„Mutter, willſt Du übermorgen Deine Trauerkleidung nicht ablegen?“
Mit dieſen Worten trat heute morgens Rudolf in mein Zimmer. Für übermorgen nämlich — 30. Juli 1889 — iſt die Taufe ſeines erſtgebornen Sohnes angeſetzt.
„Nein, mein Kind,“ antwortete ich.
„Aber bedenke, an einem ſolchen Freudenfeſte wirſt Du doch nicht traurig ſein — warum alſo das äußere Zeichen der Trauer beibehalten?“
„Und Du wirſt doch nicht abergläubiſch ſein und fürchten, das ſchwarze Kleid der Großmutter könne dem Enkel Unglück bringen?“
„Das wohl nicht — aber es ſtimmt nicht zu der umgebenden Fröhlichkeit. Haſt Du denn einen Eid geſchworen?“
„Nein — es iſt nur ein gefaßter Vorſatz. Aber ein Vorſatz, der an ein ſolches Andenken ſich knüpft — Du weißt, was ich meine — der nimmt die Unverbrüchlichkeit eines Eides an.“
Mein Sohn neigte das Haupt und beharrte nicht weiter.
„Ich habe Dich in Deiner Beſchäftigung geſtört … Du ſchreibſt?“
„Ja — meine Lebensgeſchichte. Ich bin gottlob zu Ende. Das war das letzte Kapitel. —“
„Wie willſt Du den Schluß Deiner Geſchichte geben? Du lebſt ja noch — und ſollſt noch viele Jahre, viele glückliche Jahre unter uns verbringen, Mutter! Mit der Geburt meines kleinen Friedrich, den ich dazu erziehen werde, die Großmama anzubeten, beginnt ja wieder ein neues Kapitel für Dich.“
„Du biſt ein gutes Kind, mein Rudolf. Ich müßte undankbar ſein, wenn ich an Dir nicht Stolz und Freude hätte … und ebenſo ſtolze Freude macht mir meine — ſeine holde Sylvia: ja, ich gehe einem geſegneten Alter entgegen. Ein milder Abend — aber die Geſchichte des Tages iſt doch aus, wenn die Sonne untergegangen, nicht wahr?“
Er antwortete nur mit einem ſtummen, mitleidsvollen Blick.
„Ja, das Wort ‚Ende‘ unter meiner Biographie iſt berechtigt. Als ich den Entſchluß faßte, dieſelbe zu ſchreiben, beſchloß ich zugleich, beim 1. Februar 1871 abzubrechen. Nur, wenn Du mir auch noch durch den Krieg entriſſen worden wäreſt, was ja ſo leicht hätte geſchehen können — zum Glück warſt Du zur Zeit des bosniſchen Feldzuges noch nicht wehrpflichtigen Alters — nur dann hätte ich mein Buch noch verlängern müſſen. Doch ſo wie es iſt, war es ſchon ſchmerzlich genug zu ſchreiben.“
„Und wohl auch — zu leſen …“ bemerkte Rudolf, in der Handſchrift blätternd.
„Das hoffe ich. Wenn dieſer Schmerz nur in einigen Herzen thatkräftigen Abſcheu gegen die Quelle des hier geſchilderten Unglücks weckt, ſo werde ich nicht vergebens mich gequält haben.“
„Haſt Du aber auch alle Seiten der Frage beleuchtet, alle Argumente erſchöpft, den Wurzelkomplex des Kriegsgeiſtes analiſiert, die wiſſenſchaftlichen Grundlagen genügend aufgebaut? Haſt Du —“
„Mein Lieber, wo denkſt Du hin? Ich habe ja nur ſagen können, was ſich in meinem Leben — in meinen beſchränkten Erfahrungs- und Empfindungskreiſen abgeſpielt. Alle Seiten der Frage beleuchtet? Gewiß nicht! Was weiß ich z. B. — ich, die reiche, hochgeſtellte — von den Leiden, die der Krieg über die Maſſen des Volkes verhängt? Was kenne ich von den Plagen und böſen Einflüſſen des Kaſernenlebens? Und die wiſſenſchaftlichen Grundlagen? Wie komme ich dazu, in ökonomiſch-ſozialen Fragen bewandert zu ſein, und dieſe ſind es — ſo viel weiß ich nur — welche ſchließlich alle Umbildungen beſtimmen … Keine Geſchichte des vergangenen und zukünftigen Völkerrechts ſtellen dieſe Blätter dar — eine Lebensgeſchichte nur.“
„Fürchteſt Du nicht eins? Man merkt die Abſicht und —“
„Verſtimmt wird man doch nur durch eine durchſchaute Abſicht, die der Urheber ſchlau zu verbergen meinte. Die Meinige aber liegt unverhohlen zu Tage — iſt ſie doch mit drei Worten ſchon auf dem Titelblatt verkündet.“