe ich die Damen ſchon geſehen, heute, an der ſchönen Ausſicht bei Tannhauſen —. Dort waren zwei Martierinnen, und kurz vorher ſah ich ein merkwürdiges Luftſchiff aufſteigen —; nun aber gehen Sie, wir werden ja ſehen.“ Grunthe betrat die Bibliothek mit einem möglichſt liebenswürdigen Geſicht, ſogar ein Lächeln machte einen Anlauf zum Erſcheinen, verunglückte aber in ſeinen erſten Zügen. La und Se enthoben ihn der Schwierigkeit, ihnen die Hand zu reichen, indem ſie ihn auf martiſche Weiſe begrüßten. Es gab bald ein lebhaftes Geſpräch und kurze Erkundigungen und Erklärungen herüber und hinüber. Grunthe wollte ausführlich auf die wiſſenſchaftlichen Ergebniſſe zu ſprechen kommen, die er mit Hilfe der Mitteilungen gewonnen hatte, die ihm La vom Mars aus hatte zukommen laſſen, aber La ging nicht darauf ein, ſie fragte direkt nach Saltner. „Ich will Ihnen mitteilen, was wir wiſſen“, ſagte ſie. „Er iſt in Bedrängnis, man wird ihn dieſer Tage mit Hilfe von Luftſchiffen ſuchen und gefangennehmen. Ich bin aber von ſeiner Unſchuld überzeugt.“ Grunthe wurde ſehr ernſt. Er wagte es ſogar, La jetzt anzuſehen und erkannte in ihren Zügen die Aufrichtigkeit der Teilnahme und die herzliche Sorge um den Freund. „Es iſt für Saltners Freunde“, ſagte er, „eine Freude, ein ſolches Wort zu hören. Ich weiß, daß auch Ell ihm gerne helfen würde, wenn er dürfte, aber er iſt durch ſeine Amtspflicht gebunden. Leider kann Ihre Überzeugung, ſelbſt wenn ſie nachträglich vom Gericht geteilt werden ſollte was ich bezweifle, Saltner nichts nützen. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ſeine Lage eine verzweifelte iſt. Er ſelbſt würde ſich ja ſchließlich auch über die Verhaftung und das Urteil hinwegzuſetzen wiſſen. Aber Sie wiſſen, wie er an ſeiner Mutter hängt. Und damit verknüpft ſich ſein Geſchick. Die alte Dame würde eine nochmalige Gefangennahme nicht überleben, das iſt Saltners Sorge. Und ihr Zuſtand geſtattet ihm nicht, ſeinen Zufluchtsort aufzugeben und etwa, was ihm ſonſt vielleicht gelingen könnte, ſich am Tag in den Wäldern zu verbergen und in der Nacht auf unwegſamen Kletterpfaden in Sicherheit zu bringen. Wir ſehen daher keinen Weg vor uns, wie dieſe Gefahr vermieden werden könnte. Vielleicht ſchon morgen geſchieht das Traurige.“ „Morgen?“ unterbrach ihn La erſchrocken. „Was wiſſen Sie?“ „Ich erhielt heute eine Depeſche von einem ſeiner Freunde. Zwei Luftſchiffe ſind zu ſeiner Aufſuchung ausgeſchickt. Sie ſollte ſchon heute beginnen. Das Wetter, das die Berge in Wolken hüllt, verhinderte ſie jedoch. Wenn es morgen klar wird — und die Wetterkarte läßt es vermuten —“ „Können Sie mir ſagen, wo Saltner ſich aufhält?“ „Genau wiſſen es nur wenige Eingeweihte. Wir wiſſen nur, was auch den andern bekannt iſt, in den Bergen, die ſich ſüdlich vom Etſchtal oberhalb Bozen, etwa nach dem Nonsberg, hinziehen, in einer der dort befindlichen Hütten — hier können Sie die Spezialkarte ſehen.“ La ließ ſich die Karte erklären. „Können Sie mir die Karte leihen?“ fragte ſie. „Recht gern. Aber was wollen Sie damit?“ „Ich ſagte Ihnen ſchon, ich bin mit meiner Freundin auf einer Reiſe durch Europa. Vielleicht ſehe ich mir dieſe Gegend einmal an. Übrigens war ich ſo frei, mein Luftſchiff hierher zu beſtellen, um uns abzuholen. Es müßte eigentlich ſchon hier ſein. Frau Torm ſagte uns, daß Sie ſelbſt hier im Garten gelandet ſeien, ſo glaubte ich —“ La hatte ruhig geſprochen. Jetzt trafen ſich ihre Blicke mit denen Grunthes, ſie ruhten eine Weile ineinander. Dann legte Grunthe ſchweigend die Karte zuſammen und überreichte ſie La. „Wünſchen Sie eine Empfehlung an einen Kenner der dortigen Gegend?“ fragte er. „Sie dürften dort als Nume wenig Entgegenkommen finden.“ „Wir brauchen keinen Führer“, erwiderte La. „Wir ſchweben ja über den Höhen, da genügt uns die Karte. Ich danke Ihnen.“ Sie erhob ſich. „Wollen Sie nicht einen Gang durch unſere Arbeitsräume tun? Von der Plattform aus würden wir die Ankunft Ihres Schiffes am beſten bemerken.“ Sie durchſchritten mehrere Zimmer und betraten den Rundgang. Hier und da ſprach Grunthe einige erklärende Worte. „Sie ſehen“, ſagte er, „wie wir uns Mühe geben, von Ihnen zu lernen. Vieles hatte Ell bereits eingerichtet, ehe wir etwas von den Numen wußten. Ich habe mich freilich ſchon damals gewundert, wie er auf ſo viele neue Feinheiten hatte kommen können.“ An einer Stelle war die Seitenwand weit auseinandergeſchoben. An dem dort befindlichen, auf den Sternenhimmel gerichteten Inſtrument war Torm beſchäftigt. Er verbeugte ſich flüchtig, ohne ſich ſtören zu laſſen. Se beobachtete ihn ſcharf, ſoweit es die matte Beleuchtung geſtattete, während ſie ſcheinbar das Werk einer in der Nähe ſtehenden Uhr ſtudierte. „Wiſſen Sie“, ſagte ſie plötzlich laut zu Grunthe, „daß wir Frau Torm beinahe mitgebracht hätten? Wir waren mit ihr im Wald, nur mußte ſie leider nach Berlin zurück. Haben Sie denn etwas von den Gerüchten gehört, daß Torm wirklich zurückgekehrt ſei und ſich nur, man weiß nicht warum, hier verborgen halte? Wir haben mit Frau Torm natürlich nicht davon geſprochen, aber Sie können wir ja doch fragen.“ Torm hatte ſich bei Ses Worten tief auf das Inſtrument gebeugt, und Se ſah deutlich, wie ſeine Hand an der Schraube des Apparats zitterte. „Welches Gerücht?“ fragte Grunthe, als hätte er nicht recht gehört. In dieſem Augenblick erhellte ſich die Gegend plötzlich wie von Sonnenlicht, und durch die geöffnete Wand drang auf kurze Zeit ein tagheller Schein. „Das Luftſchiff“, rief La und blickte zum Fenſter hinaus, während Se ihren Blick auf Torm gerichtet hielt, der ſich ſchnell entfernte. „Der Schiffer beleuchtet ſeinen Landungsplatz.“ „Und meinem Aſſiſtenten hat er die Aufnahme verdorben“, ſetzte Grunthe hinzu. „Das tut mir ſehr leid“, ſagte La. „Aber wir wollen Sie auch nicht länger ſtören. Würden Sie jetzt die Güte haben, uns in den Garten zu führen?“ Als La und Se mit Grunthe den Garten betraten, lag das Schiff ſchon auf dem Raſenplatz. Nur zwei kleine Lichter machten es im Dunkel kenntlich. Grunthe konnte die freundliche Einladung nicht abſchlagen, die Yacht zu beſichtigen und einen Augenblick im Salon Platz zu nehmen. Se ſetzte ſich ihm gegenüber, und ihn offen anblickend begann ſie: „Nun will ich Ihnen auch einmal etwas auf den Kopf zuſagen, Grunthe. Dieſer Mann, den ſie Ihren Aſſiſtenten nannten, war Hugo Torm, und Sie wiſſen es. Warum ſteckt er hier im Verborgenen? Warum iſt er nicht bei ſeiner Frau, die ihn für tot hält? Warum läßt er ſie in ihrem Harm ſitzen? Und das dulden Sie? Das iſt ja ganz unerhört. Und nun reden Sie die Wahrheit.“ Grunthe ſaß ſtumm mit eingezogenen Lippen. „Sie wollen nicht reden?“ fragte Se. „Ich darf nicht. Es ſind nicht meine Geheimniſſe.“ „Ach, alſo Torms! Das Zugeſtändnis genügt. Und billigen Sie dies Verhalten?“ „Nein.“ „Warum benachrichtigen Sie nicht Frau Torm?“ „Das geht mich nichts an. Davon verſtehe ich nichts. Das muß ich Torm überlaſſen.“ „Und ſeine Gründe? Er muß Ihnen doch Gründe angegeben haben.“ „Ich kann nichts ſagen.“ „So werde ich Isma —“ „Ich bitte Sie“, unterbrach ſie Grunthe, „Sie können nicht wiſſen, ob das gut wäre. Nehmen Sie an, er ſtünde unter dem Druck einer Schuld, oder glaubte es wenigſtens — er würde ſeine Frau nur ins Unglück ſtürzen, wenn er jetzt käme, oder er ſcheue ſich, vor ſie als ein Ausgeſtoßener zu treten, aber er hoffe, daß der Makel noch von ihm genommen werden könnte, in einiger Zeit —. Nehmen Sie an, er warte nur noch Nachrichten ab. Eine vorzeitige Mitteilung könnte alles verderben —“ „Nehmen wir an, was wir wollen“ hub jetzt La an, „hier gibt es gar keine andre Wahl, als die Frau in dieſes Geheimnis zu ziehen, und ſie kann dann entſcheiden —. Ihr haltet das wahrſcheinlich für beſonders edel, daß der Mann die inneren Kämpfe in ſich ausficht und die Frau aus Schonung in der Angſt der Ungewißheit läßt, weil ihr denkt, ſie könnte ſich wieder durch rückſichtsvolle Gefühle beſtimmen laſſen, das zu tun, was ſie eigentlich nicht will. Zartgefühl nennt ihr’s, und Hochmut iſt es, weiter nichts. Der Hochmut, daß ihr allein ſo außerordentlich fähig ſeid zu beurteilen, wo und wieweit man ſich aufopfern darf. Das kommt aber alles davon, weil ihr nicht wißt, was Freiheit iſt; Freiheit, die das Gefühl anerkennt, wie es wirklich iſt, aber nicht es zurechtſtutzt, wie es euch verſtändig ſcheint. Und weil eure Vernunft zu blöde iſt, um dieſes ganze Gewirr von Gefühl und Berechnung zu durchſchauen ſo verderbt ihr das Leben aus lauter Edelmut in der ſchönſten Selbſtlüge.“ „Ich verſtehe nichts davon“, ſagte Grunthe wiederholt, indem er aufſtand. „Ich will nichts damit zu tun haben, das ſind Sachen, die ſich nicht berechnen laſſen. Ich bitte nur, wahren Sie ein Geheimnis, das nicht das Ihrige iſt, wie auch ich es tue.“ „Das verſteht ſich von ſelbſt“, erwiderte Se. „Wir können nur von dem Gebrauch machen, was wir mit eignen Augen geſehen haben.“ „Leben Sie wohl“, ſagte Grunthe. „Und möge Ihre Reiſe zum Ziel führen.“ „Sie werden uns in jedem Fall nächſte Nacht wieder hier ſehen. Dürfen wir in Ihrem Garten übernachten?“ „Selbſtverſtändlich. Indeſſen — ich kann mich nicht darum kümmern.“ „Das beanſpruchen wir nicht“, ſagte La lächelnd. „Wenn wir aber vielleicht Gäſte mitbringen, die mit Ihnen ſprechen möchten, wie können wir Sie von unſrer Ankunft benachrichtigen?“ „An der Tür, die vom Garten nach dem Haus führt, iſt eine Klingel. Wir werden wahrſcheinlich die nächſte Nacht durcharbeiten, wenn es klar iſt.“ „Es wird klar werden“, ſagte La, indem ſie jetzt Grunthe die Hand reichte. Er nahm ſie, er drückte ſie ſogar ein wenig. Dann ging er mit ſteifen Schritten aus der Tür. La ſah ihm nach. „Ich fürchte“, ſcherzte Se, „den haſt du auch erobert. Er hat dir ja beinahe die Hand gedrückt.“ „Ja“, ſagte La, „er hat ſich gebeſſert. Aber im Ernſt, er iſt einer von den Menſchen, die wert wären, auf dem Nu geboren zu ſein. O Se, wenn es Gott gäbe, daß wir morgen hier alle zuſammen ſind!“ „Laß uns hoffen und ruhen. Wir haben einen ſchweren Tag vor uns.“ „Ich will nur noch mit dem Schiffer ſprechen. Eine Stunde vor Sonnenaufgang wollen wir aufbrechen.“ Alle Luken wurden geſchloſſen, die Lichter gelöſcht. Dunkel und verſchwiegen lag das Schiff auf dem Raſen, verborgen von den hohen Bäumen des Parks. Ein fernes Wetterleuchten zuckte zuweilen im Norden, im Süden aber, alle Sterne überſtrahlend, zog der rötliche Mars ſeine Bahn in ruhigem Licht. 55. In höchſter Not Der getreue Palaoro war in der Nacht auf das Gebirge geſtiegen, um Saltner die Nachricht zu bringen, daß zwei Luftſchiffe in Bereitſchaft ſeien, ihn zu ſuchen. Dieſe Nachforſchung konnte nur dadurch geſchehen, daß die Luftſchiffe Tal für Tal und Berghalde für Berghalde abſuchten und jedes einzelne Häuschen, jede Hütte anliefen, um ſich die Inſaſſen anzuſehen. Dies war allerdings eine umſtändliche Sache, doch war das Gebiet, um das es ſich handelte, in beſtimmter Weiſe eingeſchränkt. Denn alle Täler, die den Gebirgsſtock umgaben oder aus ihm herausführten, waren ſogleich am Tag nach Saltners Flucht abgeſperrt worden, die hier zerſtreut liegenden Ortſchaften waren beſetzt, und es wäre nicht möglich geweſen, ſie unentdeckt zu paſſieren. Ein einzelner Gebirgsſteiger, wie Saltner, hätte ſich wohl vorüberſchleichen können, nicht ſo eine Geſellſchaft, in der Saltners Mutter ſich befand. Denn dieſe mußte entweder reiten oder getragen werden, war alſo auf die gangbaren Wege angewieſen. Die Hütten, welche in Betracht kamen, waren entweder Unterſtandshütten für Touriſten, oder es waren Sennhütten oder Zufluchtsorte für Hirten. Sie lagen ſtets an hervorragenden Punkten oder offen auf Wieſen und Almen, ſo daß ſie von der Höhe aus leicht wahrgenommen werden konnten. Wollte Saltner für ein Luftſchiff unentdeckbar bleiben, ſo konnte es nur dadurch geſchehen, daß er ſich in den Wald flüchtete, der die Abhänge der Bergrücken bedeckte. Da am erſten Tag nach Palaoros Ankunft des dichten Nebels wegen auf den Bergen noch keine Gefahr der Entdeckung vorlag, brach Saltner mit dem Führer auf, um in den Wäldern eine paſſende Unterkunft zu ſuchen. Die Hütten, die ſich hier für Köhler und Holzſchläger errichtet fanden, waren allerdings höchſt primitiver Art. Es gelang ihnen aber, doch einen Bau aufzufinden, der ſich durch einige Arbeit wenigſtens für den Notfall bewohnbar machen ließ. Sie ſetzten dieſe ärmliche Wohnung, ſo gut es ging, inſtand und kehrten abends nach der ſogenannten Kleinen Hütte zurück. In der Nacht wäre es nicht möglich geweſen, Frau Saltner in das abgelegene Tal durch den Wald zu transportieren, da ſie getragen werden mußte. Sie beſchloſſen alſo, es am Tag zu wagen. Gefährlich für die Entdeckung war dies freilich, denn es mußte ein weites, baumloſes Plateau, dann eine ſteile Schutthalde und ein Felsabſtieg paſſiert werden, ehe man in den Wald gelangte. Sie hofften, daß der Nebel noch anhalten werde. Vor Sonnenaufgang verließ Saltner die Hütte und beſtieg den Bergrücken, der den Blick nach Norden und Weſten geſtattete. Hinter den Zacken der Dolomiten ſtrahlte der Himmel in leuchtendem Rot. Ein Meer von weißen Nebeln wogte in den Tälern, und nur die Gipfel der Berge blickten wie Inſeln aus ihm hervor. Roſig glühten die Schneerieſen im Weſten, und ihre höchſten Häupter glänzten bereits im Sonnenlicht. Saltner ſpähte nach der Gegend, wo Bozen unter Nebeln verborgen lag. Und da — ſiehe —, aus den weißen Wolken tauchten zwei dunkle Punkte auf, deutlich hoben ſie ſich jetzt gegen den hellen Himmel ab. Er richtete ſein Fernglas darauf. Es war kein Zweifel, es waren die beiden Luftſchiffe, die ſich zu ſeiner Verfolgung aufmachten. Er eilte den Berg hinab. „Wir müſſen fort“, ſagte er zu Palaoro. „Sie ſuchen uns, und der Tag wird klar werden. Aber ſie fahren nach Südoſt, wir werden alſo noch Zeit haben, ehe ſie bis hierher kommen. Für den Anfang ſteigen auch die Nebel noch herauf, wir müſſen ſehen, daß wir zur rechten Zeit Deckung finden.“ Der Zug ſetzte ſich in Bewegung. Saltner und Palaoro trugen den Tragſtuhl mit Frau Saltner. Katharina ſchritt, ebenfalls mit Gepäck beladen, hinterher. Es ging die Bergwand im Südweſten hinauf, dann über ein weites Plateau. Man kam nur langſam vorwärts. Oft mußte geruht werden. Endlich waren die Felſen am Rande des Plateaus erreicht, das ſich von hier mit einer ſteilen Schutthalde in ein Tal hinabſenkte. Dieſes mußte paſſiert werden, um den Bergrücken auf der gegenüberliegenden Seite zu gewinnen. Von dort führte der Weg durch eine Scharte zwiſchen zwei Gipfeln nach einem zweiten, engeren Tal, deſſen waldbedeckte Abhänge ſicheren Schutz boten. In dem erſten Tal zogen ſich die Nebel jetzt bis dicht an den Rand des Plateaus. Ehe die kleine Expedition den ſchmalen, aber verhältnismäßig leicht gangbaren Pfad betrat, der hier hinabführte, ſpähte Saltner noch einmal nach den Schiffen aus, ohne eine Spur von ihnen bemerken zu können. Dann bedeckten die Nebel die Flüchtigen. Bevor der neue Aufſtieg begann, wurde eine Ruhepauſe gehalten und dann mit neuen Kräften vorwärts geſchritten. Es waren gegen vier Stunden ſeit dem Aufbruch vergangen, als ſie aus den Talnebeln herausſtiegen und ſich anſchickten, die Höhe zu paſſieren. Man hatte hier wieder einen weiten Umblick nach Weſten und Süden. Plötzlich blieb Palaoro ſtehen. „Sie kommen“, rief er aus. Er hatte in der Ferne, im Süden, einen dunkeln Punkt bemerkt, den nun Saltners Glas als Luftſchiff nachwies. „Sie nähern ſich“, ſagte Saltner, „aber ſie haben ſich getrennt — es iſt nur ein Schiff.“ „Sie werden von zwei verſchiedenen Seiten anfangen. Dieſe wollen wahrſcheinlich hinüber nach den Hütten am Laugen. Hier können wir nicht weiter, in wenigen Minuten müſſen ſie uns ſehen. Wir müſſen den Berg zwiſchen uns bringen. Sie werden vorläufig jedenfalls auf der Südſeite bleiben.“ Man bog nach rechts ab und war bald durch die aufſteigenden, mit Raſen und verkrüppelten Fichten bedeckten Felsabhänge des Bergrückens gegen das herannahende Schiff gedeckt, ſo lange es ſich nicht über den Gipfel erhob. Es war aber anzunehmen, daß die Martier zunächſt die Abhänge im Süden abſuchen würden. Der beſchwerliche Weg führte nun bergab nach einem Felsriegel zu, von dem aus ſich eine Schlucht in das Tal hinabzog. Doch war es fraglich, ob dieſe von einem Wildbach durchſtrömte, in ſteilen Abſtürzen niedergehende Schlucht paſſierbar ſein würde. Dies mußte zunächſt unterſucht werden. Das Ende des Felsriegels, der nach Norden faſt ſenkrecht etwa hundert Meter abſtürzte, war mit hohen, flechtenbedeckten Fichten beſtanden und bot unter dieſen und zwiſchen den Felstrümmern einen vorläufigen Zufluchtsort. Hier wollte Saltner die Frauen verbergen, während Palaoro einen Weg nach dem Tal auskundſchaften ſollte. Es galt nur noch die kurze Strecke über den kahlen Rücken bis zum Beginn des Waldes zu durchqueren. Vielleicht noch hundert Schritte bergab trennten die Flüchtigen von dem ſchützenden Dickicht, als ſie vor ſich, nach Norden, über den dort hervorragenden Berggipfeln ebenfalls einen Punkt bemerkten, der unzweifelhaft ein Luftſchiff war. „Dort iſt das andere Schiff“, rief Palaoro. So ſchnell, als es möglich war, durchliefen ſie die kurze Strecke und ſuchten einen geſchützten Platz unter den hohen Stämmen. Die Sonne ſchien warm auf die harzduftenden Nadeln, in langen Bändern hingen die graugrünen Flechten von den Äſten, und der aus Felstrümmern beſtehende Boden war mit weichem Moos bedeckt. Man hob Frau Saltner aus dem Stuhl, und die Frauen ruhten an geſchützter Stelle in der ſtillen, ſonnendurchwärmten Luft, während Saltner und Palaoro bis an den Rand des Abſturzes vorgingen, um vorſichtig nach dem vermuteten Feind auszuſpähen. „Es iſt mir nicht recht erklärlich“, ſagte Saltner, „warum dieſes Schiff einen ſo ſeltſamen Weg eingeſchlagen hat, daß es jetzt von Norden kommt. Aber gleichviel, wenn ſie uns nicht auf dem Weg hierher erkannt haben, ſind wir vorläufig ſicher.“ „Sie können uns ſchon geſehen haben. Sie kommen ja gerade auf uns zu.“ „Leider. Sie haben die urſprüngliche Richtung geändert. Man möchte wirklich glauben, daß ſie hierher wollen. Ach, ſie ſteigen in die Höhe und ſpannen die Flügel auf, ſie werden eine Landung verſuchen.“ „Wenn ſie wirklich uns geſehen haben und hier in das Wäldchen wollen, ſo können ſie nur draußen auf dem Bergrücken landen, von wo wir gekommen ſind. Sonſt können ſie nirgends heran, das verhindern die Bäume.“ „Kommt, Palaoro. Wir wollen nach der andern Seite gehen, hier iſt nichts zu tun und nichts zu befürchten. Das Schiff iſt ſo hoch, daß man es nicht mehr ſehen kann, ohne zu weit aus den Bäumen zu treten. Was tun wir nun, wenn ſie landen?“ „Wir ſteigen in die Schlucht hinunter, ſo weit es geht. Nachklettern werden ſie uns nicht. Bleiben Sie bei der Frau Mutter, und ziehen Sie ſich inzwiſchen nach der Schlucht zu. Kathrin kann hier den Stuhl ein Stück tragen. Ich ſehe inzwiſchen nach dem Schiff.“ Saltner brachte ſeine Mutter mit Hilfe der Magd bis an die Stelle, wo die Schlucht begann. Hier kletterte er ſelbſt weiter, um den Weg zu unterſuchen. Es ging zunächſt ſteil bergab, aber es ſchien ihm möglich, doch noch hier herabzukommen. Nach einer kurzen Strecke erweiterte ſich die Schlucht zu einem kleinen, von faſt ſenkrechten Wänden umgebenen Felskeſſel. Den nahezu ebenen Boden, auf dem ein kleines Bächlein entſprang, bedeckte kurzer Raſen. Im Sonnenſchein funkelten die Waſſertropfen auf den Halmen, kleine blaue Schmetterlinge und weißſchimmernde große Apollofalter ſpielten in dieſem ſtillen Winkel. Die Quelle rieſelte als ſchmales Rinnſal der Felswand zu, die ſie in einer kleinen Klamm durchbrach. Aber die Neigung war gering, Saltner ſchritt durch das ſeichte Waſſer und überzeugte ſich, daß ſich dahinter der Boden des Tales erweiterte. War man einmal bis hierher vorgedrungen, ſo mochte der weitere Abſtieg wohl gelingen. Nun beeilte er ſich zurückzukehren. Er hatte etwa zwei Drittel des Aufſtiegs kletternd zurückgelegt, als er zu ſeinem Erſtaunen von Baum zu Baum ein Seil nach oben hin ausgeſpannt fand. Bald begegnete ihm Palaoro, der Frau Saltner auf einem Arm trug, während er ſich mit Hilfe des Seiles vorſichtig den ſteilen Abhang hinabarbeitete. Ihm folgte Katharina. Ohne ein Wort zu ſprechen unterſtützte Saltner den Abſtieg, bis ſie das Ende des Seils erreicht hatten. Hier ſetzte Palaoro Frau Saltner nieder und ſagte zu ihr beruhigend: „Hier ſind ſie ganz ſicher, die dreißig Meter können die Herren Martier nicht herabkraxeln. Wir wollen nur das Seil holen.“ Er winkte Saltner und beide ſtiegen wieder den Berg hinauf. Kurz vor der Höhe blieb Palaoro ſtehen und berichtete Saltner das Geſchehene. Als er vorhin den Rand des Waldes erreicht hatte und die kahle Berglehne nach oben überſehen konnte, habe er das von Norden gekommene Luftſchiff bemerkt, das mit ausgebreiteten Schwingen im Segelflug langſam über der Höhe ſchwebte. Es ſei ein ganz beſonders großes, ſchönes Schiff geweſen. Da ſei von der andern Seite das kleine Regierungsſchiff, das er als das Schiff des Unterkultors in Wien erkannte, ſchnell herbeigekommen und hätte dem andern Schiff Signale gemacht, die er nicht verſtand. Darauf hat das große Schiff die Flügel eingezogen, und er hat nicht ſehen können, was aus ihm geworden, da es hinter den Bäumen verſchwunden iſt. Das kleine aber iſt dicht vor dem Wald auf dem Bergrücken gelandet. Nun iſt der Pitzthaler, der Grenzjäger, aus dem Schiff geklettert und nach dem Wald gegangen. Wie er geſehen hat, daß es der Pitzthaler iſt, hat er ſich langſam zurückgezogen, und wie die vom Schiff aus den Pitzthaler hinter den Bäumen nicht mehr ſehen konnten, iſt er ihm ſo wie zufällig entgegengegangen. Hat ihn nun der Pitzthaler gefragt, ob er nicht hier herum den Herrn Saltner geſehen hat, der ſollt’ mal gleich auf das Schiff kommen, denn ſie hätten von oben bemerkt, wie er um den Berg herumgegangen ſei, und da könnt’ er jetzt nirgends anders ſtecken als hier im Wald. Da hätte er geantwortet, das wollte er dem Herrn Saltner ſchon ſagen, wenn er ihn halt zufällig hier treffen täte, wenn aber der Herr Saltner nicht käme, was ſie dann wohl tun würden. Dann würden ſie den Wald hier beſetzen, daß er nicht herauskönnte, und er und der Verpailer, der auch mit wäre, die müßten ihm halt nachgehen und ihn herausholen, denn ſonſt kämen ſie um ihr Brot. Er hätte ſich aber am Fuß was vertreten und könnte nur langſam den Berg herunterſteigen. Und darauf wäre der Pitzthaler wieder zurückgegangen. Nun ſei er erſt wieder bis an den Waldrand geſchlichen und habe geſehen, wie der Herr Unterkultor und vier Beds mit Glockenhelmen aus dem Schiff gekraxelt und mit den beiden Grenzjägern nach dem Wald zu gegangen ſeien. Da ſei er raſch zurückgeſprungen, habe das Seil ausgeſpannt und ſei mit den Frauen herabgeſtiegen. Und er hat noch geſehen, wie die Grenzjäger mit den Martiern erſt nach der andern Seite gegangen ſind. Während des Berichts löſten Saltner und Palaoro das Seil und ſtiegen die Schlucht wieder hinab. Sie beſchloſſen, ſich bis in den Felskeſſel hinabzuziehen und dort des weiteren zu warten. Beide hofften, daß ihnen die Grenzjäger nicht ſogleich folgen, ſondern die Martier unter irgendeiner Ausrede mit der Verfolgung hinhalten würden. Mit vielen Beſchwerden gelang es, den übrigen Teil des Weges zurückzulegen. Sobald ſie hinter dem nächſten Felsblock hervortraten, befanden ſie ſich am Rand der kleinen Wieſe. Saltner trug jetzt ſeine Mutter, Palaoro ging voran. Er ſtand am Eingang zum Keſſel. Da ſprang er zurück. Erſchrocken winkte er Saltner. Dieſer ſetzte ſeine Mutter ſanft nieder und ſprang zu ihm. „Was gibt es?“ fragte er leiſe. „Das große Luftſchiff liegt auf der Wieſe“ flüſterte Palaoro. „Um Gottes willen! So ſind wir verloren. Wir ſind von beiden Seiten eingeſchloſſen.“ Er warf einen Blick auf die ſeitlichen Abſtürze der Schlucht, der ihn belehrte, daß hier ein Entkommen mit den Frauen nicht denkbar ſei. Ratlos blickten die Männer ſich an. „Habt Ihr Leute bei dem Schiff geſehen?“ fragte Saltner. „Ich hab mir gar nicht Zeit genommen“, antwortete Palaoro. „Sie müſſen von oben geſehen haben, daß hier der einzige Ausweg iſt, und haben ihn verlegt. Wenn ſie ſich jetzt hier umſchauen, müſſen ſie uns finden, auch wenn die von oben nicht herabkommen. Bergauf werden die Nume nicht ſteigen, aber vielleicht haben ſie auch Grenzjäger bei ſich. Wir wollen wenigſtens das kleine Stückchen zurück bis dort zwiſchen die beiden Felſen.“ „Es iſt auch nur für den Augenblick“, ſagte Saltner, „aber wir wollen es tun. Möglich wäre es ja, daß die Grenzjäger nicht ſehen wollen und vorbeiziehen, wahrſcheinlich freilich nicht, es iſt zu klar, daß wir hier ſtecken müſſen. Ich werde mir dann das Schiff anſehen, und wenn es nicht anders iſt —“ „Ergeben?“ ſtammelte Palaoro. „Ihr nicht, das hat keinen Zweck. Ihr könnt hier an der Seite hinaufklettern. Ich aber kann die Frauen nicht verlaſſen.“ Er lehnte einen Augenblick wie gebrochen an dem Felſen. „O meine Mutter!“ flüſterte er. Dann ging er zurück zu den Frauen. „Ich muß euch noch ein paar Minuten hierlaſſen“, ſagte er. „Dort zwiſchen den Felſen wirſt du beſſer ſitzen. Es iſt noch ein Hindernis drunten, hoffentlich läßt es ſich beſeitigen.“ „Du mein lieber Joſef, was ich dir für Mühe mache. Aber wenn ſie uns wieder fangen, das iſt zu ſchrecklich“, antwortete Frau Saltner. Bald waren die Frauen untergebracht. „Ich gehe jetzt“, ſagte Saltner, ſich beherrſchend. „Ängſtige dich nicht, Mutter.“ Er küßte ſie. „Aber du kommſt bald wieder?“ „Gott wird helfen.“ Saltner warf noch einen Blick zurück. Dann ſchlich er bis an den Felsblock, der den Eingang zur Waldblöße deckte. Von oben konnte man ihn nicht mehr ſehen. Ein moosbedeckter Vorſprung am Felſen bildete eine natürliche Bank. Hier ließ er ſich einen Augenblick nieder, um noch einmal zu bedenken, was er tun ſolle. Es war nichts zu tun. Hierbleiben konnte er nicht. Vorüber konnte er auch nicht. Er mußte ſich gefangengeben. Auch das wäre ihm zuletzt gleichgültig geweſen. Aber die Mutter! Sie überlebte den Schrecken nicht. Das war das Ende! Und nun war alles verloren. Keine Rettung. „Gnädiger Gott, hilf uns“, ſagte er leiſe. „Doch Dein Wille geſchehe.“ Er erhob ſich, er wollte um die Ecke des Felſens nach dem Schiff ausſpähen. Da war es ihm, als hörte er leiſes Raſcheln der dürren Zweige, die den Moosboden bedeckten. War es eine Eidechſe? Kam jemand? Er zögerte einen Augenblick. Die Spalte neben dem Felſen, durch welche das Sonnenlicht in den Wald blickte, verdunkelte ſich. Eine Geſtalt ſtand vor ihm. Er richtete ſich hoch auf. Das Herz ſchlug ihm, wie ein Nebel legte es ſich vor ſeinen Blick. Wer war das? Unter dem Schatten eines breiten Hutes leuchteten ihm zwei Augen entgegen, glückſtrahlend, ſonnenhaft. Schweigend ſtanden ſich beide gegenüber, bis es leiſe; zögernd, als fürchte er, aus einem Traum zu erwachen, über Saltners Lippen kam, eine einzige Silbe: „La!“ Es war ihm, als müſſe er zu Boden ſinken. Da bewegte ſich die Geſtalt. Zwei Arme umſchlangen ihn, eine weiche Wange fühlte er an der ſeinigen. La barg ihren Kopf an ſeiner Schulter und flüſterte: „Sal! mein Sal!“ Er ſank auf die Moosbank nieder und zog ſie mit ſich. Ihre Lippen glühten aufeinander. „Du biſt es, du biſt es“, ſagte La ſelig. Er zog ſie aufs neue an ſich. Endlich ſtammelte er: „Und du, wie kommſt du — O du mein Glück, weißt du denn —“ „Ja, ja! Ich komme, um dich zu fangen und nie wieder freizugeben. Ich komme vom Nu, und ich will bei dir bleiben auf der Erde, oder wo du willſt — nur nicht allein, nicht länger allein. Ich kann es nicht!“ Sie ſank aufs neue an ſeine Bruſt. Dann ſprang ſie auf. Von oben hörte man das Klingen des Bergſtocks. Palaoro wurde ſichtbar. Er prallte zurück, als er La erblickte. Dann rief er: „Sie ſteigen von oben herab.“ Saltner blickte auf La. „Du kommſt zu mir, Geliebte“, ſagte er haſtig. „Aber ich bin gefangen und eingeſchloſſen. Du kommſt, nur zu ſehen, wie ich dir entriſſen werde.“ La lächelte glücklich. „Das iſt unmöglich“, ſagte ſie. „Geh und hole deine Mutter, und du wirſt ſehen.“ Saltner wirbelte der Kopf, aber er nahm ſich keine Zeit, zu überlegen, wie das alles möglich ſei. Er prüfte nicht, er zweifelte nicht, Las Wort glaubte er. Weiter bedurfte es nichts. Er ſprang mit Palaoro den Felſen hinauf. „Wir ſind gerettet, gerettet!“ rief er ſeiner Mutter zu. „Fürchte dich nicht vor den Numen, zu denen ich dich bringe, es ſind unſre Freunde.“ „Wenn du es ſagſt, ſo iſt es gut.“ In wenigen Minuten ſtanden ſie wieder bei La, die an dem Felſen gewartet hatte. „Das iſt unſre Retterin“, ſagte Saltner, auf La weiſend. La faßte ehrfurchtsvoll die Hand von Saltners Mutter und ſprach: „Sie ſollen bald zufrieden ſein.“ „Gott ſegne Sie“, antwortete die Mutter. La ſchritt voran. Die nachfolgenden Menſchen ſtutzten bei dem Anblick, der ſich ihnen bot. Kathrin ſtieß einen Schrei der Verwunderung aus. Wie eine goldene Schale in der Sonne leuchtend lag die Luftyacht auf der Waldwieſe. Niemand war zu ſehen als am Fuß der breiten, bequemen Schiffstreppe der Schiffer in ſeinem Glockenhelm, der ſalutierend die Herrin des Schiffs erwartete. La eilte voran. Als ſie das Geländer erfaßte, flammte ein Funkenbogen über dem Eingang, der die Aufſchrift zeigte: „Willkommen im Schutze der La.“ Am Eingang zum Schiff blieb ſie ſtehen und wiederholte die Worte. Man ſtieg in das Schiff, der Schiffer folgte, im Augenblick war die Treppe eingezogen. Palaoro blieb vorläufig auf dem Verdeck. Saltner führte ſeine Mutter und die Magd in den Raum, deſſen Tür La öffnete. „Hier iſt Ihr Zimmer“, ſagte ſie, „und daneben das für Katharina. Nun ruhen Sie ſich recht aus. Und was Sie wünſchen, ſprechen Sie in dieſe Öffnung, ſo wird es da ſein.“ Frau Saltner war ſprachlos. Ein weicher Polſterſtuhl am Fenſter nahm ſie auf. Sie blickte ſich im Zimmer um. „Das iſt ja gerade wie daheim in unſrer Sommerwohnung“, ſagte ſie endlich. „Die Täfelung ringsum, und die Gardine in der Ecke, und dort, das Kruzifix und das Lämpchen —. Nur die Bilder, und die Kiſſen, und die Teppiche das iſt alles viel koſtbarer — wie kommt das nur — —“ „Das iſt die Zauberin, die es gemacht hat“ ſagte Saltner, gerührt Las Hand ergreifend. „Sie hat nichts vergeſſen von allem, was ich ihr von unſerm Heim ſchildern mußte. Ihr gehört dieſes Wunder von einem Luftſchiff.“ La ſah dem geliebten Mann in die Augen. „Uns beiden!“ ſagte ſie dann. „Du willſt? Du willſt es wirklich?“ rief Saltner jubelnd und ſchloß ſie in ſeine Arme. Doch wie in einem tiefen Schreck verſtummte er plötzlich. „Aber ich bin ein Menſch“, ſagte er tonlos. „Sei, was du willſt, ich bin dein, deine La.“ Er blickte auf die Herrliche, Königliche, deren Blick wie bittend zu ihm aufgeſchlagen war. Er wußte nicht, was mit ihm vorging. Der plötzliche Übergang von der Verzweiflung zum höchſten Glück, von der Not zur Sicherheit, vom Unerreichbaren zum Wirklichen verwirrte ihn. Er ſchüttelte den Kopf, und ſein Antlitz ſtrahlte dabei von Freude. „Ich weiß ja nicht, was ich bin, wer ich bin, wo ich bin. Ich weiß nur, daß ich namenlos glücklich bin. Schau, Mutter, das iſt ſie, die ich liebe, der ich alles verdanke. Ich weiß nicht, wie man das bei euch auf dem Mars macht, wenn man eine Frau haben will, und es iſt mir auch ganz egal, und du biſt halt die La! Da, Mutter, gib ihr einen Kuß, ich muß einmal einen Juchzer tun.“ Und mit einem Sprung war er aus dem Zimmer, und während die alte Frau ihre Hände zitternd auf das von Liebe und Schönheit ſtrahlende Haupt der glücklichen Nume legte, ſchallte draußen ein Jodler laut und jubelnd zu den Bergen empor, und das Echo der Felſen gab ihn zurück — — 56. Selbſthilfe Kaum war der Widerhall verklungen, als noch eine andere, unerwartete Antwort ertönte. „Holla! Wer da?“ Die Grenzjäger traten aus dem Wald. Sie waren nicht wenig erſtaunt, hier Saltner und Palaoro auf dem Verdeck des fremden Schiffes zu ſehen. „Grüß Gott, Herr Saltner“, rief Pitzthaler, ſich auf ſein Gewehr lehnend. „Da ſind’s wohl gar ſchon gefangen?“ „Das bin ich ſchon“, rief Saltner luſtig. „Es tut aber nichts. Es iſt ganz ſchön hier.“ „Aber um die Belohnung haben’s mich gebracht. Es ſind hundert Gulden ausgeſetzt.“ „Darum ſollt Ihr nicht kommen. Da habt’s an Hunderter, und da noch einen.“ Die Scheine flatterten hinab. Von innen rief eine Stimme: „Wollen die Herren ins Schiff kommen? Wir werden bald aufſteigen.“ Saltner und Palaoro verſchwanden. Die Luken ſchloſſen ſich. La zog Saltner in den Salon. „Du ſollſt deine La ſehen“, ſagte ſie, ſich an ihn ſchmiegend, „die fliegende und die wandelnde, denn beide haben ihren Herren gefunden.“ Er blickte um ſich, und von dem zarten Schmuck der Wände, von dem Reichtum der Ausſtattung ſchweiften ſeine Blicke nach der wonnigen Geſtalt, die ihn umſchlungen hielt. „Es iſt ein Märchen“, ſagte er. „Eine Fee hat mich in ihr Zauberſchloß geführt, und ich wundre mich über nichts mehr. Und ich würde es nicht glauben, wenn ich nicht dieſe Lippen — —“ „Glaubſt du es nun?“ fragte La, ſich endlich aus ſeiner Umarmung löſend. „Was du willſt. Aber ich habe dich ſo unendlich viel zu fragen. Wie konnteſt du mich finden? Wie kamſt du auf dieſe Stelle? Wie kamſt du überhaupt zu dieſem Schiff? Und zu dieſem Menſchen? Und doch habe ich noch keine Ruhe. Die Mutter wird ſich ängſtigen, ſie iſt noch nie in einem Luftſchiff aufgeſtiegen. Ich glaube, wir müſſen zu ihr gehen.“ „Sei ganz ruhig. Ich verließ ſie, die Hände auf dem Schoß gefaltet, mit geſchloſſenen Augen im Lehnſtuhl liegend. Ich ſchob den Fenſtervorhang vor und ſchickte die Magd zu ihr. Sie wird jetzt ſchlafen und merkt nichts von der Fahrt. Doch ich will ſchnell ſehen.“ Im Augenblick war ſie zur Tür geſchlüpft und wieder zurück. „Sie ſchläft“, ſagte ſie. „Und nun kannſt du fragen. Doch ich will es dir ſagen.“ Und ſie begann zu erzählen, von ihrem Kampf mit ſich ſelbſt, von ihrem Entſchluß, von ihrer Prüfungsreiſe auf der Erde — und inzwiſchen löſte ſich das Schiff von ſeinem Lager, langſam ſanken die Felswände hinab, heller ſtrahlte die Sonne — „Wir ſteigen“, ſagte La, ſich unterbrechend. „Und ſieh“, rief Saltner, „das Nächſtliegende hab ich vergeſſen in der Überraſchung, dich zu haben. Was haſt du mit dem Schiff des Unterkultors abgemacht? Was tuſt du jetzt, wenn ſie von dir unſere Auslieferung verlangen? Wie kannſt du überhaupt uns befreien?“ „Sie riefen mich an, als ich hierherkam, weil ſie wußten, daß ich deinen Zug und die Verfolgung geſehen hatte, und verlangten durch Signale, daß ich ſie unterſtützen ſollte. Ich ging darauf ein, um bei der Hand zu ſein, und beſetzte den unteren Ausgang. Ich dachte mir, daß du hier herabkommen würdeſt, wenn der Weg oben verſperrt iſt. Und ſo hab ich dich gefangen. Aber ans Ausliefern denke ich nicht, wenn du — du — bei mir bleiben willſt.“ „Und wenn ſie dich zwingen? Das Geſetz iſt auf ihrer Seite.“ „Geſetz gegen Geſetz — wenn du willſt, wenn du beſtimmſt, daß ich dein bin und du mein nach dem Geſetz der Numenheit — dann darf ich dir das Geheimnis ſagen des unverletzlichen Aſyls. Doch wiſſe, du darfſt es nur beſtimmen, wenn es dein freier Wille iſt, um deinet- und meinetwillen, nicht aber um deiner Rettung willen. Darum darfſt du nicht ſorgen; ich rette dich vor jeder Gefahr, auch wenn du frei bleiben willſt ohne mich — ich muß es dir ſagen, damit kein fremder Gedanke, keine Sorge dich beeinflußt. Dieſes Schiff iſt das ſchnellſte das je gebaut worden. Niemand kann es einholen. Ich bringe dich mit der Mutter hinüber über den Ozean, wo du ſicher biſt, und auch auf den Unterhalt brauchſt du nicht zu denken. Denn ich bin nicht zur Erde gekommen, um Freiheit aufzuheben, ſondern Freiheit zu bringen, dir und mir.“ Er hatte ihr zugehört, den Blick tief in ihre Augen verſenkt und ihre Hände in den ſeinen haltend, und dann antwortete er: „Ich weiß nicht, ob ich alles verſtehe, aber wenn’s darauf hinauskommt, ob es mein freier Wille iſt, daß du mein Weib ſein ſollſt —. O La, die du das getan haſt, von der Höhe deines Nu herabzuſteigen zu dieſem Jammertal, um dieſem Menſchen das Leben zurückzugeben —. Wie kannſt du das fragen, meine La, mein Glück und mein alles — freilich will ich’s, beſtimm’ ich’s, ich, Joſef Saltner, ſo wahr ich hier ſitze und dich in meine Arme ziehe, ich will’s.“ „Und ich“, ſagte La feierlich, „auch ich will. Und nun iſt es Geſetz, und ich bin dein. Und damit du es beweiſen kannſt, ſo komm, Ohr an Mund, und höre, was niemand wiſſen darf, außer uns beiden.“ Sie flüſterte in ſein Ohr, und dann barg ſie das Geſicht an ſeiner Schulter. Da klopfte es am Telephon. „Das iſt der Schiffer“, ſagte La. Sie warf einen Blick aus dem Fenſter. „Ah, dort iſt das Regierungsſchiff. Laß uns hören.“ Als ſich der Unterkultor überzeugt hatte, daß Saltner mit ſeiner Begleitung unter Zurücklaſſung des Tragſtuhls und Gepäcks in die Schlucht hinabgeſtiegen war und ſomit entweder den Feldjägern oder dem von ihm zu Hilfe gezogenen Luftſchiff nicht entgehen konnte, begab er ſich mit ſeinen Beds wieder nach ſeinem Schiff zurück. Sobald Las Schiff über der Berglehne erſchien, ſignaliſierte er ihm, daß es ſich zu ihm begeben ſolle, um die Gefangenen, die er dort vermutete, an ihn auszuliefern. La wollte ſich dieſer geſetzlich begründeten Forderung nicht entziehen und ließ daher ihr Schiff in der Nähe des Kultorſchiffes ſich niederſenken. Unmittelbar darauf erſchien der Beamte ſelbſt an Bord der ‚La‘ und wurde vom Schiffer in den Salon gewieſen, in welchem er La und Saltner fand. Der Unterkultor war ein vornehmer Mann mit entſchiedenem Weſen. Ohne Saltner weiter zu beachten, begrüßte er La höflich und ſagte, daß er den Kommandierenden des Schiffes zu ſprechen wünſche. „Er ſteht vor Ihnen“, ſagte La, ihn mit ruhiger Würde anblickend. „Ich war bis vorhin Beſitzerin dieſer Privatyacht, habe aber jetzt das Eigentum und das Kommando derſelben abgetreten an meinen Gemahl, Joſef Saltner, deſſen Name Ihnen bekannt iſt und den ich mir hiermit vorzuſtellen erlaube.“ Der Beamte machte eine Bewegung des Unwillens und der Überraſchung. Seine Augen wanderten prüfend über La und Saltner. Dann ſagte er kühl: „Die Höflichkeit verbietet mir, Zweifel in Ihre Worte zu ſetzen. Doch muß ich Sie bitten, mir die Papiere des Schiffes und Ihre eigene Legitimation vorzuweiſen.“ La trat an den Wandſchrank und reichte ihm die Papiere, die er ſorgfältig prüfte. Sie enthielten die Schenkungsurkunde Frus über die Luftyacht ‚La‘, die zu Las vollkommen freier Verfügung geſtellt war; ferner einen Freipaß vom Verkehrsminiſterium des Mars, gültig für das ganze Sonnenſyſtem und beſtätigt für die Erde von Ill, dem Protektor der Erde, und alles, was für die Legitimation Las erforderlich war. Der Beamte gab die Papiere ehrfurchtsvoll zurück. „Die Legitimation iſt unanfechtbar“, ſagte er. „Ich freue mich, in Ihnen die Tochter eines Mannes begrüßen zu können, deſſen techniſcher Tätigkeit bei der Beſitzergreifung der Erde wir zu ſo großem Dank verpflichtet ſind. Doch“, ſetzte er ſehr ernſt hinzu, „ich habe, wie Sie hier ſehen, den Auftrag von den Reſidenten der europäiſchen Staaten, aufgrund der geſetzmäßig geführten Unterſuchung, Joſef Saltner von Bozen nebſt ſeiner Mutter Marie und der Magd Katharina Wackner zu verhaften. Es iſt nichts darüber bekannt, noch aus Ihren Papieren zu entnehmen, daß Saltner ihr Gemahl ſei; auch kann weder dieſer Umſtand, der überdies zu beweiſen wäre, noch der Aufenthalt auf dieſem Schiff die Verhaftung aufheben oder verhindern. Ich bedauere daher, dazuſchreiten zu müſſen —“ Er wandte ſich zu Saltner, der an der gegenüberliegenden Wand des Salons ſtand, und wollte auf ihn zuſchreiten, um ihn zum Zeichen der Verhaftung zu berühren. Doch La trat dazwiſchen, und auf einen Wink von ihr flüſterte Saltner einige leiſe Worte gegen ein kleines Schild, das roſettenartig in der Wand angebracht war. Sofort wich die Wand an dieſer Stelle auseinander und ſchloß ſich wieder hinter ihm. „Die Verhaftung iſt jetzt nicht mehr möglich“, ſagte La. Der Beamte warf einen finſteren Blick auf ſie. „Ich muß Sie bitten“, ſprach er, „mir dieſes Zimmer zu öffnen, oder ich müßte die Öffnung erzwingen.“ La blickte ihn ſtolz an. „Das werden Sie niemals wagen“, rief ſie. „Haben Sie nicht geſehen, daß die Tür eine akuſtiſche iſt, die ſich nur auf das Loſungswort öffnet? Und wenn ich Ihnen ſage, daß dieſes Wort niemand wiſſen darf, außer mir und — ihm? Werden Sie nun glauben, wer er iſt?“ „So iſt es“, rief der Unterkultor zurückweichend, „das iſt — Ihr —“ „Mein Zimmer.“ „Dann allerdings. Der Beweis iſt geführt. Dieſer Raum iſt unverletzlich.“ Er lächelte gezwungen. „Und ich glaube, unſere Unterhandlungen ſind damit erledigt“, ſagte La kalt. „Nicht ganz“, erwiderte der Beamte nach kurzem Schweigen. „Doch fürchten Sie nicht, daß ich Sie aufhalte. Geben Sie nur Auftrag, mich zu Frau Saltner und ihrer Magd zu führen. Dieſe Perſonen können Sie nicht ſchützen.“ La wollte entrüſtet erwidern. Doch erſchrocken hielt ſie inne. Jetzt war das Geſetz auf ſeiner Seite. Sie ſtand ſtumm. „Sie werden ſich nicht weigern“, ſagte er. „Und wenn ich es tue?“ „So muß ich Gewalt gebrauchen. Ich werde das Schiff durchſuchen laſſen.“ Er ſchritt nach der Tür, um die Beds zu rufen, die vor dem Schiff auf ſeine Befehle warteten. Zu dieſem Zweck mußte er auf das Verdeck ſteigen, von wo die Landungstreppe nach außen ging. La klopfte das Herz. Was ſollte ſie tun? Bis jetzt hatte ſie die Geſetze nicht verletzt. Aber wie ſollte ſie die Mutter ſchützen? Da öffnete ſich die Tür ihres Zimmers. Saltner ſtand neben ihr. Raſche Worte beſtätigten die Vermutung, die ihn ohne Rückſicht auf ſeine Sicherheit herausgetrieben hatte, um La und der Mutter zu Hilfe zu eilen. „Wir werfen die Leute hinaus!“ rief er. „Beim Nu, ich bitte dich, das dürfen wir nicht.“ „Warum nicht? Ich darf mich ja doch nicht mehr hier ſehen laſſen.“ „Aber Gewalt, das iſt etwas anderes. Es verſperrt uns die Rückkehr zum Nu, es beraubt dich deines Bürgerrechts.“ „Und doch ſehe ich keinen andern Ausweg. Den Nu oder mich! Wenn der Mann nicht freiwillig geht, wirſt du wählen müſſen.“ La blickte ihn an, die Hände zuſammenpreſſend. Dann warf ſie die Arme um ſeinen Hals. „Dich, dich!“ rief ſie. „Habe ich das Kommando?“ „Ja, ja.“ Saltner ſprang dem Beamten nach. La folgte pochenden Herzens. Der Unterkultor ſtand auf dem Verdeck, er winkte den Beds. „Wie wird die Treppe aufgezogen?“ fragte Saltner La haſtig. „Vom Steuerraum aus automatiſch.“ „Sage dem Schiffer, daß er ſich bereithält. Hoffentlich verläßt der Kultor das Schiff. Wenn nicht, bleibt doch nichts übrig, als ihn hinauszuwerfen.“ „Sal — er iſt bewaffnet — ich bitte dich —“ Leiſe ſtieg Saltner die Treppe zum Verdeck hinauf. Die Beds hatten nicht ſogleich die Winke des Beamten bemerkt, weil ſie ihre Aufmerkſamkeit nach der entgegengeſetzten Seite in die Luft gerichtet hatten. Dort zeigte ſich in großer Höhe von Südoſten her ein dunkler Punkt, das andre Schiff der Martier, das jetzt die beiden Schiffe auf dem Bergrücken bemerkt hatte und, ohne ſich zu übereilen, auf ſie zuhielt. Es war ein Stationsſchiff aus Rom, eines jener großen und furchtbar ſchnellen Kriegsſchiffe, mit allen Waffen ausgerüſtet, wie ſie in den Hauptſtädten der Erde den oberſten Beamten zur Erhöhung der Autorität des Nu beigegeben waren. Ein paar raſche Schritte brachten Saltner hinter den Kultor. Dieſer wandte ſich nach ihm um, aber in demſelben Augenblick hatte Saltner ihm mit einem raſchen Griff den Telelytrevolver aus der Taſche geriſſen und ihn weit hinweggeſchleudert. „Was wagen Sie?“ rief der Kultor. „ich verhafte Sie —“ „Bedaure ſehr — verlaſſen Sie ſofort das Schiff, wenn Sie nicht eine unfreiwillige Spazierfahrt machen wollen —“ Auf den Ruf des Kultors waren die Beds aufmerkſam geworden, ſie blickten her. Saltner durfte ihnen keine Zeit laſſen, ſich mit dem Kultor zu verſtändigen, denn wenn ſie von ihren Telelytwaffen Gebrauch machten, war er verloren. Er kommandierte: „Die Treppe herauf! Aufſteigen! Schnell!“ Im Augenblick ſchlug ſich die Treppe in die Höhe und ſchob ſich auf dem Verdeck ineinander, während das Schiff in die Höhe ſchoß. Die Beds ſahen ihm erſtaunt nach, wußten aber nicht, was ſie tun ſollten, da Palaoro gleichzeitig auf einen Wink Saltners den Kultor ins Innere des Schiffes gezogen hatte. Sein Proteſt wurde nicht beachtet. „Was machen wir mit dem Mann?“ ſagte Saltner. „Wir wollen ihn doch nicht mitſchleppen. Dort hinter dem Felsvorſprung können uns die Beds und das kleine Schiff nicht ſehen. Dort ſetzen wir ihn ab. Mag er ſchauen, wie er heimkommt.“ Saltner erteilte dem Schiffer die nötigen Befehle. Nach zwei Minuten lag das Schiff wieder ſtill. Der Kultor ſtieg in ſtummem Ingrimm die Schiffstreppe hinab, die ſich ſofort wieder hob. „Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Kultor“, rief ihm Saltner nach. „Aber es ging nicht anders. Habe die Ehre.“ Der Kultor wandte ſich um. „Ich warne Sie“, rief er wütend. „Ergeben Sie ſich noch jetzt. Ich laſſe Sie ſonſt rückſichtslos durch das Kriegsſchiff verfolgen und vernichten.“ „Tut mir leid“, antwortete Saltner. „Muß jetzt notwendig auf meine Hochzeitsreiſe. B’hüt euch Gott.“ Man konnte nicht mehr verſtehen, was der Kultor erwiderte, die ‚La‘ war ſchon wieder zu hoch geſtiegen. Aber man ſah, daß das Kriegsſchiff auf den Ort zuhielt, wo es den Kultor bemerkt hatte, der ihm mit den Armen winkte. Auch das kleinere Schiff erſchien jetzt. La war neben Saltner getreten. „Komm herab“, ſagte ſie, „wir müſſen die Luken ſchließen und uns beeilen. Das Schiff dort iſt ein ſchnelles Kriegsſchiff, wir können ihm nur durch ſchleunigſte Flucht entgehen.“ Saltner warf einen Blick zurück, dann umfaßte er La und ſprang, ſie in die Höhe hebend, die Treppe hinab, auf der jetzt Marsſchwere herrſchte. „Wenn wir ausreißen müſſen, ſo übernimm du wieder den Oberbefehl. Ich weiß ohnehin nicht, wohin wir eigentlich wollen.“ „Die Luken zu!“ befahl La. „Volle Diabarie!“ Die ‚La‘ ſchoß ſenkrecht in die Höhe. Schnell war ſie bedeutend höher als das niedrig ſchwebende Kriegsſchiff. Aber dieſes erhob ſich jetzt ſchräg und gewann, da es in voller Fahrt war, bald einen Vorſprung nach Norden. Es kehrte nun in einem Bogen zurück, um der ‚La‘ den Weg abzuſchneiden. Es hatte gar nicht angelegt, um den Kultor aufzunehmen, da inzwiſchen deſſen eigenes Schiff eingetroffen war, von dem aus er ſich mit dem Kriegsſchiff durch Signale verſtändigte. Die ‚La‘ ſtieg weiter kerzengerade empor, während das Kriegsſchiff ihr in immer engeren Spiralen folgte. Der Horizont erweiterte ſich ſchnell, ſchon lagen die Bergrieſen der Alpen tief unten, die Eishäupter der Ortlergruppe erſchienen als flache Schneehügel; im Norden und Süden tauchten die Ebenen auf und verſchwammen mit der Luft des Himmels. Palaoro war bei dem zweiten Schiffer im Steuerraum. In den drei Räumen, in denen ſich Menſchen befanden, wurden die Sauerſtoffapparate in Tätigkeit geſetzt, um die Luft atembar zu erhalten. Die Höhe von zwölf Kilometern war erreicht. Fern im Weſten ſchien der Himmel von Wolken bedeckt zu ſein. „Dort müſſen wir hin“, ſagte La. „Im Nebel können wir die Richtung ändern, ohne daß es bemerkt wird. Wir müßten ſonſt vielleicht die Flucht ſo weit fortſetzen, bis wir in den Erdſchatten kommen, und das führt uns zu weit vom Ziel ab.“ „Und welches iſt das Ziel?“ „Berlin.“ „Aber La?“ „Du ſollſt alles hören. Erſt aber wollen wir einmal ſehen, ob das Kriegsſchiff uns nachkommen kann. Richtung nach Weſt! Voll Repulſit!“ ſagte ſie zum Schiffer. Das Schiff wandte ſeine Spitze nach Weſten mit einer ſanften Neigung nach oben. Der Reaktionsapparat wirkte. Es ſauſte durch den luftverdünnten Raum. Die Geſchwindigkeit ſteigerte ſich allmählich auf 400 Meter in der Sekunde. Das Kriegsſchiff war der ‚La‘ gefolgt. Sobald es erkannt hatte, in welcher Richtung die ‚La‘ zu entkommen ſuchte, ſchlug es ebendieſelbe ein. Aber nun zeigte ſich die Überlegenheit der Yacht. Die Entfernung von dem Verfolger wuchs ſchnell. Nach fünfundzwanzig Minuten hatte das Schiff einen Weg von 600 Kilometern zurückgelegt. Von der Erde erblickte man nichts, eine dichte Wolkendecke lagerte hier unten. Das Kriegsſchiff war nur noch als ein Punkt zu erkennen. Nach weiteren fünf Minuten umhüllten Wolken die Yacht. Alsbald wurde der Lauf gemäßigt. „Wenden Sie ſofort“, ſagte La zum Schiffer, „und benutzen Sie die Wolken ſoweit wie möglich nach Nordoſt. Kommen wir aus den Wolken heraus, und iſt dann das Kriegsſchiff nicht mehr ſichtbar, ſo fahren Sie ſo ſchnell wie möglich nach Berlin. Dort wird man uns zunächſt auf keinen Fall ſuchen.“ „Das ſcheint mir doch fraglich“, ſagte Saltner. „Sobald das Kriegsſchiff ſieht, daß wir ihm entkommen, wird es nach der nächſten Stadt hinabgehen und nach allen Richtungen telegraphieren. Man wird uns, wo wir hingelangen, ſofort erkennen. Es wird wohl alſo nichts übrig bleiben, als bis über Europa hinauszugehen.“ „Das iſt wahr. Wir können erſt in der Dunkelheit nach Berlin. Aber wo bleiben wir ſo lange? Wir wollen doch nicht immerfort hier in den Wolken herumfahren?“ „Warum willſt du nicht ſogleich nach Amerika?“ „Ich werde es dir dann erklären.“ „Wo ſind wir denn eigentlich?“ „Wir müſſen mitten in Frankreich ſein. Wir wollen hinab und uns einmal umſehen.“ „Dann laß uns doch lieber nach irgendeinem abgelegenen Gebirge gehen, wo es einſam iſt und ſo bald keine Nachrichten hinkommen, dort können wir warten, bis es Zeit iſt, nach Berlin zu reiſen.“ „Du haſt recht. Fahren Sie alſo weiter nach Südweſt, mit mäßiger Geſchwindigkeit, und ſuchen Sie auf den Pyrenäen einen guten Landeplatz. Dort warten wir bis gegen Abend. Dann gelangen wir gerade zur rechten Zeit nach Berlin. Und jetzt komm! Wir wollen einmal nach der Mutter ſehen, und dann — ich habe dir noch ſoviel zu erzählen. Und es iſt auch noch jemand hier, den du begrüßen mußt.“ Se trat ihnen im Salon entgegen. „Sind wir endlich in Sicherheit?“ fragte ſie. Und Saltner die Hand reichend, fuhr ſie lächelnd fort: „Sobald man mit Ihnen zuſammenkommt, iſt man ſeines Lebens nicht ſicher.“ „Seien Sie mir nicht böſe. Ich werde von nun ab ganz vernünftig werden.“ „Bei ſoviel Glück?“ „Ja, es macht mich beſcheiden.“ 57. Das Spiel verloren Die letzte Woche war für Ell im höchſten Grad aufregend geweſen. Er arbeitete von früh bis ſpät in die Nacht und konnte doch die Laſt verantwortungsvoller Entſcheidungen nicht bewältigen, die ihn bedrückte und ſeine ganze Tatkraft in Anſpruch nahm. Er fühlte, wie eine nervöſe Abſpannung ſich ſeiner bemächtigte, deren er nicht Herr zu werden vermochte. Selbſt zu einem Beſuch bei Isma, nach welchem er ſich ſehnte, hatte er noch nicht Zeit finden können. Die Übergriffe der Beamten hatten ſich wiederholt. Es war nicht immer ein krankhafter Zuſtand, ausgeſprochener Erdkoller, wie bei Oß, der dazu Veranlaſſung gab, ſondern eine ſchärfere Tonart begann Platz zu greifen, die leicht zu Konflikten führte. Und dies kam daher, daß die auf der Erde angeſtellten Nume eine ſtarke Partei auf dem Mars hinter ſich wußten. Die Antibaten, welche auf ein härteres und entſchiedeneres Vorgehen gegen die Menſchen als eine untergeordnete und nur durch Gewalt zu zügelnde Raſſe drangen, hatten im Parlament wie im Zentralrat an Einfluß gewonnen. Ells Tätigkeit bot ihnen einen willkommenen Angriffspunkt, auf den ſie zunächſt ihre Kräfte richteten. Die Strenge, mit welcher Ell jedem Übergriff der Inſtruktoren und Beamten entgegentrat, wurde in der Preſſe in übertriebener Weiſe erörtert und als eine Voreingenommenheit für die Menſchen hingeſtellt und getadelt. Die Abſetzung von Oß, die ſofort nach der vom Wiener Unterkultor vorgenommenen Unterſuchung verfügt worden war, wurde beſonders aufgebauſcht, da Oß eine angeſehene und als Techniker um den Staat verdiente Perſönlichkeit war. Schon daß ſich Saltner durch die Flucht auf die Berge der Strafe entzogen hatte, war als ein Zeichen von Nachläſſigkeit gedeutet und Ell zum Vorwurf gemacht worden. Unter dieſem Druck, auf den Ell nicht Rückſicht nehmen wollte, hatte der italieniſche Kultor das Kriegsſchiff zur Verfügung geſtellt, um Saltner aufzuſuchen. Die gegen die Menſchen gerichtete Strömung auf dem Mars war ja nichts Neues. Ell hatte ſtets mit ihr rechnen müſſen, und er hatte ihr Anwachſen mit Beſorgnis verfolgt. Doch vertraute er feſt auf die Macht der Vernunft in den Numen und die Reinheit ſeiner eigenen Abſichten, und in dieſem Glauben hatte ihn Isma aus innerſtem Herzen beſtärkt. Jetzt aber begannen die direkten Angriffe auf ihn offener hervorzutreten, und er hatte zu ſeinen übrigen Arbeiten ſeine Verteidigung in der Preſſe zu führen. Ein lebhafter Wechſel von Lichtdepeſchen, die alle über den Nordpol nach dem Mars gingen, fand zwiſchen Berlin und Kla ſtatt. Aber ganz ohne Einfluß auf Ell war dieſer vom Mars, das heißt von einem Teil ſeiner Bevölkerung ausgeübte Druck doch nicht geblieben. Er ſah ſich veranlaßt, die ihm zu Gebote ſtehenden Machtmittel rückſichtsloſer zu gebrauchen, und je mehr ihn das Mißverſtändnis und der Tadel ſeiner Handlungen verdroß, um ſo mehr gewöhnte er ſich, auf ſeine eigenen Entſcheidungen und Entſchlüſſe zu vertrauen und jede anderweitige Beratung abzulehnen. Mit Erſchrecken ſagte er ſich zuweilen im ſtillen, daß die Furcht, er werde dahin kommen, ſein Kultoramt in autokratiſcher Weiſe zu handhaben, nicht unberechtigt ſei. Und immer wieder nahm er ſich vor, unter keinen Umſtänden ſich dazu drängen zu laſſen, als Selbſtherrſcher zu verfahren oder den antibatiſchen Forderungen nachzugeben. Der einflußreichſte Teil der Martier ging ja, wie bei der Beſitznahme, ſo auch bei der Behandlung der Erde von rein idealem Geſichtspunkt aus. Die Kultur des Mars, den Geiſt der Numenheit auf der Erde zu verbreiten, war ihr Ziel; eine Beherrſchung der Menſchheit, ſoweit ſie notwendig ſchien, nur ein vorübergehendes Mittel, eine Art notwendigen Übels. Aber gerade hier verſtimmte es vielfach, daß die Menſchen im großen und ganzen ſo wenig Entgegenkommen und Verſtändnis für das zeigten, was die Martier ihnen bringen wollten. Man erkannte wohl Ells Tätigkeit in gewiſſer Hinſicht an, aber man hielt ſeinen Weg doch für etwas umſtändlich. Die Hebung der Bildung konnte natürlich nur allmählich geſchehen, und ſie war die notwendige Vorbedingung für das Gelingen des ziviliſatoriſchen Werkes, das die Nume an der Erde ausführen wollten. Aber man meinte, daß eine entſchiedenere Wegräumung der Hinderniſſe hinzukommen müſſe. Ein ſolches Hindernis ſah man in Deutſchland noch immer vor allem in der politiſchen Übermacht der reaktionären Parteien. Man verlangte einen entſchiedenen Bruch mit den oligarchiſchen Traditionen, die ſich von dem Gedanken einer bevorzugten und herrſchenden Klaſſe nicht trennen konnten. Man wünſchte hier ein entſchiedenes Vorgehen, das aber wieder ohne Anwendung von Gewaltmaßregeln, die Ell verhüten wollte, nicht möglich geweſen wäre. Ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit, der ſich allerdings gegen die Regierung der Zentralſtaaten ſelbſt und gegen Ill als den Protektor der Erde wendete, war die bisherige Beſchränkung der Kulturtätigkeit auf die weſteuropäiſchen Staaten. Man verlangte die effektive Ausdehnung des Protektorats auf die ganze Erde, vor allem die Einbeziehung Rußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ill ſah voraus, daß dies zu neuen ſchweren Kämpfen geführt hätte; er hoffte, ſie zu vermeiden, wenn man es der Zeit überließ, von ſelbſt den Einfluß zu gewinnen, der bei der kulturellen Überlegenheit der Martier auf die Dauer nicht ausbleiben konnte. Aber dieſe weiſe Zögerung hatte doch zur Folge, ungeduldigere Köpfe der antibatiſchen Strömung zuzuführen. Ihre hauptſächliche Kraft indeſſen zog die Partei der Antibaten aus dem Teil der Bevölkerung, in welchem die idealen Kulturziele von eigennützigen Abſichten getrübt waren. Zwar hatte man auf dem Mars geglaubt, für immer der Gefahr enthoben zu ſein, daß der reine Wille der Vernunft zum Guten in Kampf geraten könne mit ſelbſtiſchen Intereſſen, mit dem Beſtreben, wenn auch nicht für den einzelnen, ſo doch für den Staat, Vorteile auf Koſten der Gerechtigkeit gegen alles Lebendige zu gewinnen. Aber ſobald mit der Erſchließung der Erde das Gefühl der Macht und die Möglichkeit ſich eingeſtellt hatte, Weſen, die man nicht für ſeinesgleichen hielt, auszubeuten, erhoben ſich in den weniger hochſtehenden Elementen der Bevölkerung, an denen es nicht fehlte, wieder jene niederen Inſtinkte eines unter dem ſchönen Namen des Patriotismus ſich verbergenden Egoismus. Man erklärte es für eine nationale Pflicht des Martiers, von der Erde alles zu gewinnen, was das wirtſchaftliche Intereſſe des Mars irgend daraus ziehen konnte. Mit einem Worte, was man wollte, war nichts anderes als die Erhöhung der Revenuen des Mars, aber nicht bloß durch den berechtigten Handelsverkehr, ſondern durch die direkte Arbeit der Menſchen für die Martier. Zwar hatte man ſchon bedeutende Energiemengen von der Erde bezogen durch Anlegung von Strahlungsfeldern in Tibet, in Arabien und in den äquatorialen Gegenden von Afrika. Aber dieſe wurden von martiſchen Geſellſchaften auf ihre Koſten, obwohl mit hohem Gewinn, betrieben. Man wollte jedoch von Staats wegen zur Erhöhung der Privatrente aller Bürger eine Beſteuerung der Menſchen, um dieſe zu größerer Arbeit im Sinne der Martier zu zwingen. Man führte aus, daß die Menſchen bei ihrer natürlichen Indolenz nur dann dazu gebracht werden könnten, ſich die Technik der Martier und damit ihre Kultur anzueignen, wenn man ſie durch eine hohe Steuer veranlaſſe, die von der Sonne ihnen zuſtrömende Energie unter Anleitung der Martier auch wirklich auszunutzen. Auf Grund dieſer populären Erwägung wollte jetzt die Antibatenpartei ihren erſten größeren Schlag führen. Er ſollte, wie ſich wenigſtens die Entſchiedenen ſagten, nur die Vorbereitung ſein, um die den Menſchen zugeſprochenen Rechte ſittlicher Perſönlichkeiten überhaupt in Zweifel zu ſtellen und ſchließlich aufzuheben. Die Erde ſollte zu einer Werkſtatt für die Erhaltung des Mars durch eine Rieſenrente erniedrigt werden. Dieſe letzten Geſichtspunkte wurden zwar noch verſchleiert, aber die Gegner enthüllten ſie in ihrer ganzen Unſittlichkeit und Torheit, ohne doch die Anhänger einer Beſteuerung der Menſchen überzeugen zu können, welche ſchiefe Bahn ſie zu beſchreiten im Begriff waren. Geſtern hatte Ell die Nachricht erhalten, daß der Antrag eingebracht worden war — und nicht ohne Ausſicht auf Annahme —, für die weſteuropäiſchen Staaten eine vorläufige Jahresſteuer von 5.000 Millionen Mark anzuſetzen, indem man anführte, daß die Hälfte davon bereits durch die Verminderung der Militärlaſten gedeckt ſei. Außerdem ſollten von nun ab die Menſchen die Koſten der martiſchen Verwaltung ſelbſt tragen, was man in Rückſicht auf die zu zahlenden Schulgelder auf ebenſoviel veranſchlagen mußte. Ell ſagte ſich, daß eine ſolche Maßregel, wenn ſie ſich verwirklichen ſollte, ihm die Fortführung ſeines Amtes unmöglich machen würde. Sein ganzes Streben war auf die Verſöhnung, auf die freiwillige Anpaſſung der Menſchen an die Kulturwelt des Mars gerichtet. Der Aufruf zur Begründung eines allgemeinen Menſchenbundes, der zwar die Befreiung der Erde von der Herrſchaft des Mars anſtrebte, aber durch ein Mittel, das zu demſelben verſöhnenden Ziel führen ſollte, das er erſehnte, war ihm daher willkommen. Er tat nichts, um dieſen Ideen und ihrer Ausbreitung entgegenzutreten. Bei der Antibatenpartei auf dem Mars wurden jedoch die Tendenzen des Menſchenbundes unter ganz anderem Geſichtspunkt betrachtet. Hier wollte man ja nicht das Kulturheil der Erde, ſondern ihre Ausnutzung, und man ſah daher in dem Bund eine große Gefahr, ein revolutionäres Unternehmen. Die neue Steuerlaſt, die man den Menſchen zudachte, ſollte ſie belehren, daß ſie auf keine freiwillige Aufgabe der Mars-Herrſchaft zu rechnen hätten. Siegten die Antibaten mit ihrem Vorhaben, ſo mußte dies auf der Erde erneute Erbitterung hervorrufen und die Menſchen über die Abſichten der Nume enttäuſchen. Es würde alſo der von Ell angeſtrebten Verſöhnung entgegengewirkt werden, und ſeine eigene Arbeit wäre nicht nur in Frage geſtellt, ſondern es wäre damit auch ſein vom Zentralrat gebilligter Plan gewiſſermaßen zurückgewieſen worden. Ell mußte ſich die Frage vorlegen, ob er dann ſeine Tätigkeit noch für nutzbringend halten dürfte. Heute nun brachten ihm die neuen Zeitungen vom Mars ihn perſönlich kränkende Nachricht. Man hatte ihm in einer Parlamentsrede ſeine Abſtammung von den Menſchen mütterlicherſeits zum Vorwurf gemacht und die Regierung getadelt, daß ſie einen Mann in eine ſo verantwortliche Stellung eingeſetzt habe, dem man als Halb-Numen kein Vertrauen entgegenbringen könne. Ell ging entrüſtet in ſeinem Zimmer auf und ab. Sollte er nicht dieſen Leuten ſein Amt vor die Füße werfen? Aber das hieße die Sache aufgeben, der er ſein Leben gewidmet hatte. Durfte er nicht hoffen, wenn er ſelbſt feſthielt, doch ſeine Anſicht zum Sieg zu führen und Gutes auf der Erde zu wirken? Ja, wenn er ſich nur ſelbſt ſicherer gefühlt hätte. Wenn nicht in jenem Vorwurf ein Kern von Wahrheit gelegen hätte! War nicht ſeine Heimat auf zwei Planeten, und hatte er die Kraft gehabt, im entſcheidenden Moment allein der Stimme der Numenheit zu folgen, die ihn hieß, nichts anderes im Auge zu haben, als die große Aufgabe, das Verſtändnis der Planeten anzubahnen? Hatte er nicht als ein ſchwacher Menſch geſchwankt in ſeiner Pflicht, ganz ſich ſelbſt zu vergeſſen um des Ganzen willen, hatte er nicht ſeiner Neigung Gehör gegeben und der Freundin zuliebe die Erde verlaſſen, wo er hätte wirken ſollen? Gewiß, es war nicht ſeine Abſicht geweſen, ſich dieſer Pflicht zu entziehen, äußere Umſtände hatten ihn verhindert, rechtzeitig zu ihr zurückzukehren. Aber eben dieſen Umſtänden durfte er keinen Spielraum des Zufalls geſtatten, er hätte ſich der Gefahr nicht ausſetzen dürfen, die Pflicht zu verſäumen. Das war ſeine Schuld. Er hatte eine Schuld auf ſich geladen. Durfte er dann noch ſich als den Mann betrachten, der hoch genug ſtand, um die Kultur zweier Planeten zu vermitteln? Durfte er ſich die Kraft zutrauen, gegenüber den Angriffen von beiden Seiten die Verantwortung zu tragen und die Machtfülle nicht durch menſchliche Leidenſchaften zu entſtellen? In ſolchen Gedanken wandelte ſich ſeine Entrüſtung in ernſte Selbſtprüfung, und immer wieder erwog er die Frage, ob er der Sache, die er durchzufechten entſchloſſen war, auch wohl an dieſem Platz noch die rechten Dienſte zu erweiſen vermöge. Da wurde ihm der Unterkultor von Wien gemeldet. Als das Luftſchiff Las, von dem Kriegsſchiff verfolgt, den Blicken der Martier entſchwunden war, hatte ſich der Beamte ſofort auf den Weg nach Berlin gemacht. Drei Stunden ſpäter war er dort angelangt. Er wurde ſogleich vorgelaſſen. Empört beklagte er ſich über die Behandlung, die ſich Saltner gegen ihn herausgenommen, und verlangte die volle Strenge des Geſetzes gegen den Frevler, an deſſen Ergreifung er nicht zweifelte. Ell glaubte ſeinen Ohren nicht trauen zu dürfen, ſo überraſchte ihn das, was er hören mußte. „La?“ fragte er. „Sind Sie auch ſicher, La, die Tochter von Fru, des techniſchen Direktors im Miniſterium für Raumſchiffahrt? Sie hat Saltner in aller Form für ihren Gemahl, nach dem Rechte des Nu, erklärt und ihn in ihrem Luftſchiff entführt?“ „Es iſt kein Zweifel, die Papiere waren in Ordnung, der Beweis — wie ich ihnen ſagte. Und dieſer Bat wagte es, mich anzufaſſen, mich mit Gewalt ins Schiff hinabzuziehen, mich auszuſetzen und mir höhniſche Worte nachzurufen. Aber Sie werden —“ „Ich werde dem Geſetz gemäß verfahren. Ich bedaure tief dieſes Ereignis. Entſchuldigen Sie mich jetzt, aber halten Sie ſich, bitte, in der Nähe, daß ich Sie eventuell noch einmal ſprechen kann, ehe Sie nach Wien zurückkehren. Ich danke Ihnen für Ihren Bericht, Sie haben Ihrerſeits korrekt gehandelt, Sie konnten nicht wiſſen, daß das Luftſchiff Freunde und Helfer Saltners barg. Sorgen Sie dafür, daß eine etwaige Nachricht von dem verfolgenden Schiff mir ſogleich mitgeteilt wird.“ Der Beamte hatte noch nicht die Tür erreicht, als das Signal am Depeſchentiſch erklang und zwei Telegramme, die mit eilig bezeichnet waren, ſich auf die Platte desſelben ſchoben. Ell riß das erſte auf und rief ſogleich den Unterkultor zurück. „Aus Lyon, vom Kommandanten des Kriegsſchiffs“, ſagte er. „Die Luftyacht ‚La‘, mit unerreichbarer Geſchwindigkeit fliegend, iſt in einer unüberſehbaren Wolkendecke verſchwunden und konnte nicht mehr aufgefunden werden.“ Der Beamte ſtand ſtarr. „Ihrer Rückkehr nach Wien ſteht nun vorläufig nichts entgegen“, ſagte Ell. „Das weitere werde ich veranlaſſen. Leben Sie wohl.“ Sobald Ell allein war, ließ er ſich auf ſeinen Stuhl ſinken und ſtützte die Hände in den Kopf. Das hatte La getan! Er konnte es nicht begreifen. Um Saltners willen! Er ſah ſie vor ſich, wie ſie damals, als er auf dem Nu mit ihm ſtritt, Saltners mannhaftes Eintreten für das Vaterland mit einem Kuß belohnte, und eine Regung von Neid ſtieg in ihm auf, die er gewaltſam zurückdrängte. Mochte ſie! Der Vorgang hatte für ihn eine ganz andere Bedeutung. Das war offne Auflehnung gegen die Herrſchaft der Nume auf der Erde. Was Saltner getan hatte, freilich, das ſah ihm ganz ähnlich, das mochte er ſelbſt verantworten, ja er konnte es ihm nicht einmal verdenken. Und er hätte es ihm herzlich gegönnt, daß ihm die Flucht glücke. Gegen ihn einſchreiten zu müſſen, war ihm ein peinlicher Gedanke. Ja, wenn es Saltner aus eigner Kraft gelungen wäre, ſich der Verfolgung zu entziehen! Aber daß es durch Las Hilfe geſchehen mußte! Daß ſie ſich dazu hergab, den Schuldigen der Macht des Geſetzes zu entreißen! Wie konnte ſie das vor ſich ſelbſt verantworten? Mag ſein, daß ſie ſich keines ungeſetzlichen Mittels bedient hatte, mag ſein, daß ſie glaubte, in gutem Recht bei ihrer Selbſthilfe zu handeln. Aber die Beihilfe zur Flucht war doch ein Faktum, das blieb. Und dieſen Mann band ſie in aller Form an ſich — La, die Tochter Frus —, was mußte das wieder auf dem Mars für Aufſehen erregen! Daraus würden die Gegner Kapital ſchlagen. Schließlich würde man natürlich Ell verantwortlich machen, daß der Geiſt der Widerſetzlichkeit nicht nur bei den Menſchen geduldet werde, ſondern ſich durch die Berührung mit ihnen ſogar auf die Nume fortpflanze. Und was würde La tun? Wohin wollte ſie ſich flüchten? Wenn ſie nach dem Mars ging oder nach fremden Teilen der Erde, welch ſchwierige Auseinanderſetzungen, Verhandlungen, neue Angriffspunkte ergaben ſich da? Gab es denn heute keine Ruhe für ihn? Er mußte ſie ſuchen. Wo? Zu Isma! Er wollte zu Isma. Er erhob ſich. Da fiel ſein Blick auf das zweite Telegramm. Mochte es liegen bleiben! Doch nein, das ging nicht, vielleicht war es doch wichtig. Er brach es auf. Oh, wie lang! „Kalkutta. ... Der Kommiſſar der Marsſtaaten hat die Ehre zu melden, daß es geglückt iſt, unzweifelhafte Spuren des geſuchten Hugo Torm aufzufinden und daß die Beweiſe vorliegen. Torm war der Fremde, der wiederholt in den Verhandlungen mit Tibet erwähnt wurde und ſich längere Zeit in Lhaſa aufgehalten hat. Es ſind Leute ermittelt worden, die mit ihm die Reiſe nach Kalkutta gemacht haben und ſich im Beſitz von Gegenſtänden befinden, die ſie von Torm erhielten. Hier konnte feſtgeſtellt werden, daß Torm am 18. oder 19. Auguſt das Poſt-Luftſchiff nach London benutzt hat. Sein gegenwärtiger Aufenthalt konnte hier nicht ermittelt werden.“ Ell ſank auf ſeinen Platz zurück. Torm lebte! Daran war nun kein Zweifel mehr möglich. Ell fühlte, wie ſich ihm das Blut in den Kopf drängte, wie ſeine Gedanken ſich verwirrten — —. Und jetzt brauchte er Klarheit, volle, nüchterne Klarheit! Warum freute er ſich denn nicht? Er mußte ſich doch freuen, daß der bewährte Freund, der verdiente Forſcher, der Menſch überhaupt gerettet war, und vor allem, daß — — Ja, er wollte ja zu Isma. Er wollte bei ihr Ruhe ſuchen und Troſt. Jetzt konnte er ſie ihr bringen. Jetzt konnte er ihre Hände faſſen und ihr ſagen: „Freue dich, Isma, er lebt!“ Und er ſah, wie ſie die Augen aufſchlug und ihn ungläubig anſah und er wieder ſagte: „Er lebt“, und wie die blauen Augen ſich mit Tränen füllten und ſie aufſchrie: „Er lebt!“, und wie ſie an ſeine Bruſt ſank und den Kopf an ſeine Schulter lehnte und ſchluchzte: „O mein Freund, mein Freund! Ich bin ſo glücklich!“ Und es war ihm, als müßte er ſie von ſich ſtoßen, und doch war es ſolche Seligkeit, ſie an ſich zu preſſen und die Lippen auf ihr Haar zu drücken, und zu ſehen, wie dies geliebte Weſen ſich nicht zu faſſen wußte im unerhofften Glück — —. Warum freute er ſich denn nicht? Warum zögerte er auch nur einen Augenblick? Alſo vorwärts! Er ſtand wohl auf, er ſchritt auf und ab, er blieb vor dem Telephon ſtehen, aber er konnte ſich nicht entſchließen, nach dem Wagen zu rufen. Nein, er konnte ſich nicht freuen, er wollte nicht! Das Glück war ihm ſo nahe, die erträumte Zukunft ſo ſchön — und es ſollte nicht ſein? Aber was war denn geſchehen? Würde es nicht ſo ſein, wie es immer geweſen war? Würde ſie ihn weniger lieb haben? Würde er ſie nicht ſehen, ſo oft er wollte? Hatte er ſie je anders begehrt? Wußte er nicht ſeit Jahren, daß ſie ihm nie anders gehören würde, und war er nicht glücklich geweſen trotz alledem mit der treuen Freundin? Doch, es war anders, es war eben nicht mehr ſo wie früher. Er wußte es, ſie ſelbſt hatte ſich frei gefühlt, ſie hatte ſich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß ſie den Gatten nie wiederſehen würde, ſie hatte den Schmerz durchlebt und langſam ſich gewöhnt, an den Verſchollenen zu denken als an einen Verlorenen. Und wenn ſie je die Zukunft erwog, ſo ſah ſie einen andern neben ſich. Und er, Ell, er glaubte nur zu ſicher zu wiſſen, daß dieſe Zukunft ihm gehörte, zu feſt hatte ſich die Hoffnung in ihm gegründet, daß er ſie nun bald ſein nennen würde in einem andern Sinne, ganz ſein. Er mochte das namenloſe Glück nicht ausdenken, nur das wußte er, wie viel leichter er dann die Schwere ſeines Ringens und Kämpfens ertragen würde. — — Ja, es war anders geworden, er ſah ſchon lange nicht mehr in ihr die Freundin, der er geſchworen hatte zu dienen ohne Verlangen. In verzehrenden Flammen loderte in ihm die Leidenſchaft, ſie zu beſitzen! Sie wieder zurückkehren zu ſehen in die Arme eines andern — nein, es war nicht mehr möglich. Es konnte nicht mehr ſo ſein, nimmermehr konnte er neben ihr hergehen in ehrlicher Entſagung. Wenn er jetzt die Geliebte verlor, ſo verlor er auch die Freundin, ſo hatte er ſie ganz und auf immer verloren —. Dann mußte er fort, er durfte ſie nicht mehr ſehen — ſie war ihm verloren — verloren — — Und das ſollte er ertragen? Und das ſollte er dulden? Und dabei wiſſen, daß ſie ihn liebte? Wo war denn der Mann? Er war ja nicht da. Zurückgekehrt, ein Totgeglaubter, und der erſte Schritt war nicht zu ſeiner Frau? Warum kam er nicht und nahm ſein Recht in Beſitz? Warum verbarg er ſich? Kam er vielleicht doch niemals wieder? Und wäre dieſer Kampf mit ſich ſelbſt und der Sturm, den die Nachricht in Ismas Herzen erregte, wären ſie unnütz, zwecklos? Doch nein, die Nachricht war zu ſicher. Aus einem Poſtluftſchiff der Martier ſteigt man an einer Station aus, aber man verunglückt nicht. Und wenn man in einem der ziviliſierten Staaten ausgeſtiegen iſt, ſo verſchwindet man nicht ſpurlos, wenn man nicht will, wenn man nicht gute Gründe dazu hat. Warum alſo verbirgt ſich Torm? Nur in ſeinem Gewiſſen muß der Grund liegen, er muß etwas getan haben, das ihn zur Flucht vor der Welt veranlaßt. Aber warum auch vor Isma? Alſo auch vor ihr muß er ſich ſcheuen? Er will vielleicht gar nicht zu ihr? Offenbar, er will nicht! Und vor dieſem Mann, der vielleicht Ismas nicht mehr würdig iſt, der ſich vor ihr verbirgt, ſollte er, Ell, das Feld räumen? Wenn Torm ſich gegen die Nume vergangen hatte, ſo war es Ells Pflicht, dies zu ſühnen. Welche Rückſicht ſollte er nehmen, wenn Torm ſelbſt ſeine Rechte aufgab oder das Recht der Nume ſie ihm abſprach? Und deshalb ſollte Ell den grauſamen Verzicht auf ſich nehmen, der ihm das Liebſte, das Teuerſte entriß, der ihm die Wurzel im innerſten Gemüt zerſtörte, aus dem ſeine Energie, ſein Mut, ſein Vertrauen, die ganze große Aufgabe ſeines Lebens die beſten Kräfte zog? Ell ballte die Fauſt. „Hab ich mein Sein hingegeben für die Sache, ſo will ich auch mein Glück mir erobern! Wo iſt er, dem ich ſie geben ſoll, die ich mir verdient habe, die mir gehört? Wo iſt er? Verſchwunden —, nun gut — er bleibe verſchwunden!“ Er ſank in ſeinen Stuhl zurück und verfiel in dumpfes Brüten. Tiefe Stille herrſchte in dem weiten Raum, nur von Zeit zu Zeit entrang ſich ſeiner Bruſt ein Seufzer, ohne daß er darum wußte. Und er wußte nicht, daß die Zeit verging, daß das Dunkel des Abends ſich über die Stadt gelegt hatte — — Und wenn Torm doch kam? Ja, verhindern konnte er es wohl, aber mit dieſem Wiſſen vor Isma treten — das konnte er nicht. Und ſie ſein nennen um den Preis einer Schuld — das konnte er nicht, das war ja unmöglich. Und wer weiß — er hatte Isma mehrere Tage nicht geſehen —, wenn — wenn Torm ſchon gekommen wäre? Er fuhr in die Höhe, von einem plötzlichen Schrecken aufgejagt. Wenn ſie bei ihm wäre, und ihm nichts davon geſagt hätte, wenn — — Jetzt bemerkte er, daß es dunkel war. Ein Handgriff ſchaltete das Licht ein. Dann ſtand er vor dem Telephon. Wie es auch werden mochte, verbergen durfte er ihr nichts! Er fragte an, ob Isma zu Hauſe wäre. Sie war da. Sie freue ſich ſehr, ihn bald zu ſehen. Wenige Minuten ſpäter ſaß Ell in ſeinem Wagen. Er ließ ſo ſchnell fahren, als es der Straßenverkehr ermöglichte, aber der Weg war weit. Er ſah es jetzt ein, er durfte ihr die Nachricht nicht vorenthalten. Wenn Torm nicht zu ihr zurückkehrte, ſo mußte ſie trotzdem wiſſen, daß er hätte zurückkehren können. Aber wie würde dies auf ſie wirken? Nun ſorgte er ſich wieder um die Freundin. Doch er hatte ſich einmal angemeldet —. Er wollte ſie ſprechen, er konnte ja vorſichtig ſein, die neue Hoffnung für ſie nur andeuten — — Der Wagen hielt, diesmal direkt vor der Tür. Ell eilte die Treppen hinauf. Die Wirtin öffnete. Ell wollte mit flüchtigem Gruß an ihr vorüber. „Der Herr Kultor werden verzeihen“, ſagte ſie verlegen. „Frau Torm ſind nicht zu Hauſe.“ Ell prallte zurück. „Nicht zu Hauſe? Aber ich habe ja vor einer halben Stunde mich angemeldet.“ „Ja, Frau Torm haben es mir auch geſagt, wir waren gerade bei Tiſch, aber dann — dann —“ „Was war dann?“ fragte Ell ungeduldig und hart. „Der Herr Kultor mögen verzeihen, ich weiß es ja nicht —. Es kamen die beiden Damen wieder —“ „Welche Damen?“ „Nun die Damen vom Mars, die geſtern ſchon hier waren und die Partie gemacht haben mit Frau Torm.“ „Welche Damen? Welche Partie? Sagen Sie alles!“ „Um Gottes willen, ich weiß ja nichts weiter, ſie waren drin im Zimmer, nur kurze Zeit, und auf einmal kam Frau Torm herausgeſtürzt im Mantel und Hut, ganz eilig, und rief nur ‚Ich muß fort‘, und die beiden Damen gingen mit ihr, ich weiß ja nicht wohin. Und ich wollte noch fragen, was ich denn nun ſagen ſollte, wenn der Herr Kultor kämen, aber weil die beiden fremden Damen vom Mars dabei waren, getraute ich mich nicht. Und ich bin noch die Treppe hinuntergelaufen und habe geſehen, es ſtand ein Wagen vor der Tür, in dem fuhren ſie alle drei fort —“ „Wie lange iſt das her?“ „Noch keine zehn Minuten.“ „Führen Sie mich ins Zimmer, ich werde warten.“ „Ach, entſchuldigen Sie nur, Herr Kultor, das habe ich noch ganz vergeſſen, Frau Torm hat mir zugerufen, ſie käme die Nacht nicht zurück.“ „So will ich doch nachſehen, ob ſie nicht eine Nachricht für mich hinterlaſſen hat.“ Ell ſah ſich vergeblich im Zimmer um. Kein Zeichen für ihn. Isma hatte offenbar ganz vergeſſen, daß ſie ihn erwartete. Er ging. Er wußte nicht, was er denken ſollte. Mit Torm mußte dieſer plötzliche Aufbruch zuſammenhängen, das war das einzige, was er ſich ſagte, aber weiter kam er nicht. Und ſo konnte ſie ihn verlaſſen, ohne auch nur mit einem Wort ſeiner zu gedenken? Und die Damen vom Nu? Völlig niedergeſchlagen kam er zu Hauſe an. Neue Depeſchen waren eingetroffen. Er las ſie durch — von Isma war nichts darunter. Er fühlte ſich nicht imſtande, zu arbeiten. Ein Gedanke drängte ſich ihm immer wieder vor: Verloren! Verloren! Das hatte er um ſie verdient? Es war zehn Uhr geworden. Da klang es noch einmal am Depeſchentiſch. Die tiefe Glocke. Das war etwas Beſonderes, eine Lichtdepeſche vom Mars. Er öffnete das Stenogramm und ſah nach der Unterſchrift: „Für den Zentralrat, der Präſident der Marsſtaaten.“ „Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß der Zentralrat Ihnen ſeine ernſte Mißbilligung ausſprechen muß über die Nachſicht, mit welcher im deutſchen Sprachgebiet die Übergriffe der Menſchen gegen unſre Beamten behandelt werden. Der Zentralrat erwartet von Ihnen ſofortige entſchiedene Maßregeln, wodurch den Menſchen begreiflich gemacht wird, daß ſie der Herrſchaft der Nume ſich unter allen Umſtänden ohne Widerſetzlichkeit zu beugen haben. Zugleich mögen Sie Vorbereitungen treffen, daß die nach dem nächſtens zu veröffentlichenden Geſetz auf das deutſche Sprachgebiet fallende Kontribution von einer Milliarde Mark rechtzeitig erhoben werden kann.“ Ell ſchleuderte das Blatt auf den Tiſch. „Das bedeutet den Sieg der Antibaten!“ rief er aus. 58. Löſung Zu derſelben Zeit, als Ell in ſeinem Wagen nicht ſchnell genug durch die Straßen Berlins jagen konnte, ſaß Torm an einem der großen Tiſche des Bibliothekzimmers in der Friedauer Sternwarte. Er beugte ſich über ſeine Arbeit. Wohl zuckte es häufig in ſeiner Hand, die Blätter mit den langen Zahlenreihen zurückzuſchieben, aber er bezwang ſich; denn er wußte, daß ihn dann die bohrenden Gedanken nur noch heftiger quälten. Durfte er noch länger hier zögern? Und was ſollte er tun? Grunthe hatte ſich an den Protektor Ill ſelbſt gewandt, um zu erfahren, welche Motive den neuen Nachforſchungen nach Torm zugrunde lägen. Aber die Antwort war noch nicht eingetroffen. Wie die Zeitungen meldeten, hatte ſich der Protektor, vom Zentralrat berufen, zu einer wichtigen Konferenz nach dem Mars begeben. Ehe er zurückkehrte, konnten, trotz der gegenwärtigen günſtigen Stellung der Planeten und der neuerdings erzielten koloſſalen Geſchwindigkeit der Raumſchiffe doch noch gegen zwei Wochen vergehen. So lange noch hier auszuhalten, erſchien Torm manchmal als eine Unmöglichkeit. Und was dann, wenn die Antwort ungünſtig ausfiel? Alle ſeine Willenskraft bot er auf, um die Sehnſucht nach Isma zurückzudrängen. Und doch grübelte er immer wieder, ob es nicht richtiger ſei, ihr ſelbſt die Entſcheidung zu überlaſſen, ſich zu ihm zu bekennen oder nicht. Doch nein, das hieße, ſie zu einem verhängnisvollen Entſchluß treiben. Aber er, er ſelbſt, ſollte er nicht für ſich auf die Entſcheidung ſeines Schickſals dringen, indem er Ell benachrichtigte? Er fand die Antwort nicht und verſenkte ſich aufs neue in ſeine Rechnungen. Da klang plötzlich durch die Stille des Raums aus dem Nebenzimmer, in welchem Grunthe arbeitete — die Tür war nur angelehnt —, eine helle Stimme, die Torm emporfahren machte. „Grüß Gott, Grunthe!“ erſcholl es. „Saltner!“ hörte er Grunthe freudig überraſcht rufen. „Ja, ich bin’s. Und ich will Sie nur ins Schiff holen, hier getraue ich mich nicht herein. Aber eins, ſagen Sie gleich — iſt Torm hier? Na, machen’s keine Sperenzen, ich weiß, daß er bei Ihnen logiert. Wo iſt er?“ „Er arbeitet in der Bibliothek.“ „Dann heraus mit ihm, rufen Sie ihn. Frau Isma iſt hier. Wir haben ſie mitgebracht.“ Da flog die Tür auf. Torm ſtand im Zimmer. „Wo?“ fragte er bloß. Aber er wartete keine Antwort ab. Es konnte ja nicht anders ſein — ſie war im Schiff, und das Schiff lag natürlich im Garten. Mit einem Satz war er an der Tür der Veranda und riß ſie auf. Hier lehnte Isma am Geländer der Treppe. Pochenden Herzens wartete ſie auf den Erfolg von Saltners Botſchaft. Einen Moment blieb Torm ſtehen, als er ſie erkannte, nur einen Moment. Dann hielt er ſie in den Armen. Wie lange, ſie wußten es nicht. „Komm herein!“ ſagte er endlich. Noch vermochte er nichts anderes zu ſprechen. Er trug ſie faſt in das Zimmer. Es war leer. Grunthe und Saltner hatten es durch eine andere Tür verlaſſen. Sie hielten ſich an den Händen und blickten ſich an. Isma zitterte. Die Tränen drängten ſich in ihre Augen. Das war er! Der von ihr geſchieden war in der blühendſten Kraft des Mannes, hoffnungsfroh und ſiegesgewiß — das Haar war ergraut, tiefe Falten hatten Anſtrengung und Sorge in ſeine Stirn gegraben —, ſie hätte Mühe gehabt, ihn wiederzuerkennen — aber die blauen Augen ſtrahlten ihr in der alten Innigkeit entgegen. Sie ſchluchzte. „Ich habe dich wieder!“ Wieder warf ſie ihre Arme um ſeinen Hals, er aber löſte ſich ſanft und ſah ſie nun an mit einem ernſten Blick voll Kummer und Liebe. „Isma“, ſagte er langſam, „du weißt nicht, wen du umarmſt.“ „Ich weiß es, Hugo, ich weiß es! Die Freunde, die treuen, die mich hierherbrachten, haben es mir geſagt. Ich weiß, warum du fernbliebſt, warum du nicht zu mir eilteſt. Es war nicht recht, doch ich verſteh’ es — ich aber gehöre zu dir, drum bin ich hier —“ „Über mir ſchwebt das Gericht und die Not, die Schande, die den Frevler am Geſetz trifft. Du weißt nicht alles —. Ich brach das Vertrauen der Nume am Pol, ich nahm von ihrem Gut, ich floh mit Gewalttat und ſtieß den Wächter hinab ins Schiff Ich bin ein Geächteter, ſolange die Nume herrſchen. An dich aber hab ich kein Recht, du ſtehſt im Schutze des Nu, du biſt frei. Warum kommſt du, mich in die furchtbare Qual zu ſtürzen, wieder von dir fliehen zu müſſen, nachdem ich dich geſehen — oh, es iſt furchtbar!“ „Nein, nein“, rief ſie, aufs neue ſich an ihn ſchmiegend. „Ich laſſe dich nicht von mir, jetzt nicht wieder, und es iſt nicht furchtbar. Was du auch getan, du tateſt es, um zu mir zu kommen, nun trag ich mit dir, was geſchehen ſoll. Aber du brauchſt nichts zu fürchten. Unſere Freunde führen uns, wohin der Arm der Nume nicht reicht.“ Er ſchüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, ſagte er finſter. „Ich nehme keine Gnade an von denen, die ich als Feinde der Menſchheit betrachte, von den Vernichtern meines Glücks — das geht nicht!“ „Oh, wie kannſt du ſo ſprechen! Saltner iſt in derſelben Lage, er hat nicht gezögert, Las Hilfe anzunehmen, er hat ſie zur Frau genommen nach den Geſetzen des Nu —“ „Dann kann er es tun, weil er ſie liebt. Ich aber haſſe dieſe Nume. Und wir beide ſind geſchieden nach dem Geſetz des Nu —“ „Geſchieden, wir? Wer hat das beſtimmt? Dieſes Geſetz iſt nichts ohne unſern Willen. Es ſchützt unſern Willen gegen fremden Eingriff, aber gegen unſern Willen kann es weder feſſeln noch ſcheiden. Und ich habe niemals und werde niemals — o Hugo, wie kannſt du glauben, ich würde dich verlaſſen, ich, die ich ſelbſt die Schuld trage unſrer Trennung — hier ſtand ich, an dieſer Stelle, da beſchwor ich Ell, mich mitzunehmen nach dem Nordpol, denn binnen Tagesfriſt gedacht ich dich zu finden, und es wurden zwei Jahre — nicht durch meine Schuld —“ „Erinnere mich nicht an ihn“, unterbrach er ſie hart. „Dieſe zwei Jahre — oh! Als ich zurückkam und umkehrte vor deiner Tür, da trat er heraus —“ „Hugo“, ſagte ſie flehend, „das Leid hat dich verbittert, ſonſt würdeſt du ſo nicht reden. Ja, er iſt mein Freund, der treueſte, beſte, das weißt du, und das wird er uns immer beweiſen. Eben ſagteſt du, ich ſei frei, wo aber findeſt du mich? In den Prunkzimmern des Kultorpalais oder hier im Aſyl des Geächteten, der mich nicht will?“ Er blickte ſie lange an, dann zog er ſie an ſich. „Verzeih mir“, ſagte er, „es iſt wahr, ich habe dich ja hier, du geliebte Frau. Was kümmert uns der Menſchen Rede? Ich habe gelitten, und das Elend war über mir. Aber die Philiſter ſollen nicht über uns ſein. Wie wollen wir den Numen trotzen, wenn wir nicht uns ſelbſt die Freiheit im Gefühl zu wahren wiſſen? Mir aber zerreißt es das Herz, daß ich dich nicht halten kann mit offnem Trotz, weil ich ſelbſt keine Stätte mehr habe, ſo weit die Planeten kreiſen. Denn eins will ich bewahren, den Stolz, und Rettung will ich nicht durch ihre Gnade!“ Isma beugte ſich zurück und ſah ihm groß in die Augen. „Wenn nicht durch ihre Gnade“, ſagte ſie langſam, „dann gibt es nur eins: durch die Wahrheit!“ Seine Augen erweiterten ſich, als er erwiderte: „Wenn ich dich recht verſtehe —“ „Vertraue dich Ell an. Sage ihm alles und höre, was er für richtig hält. Und wenn es nötig iſt, ſtelle dich ihrem Gericht. Ich aber werde bei dir ſein.“ Er zögerte. „Das heißt, ich gebe mich in ſeine Hand.“ „Er iſt edel und groß.“ Torm runzelte die Stirn. Er dachte lange nach. Endlich ſagte er: „Ich ſehe keinen andern Ausweg. Und nun du zu mir kamſt, darf ich nicht länger zögern, mein Schickſal zu entſcheiden. Ich werde gehen.“ Sie fiel ihm um den Hals. „Geh“, rief ſie, „gehen wir, und ſogleich!“ „Jetzt? Auf der Stelle? Wie meinſt du das? Es iſt Abend — und ich, in meiner Überraſchung, ich habe noch nicht einmal gefragt, wie kamſt du her?“ „Komm mit zu La, und du wirſt alles begreifen.“ Er ſchloß ſie noch einmal in ſeine Arme. Dann gingen ſie Hand in Hand durch das Zimmer nach der Veranda, in den Garten. Sie ſtanden vor dem Luftſchiff. „Verzeih mir“, ſagte Torm zu Isma, „aber jetzt in die Geſellſchaft der andern zu gehen, ſie zu begrüßen, zu reden — es iſt mir unmöglich — und es iſt doch ſchon zu ſpät, um Ell noch zu ſprechen, ſelbſt wenn La uns wirklich ſo ſchnell und noch jetzt —“ „Ich werde La rufen.“ Die Beratung mit La dauerte nicht lange. „Sie, Torm“, ſagte ſie, „wird Ell jederzeit empfangen, und Sie haben nicht eher Ruhe, bis die Entſcheidung gefallen. Für uns aber iſt es erwünſcht, noch heute nacht alles abzuwickeln, denn der Boden Europas brennt uns unter den Füßen, und wenn die Sonne aufgeht, möchte ich hoch über den Wolken ſein. In einer halben Stunde können Sie in Ells Zimmer ſtehen.“ „Ihr Intereſſe entſcheidet“, ſagte Torm. „Meinetwegen dürfen Sie ſich nicht aufhalten. Ich bin bereit.“ La führte Torm und Isma ins Schiff. Sie ſahen noch, wie La mit Grunthe ſprach, der das Schiff verließ. Dann blieben ſie allein im kleinen Salon. Was hatten ſie nicht alles ſich mitzuteilen! Sie glaubten eben erſt begonnen zu haben, als La eintrat und ſagte: „Wir ſind auf dem Vorbau des Kultorpalais, auf dem Anlegeplatz für die Luftſchiffe, ſteigen Sie ſchnell aus und laſſen Sie ſich melden. Da Sie an dieſer nur für Nume zugänglichen Tür Einlaß verlangen, wird man keine Schwierigkeiten machen. Unſer Schiff finden Sie am Akazienplatz, wohin Sie eine der vor dem Palais haltenden Droſchken in wenigen Minuten bringt. Und nun viel Glück auf den Weg!“ Isma umarmte ihn ſchweigend, dann ſtieg Torm die Schiffstreppe hinab. Von den Türmen der Stadt ſchlug die elfte Stunde, als der dienſttuende Bed Torm nach ſeinem Begehr fragte. Ein Beſuch um dieſe Zeit mußte wohl etwas ſehr Wichtiges ſein, darum zögerte er nicht anzufragen, ob der Kultor noch empfange. Er arbeitete noch. Ell erbleichte, als er die Karte las. „In mein Privatzimmer“, ſagte er. Die beiden Freunde ſtanden einander gegenüber. Beide fühlten ſich nicht frei. Beide hatten gegen die Macht eines Verhängniſſes gekämpft, das ſtärker war als ſie, dem ſie ſich nun ergeben mußten. Auch in Ells Zügen hatten Überarbeitung und Sorgen ihre Spuren zurückgelaſſen. Es war nur ein Moment, daß ihre Blicke aufeinander ruhten. Und jeder ſah im andern ein ſtilles Leid, das an ihm zehrte, und die Erinnerung ſtieg auf an die Jahre treuer, gemeinſamer Freundesarbeit und kühner Hoffnung, und die Rührung des Wiederſehens umſchleierte ihre düſteren Blicke mit milder Freude. Sie eilten aufeinander zu, und ihre Hände lagen ineinander. „Sie werden vor allen Dingen wiſſen wollen, wo ich war“, begann Torm endlich „ich aber komme, um von Ihnen zu hören — Sie empfangen mich als Freund, wie aber empfängt mich der Kultor — was habe ich zu erwarten?“ „Ich verſtehe Sie nur halb“, erwiderte Ell betroffen. „Was veranlaßt Sie zu der Frage? Sprechen Sie offen —. Kommen Sie aus Tibet über Kalkutta?“ Torm zuckte zuſammen. „Ach, Sie wiſſen? Doch nun hören Sie erſt alles.“ Er berichtete kurz über ſeine Flucht vom Pol und aus dem Luftſchiff und die Ereigniſſe, die ſich dabei zutrugen. Er verheimlichte nichts. Er erzählte, was ihn veranlaßt hatte, weder ſeine Frau noch Ell aufzuſuchen, ſondern ſich in Friedau verborgen zu halten, wo Se ihn erkannt habe; daß ihn Isma infolgedeſſen aufgeſucht hätte und er jetzt hier ſei, um den Rat Ells zu vernehmen und die Folgen ſeiner Handlungen zu tragen. Ell hörte ſchweigend zu, den Kopf ſinnend auf die Hand geſtützt. Er unterbrach ihn mit keinem Wort, keine Miene verriet, was in ihm vorging. Das hatte er nicht gewußt. Die Tat gegen den Wächter des Schiffes war verderblich für Torm. Ell, als oberſter Beamter der Nume hierſelbſt, mußte ſie verfolgen. Der eben erhaltene Erlaß hatte ihm ſeine Pflicht eingeſchärft. Wenn er dieſer Pflicht folgte, wenn er die Mahnung des Zentralrats annahm, ſo war Torm verloren. Torms Schickſal war in ſeine Hand gelegt. Ein Druck auf dieſe Klingel, und er kehrte nicht mehr aus dieſem Zimmer zurück, nicht mehr zu Isma — —. Und dann? Isma war frei. Aber wo war ſie? Ohne ein Wort des Abſchieds hatte ſie ihn verlaſſen und war zu ihrem Mann geeilt. Ein tiefer, bitterer Schmerz gekränkter Liebe durchzuckte ihn. Durch Jahre hatte ſie ihn in hoffnungsfroher Freundſchaft gehalten, bis die Erwartung des nahen Glücks ihn ganz eingenommen, und jetzt — nun war er ihr nichts mehr. Das war Isma! Ja, er konnte ſich rächen. Er konnte auch — —. Und durfte er denn ſchweigen? Durfte er Torm, nun er um ſein Verbrechen wußte, unbehelligt ziehen laſſen? Ihn der Gattin zurückgeben und ſie in ihrem Glück ſchützen? Und wie dann den Gedanken an ſie ertragen? Torm hatte längſt geendet. Ell ſaß noch immer, den Kopf in die Hand geſtützt, die ſeine Augen beſchattete, ohne zu ſprechen. Torm wartete geduldig, obwohl ſein Herz pochte. Denn jetzt mußte ſich alles entſcheiden. Endlich richtete ſich Ill auf und blickte Torm an. Er begann ruhig, faſt gleichgültig: „Ihr Prozeß am Pol und was damit zuſammenhängt, die Entwendung des Sauerſtoffs — wovon übrigens nichts bekannt geworden iſt —, die unerlaubte Benutzung des Luftſchiffs zur Flucht — darüber können Sie beruhigt ſein. Ich ſehe dies als eine zuſammenhängende einzige Handlung an, die unter die Friedenſamneſtie fällt. Sie können deswegen nicht verfolgt werden. Ich nehme es auf mich, dieſe Akten kaſſieren zu laſſen. Aber das andere! Das iſt traurig, das iſt ſchwer! Wenn es zur Anzeige kommt, ſind Sie verloren.“ Torm ſprang auf. „Sie wiſſen es, ſo bin ich verloren.“ Auch Ell erhob ſich. Er ſchritt durch das Zimmer auf und nieder, noch immer mit ſich kämpfend. Dann blieb er wieder vor Torm ſtehen. „Wenn es zur Anzeige kommt, ſage ich, und wenn Sie bei Ihrem Geſtändnis ſtehen bleiben.“ „Wie kann ich anders.“ „Denn es iſt nichts davon bekannt geworden. Es iſt etwas geſchehen, was Sie nicht wiſſen. Das Schiff mit der geſamten Beſatzung iſt auf der Rückkehr bei Podgoritza durch die Albaner vernichtet worden, ehe irgendeine Nachricht von ihm zu uns gelangt iſt. Niemand wurde gerettet, alle Papiere und Aufzeichnungen ſind verbrannt oder verſchwunden. Niemand kann beweiſen, was Sie getan haben, außer Ihnen — und mir!“ „O ich Tor!“ murmelte Torm; bleich und finſter blickte er auf Ell. „Wollen Sie widerrufen, was Sie mir geſagt haben? Es war vielleicht nur eine poetiſche Ausſchmückung ihres Abenteuers? Sie haben den Wächter nur leicht beiſeite gedrängt?“ „Ich ſchlug ihn vor die Stirn, ich hörte ihn mit einem Aufſchrei dumpf auf die Kante der Treppe ſchlagen. Hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, ich hätte vielleicht geſchwiegen. Lügen werde ich nicht. Und doch — komme, was da kommen will, es iſt beſſer ſo. Gewißheit konnte ich nicht anders erlangen, als daß ich mit Ihnen ſprach. Gewißheit mußte ich erlangen, und die Wahrheit mußte ich ſagen, wenn ich überhaupt ſprach. Und Sie müſſen meine Beſtrafung einleiten.“ „Ich muß es, wenn —“, er unterbrach ſich und ging wieder auf und ab. Dann trat er an das Fenſter. Torm hörte ihn leiſe ſtöhnen. Nun wandte er ſich um. Er ſchritt auf Torm zu. Er ſah verändert aus. Aus dem geiſterhaft bleichen Geſicht leuchteten ſeine großen Augen wie von einem überirdiſchen Feuer. Vor Torm blieb er ſtehen und faßte ſeine Hände. „Gehen Sie“, ſagte er mit Beſtimmtheit. „Gehen Sie, mein Freund, ich werde die Anzeige nicht erſtatten. Was Sie geſprochen haben, der Kultor hat es nicht gehört — verſtehen Sie —“ Torm ſchüttelte den Kopf. „Sie werden es verſtehen, binnen einer Stunde. Wohin gehen Sie? Nach Friedau? Sie haben nichts mehr zu befürchten. Gehen Sie — geben Sie ſich zu erkennen — und ſeien Sie glücklich — gehen Sie —“ Er drängte Torm zur Tür. Ein Diener nahm ihn in Empfang und zeigte ihm den Weg durch die Gemächer und über die Treppen. Sobald Ell allein war, ſank er wie gebrochen auf einen Seſſel. Er ſchloß die Augen und preßte die Hände vor die Stirn. Nur wenige Minuten. Dann ſtand er auf. Er wußte, was er wollte. Mit feſter Hand ſetzte er zwei Depeſchen auf. Die eine war in martiſcher Kurzſchrift, ſie war an den Protektor der Erde gerichtet und trug den Zuſatz: Als Lichtdepeſche auf den Nu nachzuſenden. Die andre ging an Grunthe: Sofort zu beſtellen. „Beſorgen Sie dies eilends“, ſagte er zu dem Diener. „Und nun wünſche ich nicht mehr geſtört zu ſein.“ Torm fand vor der Tür des Palais bereits einen Wagen halten, und als er herantrat, winkte ihm Isma entgegen. Sie hatte keine Ruhe im Schiff gefunden und wollte ihn hier erwarten. Angſtvoll blickte ſie ihm entgegen. „Alles gut!“ rief er und ſprang in den Wagen, der ſogleich ſich in Bewegung ſetzte. „Ich bin frei, wir ſind ſicher! Nun habe ich dich erſt wieder!“ „Gott ſei bedankt“, flüſterte Isma, an ſeine Schulter gelehnt. „Und was ſagte Ell?“ „Gehen Sie nach Friedau, ſeien Sie glücklich!“ „Sonſt nichts?“ „Nichts.“ Nach ihr hatte er nicht gefragt, für ſie hatte er keinen Gruß, keinen Glückwunſch, ihr Name war nicht über ſeine Lippen gekommen. So klang es ſchmerzlich durch ihre Seele, während Torm, immer lebhafter werdend, ſeine Unterredung mit Ell berichtete. Am Akazienplatz verließen ſie den Wagen. Alsbald ſenkte ſich das Luftſchiff auf den menſchenleeren Platz und nahm ſie auf. Gegen ein Uhr nachts ließ ſich das Luftſchiff wieder auf ſeinen Ankerplatz im Garten der Sternwarte von Friedau nieder. Grunthe hatte die Rückkehr erwartet. Saltner holte ihn herbei. „Es iſt zwar ſchon ſpät, aber das hilft heute nichts, und aus den Beobachtungen wird auch nichts. Eine Stunde müſſen Sie uns noch ſchenken. Ich feiere nämlich meine Hochzeit, ſchauen’s, da müſſen Sie ſchon noch einmal luſtig ſein. Ich habe die ganze Expedition eingeladen.“ Als er in den Salon des Schiffes trat, fand er eine Tafel für ſechs Perſonen nach Menſchenſitte gedeckt. „Wir ſind eigentlich zwei Brautpaare“, ſagte Saltner zu Grunthe. „Von Ihnen verlangen wir nicht, daß Sie das dritte abgeben, aber eine Dame haben wir doch für Sie. Meine Mutter ſchläft freilich, aber hier — die Se kennen’s ja, wir haben uns wieder verſöhnt.“ „Ausnahmsweiſe“, ſagte Se lachend, „werde ich mich heute herablaſſen, mit euch fünf Menſchen an einem Tiſch zu eſſen, aber nur zu Ehren der drei Entdecker des Nordpols.“ Unter lebhaftem Geſpräch hatte man an der Tafel Platz genommen. Torm wandte ſich zu Se und ſagte, ſein Glas erhebend: „Die Vertreterin der Nume geſtatte mir, nach unſrer Sitte ihr zu danken. Denn ihrem Scharfblick verdanke ich das Glück dieſer Stunde.“ „Ich danke Ihnen“, erwiderte Se, „und ich freue mich, daß Sie nun dem Bild wieder ähnlich ſehen, nach welchem ich Sie erkannte.“ „Und jetzt“, rief Saltner, die Gläſer neu füllend, „wie damals, als wir zuerſt den Pol erblickten, bring ich wieder ein Hoch aus auf unſre gnädige Kommandantin, auf Frau Isma Torm, und diesmal ſtößt ſie ſelbſt mit an, und das iſt das beſte. Und nun, Grunthe, können Sie wieder ſagen: Es lebe die Menſchheit!“ Grunthe erhob ſich ſteif. Sein Unterarm ſtreckte ſich im rechten Winkel von ſeinem Körper aus, und ſeine möglichſt wenig gebogenen Finger balancierten das Weinglas wie ein Lot, mit dem er eine Meſſung ausführen wollte. „Es lebe die Menſchheit“, ſagte er, „ſo ſprach ich einſt. Ich ſage es jetzt deutlicher: Es lebe die Freiheit! Denn ohne dieſe iſt ſie des Lebens nicht wert. Wenn die Freiheit lebt, ſo iſt es auch kein Widerſpruch, wenn ich mich deſſen freue, was meine verehrten Freunde von der Polexpedition für ihre Freiheit halten, die Vereinigung mit einem Vernunftweſen, das kein Mann iſt. Um aber den abſtrakten Begriff der Freiheit durch eine konkrete Perſönlichkeit unſrer ſymboliſchen Handlung zugänglich zu machen, ſage ich, ſie lebe, die uns die Freiheit gebracht hat. Wie ſie herabſtieg von dem Sitz der Nume und den Wandel ſeliger Götter tauſchte mit dem ſchwanken Geſchick der Menſchen, nur weil ſie erkannte, daß es keine höhere Würde gibt als die Treue gegen uns ſelbſt, ſo zeigte ſie uns, wie die Menſchheit ſich erheben kann über ihr Geſchick, wenn ſie nur ſich ſelbſt getreu iſt. Denn es gibt nur eine Würde, die Numen und Menſchen gemeinſam iſt, wie der Sternenhimmel über uns, das iſt die Kraft, nachzuleben dem Geſetz der Freiheit in uns. Sie tat es, und ſo brachte ſie die Freiheit dieſen meinen Freunden, und allen ein Vorbild, wie Nume und Menſchen gleich ſein können. Darauf gründet ſich unſre Hoffnung der Verſöhnung, der wir entgegenſtreben. Ihr aber, die in ſo hohem Sinn uns genaht und die Freunde der Not entriſſen, ihr gelte unſer Glückwunſch und Hoch. Und ſo ſage ich nun: Es lebe La!“ Er blieb ſtehen, wie in Nachſinnen verloren, ſein Glas ſtarr vor ſich hinhaltend, an das die andern mit Herzlichkeit anſtießen. Saltner küßte La und flüſterte: „Du kannſt dir aber etwas einbilden, das iſt das erſte Mal, daß er eine Frau leben läßt!“ „Und das letzte Mal“, murmelte Grunthe, ſich niederſetzend. Saltner aber ſprang auf und trat zu Grunthe und umarmte ihn, ehe er es verhindern konnte. Grunthe wand ſich verlegen. „Ich glaube“, ſagte er, „ich meine ja eigentlich dieſe La, in der wir ſitzen, das ſchöne Luftſchiff —“ „Oh, oh!“ rief Se, „das hilft Ihnen nichts mehr, Sie haben von ‚Perſönlichkeit‘ geſprochen — jetzt können Sie nichts mehr zurücknehmen.“ „Nein, ich will es ja auch nicht“, ſagte er ernſthaft. Da öffnete ſich die Tür. Der Schiffer trat ein. „Eine Depeſche für Herrn Dr. Grunthe iſt eben gebracht worden“, ſagte er. Grunthe ſtand auf und trat beiſeite. Er las. Dann kehrte er zum Tiſch zurück. Er ſah ſehr ernſt aus. „Es iſt etwas Wichtiges geſchehen“, ſagte er auf die fragenden Blicke der andern. „Ell hat ſein Amt niedergelegt.“ „Wie? Was? Leſen Sie!“ Er reichte Saltner das Blatt. Dieſer las: „Ich benachrichtige Sie hierdurch, daß ich ſoeben bei Ill um Enthebung vom Kultoramt und um meine Entlaſſung aus dem Dienſt der Marsſtaaten eingekommen bin. Unter den obwaltenden Umſtänden iſt mir die Fortführung unmöglich. Ich bitte Sie, meinen Beſitz in Friedau als den Ihrigen zu betrachten. Ich ſelbſt gehe nach dem Mars, um gegen die Antibaten zu wirken. Sie werden bald von mir hören. Glück dem Menſchenbund! Saltner und Torm meinen Gruß. Ihr Ell.“ Isma wußte nicht, wohin ſie blicken ſollte. Sie fühlte, wie Bläſſe und Röte auf ihrem Antlitz wechſelten. In der allgemeinen Erregung achtete man nicht auf ſie. „Alſo darum“, ſagte Torm, „darum ſagte er, in einer Stunde werde ich verſtehen, warum der Kultor meinen Bericht nicht gehört habe — —. Laſſen Sie uns des edlen Freundes gedenken!“ „Auf Ell!“ ſagte Saltner. „Aber Sie müſſen mir noch erklären —“ „Es muß ein politiſches Ereignis eingetreten ſein — vielleicht iſt der Antrag über die Steuern angenommen“, bemerkte Torm. „Alſo auf Ell!“ Sie erhoben die Gläſer. Ismas Hand zitterte. Als ſie anſtieß, entglitt das Glas ihren Fingern und zerbrach. La allein hatte geſehen, was in Isma vorging. Kaum klangen die Scherben auf dem Tiſch, als ſie auch ihr Glas fallen ließ und mit einem leichten Stoß Saltner das ſeine aus der Hand ſchlug. „Das iſt recht!“ rief ſie. „Fort alle mit den Gläſern und Flaſchen! Auch der Nu will ſein Recht haben. Ehe wir Abſchied nehmen, meine lieben Freunde, noch einen Zug vom Nektar des Nu aus den Kellern der La! Und dann hinauf in den Äther!“ 59. Die Befreiung der Erde Zum zweiten Mal war es Herbſt geworden, ſeit La und Saltner die Freunde in Friedau verlaſſen hatten, um zunächſt außerhalb des Machtbereichs der Martier die Entwicklung der Dinge abzuwarten. Das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika ſtand ihnen zur Verfügung. Ihr Haus und ihr Glück führten ſie mit ſich. Ob in den blühenden Gärten des ewigen Frühlings an den Buchten der kaliforniſchen Küſte, ob auf den Schneegipfeln der Sierra Nevada oder unter den Wundern des Yellowſtone-Parks, für La und Saltner galt das gleich, das glänzende Luftſchiff war ihre Heimat; ob es in den Lüften ſchwebte oder unter Palmen ruhte, treu barg es die Wonne der Vereinten und machte ſie unabhängig von der Welt. Nur über dieſes Freigebiet hinaus durften ſie ſich nicht wagen. La mußte ſich den Wunſch verſagen, die Ihrigen auf dem Mars oder auch nur ihren Vater am Pol der Erde zu beſuchen, und konnte ihn ſelbſt bloß zu kurzem Beſuch einigemal bei ſich ſehen. Se war alsbald nach dem Mars zurückgekehrt. Palaoro, der ſich zum geſchickten Luftſchiffer ausgebildet hatte, war bei Saltner zurückgeblieben. Auch die beiden Martier, die in Las Dienſten ſtanden, blieben ihr treu, ſelbſt als ſich das Verhältnis von Martiern und Menſchen ſchärfer zuſpitzte. Die Partei der Antibaten auf dem Mars hatte immer deutlicher ihre Ziele enthüllt. Den Menſchen ſollte die Würde der freien Selbſtbeſtimmung abgeſprochen, die Menſchheit in eine Art Knechtſchaft zum Dienſt der Nume geſtellt werden. Die Erde wollte man lediglich als ein Objekt der wirtſchaftlichen Ausnutzung zugunſten des Mars behandeln und das Kultur- intereſſe der Menſchheit nur inſofern berückſichtigen, als es zum Mittel für die größere Leiſtungsfähigkeit dieſer tributären Geſchöpfe dienen konnte. Und dieſe Auffaſſung des Verhältniſſes zur Erde war jetzt auf dem Mars zum Sieg gelangt. Sowohl im Parlament als im Zentralrat beſaßen die Antibaten die Majorität. Die Abdankung von Ell, die unglücklicherweiſe kurz vor die Neuwahlen fiel, durch welche alle Marsjahre ein Drittel der Volksvertreter neu ernannt wurde, hatte zum Sieg der Antibaten bedeutſam mitgewirkt. Sie war als der ſichtbare Beweis aufgefaßt worden, daß die bisherige Methode in der Regierung der Menſchen nicht die richtige ſei. Man verlangte ein rückſichtsloſes Verfahren, höhere Revenuen, baldige Unterwerfung Rußlands und der Vereinigten Staaten. Mit dem Sieg der Antibatenpartei begann dieſe neue Politik. Maßregel folgte auf Maßregel, um die Erde dem Dienſt des Mars zu unterwerfen. Oß und einige andere höhere Beamte der Martier auf der Erde waren allerdings aus ihren Stellungen abberufen worden, da ſie zweifellos von jener nervöſen Störung befallen waren, die man vulgär als Erdkoller bezeichnete. Aber ihre Erſatzmänner verfolgten die Politik der Unterdrückung nur mit größerer Klugheit. An Ells Stelle war der Martier Lei gekommen, ein ausgeſprochener Antibat, ein ſehr energiſcher Mann, der ſelbſt vor gewalttätigen Eingriffen nicht zurückſcheute. Ell war auf den Mars gegangen und hatte dort mit aller Kraft zugunſten der Erde zu wirken verſucht, vorläufig ohne erkennbaren Erfolg. Gleich ihm waren ſeine früheren Untergebenen in das Privatleben zurückgetreten und agitierten nun auf dem Mars als ſeine entſchiedenen und gefährlichen Gegner. Ells Oheim, der Protektor der Erde und Präſident des Polreichs, Ill, kämpfte noch eine Zeitlang gegen die vom Zentralrat gewünſchten Maßregeln. Als man aber gegen ſeinen ausdrücklichen Rat ihn beauftragte, die Vorbereitungen zu treffen, um im nächſten Frühjahr die ruſſiſche Regierung erforderlichenfalls mit Gewalt zu veranlaſſen, auch in ihrem Gebiet die Einſetzung martiſcher Reſidenten und Kultoren zuzulaſſen und einen jährlichen Tribut von 30 Milliarden Mark zu zahlen — um ſie zu zwingen, die ausgedehnten Steppen und Wüſten im Süden und Oſten mit Strahlungsfeldern zu bedecken —, da legte auch Ill mit ſchwerem Herzen ſein Amt nieder. Die Erde war nun der Gewalt einer den Menſchen feindlich geſinnten Partei ausgeliefert. Rußland machte einen Verſuch zum Widerſtand. Aber der Geiſt, der jetzt auf dem Mars herrſchte, war weniger ‚human‘ als in den erſten Kriegen mit den europäiſchen Staaten. Die Martier ſcheuten ſich nicht, den Hafen von Kronſtadt und das blühende Moskau ohne Rückſicht auf Menſchenleben zu zerſtören. Der Zar gab nach, da er ſah, daß alles auf dem Spiel ſtand und ſeine Herrſchaft zu zerfallen drohte. Es gab keine Mittel für Rußland, der vernichtenden Gewalt der Luftſchiffe zu widerſtehen. Der ruſſiſche Kaiſer wurde Vaſall der Marsſtaaten. Das war im Sommer des dritten Jahres nach der Entdeckung des Nordpols. Schwer lag die Fremdherrſchaft über Europa und den von ihm abhängigen Ländern. Die Geldſummen, welche in Geſtalt von Energie nach dem Mars floſſen, waren ungeheuer. Jedoch nicht dieſe Leiſtungen waren es, die als drückend empfunden wurden. Zwar erhoben die Staaten, um die auferlegten Tribute zu bezahlen, Steuern in einer Höhe, die man vorher für unmöglich gehalten hätte. Aber dies war nur die Form, in welcher ein Strom des Reichtums nach dem Mars hin mündete, deſſen ſchier unerſchöpfliche Quelle in der Sonne lag und nun zum erſtenmal von den Menſchen bemerkt und benutzt wurde. Es fehlte nicht an Geld, vielmehr, der Nationalreichtum ſtieg ſichtlich, und zwar in allen Schichten der Bevölkerung, die Lebenshaltung hob ſich, und von wirtſchaftlicher Not war nirgends die Rede. Denn zahlloſe Arbeitskräfte fanden zur Herſtellung und Bearbeitung der Strahlungsfelder Beſchäftigung, und ſelbſt die gefürchtete Entwertung von Grund und Boden trat nicht ein. Mit dem Fortſchritt in der Herſtellung billiger chemiſcher Nahrungsmittel fanden ſich zugleich andere Methoden der Bodenausnutzung. Der Verkehr blühte. Das Hauptzahlungsmittel beſtand in Anweiſungen auf die Energie-Erträge der großen Strahlungsfelder. Die aufgeſpeicherte Energie ſelbſt kam nur zum kleinen Teil in den Verkehr, die geladenen Metallpulvermaſſen, die ‚Energieſchwämme‘, wurden zum größten Teil direkt nach dem Mars exportiert, die Scheine über dieſe Erträge aber wanderten von Hand zu Hand und in die Regierungskaſſen als Steuern. Von hier wurden ſie als Tribut an die Marsſtaaten verrechnet. So hatten die Martier allerdings durch ihre Tributforderungen die Menſchen gezwungen, der neuen Quelle des Reichtums in der direkten Sonnenſtrahlung ſich zuzuwenden und der Menſchheit einen ungeahnten wirtſchaftlichen Fortſchritt verliehen. Aber ſie hatten dies nicht, wie die Menſchenfreunde auf dem Mars wollten, durch allmähliche Erziehung zur Freiheit getan, ſondern durch Zwang. Und dieſer Zwang war es, der die Menſchen des äußeren Segens nicht froh werden ließ. Es war Fremdherrſchaft, die auf ihnen lag, und je leichter ihnen der Gewinn des Unterhalts wurde, um ſo ſchwerer empfanden ſie den Verluſt der Freiheit und Selbſtändigkeit. Und der gemeinſame Druck ward wider Willen der Martier ein ſchnell wirkendes Mittel zur Erziehung des Menſchengeſchlechts. Er weckte das Bewußtſein der gemeinſamen Würde. Je ſchwerer die Hand der Martier auf den Völkern ruhte, um ſo raſcher und mächtiger verbreitete ſich der allgemeine Menſchenbund. Seine Prinzipien waren noch dieſelben: Numenheit ohne Nume! Erringung der Kulturvorteile, die der höhere Standpunkt der Martier bieten konnte, um die Erde unabhängig von ihrer Herrſchaft zu machen — auf friedlichem Weg. Aber was Ill und Ell als das eigene Ziel betrachtet hatten, darin ſahen die neuen Gewalthaber eine gefährliche Überhebung der Menſchen, die nur zu Unbotmäßigkeit führen würde. Und ſie begingen den großen Fehler, den Menſchenbund zu verbieten. Damit wurde aus dem Bund eine geheime Geſellſchaft, die nur um ſo feſter zuſammenhing. Er wurde ein wirklicher Bund der Menſchen, der aufklärend und verbrüdernd wirkte zwiſchen allen Nationen und Stämmen, zwiſchen allen Geſellſchaftsklaſſen und Bildungsſtufen. Ein jeder fühlte nun, daß er nicht bloß Franzoſe oder Deutſcher, Handarbeiter oder Künſtler, Bauer oder Beamter ſei, ſondern daß er dies nur ſei, um ein Menſch zu ſein, um eine Stelle auszufüllen in der gemeinſamen Arbeit, das Gute auf dieſer Erde zu verwirklichen. Die Gegenſätze milderten ſich, das Verbindende trat hervor. In den Staaten, in denen herrſchende Klaſſen die hergebrachte Scheu vor der Geltung des Volkswillens noch immer nicht überwunden hatten, machte ſich nun doch die Einſicht geltend, daß allein in der Einigkeit des ganzen Volkes die Kraft zur Erhebung zu finden ſei. Längſt erſtrebte Forderungen einer volkstümlichen Politik wurden von den Fürſten zugeſtanden. Man lernte, jeden eignen Vorteil dem Wohl des Ganzen unterzuordnen. Und während ein ohnmächtiger Zorn gegen den Mars in den Gemütern kochte, erhoben ſich die Herzen in der Hoffnung auf eine beſſere Zukunft, und ein machtvoller, idealer Zug erfüllte die Geiſter: Friede ſei auf Erden, damit die Erde den Menſchen gehöre! Der Menſchenbund war der Träger dieſer Ideen, aber man zweifelte nun, ſie auf friedlichem Weg durchführen zu können. Rettung, ſo ſchien es, war nicht mehr zu hoffen vom guten Willen der Martier; man mußte ſie zu erobern ſuchen durch eine allgemeine gewaltſame Erhebung gegen die Bedrücker — „zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, iſt uns das Schwert gegeben“ —. Der Menſchenbund wurde eine ſtille Verſchwörung zur Abſchüttelung der Fremdherrſchaft. Aber wo war ein Schwert, das nicht vom Luftmagneten emporgeriſſen, vom Nihilit nicht zerſtört wurde, das hinaufreichte zu den ſchwereloſen, pfeilgeſchwinden, verderbenbringenden Hütern der martiſchen Herrſchaft? Die herrſchende Gärung konnte den Martiern nicht verborgen bleiben. Die Partei der Menſchenfreunde auf dem Mars machte ſich die Tatſache zunutze, daß die Unzufriedenheit auf der Erde nicht zu leugnen war. Sie wies auf die Gefahren hin, die hieraus entſtehen mußten. Unermüdlich war Ell an der Arbeit, die Tendenzen der Antibaten zu bekämpfen und die Nume mit dem Weſen, der geſchichtlichen Entwicklung und den Beſtrebungen der Menſchen bekannter zu machen. Und ſeine Anhänger wuchſen an Zahl. Aber gerade weil die Antibaten bemerkten, daß ſie Gefahr liefen, an Macht einzubüßen, wurden ſie um ſo verblendeter in den Mitteln zu ihrer Erhaltung. Aufs neue gewann die Abſicht deutlichere Geſtalt, den Menſchen durch ein Geſetz direkt das Recht der Freiheit als ſittliche Perſonen abzuſprechen. Und gegen den Menſchenbund wurde ein Syſtem von Verfolgungen in Szene geſetzt. Die Erbitterung nahm zu. Die Martier aber erkannten, daß die Fäden der Verſchwörung nach den Vereinigten Staaten hinwieſen. Der Sitz der Zentralleitung des Bundes war nicht mehr in Europa, er befand ſich in einem Land, das ihrer Macht nicht unterworfen war. Es kam zu einer ſtürmiſchen Sitzung im Parlament und im Zentralrat des Mars, etwa ein Jahr nach der Unterwerfung Rußlands. Man verlangte, daß nun auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika gezwungen werden ſollten, ſich der direkten Regierung durch die Marsſtaaten zu fügen. Eher werde man vor den Umtrieben des Menſchenbundes und der Widerſetzlichkeit der Erde nicht ſicher ſein. Und die Antibaten ſiegten wieder, obwohl mit geringer Majorität. Den Vereinigten Staaten wurde die Forderung geſtellt, die Häupter des Menſchenbundes, unter denen man Saltner als eines der gefährlichſten bezeichnete, auszuliefern und Reſidenten und Kultoren der Marsſtaaten in die Hauptſtädte der einzelnen Staaten aufzunehmen. Der Beſchluß fand in einem großen Teil der Marsſtaaten keineswegs Billigung. Die Anſichten Ells, der bei einer Nachwahl in das Parlament berufen worden war, wurden in weiten Kreiſen geteilt. Man ſagte ſich, daß ein etwaiger Widerſtand der Vereinigten Staaten zur Niederwerfung viel größere Mittel erfordern würde als die Bezwingung des ruſſiſchen Reiches. Denn hier war die Sache entſchieden, wenn der Zar ſich beugte. In Amerika aber war anzunehmen, daß, wenn auch die zentrale Regierungsgewalt aufgehoben werde, jeder Staat für ſich einen Widerſtand leiſten könne, der bei der weiten Ausdehnung des Gebietes zu umfangreichſter Machtentfaltung und wahrſcheinlich zu traurigen Verheerungen zwingen würde. Aber der Beſchluß war nun gefaßt und mußte durchgeführt werden. Das Ultimatum wurde geſtellt. Es enthielt die Drohung, daß im Fall irgendeiner Feindſeligkeit gegen die zur Ausführung der verlangten Beſtimmungen eintreffenden Luftſchiffe das Geſetz als ſanktioniert zu gelten habe, wonach die geſamte Bevölkerung der Erde des Rechts der freien Selbſtbeſtimmung für verluſtig erklärt werde. Die Vereinigten Staaten antworteten mit der Kriegserklärung. Drei Tage darauf erfolgte von ſeiten der Marsſtaaten die Verkündigung des angedrohten Geſetzes: Die Bewohner der Erde beſitzen nicht das Recht freier Perſönlichkeit. Es war eine Zeit unbeſchreiblicher Aufregung in allen ziviliſierten Staaten. Man empfand die Erklärung als eine Beſchimpfung der geſamten Menſchheit. In Europa herrſchte eine ohnmächtige Wut. Jeder bangte davor, ſich zu äußern oder zu widerſprechen, weil er den Schutz des Rechtes von ſich genommen fühlte. Ein letzter Reſt der Hoffnung ruhte noch auf den Vereinigten Staaten. Aber die Hoffnung war gering. Wie wollten ſie der Macht der Martier widerſtehen? Und wirklich — die Überflutung der Staaten durch eine Luftſchifflotte von gegen dreihundert Schiffen ging vor ſich, ohne daß Widerſtand verſucht wurde. Die martiſchen Schiffe verteilten ſich auf die Hauptverkehrspunkte in dem ganzen ungeheuren Gebiet. Eine merkwürdige Ruhe herrſchte im Land, ein paſſiver Widerſtand, der unheimlich war. Die Kultoren und Reſidenten waren da, aber außerhalb des Nihilitpanzers ihrer Schiffe wagten ſie nichts zu unternehmen. Die Martier ſtellten eine dreitägige Friſt zur Übergabe der Regierungsgewalt und drohten im Fall der Weigerung mit Verwüſtungen in großem Maßſtab, vor allem auch mit Unterbrechung des Verkehrs. Es ſchien keine Rettung. Mit Zittern und Bangen verfolgte man auf der ganzen Erde die Vorgänge in Nord-Amerika. In dumpfem Schmerz beugten ſich die Gemüter. Sollte auch das letzte Bollwerk der Freiheit auf der Erde vernichtet werden? Das war das Ende der Menſchenwürde! Der gegenwärtige Protektor der Erde und Präſident des Polreichs, Lei, war mit der Exekution gegen die Vereinigten Staaten beauftragt worden. Sein Admiralsſchiff lag auf dem Kapitol zu Washington. Am 11. Juli ſollte die zur Unterwerfung geſtellte Friſt ablaufen. Es war am Morgen dieſes Tages, der die Geſchichte der Menſchheit entſcheiden mußte, als der Protektor durch den Lichtfernſprecher der Außenſtation am Nordpol den Auftrag geben wollte, eine Nachricht durch Lichtdepeſche nach dem Mars zu ſenden. Vergeblich verſuchte der Beamte zu ſprechen. Der Apparat verſagte — man mußte auf der Außenſtation den Anſchluß nicht zuſtande bringen können. Es wurde nun nach der Polinſel Ara telegraphiert. Die Leitung war nicht unterbrochen. Aber lange erhielt man keine Antwort. Endlich kam eine Depeſche: „Anweſenheit des Protektors ſofort erforderlich.“ Das Schiff des Protektors raſte nach dem Nordpol, von einer kleinen Schutzflottille gefolgt. Im Lauf des Nachmittags bemerkte man, daß die übrigen in Washington befindlichen Luftſchiffe der Martier ebenfalls nach Norden hin ſich entfernten. Gleiche Nachrichten liefen aus allen übrigen Städten ein. Sobald das letzte Schiff der Martier die Hauptſtadt verlaſſen hatte, tauchten vorher in den Häuſern verborgen gehaltene amerikaniſche Truppen überall auf, die martiſchen Beamten, die allein den Verkehr mit dem Pol hatten vermitteln dürfen, ſahen ſich plötzlich für gefangen erklärt, und die nächſte Depeſche nach dem Pol lautete, nicht mehr in martiſcher, ſondern in engliſcher Sprache: „Wir ſind im Beſitz des Telegraphen. Die feindlichen Schiffe ſind fort.“ Und die Antwort, gezeichnet vom Bundesfeldherrn Miller, lautete: „Großer Sieg! Die Außenſtation iſt erobert, achtzehn Raumſchiffe mit 83 Luftſchiffen fielen in unſere Hände. Lei gefangen. Von den zurückkehrenden Luftſchiffen ſind bereits über fünfzig genommen. Ruft alle Völker zum Kampf auf!“ Das Unglaubliche war geſchehen. Was niemand für möglich gehalten hatte — die Macht der Martier war gebrochen, die Unbeſiegbaren waren gefangen in ihrem eigenen Bollwerk! Eine Vereinigung von lange vorbereiteter Überlegung, von unerhörter Tatkraft und ſchlauem Mut hatte es zuſtande gebracht. Die Nume waren vollſtändig überraſcht worden. Tief verborgen in der Einſamkeit des Urwalds war ein Verein von Ingenieuren ſeit Jahr und Tag tätig geweſen. Der Opferſinn amerikaniſcher Bürger und die von der ganzen Erde zuſammenſtrömenden Mittel des Menſchenbundes hatten hier eine mit unbeſchränktem Kapital arbeitende Werkſtatt ins Leben gerufen. Man hatte auf dem Mars die Technik des Luftſchiffbaus ſchon längſt ſtudieren laſſen, und auf der Erde diente das Luftſchiff ‚La‘ als Muſter. Es war gelungen, durch ſchlaue Operationen große Quantitäten von Rob, Repulſit und Nihilit einzuführen, und der allmächtige Dollar hatte es in Verbindung mit Kühnheit und Intelligenz fertiggebracht, daß hier in aller Stille eine Flotte von dreißig Luftſchiffen hergeſtellt worden war. Die nötige Mannſchaft war eingeübt worden. Das Letztere war hauptſächlich Saltner zu verdanken, der dieſen Dienſt auf ſeinem eigenen Luftſchiff gründlich erlernt hatte. So war es gekommen, daß die Vereinigten Staaten ohne Wiſſen der Martier über Luft-Kriegsſchiffe verfügten, die den martiſchen an Geſchwindigkeit nichts nachgaben. Freilich, dieſe wenigen Schiffe konnten gegen die Übermacht der Martier und ihre überlegene Übung nichts ausrichten. Aber General Miller, der Generalſtabſchef der Union, hatte einen Plan ausgedacht, zu deſſen Durchführung ſie ausreichen konnten. Sobald die Flotte der Martier zur Beſetzung der Staaten aufgebrochen war, hatte ſich die kleine Unionsflotte unbemerkt in das nördliche Polargebiet begeben. Äußerlich beſaßen die Schiffe ganz das Anſehen und die Abzeichen der martiſchen Kriegsſchiffe. So näherten ſie ſich unbefangen der Polinſel Ara. Keiner der hier anweſenden Martier konnte vermuten, daß es ſich um feindliche Schiffe handeln könne. Die Inſel war überhaupt nicht eigentlich militäriſch beſetzt, denn ſie war durch ihre Lage am Nordpol vollſtändig gegen eine Überrumpelung geſchützt gegenüber einem Feind, der keine Luftflotte beſaß. Außerdem ließ ſich die ganze Inſel auf dem Meer durch einen Nihilit-Kordon gegen jede Annäherung zu Schiff abſperren. Es befanden ſich daher nur einige Aviſos zum Nachrichtendienſt hier. Auf den benachbarten Inſeln waren noch große Werkſtätten errichtet, wo die vom Mars eingeführten Luftſchiffe montiert und bemannt wurden. Daneben befanden ſich ausgedehnte Werke zur Komprimierung von Luft, die nach dem Mars verfrachtet wurde. Im ganzen hatte ſich ſo hier eine Kolonie von einigen tauſend Martiern angeſiedelt, die aber in keiner Weiſe auf einen kriegeriſchen Angriff eingerichtet war. Die Überrumpelung der Inſel gelang vollkommen. Zwei Schiffe drangen unmittelbar an den inneren Rand des Daches der Inſel. Die Beſatzung dieſer Schiffe beſtand aus lauter Freiwilligen, die geſchulte Ingenieure waren und die Einrichtungen des abariſchen Feldes ſorgfältig ſtudiert hatten. Ehe man in den Maſchinenräumen wußte, was vorging, waren die martiſchen Ingenieure überwältigt oder durch die vorgehaltene Waffe zur Ausführung der Befehle der Amerikaner gezwungen. Sie wurden verhindert, eine Nachricht durch das abariſche Feld nach der Außenſtation zu geben. Den nächſten Flugwagen, der zum Ring der Außenſtation auffuhr, beſtieg General Miller ſelbſt mit einer auserwählten Schar von Offizieren, Ingenieuren und Mannſchaften. Eine Stunde ſpäter waren ſie auf dem Ring. Auch hier wurden die Ingenieure, welche das abariſche Feld bedienten, ohne Schwierigkeit überrumpelt und gefeſſelt. Dann drang man in die obere Galerie, die große Landungshalle der Raumſchiffe vor. Hier lag die größte Schwierigkeit. Mehrere hundert Martier waren damit beſchäftigt, die Raumſchiffe zu entladen, denn es waren neue Raumſchiffe gekommen mit Kriegsmaterial, vor allem mit neuen Luftſchiffen. Dies waren hauptſächlich Mannſchaften der Kriegsflotte, die mit Telelytrevolvern bewaffnet waren. Sobald ſie die erſte Überraſchung überwunden hatten, ſetzten ſie ſich zur Wehr und zwangen das kleine Häuflein der Angreifer, ſich ſchleunigſt in das untere Stockwerk zurückzuziehen. Hier erhielten dieſe zwar nach einiger Zeit Verſtärkung durch einen zweiten Flugwagen, dennoch konnten es beide Teile nicht auf einen Kampf ankommen laſſen — die Telelytwaffen, die hier gegeneinander wirkſam geworden wären, hätten binnen wenigen Minuten zur vollſtändigen Vernichtung von Freund wie Feind geführt. Die Menſchen aber befanden ſich im Beſitz des abariſchen Feldes und der Elektromagneten der Inſel — ſie drohten, den ganzen Ring durch Veränderung des Feldes zum Sinken zu bringen und die Außenſtation zu zerſtören, wenn ſich die Martier nicht auf der Stelle ergäben. Die Martier konnten zwar auf ihren Raumſchiffen die Außenſtation verlaſſen, doch hätte es mehrere Stunden gedauert, ehe ſie dieſelben klar zum Raumflug hätten machen können. In dieſer Zeit konnte, wenn die Menſchen ernſtmachten, das Kraftfeld der Station und damit das Gleichgewicht des Ringes geſtört werden. Überhaupt ſagten ſie ſich, daß ſie bald Hilfe und Erſatz von den Ihrigen bekommen müßten, und wollten deshalb nicht dieſe wichtigſte ihrer Anlagen auf der Erde gefährden. So blieb ihnen nichts übrig, als ſich gefangenzugeben. Inzwiſchen hatten die übrigen amerikaniſchen Luftſchiffe die geſamte Kolonie auf den Inſeln um den Pol eingeſchloſſen und rückſichtslos mit ihren Nihilitſphären und Repulſitgeſchützen angegriffen. Die vollſtändig überraſchten Martier waren wehrlos, die wenigen Schiffe, die zum Gebrauch fertig waren, wurden ſofort durch die Angreifer zerſtört, ehe ſie ſoweit bemannt waren, daß ſie ſich durch den Nihilitpanzer ſchützen konnten. Andererſeits waren diesmal die Menſchen durch das Nihilit gegen einen Angriff durch die Telelytwaffen geſchützt. Auch hier war die Überrumpelung gelungen, die Martier mußten ſich ergeben. Sie wurden ſämtlich auf der Inſel Ara untergebracht und hier bewacht. Sobald die Inſel im Beſitz der Amerikaner war, wurde nach den Städten der Union telegraphiert, gleich als ob es ſich um Bitten oder Anordnungen der Martier handle. Zunächſt hatte man den Protektor um ſofortige Rückkehr gebeten, dann richtete man ähnliche Anſuchen an die übrigen Schiffe der Martier. Einzelne Kapitäne folgten ohne Bedenken, andere hielten weitere Umfragen, wodurch eine allgemeine Verwirrung entſtand. Es beſtätigte ſich jedoch, daß der Protektor ſelbſt mit einer Flottille nach dem Pol aufgebrochen war. Endlich kam von der dem Pol zunächſt gelegenen Station von einem martiſchen Kapitän ſelbſt ein in der amtlichen Geheimſchrift aufgegebenes Telegramm, das den tatſächlichen Vorgang meldete; die Polſtation ſei von einer Luftſchifflotte der Union überfallen. Hierauf wurden ſämtliche Schiffe zur Hilfeleiſtung nach dem Pol berufen, und auch das letzte Stationsſchiff verließ Washington. Der Telegraph wurde nun von den Beamten der Union in Beſitz genommen, und die Menſchen erhielten jetzt die Nachricht von dem unerhörten Ereignis. Ahnungslos war Lei mit dem ſchnellen Admiralsſchiff allen andern vorangeeilt, um nur ſobald als möglich auf der Inſel zu erfahren, was geſchehen ſei. In ſeinem raſchen Flug bemerkte er die Zerſtörungen in der Kolonie, konnte aber nichts anderes glauben, als daß es ſich um einen Unglücksfall, eine Exploſion handle. Er ſenkte ſich auf das Dach der Inſel, wo nichts Verdächtiges zu bemerken war. Aber kaum berührte das Schiff das Dach, als es im Augenblick erſtürmt wurde. Der Protektor der Erde war kriegsgefangen. Nun erhob ſich die kleine Luftflotte der Amerikaner und flog den nach und nach eintreffenden martiſchen Schiffen entgegen. Dieſe konnten in den ſich nähernden Schiffen nichts anderes erwarten wie entgegenkommende Boten. Sie mäßigten ihren Flug, um etwaige Signale zu erkennen. Da ziſchten die Repulſitgeſchoſſe, und ehe ſich eine Hand nach dem Griff des ſchützenden Nihilitapparates ausſtrecken konnte, wurden die Robhüllen zertrümmert, und die Schiffe der Martier ſtürzten in die Wogen des Meeres oder zerſchellten auf den ſchwimmenden Eismaſſen. Es war eine furchtbare, erbarmungsloſe Zerſchmetterung der Feinde. Noch mehrfach gelang es, vereinzelt ankommende Schiffe der Martier durch Überraſchung zum Sinken zu bringen. Dann hatten einige der nachfolgenden Schiffe den Überfall bemerkt, die ſpäter eintreffenden waren gewarnt und näherten ſich in ihren Nihilitpanzern. Zwiſchen zwei mit den Waffen und Verteidigungsmitteln der Martier ausgerüſteten Schiffen konnte es keinen Kampf geben, beide waren unverletzlich. Die Amerikaner zogen ſich daher auf die Inſel zurück, deren Umkreis auf dem Meer ſie durch die Nihilitzone und deren Dach ſie durch ihre Luftſchiffe ſchützten. So war es auch den Martiern, die nun im Verlauf des Tages ihre ganze Flotte aus den Vereinigten Staaten um den Pol konzentrierten, nicht möglich, einen Angriff zu wagen. Während die Kapitäne noch berieten, brachte ein Schiff die Nachricht, daß nach einer Depeſche vom Südpol auch die Außenſtation an dieſem Pol in den Händen der Menſchen ſei. Sie war gleichzeitig mit dem Nordpol von zwei amerikaniſchen Luftſchiffen überraſcht worden, die hier leichtes Spiel hatten. Der Südpol lag in der Nacht des Winters vergraben, die Station war bis auf eine kleine Anzahl Wächter verlaſſen, die den unerwarteten Beſuch ohne Mißtrauen aufgenommen hatten und ſogleich überwältigt worden waren. Die Nume auf der Erde waren ſomit von jeder Verbindung mit dem Mars abgeſchnitten. Als die Nachricht nach Europa gelangte, brach ein Jubel aus, wie ihn die Erde noch nicht vernommen. Aber auch hier war alles zu einer Erhebung vorbereitet. Überall, wo ſich die Beamten der Martier nicht in ihre Luftſchiffe retten konnten, bemächtigte man ſich ihrer Perſonen. Allerdings hielten die Luftſchiffe ihrerſeits die Hauptſtädte beſetzt und bedrohten ſie mit vollſtändiger Vernichtung. Sie unterbrachen die Verbindungen der Länder mit dem Pol, und zwei Tage lang ſchwebte Europa wieder in banger Sorge. Es war der Rache der Martier ſchutzlos ausgeſetzt, und die Regierungen waren gezwungen, die eignen Staatsbürger zum Teil mit Anwendung von Gewalt zu veranlaſſen, die gefangenen Martier wieder freizugeben. Der erſte Jubel verklang ſo ſchnell, wie er gekommen war, und eine tiefe Niedergeſchlagenheit trat an ſeine Stelle. Doch welch Erſtaunen ergriff die Bewohner der europäiſchen Hauptſtädte, als ſie eines Tages die drohenden Kriegsſchiffe auf den Dächern der Regierungsgebäude verſchwunden ſahen. Zuerſt wollte man an keine günſtige Veränderung glauben, man befürchtete irgendeine unbekannte, neue Gefahr. Um Mittag erſt erklärte eine Bekanntmachung der Regierungen allen Völkern, was geſchehen ſei. Der Waffenſtillſtand mit dem Mars war geſchloſſen worden. Die Amerikaner hatten am Pol neben ungeheuren Vorräten an Rob und Kriegsmaterial einige achtzig Luftſchiffe erbeutet und dieſe durch die gefangenen Martier inſtand ſetzen laſſen. Dadurch waren ſie in die Lage geſetzt, nicht nur den Pol zu halten, ſondern ihre Macht auch über die ganze Erde zu erſtrecken. Zwar konnten ſie den Schiffen der Martier nichts anhaben, aber ebenſowenig konnten ſie von dieſen aufgehalten werden. Sie begaben ſich nach allen denjenigen Punkten der Erde, wo die Martier große Anlagen zur Verwertung der Sonnenſtrahlung geſchaffen hatten, und bedrohten dieſe mit Vernichtung des martiſchen Eigentums. Zugleich drohte man mit der völligen Zerſtörung der Außenſtationen an den Polen. Hierdurch wäre nicht nur das Leben von einigen tauſend Martiern, ſondern auch ein unermeßliches Kapital und die Verbindung zwiſchen Erde und Mars zerſtört worden. Der gefangene Protektor korreſpondierte von der Außenſtation aus durch Lichtdepeſchen mit dem Zentralrat des Mars. Hier erkannte man alsbald, daß die Gefahr ungeheurer Verluſte und Verheerungen nur durch einen friedlichen Ausgleich zu vermeiden war. Der Zentralrat konnte nicht wagen, einen Vernichtungskrieg zu beginnen, der zwar ſchließlich mit der Ausrottung der Menſchen und ihrer Kultur geendet, aber der Regierung der Marsſtaaten die Verantwortung aufgebürdet hätte. Es wurde daher zwiſchen den Marsſtaaten und dem Polreich der Erde einerſeits, den Vereinigten Staaten, die auf einmal die führende Macht der Erde geworden waren, und den Großmächten Europas andererſeits ein Waffenſtillſtand geſchloſſen, deſſen Beſtimmungen im weſentlichen folgende waren: Das Recht der Menſchen auf die Freiheit der Perſon wird anerkannt. Die Nume ſollen auf der Erde keinerlei Vorrechte beſitzen. Das Protektorat über die Erde wird aufgehoben. Sämtliche bisherige Beamte der Marsſtaaten auf der Erde und ſämtliche Kriegsſchiffe haben die Erde zu verlaſſen. Die Kriegsgefangenen werden freigegeben. Die Stationen der Martier auf den Polen ſowie ihr geſamtes auf der Erde erworbenes Vermögen bleibt ihnen erhalten, desgleichen ihre Raumſchiffe auf der Außenſtation des Nordpols. Doch bleiben dieſe Stationen ſo lange im Beſitz der Amerikaner, bis durch einen endgültigen Friedensvertrag das künftige Verhältnis der beiden Planeten geregelt ſein wird, und zwar nach Maßgabe obiger Grundſätze. Dieſer Friedensvertrag iſt innerhalb eines halben Erdenjahres abzuſchließen und ſoll den freien Handelsverkehr beider Planeten als eine Beſtimmung enthalten. Der Sprung von der Not zur Rettung war ſo ungeheuer, daß man erſt allmählich faſſen konnte, welches Heil der Menſchheit zuteil geworden. Und nun war die Freude unbeſchreiblich. Vom Mars kam Raumſchiff auf Raumſchiff und führte die Kriegsſchiffe der Martier und dieſe ſelbſt nach dem Nu zurück. Die Staaten ordneten aufs neue ihre Verfaſſungen und ſchloſſen untereinander ein Friedensbündnis, das die ziviliſierte Erde umfaßte. Die Grundſätze, welche der Menſchenbund verbreitet und gepflegt hatte, trugen dabei ihre Früchte. Ein neuer Geiſt erfüllte die Menſchheit, mutig erhob ſie das Haupt in Frieden, Freiheit und Würde. Am dritten Auguſt verließ das letzte Raumſchiff der Martier die Erde. Erſt wenn der definitive Friede geſchloſſen war, ſollte ein regelmäßiger, friedlicher Verkehr wieder beginnen. Bis dahin durften nur Lichtdepeſchen gewechſelt werden. 60. Weltfrieden Saltner hatte ſich aus Rückſicht auf Las Eigenſchaft als Martierin an der kriegeriſchen Erhebung gegen die Martier nicht beteiligt. La bedauerte innig die Trübung der Beziehungen zwiſchen den Planeten, doch ſtand ſie nicht bloß als Gattin ihres Mannes, ſondern auch mit ihrem Gerechtigkeitsgefühl auf der Seite der Menſchen, die für ihre Unabhängigkeit kämpften. Sie hörte nicht auf zu glauben, daß die Vernunft auf dem Mars ſiegen und zu einem heilſamen Frieden führen werde. Sobald die Herrſchaft der Martier über Europa aufgehört hatte, begab ſich Saltner mit La und den übrigen Angehörigen des Luftſchiffs in ſeine Heimat zurück. Er gab damit vor allem dem Wunſch ſeiner Mutter nach, die von tiefer Sehnſucht nach ihren heimatlichen Bergen befallen war. In der Nähe von Bozen, hoch über dem Tal, erwarb La eine ſchloßartige Villa, um den Herbſt und Winter in dieſem geſchützten ſüdlichen Klima und doch in Höhenluft zuzubringen. Der Verkehr durch Lichtdepeſchen und die Friedensverhandlungen mit dem Mars geſtalteten ſich nicht ſo einfach, wie man gehofft hatte. Die Beamten, welche den Lichtverkehr zu vermitteln hatten, waren wenig geübt, und als im Herbſt die telegraphiſche Station auf die Außenſtation am Südpol verlegt werden mußte, gelang es nur mit Schwierigkeit, den Apparat hier überhaupt zur Funktion zu bringen. Eine Zeitlang fürchtete man, damit gar nicht zu Rande zu kommen, und als dies endlich geglückt war, kamen nicht ſelten Mißverſtändniſſe im Depeſchenwechſel vor, der infolgedeſſen von den Martiern auf das Dringendſte eingeſchränkt wurde. Und doch hätte man gerade jetzt auf der Erde, mehr als je, gern Näheres über die Vorgänge auf dem Mars erfahren. Denn die letzten Nachrichten waren beunruhigender Natur geweſen, und als über ein Vierteljahr vergangen war, ohne daß die entſcheidende Friedensnachricht vom Mars eintraf, begannen beängſtigende Gerüchte über die Abſichten der Martier ſich auf der Erde zu verbreiten. Es waren wiederholt in der Nähe der Station Raumſchiffe beobachtet worden, die ſich allerdings in gehöriger Entfernung hielten, aber, wie man fürchtete, die Vorboten irgendeiner feindlichen Unternehmung ſein konnten. In der Tat ſtand das Schickſal der Erde vor einer furchtbaren Entſcheidung. Die Niederlage der Martier, der Verluſt der Herrſchaft über die Erde, hatte der Antibaten-Partei zunächſt einen ſchweren Schlag verſetzt. Die Vertreter einer menſchenfreundlichen Politik wieſen darauf hin, wie allein das ſcharfe und ungerechte Vorgehen gegen die Bewohner der Erde die Schuld trage, daß der Nume nun vor dem Menſchen ſich demütigen müſſe. Es ſei dies aber eine gerechte Strafe für die Fehler der Antibaten, die ſich ſomit als unfähig zur Führung der Regierungsgeſchäfte erwieſen hätten. Die Idee der Numenheit, die Gerechtigkeit gegen alle Vernunftweſen verlange als die allein würdige Sühne die Beſtätigung der Freiheit, welche die Menſchen ſich erkämpft hätten. Es gäbe überdies kein Mittel, die Menſchen, ſeitdem ſie ſich im Beſitz der Waffen der Martier befänden, auf eine andre Weiſe zu bezwingen, als durch eine vollſtändige Verheerung ihres Wohnorts; eine ſolche Barbarei aber könne den Numen nie in den Sinn kommen. Sie ſeien der Erde genaht, um ihr Frieden, Kultur und Gedeihen zu bringen, nicht um einen blühenden Planeten zu vernichten, nur damit ſie ſeine Oberfläche zur Sammlung der Sonnen-Energie ausbeuten könnten. Obwohl dieſe Anſicht wieder die öffentliche Meinung zu beherrſchen begann, war doch die Macht der Antibaten noch keineswegs gebrochen. Es gab eine große Anzahl Martier, deren wirtſchaftliche Intereſſen durch den Verluſt der von der Erde fließenden Kontributionen geſchädigt waren und deren Vernunft durch den Egoismus der Herrſchſucht Einbuße erlitten hatte. Sie ſtellten ſich auf den Standpunkt, daß die menſchliche Raſſe überhaupt nicht kulturfähig im Sinne der Nume ſei und daß es daher für die Geſamtkultur des Sonnenſyſtems beſſer ſei, die Bewohner der Erde zu vernichten, damit ihr Planet den wahren Trägern der Kultur als unerſchöpfliche Energiequelle diene. Der Wortführer dieſer Anſicht war Oß, während Ell an der Spitze der Menſchenfreunde ſtand. Man warf ihm vor, daß ja gerade durch ſeine Amtsführung als Kultor erwieſen wäre, wie unfähig die Menſchen zur Aneignung der martiſchen Kultur ſeien. Habe er doch ſelbſt ſein Amt aufgegeben. Ell gab zu, daß er ſich über die Schnelligkeit getäuſcht habe, mit der ſeine Reformen zur Wirkung gelangen könnten. Die Nume ſeien zu zeitig zur Erde gekommen, die Menſchheit ſei allerdings noch nicht reif für die Lebensführung der Martier. Aber ſie habe doch gezeigt, daß ſie zu vorgeſchritten ſei, um als unfrei behandelt zu werden. Und deshalb ſei es nunmehr der richtige Weg, durch einen friedlichen Verkehr mit der Erde die Vorteile auszunutzen, welche die Erde als Energiequelle biete, zugleich aber damit der Menſchheit das Beiſpiel einer überlegenen Kultur zu geben, die ihr ein Vorbild ſein könne. Nicht durch Unterjochung, ſondern durch freien Wetteifer müßten die Menſchen erſt auf die Stufe geführt werden, die ſie für die direkte Aufnahme martiſcher Kultur fähig mache. Dieſe entgegengeſetzten Meinungen, die in den Marsſtaaten zu heftigen politiſchen Kämpfen führten, verzögerten die endgültige Entſcheidung über den Friedensſchluß. Beide Parteien ſuchten den Abſchluß immer wieder hinauszuſchieben in der Hoffnung, bei den nächſten Wahlen zum Zentralrat eine entſcheidende Majorität zu bekommen. Man wußte dies auf der Erde und ſah daher dem Ausfall dieſer Wahl mit Spannung und Furcht entgegen. Ell und Oß kandidierten beide für den Zentralrat. Der Sieg Ells bedeutete den Frieden. Der Sieg von Oß ließ befürchten, daß die Martier für ihre Niederlage vom 11. Juli furchtbare Rache nehmen würden. Anfang Dezember mußte die Wahl ſtattfinden, die Entſcheidung fallen. Und gerade jetzt verſagte wieder der Lichttelegraph. Seit vierzehn Tagen hatte man keine Depeſche vom Mars erhalten, vergeblich arbeitete und operierte man an dem Apparat — die Rechnungen wollten mit den Beobachtungen nicht ſtimmen —, und jeden Tag depeſchierte man vom Südpol, daß man beſtimmt hoffe, morgen mit der Einſtellung fertig zu werden. Unheimliche Gerüchte über die Abſichten der Martier durchſchwirrten die Erde. Eines vor allen nahm immer deutlichere Geſtalt an und erfüllte die Gemüter mit Grauſen. Man ſagte, daß ſich in Papieren der Martier, die nach der eiligen Entfernung der Beamten aufgefunden worden ſeien, ausgearbeitete Projekte befunden hätten zu einer völligen Vernichtung der Ziviliſation der Erde. Der ehemalige Inſtruktor von Bozen, Oß, der Kandidat der Antibaten für den Zentralrat, bekannt als ein hervorragender Ingenieur, ſollte der Urheber eines Planes ſein, wonach bei einem dauernden Widerſtand der Menſchen die Oberfläche der Erde unbewohnbar gemacht werden konnte. Einzelne Blätter brachten detaillierte Ausführungen. Es handelte ſich um nichts Geringeres als die Abſicht, die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Achſe aufzuheben. Dieſe Rotation der Erde ſollte ſo verlangſamt werden, daß der Tag allmählich immer länger wurde und endlich mit dem Umlauf der Erde um die Sonne zuſammenfiele, daß alſo Tag und Jahr gleich würden. Dann würde die Erde in derſelben Lage zur Sonne ſein wie der Mond zur Erde, das heißt, ſie würde der Sonne ſtets dieſelbe Seite zukehren. Es gäbe keinen Unterſchied mehr von Tag und Nacht, die eine Seite der Erde hätte ewigen Sonnenſchein, die andere ewige Finſternis — die Sonne bliebe für denſelben Ort ſtets in demſelben Meridian ſtehen. — Die Folgen einer ſolchen Veränderung wären furchtbar geweſen. Der Plan der Martier ſollte angeblich dahin gehen, die Erde in eine ſolche Stellung zu bringen, daß der Stille Ozean in ewiger Sonnenglut, die großen Feſtlandmaſſen aber, der Hauptſitz der ziviliſierten Staaten, in ununterbrochener Nacht blieben. Dann mußte allmählich eine Verdampfung des geſamten Meeres ſtattfinden. Denn die Waſſerdämpfe würden ſich auf der immer kälter werdenden Nachtſeite der Erde niederſchlagen und dieſe mit ewigem Schnee und unſchmelzbarem Gletſchereis überziehen. Eine Eiszeit, der kein Leben widerſtehen könnte, würde auf die Schattenſeite der Erde hereinbrechen, während die Sonnenſeite in Gluten verdorren würde. Wohl nur auf einer ſchmalen Grenzzone könnte ſich Leben erhalten. Aber wer vermochte zu ſagen, welch andere, verderbliche Umwandlungen bei einer derartigen Änderung des Gleichgewichts von Luft und Waſſer auf der Erde noch eintreten mochten? Wohl verſuchte man dieſen Plan als ein törichtes Hirngeſpinſt hinzuſtellen, als ein Schreckmittel, das die Martier wohl abſichtlich den Menſchen zurückgelaſſen hätten. Doch konnte man die entſchiedenen Befürchtungen nicht genügend zerſtreuen. Das Projekt ſchien zu gut fundiert. Oß hatte die Energiemenge ausgerechnet, die zur Hemmung der Erdrotation erforderlich iſt. Sie iſt allerdings ſo groß als die Strahlungsenergie, die von der Sonne in 600 Jahren zur Erde gelangt, wenn man nur die gegenwärtig den Menſchen auf der Erdoberfläche zugängliche Energie in Anſchlag bringt. Viel größer aber iſt die Energieſtrahlung unter Berückſichtigung aller Strahlengattungen. Und wenn die Martier den von ihnen aufgeſpeicherten Energieſchatz aufbrauchten, ſo waren ſie ſicher, ihn wieder erſetzen zu können. Oß hatte eine Methode ausgedacht — er nannte ſie die ‚Erdbremſe‘ —, wonach die Rotationsenergie der Erde ſelbſt die Arbeitsquelle ſein ſollte, um eine Hemmung erzeugen, ſie ſollte zur Arbeit benutzt und ſomit die Erde durch ſich ſelbſt gebremſt werden. Zwanzig Jahre genügten ſeiner Rechnung nach, um die Erdrotation auf das gewünſchte Maß zu verringern. Mit beſonderem Bangen ſah man dem 11. Dezember entgegen. An dieſem Tag fand die Oppoſition von Mars und Erde ſtatt, es trat die Stellung ein, in der die beiden Planeten ſich am nächſten befanden. Bei der Oppoſition am Ende des Auguſt vor vier Jahren war die Anweſenheit der Martier auf der Erde entdeckt worden; die Oppoſition im Oktober vor zwei Jahren hatte den Sieg der Antibatenpartei gebracht; ſo bildete man ſich ein, die nächſte Oppoſition im Dezember dieſes Jahres müſſe wieder durch irgendein unheilvolles Ereignis ſich auszeichnen. Daß ſich dieſes gerade an den 11. Dezember, als den Tag der Oppoſition, knüpfen müſſe, war ja eine Art Aberglaube; daß aber die Zeit der größten Annäherung der Planeten die günſtigſte für etwaige Unternehmungen der Martier gegen die Erde war, ließ ſich nicht leugnen. Und ſo fehlte es nicht an düſteren Prophezeiungen für dieſen Tag. Das Aufhören des Depeſchenverkehrs mit dem Mars vergrößerte nun die Sorge. Man befürchtete, daß die Antibatenpartei geſiegt habe und die Unmöglichkeit, den Apparat einzuſtellen, auf einer abſichtlichen Störung durch die Martier beruhe. Wenn das auch ſeitens der Union, die im Beſitz der Außenſtationen war, nicht zugegeben wurde, ſo traf man doch Anſtalten, im Fall eines unerwarteten Erſcheinens von Raumſchiffen der Martier die Station ſperren, ja im Notfall ſtürzen zu können. Seltſam war es gewiß, daß auch auf der Station am Nordpol, wohin man trotz des Polarwinters ein Luftſchiff entſandt hatte, die Einſtellung des Phototelegraphen nicht gelingen wollte. Inzwiſchen war die Entſcheidung auf dem Mars gefallen. Ein aufregender Streit der Meinungen, wie er ſeit Jahrtauſenden in der politiſchen Geſchichte des Mars unerhört war, fand endlich ſeine Schlichtung. Die Beweggründe, die Ell zuletzt ins Feld führte, hatten einen durchſchlagenden Erfolg. Der Plan von Oß, die Erde zu bremſen, beſtand wirklich, und Ell zeigte, zu welchen unmenſchlichen und verwerflichen Folgen dieſe wahnwitzige Unternehmung führen müſſe, deren Möglichkeit außerdem durchaus fraglich ſei. Und endlich deckte er einen Umſtand auf, der bisher noch immer als Geheimnis behandelt worden war — die Gefahr, die den Menſchen und vielleicht auch den Martiern bei einem dauernden Aufenthalt auf der Erde drohte, das Wiederaufleben der furchtbaren Krankheit Gragra. Selbſt auf dieſe hatte Oß in einem geheimen Memorial hingewieſen als auf ein Mittel, die Menſchen zu vernichten. Ell ſcheute ſich nicht, dieſes Aktenſtück zu veröffentlichen. Da erhob ſich eine allgemeine Entrüſtung in dem überwiegenden Teil der Martier. Schon die ganze Methode geheimer Pläne und Machinationen, die den Martiern als ein bedenkliches Zeichen politiſchen Rückſchritts erſchien, noch mehr aber der Verfall der Geſinnung, die Mißachtung des ſittlich Guten und Edlen empörte auch das Gemüt derer, die ſich eine Zeitlang durch Sondervorteile hatten zu Menſchenfeinden machen laſſen, und erweckten ſie zum Bewußtſein ihrer Würde als Nume. So brachte der Tag der Wahl ein überraſchendes Reſultat. Der Regiſtrierapparat der telegraphiſch abgegebenen Stimmen zeigte für Ell über 312 Millionen Stimmen gegen etwa 40 Millionen für Oß. Ell war mit einer erdrückenden Mehrheit in den Zentralrat gewählt, mit ihm noch Ill und drei andere Führer der menſchenfreundlichen Partei. Die antibatiſche Bewegung war hierdurch endgültig unterdrückt. Schon am folgenden Tag genehmigte der Zentralrat den Friedensvertrag mit den verbündeten Erdſtaaten in der Faſſung, wie er längſt ſorgfältig ausgearbeitet von der menſchenfreundlichen Partei vorlag. Aber ein unerwartetes Hindernis zeigte ſich. Schon in den letzten Tagen waren die Depeſchen nicht mehr von der Erde erwidert worden. Eine Störung des Apparats war vorhanden, und die Martier erkannten, daß ſie auf der Unfähigkeit der Menſchen beruhte, ihren Phototelegraphen zur Einſtellung zu bringen. Trotz aller Bemühungen war es unmöglich, die Friedensbotſchaft der Erde durch Lichtdepeſche mitzuteilen. Der Zentralrat hatte beſchloſſen, daß Ell, in Anerkennung ſeiner Verdienſte um die Erſchließung der Erde und der nun erlangten Verſöhnung der Planeten, an der Spitze der Kommiſſion nach der Erde gehen ſollte, die beauftragt war, den Friedensvertrag zwiſchen beiden Planeten zu vollziehen. Aber es war im Waffenſtillſtand beſtimmt worden, daß kein Raumſchiff auf der Erde landen ſollte, bis nicht telegraphiſch die Annahme des Friedens durch die Marsſtaaten mitgeteilt ſei. Und das war nun vorläufig unmöglich. Ein Raumſchiff, das man entſandte, um Aufklärung über die Urſache der Störungen zu erhalten, und das mit der größten erreichbaren Geſchwindigkeit fuhr, kehrte nach zwölf Tagen unverrichteter Sache zurück. Es hatte verſucht, ſich durch Signale mit der Außenſtation am Südpol zu verſtändigen, war aber nicht verſtanden worden. Und als es Anſtalten traf, ſich auf die Station hinabzulaſſen, wurde es durch Repulſitſtrahlen bedroht und an der Landung verhindert, ſo daß es wieder umkehren mußte. Doch berichtete es, daß, ſoviel ſich bemerken ließe, die Station nicht in richtiger Verfaſſung zu ſein ſcheine und die Unmöglichkeit des telegraphiſchen Verkehrs vielleicht an einer Verſchiebung der Außenſtation liege. Hierauf nahm man ſeine Zuflucht zum Retroſpektiv. Dies geſtattete, die Station genau zu beobachten. Und nun ſtellte ſich für die Gelehrten der Martier unzweideutig heraus, daß der Ring der Außenſtation ſeine Lage geändert habe. Die Berechnung zeigte, daß binnen kurzem das Gleichgewicht des ganzen Kraftfeldes überhaupt geſtört werden müßte, wenn nicht bald eine Korrektur eintrat. Die Menſchen hatten es nicht richtig verſtanden, die Korrektionen vorzunehmen, die zur Erhaltung des Feldes und des Ringes notwendig waren. Die Karte der Polargegend, die auf dem Dach der unteren Stationen ſich befand und den Entdeckern des Nordpols das erſte, unlösbare Rätſel über die Einrichtungen der Martier aufgegeben hatte, diente nämlich dazu, eine Kontrolle für die feinen Bewegungen der Außenſtation infolge von Schwankungen der Erdachſe zu haben. Beide Stationen, im Norden wie im Süden, ſchwebten nun in höchſter Gefahr. Es mußte, ſollte nicht der Verkehr mit der Erde dauernd in Frage geſtellt ſein, ſofort das Kraftfeld in den richtigen Stand geſetzt werden, und dies konnte nur durch martiſche Ingenieure geſchehen. Wie aber ſollten die Martier dies rechtzeitig bewirken, da ſie jetzt kein Mittel hatten, die Menſchen zu benachrichtigen, und ihre Raumſchiffe der Gefahr ausgeſetzt waren, von den Menſchen bei der Landung zerſtört zu werden? Und ſelbſt, wenn es gelang, ſich vor der Landung mit den Menſchen zu verſtändigen, ſo war es noch immer ſehr fraglich, ob bei dem Zuſtand der Station nicht dieſe Landung mit unbekannten Gefahren verbunden ſei. Jetzt das Band mit der Erde neu zu knüpfen, indem man ſich einem Raumſchiff anvertraute, war ein Unternehmen auf Leben und Tod. Wer wollte ſich daran wagen? Der Wille zum Frieden war auf beiden Planeten vorhanden, der Beſchluß der friedlichen Übereinkunft auf beiden Seiten gefaßt. Und nun ſollte der Weltfrieden daran ſcheitern, daß man die Friedensbotſchaft nicht verkündigen, die einzige Brücke, die Außenſtation, nicht vor der Vernichtung ſchützen konnte? Da erbot ſich Ell, das Rettungswerk zu unternehmen. Er wußte, was er wagte. Aber er wußte auch, daß, wenn irgend jemand, ſo ihm die Pflicht erwachſen war, die Verbindung zwiſchen den Planeten herzuſtellen. Wieder ſtand er ſo nahe an der Erfüllung ſeines Lebenszwecks, und noch einmal ſollte ſeine Hoffnung fehlſchlagen? Aber es war auch die einzige Aufgabe, die er noch zu erfüllen hatte. War der Friede geſchloſſen, ſo war alles getan, was er tun konnte. Eine freiwillige Gruppe geübter Ingenieure ſchloß ſich ihm an. Das Regierungsſchiff ‚Glo‘ ſollte Ell mit ſeinen Genoſſen binnen ſechs Tagen nach der Erde bringen. Man hatte verſchiedene Maßregeln ausgedacht, um den Menſchen die friedliche Abſicht kundzutun, insbeſondere die Übermittlung von direkten Nachrichten durch Hinabwerfen geeigneter Gegenſtände auf die Erde. Die Hauptſorge für Ell war, ob er noch zurecht kommen würde, den Einſturz der Außenſtation zu verhindern. Mit noch nie erlebter Geſchwindigkeit ſchoß der ‚Glo‘ durch den Weltraum. Die Störungen des abariſchen Feldes und der Außenſtation waren zwar in der letzten Zeit auch von den Menſchen wahrgenommen worden, doch reichten ihre Kenntniſſe und Mittel nicht aus, ſie in ihren Urſachen zu erkennen und ihre Bedeutung zu beurteilen. Man wußte nicht, in wie großer Gefahr die Station ſchwebe, wenn nicht ſchleunigſt eine Korrektur eintrete. Als ſich Ells Raumſchiff der Station näherte, bemerkte Fru, der genaueſte Kenner dieſer Technik, der Ell freiwillig begleitet hatte, daß die Hilfe nur von der Erdoberfläche aus zu bringen ſei. Von dorther mußte das Feld reguliert werden. Er bezweifelte, ob die regelrechte Beförderung im Flugwagen überhaupt noch möglich ſei oder es für die nächſten vierundzwanzig Stunden bleiben werde, und da Ell fürchtete, viel koſtbare Zeit zu verlieren, ehe er ſich vom Raumſchiff aus mit der Außenſtation verſtändigen könne — denn dies war nur durch unzureichende Signale möglich —, ſo beſchloß er, überhaupt vom Anlegen am Ring abzuſehen. Er wollte vielmehr verſuchen, ſogleich ſo weit in die Atmoſphäre hinabzuſteigen, bis die Dichtigkeit der Luft das Ausſetzen eines Luftſchiffes geſtattete, und mit dieſem wollte er nach dem Pol direkt ſich begeben. Es war dabei wichtig, der Erdachſe ſo nahe wie möglich zu bleiben, obwohl er allerdings hier befürchten mußte, von den Menſchen angegriffen zu werden, ehe er ſeine friedlichen Abſichten darlegen konnte. Das Raumſchiff hatte ſich bis auf zwanzig Kilometer der Erdoberfläche genähert und kam nun in die Luftſchichten, die freilich bei ihrer geringen Dichtigkeit den Menſchen noch nicht geſtatteten, ſich in ihnen ohne Schutz aufzuhalten, aber doch die Grenze bildeten, bis zu welcher ſich dicht verſchloſſene Luftſchiffe allenfalls erheben konnten. Gern wäre Ell noch weiter hinabgeſtiegen, indeſſen ſchon nahten ſich Kriegsſchiffe der Menſchen, deren Angriff er das ſchutzloſe Raumſchiff nicht ausſetzen durfte. Aber dieſe trauten ihrerſeits dem Raumſchiff nicht und hielten ſich in ſo weiter Entfernung, daß der Austauſch von Signalen nicht möglich war. Die Martier ließen ihre in Kapſeln eingeſchloſſenen Briefe durch eine beſondere Vorrichtung aus dem hermetiſch geſchloſſenen Raumſchiff herabfallen, doch war nicht darauf zu rechnen, daß ſie im Gewirr der Eisſchollen des Bodens gefunden werden würden. Inzwiſchen drängte Fru auf einen entſcheidenden Entſchluß, da jede Stunde die Gefahr für die Erhaltung der Station vergrößerte. So entſchloß ſich Ell, das Raumſchiff in einer Höhe zu verlaſſen, zu der die Luftſchiffe nicht emporſteigen konnten. Hier war freilich das Luftſchiff der Martier, auf welchem er das Raumſchiff verlaſſen mußte, ſelbſt der Gefahr ausgeſetzt, ſich nicht ſchwebend halten zu können. Dennoch war der Verſuch, auf dieſe Weiſe zur Erde zu gelangen, die einzige Möglichkeit, die übrig blieb. Und Ill ſchwankte keinen Augenblick, die gefahrvolle Landung zu verſuchen. Um das Luftboot ſo leicht wie möglich zu machen, nahmen außer Ell und Fru nur noch zwei Ingenieure in demſelben Platz. Dann wurde es verſchloſſen und die Entladungskammer des Raumſchiffs geöffnet. Sobald das Luftſchiff von ſeinem Halt gelöſt war, ſtürzte es mit großer Geſchwindigkeit abwärts. Sofort wurden die Flügel ausgeſpannt und der Fall in eine ſchiefe Ebene übergeleitet, die in der Richtung nach dem Pol hinführte. So gelangte das Luftſchiff bis in die Höhe von zehn Kilometern hinab und hatte ſich damit dem Pol ſo weit genähert, daß ſeine Bahn in eine Schraubenlinie verändert werden mußte, damit es nicht zu weit vom Pol fortſchöſſe. Jetzt hatten die amerikaniſchen Kriegsſchiffe das martiſche Schiff bemerkt und näherten ſich ihm, in ihre Nihilitpanzer gehüllt. Es gelang den Martiern, ihr Schiff zu ruhigem Schweben zu bringen. Wie jedoch ſollte man ſich bei den geſchloſſenen Schiffen verſtändigen? Und ſie zu öffnen, verbot die noch viel zu ſtark verdünnte Luft dieſer Höhe. Fru ſtrebte danach, durch weiteres Sinken um einige tauſend Meter in dichtere Luftſchichten zu gelangen. Deshalb zog er die Flügel des Luftſchiffs ein. Nun erſt vermochten die amerikaniſchen Schiffe die große weiße Fahne zu erkennen, die das martiſche Schiff als Friedenszeichen führte. Sie näherten ſich trotzdem weiter. Das eine legte ſich in die Fallinie des martiſchen Schiffes und deutete damit an, daß es ein weiteres Sinken nicht zulaſſen würde. Das andere zog zum Zeichen des Verſtändniſſes ſeinen Nihilitpanzer ein und kam dem martiſchen Schiff ſo nahe, daß man die hinter den ſchützenden Robſcheiben ausgeführten Signale verſtehen konnte. Ell ſignaliſierte: „Wir bringen den Friedensvertrag. Ich, Ell, bin mit dem Abſchluß beauftragt. Laßt uns ſofort nach der Station.“ Der Kapitän antwortete: „Ich bin hocherfreut, darf Sie aber nicht näher heranlaſſen, bis ich Inſtruktionen erhalten habe. Es werden ſogleich weitere Schiffe eintreffen.“ Darauf erwiderte Ell: „Es iſt höchſte Gefahr, die Außenſtation iſt im Gleichgewicht geſtört. Laſſen Sie uns ſogleich hin.“ Hierdurch wurde der Kapitän mißtrauiſch. Er ſignaliſierte: „Das verſtehe ich nicht.“ Ell war der Verzweiflung nahe. Der zähe Amerikaner antwortete nicht, und alles konnte an einer halben Stunde hängen, um die man zu ſpät zur Station kam. Auch Fru wußte nicht, was zu tun ſei. Das Signaliſieren nahm zu viel Zeit in Anſpruch. Ja, wenn man ſprechen könnte! Die Schiffe lagen jetzt dicht nebeneinander. Aber durch die geſchloſſenen Hüllen konnte der Schall nicht dringen. „Ich ſpreche hinüber!“ rief Ell. „Wir können nicht länger warten.“ „Unmöglich“, rief Fru. „Es muß gehen.“ Ehe ihn die andern hindern konnten, hatte er den Verſchluß, der zum Verdeck führte, geöffnet und wieder geſchloſſen. Er ſtand auf dem Verdeck in der eiſigen dünnen Luft. Mit Erſtaunen ſah man vom amerikaniſchen Schiff aus ihm zu. Ell winkte und rief durch ein Sprachrohr. Man verſtand, daß er ſprechen wolle. Der Kapitän, in ſeinen Pelz gehüllt, den Sauerſtoffapparat vor dem Mund, trat ebenfalls auf das Verdeck. Ell mußte, um zu ſprechen, die Sauerſtoffatmung unterbrechen. Er mußte ſchreien, um in der dünnen Luft gehört zu werden. So ſetzte er dem Kapitän die Tatſachen auseinander. Dieſer ſchüttelte einige Male den Kopf, dann begann er zu verſtehen, er nickte. Er hütete ſich wohl zu ſprechen. Mehrere Minuten waren darüber vergangen. Ell fühlte, wie es ihm im Kopf ſauſte, wie ſein Herz ſchlug, wie ſeine Glieder erſtarrten, ſeine Augen nichts mehr erkannten. Aber der Amerikaner trat in ſein Schiff zurück, und im Augenblick darauf entfernte es ſich nach dem Pol zu. Fru öffnete den Verſchluß und zog Ell in das Innere des Schiffes. Er faßte den Zuſammenſinkenden in ſeine Arme, ein Blutſtrom brach aus Ells Munde. Vergeblich bemühten ſich die Martier um den Lebloſen, während ihr Schiff in raſender Eile dem Amerikaner nach dem Pol folgte. * * * Die Mittagsſonne eines klaren, windſtillen Dezembertages lag auf den Bergen, deren helle Landhäuſer über das Etſchtal und die beſchneiten Höhen weit nach Süden hin ſchauten. Es war warm wie im Frühling auf der Veranda, an deren Geländer La lehnte. Ihre Blicke waren auf den Fußweg gerichtet, der von der Stadt nach der Villa emporführte. Dort, wo der Pfad aus dem Tannenwald hervortrat, um in mehrfachen Windungen den ſteilen Raſenabhang vor dem Haus zu erklimmen, wurde jetzt Saltners Geſtalt ſichtbar. Er kam aus der Stadt. Mit Vorliebe pflegte er den Weg, obwohl er eine Stunde tüchtigen Steigens in Anſpruch nahm, zu Fuß zurückzulegen, um, wie er ſagte, nicht aus der Übung zu kommen. Sonſt vermittelte das Luftſchiff den Verkehr in wenigen Minuten. Als er La erkannte, ſchwang er den Hut und ſprang ſchneller den Pfad hinauf. Bald ſtand er auf der Veranda. „Sind Nachrichten da?“ rief La ihm entgegen. „Vom Mars noch nicht, aber vom Südpol“, ſagte er, ſie mit einem Kuß begrüßend. „So iſt die Einſtellung noch immer nicht gelungen?“ „Nein, aber man hat die Annäherung eines Raumſchiffes beobachtet, das der ‚Glo‘ zu ſein ſcheint. Es vermeidet jedoch die Station und ſcheint ſich unter dieſelbe herab bis in die Atmoſphäre ſenken zu wollen. Die amerikaniſchen Luftſchiffe bewachen die geſamte Umgebung des Pols.“ La atmete auf. „Das iſt ein gutes Zeichen“, ſagte ſie. „Hoffentlich begegnet man ihm nicht feindlich, ein einzelnes Raumſchiff iſt nicht zu fürchten, es wird Nachrichten bringen wollen.“ „Man kann das nicht wiſſen. Es iſt gar nicht zu ſagen, was die Martier möglicherweiſe ſich ausgedacht haben und womit ſie uns überraſchen. Du warſt ſelbſt ſehr beſorgt.“ „Ja, wenn Oß geſiegt haben ſollte, wäre allerdings alles zu befürchten. Die ‚Erdbremſe‘ iſt nicht bloß Phantaſie, ich weiß, daß er ſolche Gedanken ſchon mit ſich herumtrug, als er noch Aſſiſtent des Vaters war. Gebe Gott, daß das Schiff eine gute Nachricht bringt.“ „Wir wollen uns nicht vor der Zeit ängſtigen“, ſagte Saltner, indem er den Arm um ihre Schulter legte, um ſie von der Veranda ins Haus zu führen. In dieſem Augenblick hallte vom Tal ein Kanonenſchuß herauf. Gleich darauf ein zweiter und dritter. „Was iſt das?“ fragte La erſchrocken. Beide kehrten um und blickten auf die Stadt hinab. Wieder ertönten die Schüſſe. Sie ſpähten mit den Ferngläſern hinunter. Saltner ergriff Las Hand. „Es muß eine gute Nachricht ſein“, rief er. „Schau dort, an den Türmen und auf den Schlöſſern werden die Fahnen aufgezogen. Sollte etwa —“ „O Sal, wenn es der Friede wäre!“ Saltner eilte ans Telephon. Er ſprach das Telegraphenamt an. Eine Weile mußte er warten, weil die Beamten voll beſchäftigt waren. Dann kam die Antwort. „Botſchaft vom Mars. Der Friedensvertrag nach Vorſchlag der Erdſtaaten vom Zentralrat genehmigt. Ell mit dem Abſchluß des Friedens auf der Erde beauftragt. Nähere Nachrichten ſtehen noch aus.“ La fiel ihrem Mann um den Hals. Tränen der Freude drängten ſich in ihre Augen. Er ſchloß ſie in ſeine Arme. Er wußte, was in ihr vorging. Jetzt, erſt jetzt fand ſie die volle Ruhe, nun war ihr Bund beſtätigt vom Geſchick der Planeten. „Wollen wir hinab, um die neuen Nachrichten in Empfang zu nehmen?“ fragte er. „Laß uns hierbleiben. Ich möchte jetzt nicht gerade unter die Menſchen. Bleibe bei mir in unſerm Haus!“ „So ſoll Palaoro mit dem kleinen Schiff hinab, um uns ſogleich die Extrablätter mit neuen Nachrichten heraufzubringen. Du haſt recht, geliebte La!“ Noch ehe Palaoro zurückkehrte, erfuhr Saltner durch ein telephoniſches Geſpräch mit einem Freund den Hauptinhalt der neuen Depeſchen. Dieſe waren aber ſo unklar und zum Teil widerſprechend, daß La und Saltner nicht wußten, was ſie davon halten ſollten. Es hieß, die Geſandtſchaft unter Ells Führung ſei zum Abſchluß des Friedens eingetroffen und habe die Friedensbotſchaft ſelbſt auf die Erde gebracht. Sie ſei aber an der Landung verhindert worden, weil eine Beſchädigung des abariſchen Feldes vorläge. Eine ſpätere Depeſche beſagte, die Außenſtation ſei im Begriff, zuſammenzuſtürzen, oder ſei ſchon eingeſtürzt. Die Deputation der Marsſtaaten ſei dabei verunglückt. Die letzte Nachricht meldete, die Beſtätigung des Friedensvertrages mit den Marsſtaaten ſei bereits an die Regierungen telegraphiert. Der Erbauer der Station, Fru, ſei zur Rettung der Außenſtation vom Mars herbeigeeilt. La und Saltner tauſchten noch ihre Anſichten über die Bedeutung dieſer Nachrichten aus, als Palaoro mit dem Luftboot anlangte. Das erſte, was er überreichte, war eine lange Depeſche an La. Sie riß den Umſchlag auf. „Vom Vater“, rief ſie jubelnd. „Er kommt zu uns!“ Sie durchflog das Blatt. Ihre Züge wurden ernſt. „Was iſt geſchehen?“ fragte Saltner beſorgt. „Der Vater iſt geſund und die Station iſt gerettet —“ „Gott ſei Dank!“ „In der letzten Stunde. Mit Mühe gelang es dem Vater, das Unheil noch abzuwenden. Daß die Unſeren zurechtkamen, verdanken ſie der Aufopferung Ells. Und er —“ Saltner beugte ſich über das Blatt. La hob ihre tränenfeuchten Augen zu ihm auf, er küßte ihre Stirn. „Das Andenken dieſes Edlen iſt unvergeßlich“, ſagte er. „Er war der Führer auf dem Weg, den die Welt nun wandeln kann zu Freiheit und Frieden.“