Die Verluſtliſte hatte ſchon mehrere Namen von Offizieren gebracht, die ich perſönlich gekannt hatte. Unter anderen des Sohnes — des einzigen — einer alten Dame, für die ich eine große Verehrung empfand.
An jenem Tage wollte ich die Ärmſte aufſuchen. Es war mir ein peinlicher, ſchwerer Gang. Tröſten konnte ich ſie doch nicht — höchſtens mitweinen. Aber es war eine Liebespflicht — und ſo machte ich mich denn auf den Weg.
Vor der Wohnung der Frau v. Ullsmann angelangt, zögerte ich lange, ehe ich die Glocke zog. Das letzte Mal, daß ich hierher gekommen, war es zu einer luſtigen kleinen Tanzunterhaltung geweſen. Die liebenswürdige alte Hausfrau war damals ſelber voller Luſtigkeit. „Martha,“ hatte ſie mir im Laufe des Abends geſagt, „wir ſind die beiden beneidenswerteſten Frauen Wiens: Du haſt den hübſcheſten Mann und ich den trefflichſten Sohn.“ — Und heute? Da beſaß ich wohl noch meinen Mann … Wer weiß? Die Bomben und Granaten flogen ja dort unabläſſig; die letzte Minute konnte mich zur Witwe gemacht haben … Und ich fing vor der Thür zu weinen an. — Das war die richtige Verfaſſung für ſolch traurigen Beſuch. Ich klingelte, Niemand kam. Ich klingelte ein zweites Mal. Wieder nichts.
Da ſtreckte jemand aus einer anderen Flurthür den Kopf heraus:
„Sie läuten umſonſt, Fräulein — die Wohnung iſt leer.“
„Wie? iſt Frau v. Ullsmann fortgezogen?“
„Vor drei Tagen in die Irrenanſtalt überführt worden.“ Und der Kopf war hinter der zufallenden Thür wieder verſchwunden.
Ein paar Minuten blieb ich regungslos auf demſelben Flecke ſtehen und vor meinem inneren Auge ſpielten ſich die Szenen ab, die hier ſtattgefunden haben mochten. Bis zu welchem Grade mußte die arme Frau gelitten haben, bis daß ihr Schmerz in Wahnſinn ausbrach!
„Und da wollte mein Vater, daß der Krieg dreißig Jahre währte — für das Wohl des Landes … wie viele ſolcher Mütter mußten da noch im Lande verzweifeln?“
Aufs tiefſte erſchüttert ging ich die Treppe herab. Ich beſchloß, noch einen anderen Beſuch bei einer befreundeten jungen Frau abzuſtatten, deren Gatte gleich dem meinen auf dem Kriegsſchauplatz war.
Mein Weg führte mich durch die Herrengaſſe an dem Gebäude — das ſogenannte Landhaus — vorbei wo der „patriotiſche Hilfsverein“ ſeine Büreaus untergebracht hatte. Damals gab es noch keine Genfer Konvention, kein „Rotes Kreuz“, und als Vorbote jener humanen Inſtitutionen hatte ſich dieſer Hilfsverein gebildet, deſſen Aufgabe es war, allerlei Spenden in Geld, Wäſche, Charpie, Verbandszeug u. ſ. w. für die armen Verwundeten in Empfang zu nehmen und nach dem Kriegsſchauplatz zu befördern. Von allen Seiten kamen die Gaben reichlich gefloſſen; ganze Magazine mußten zur Aufnahme derſelben dienen; und kaum waren die verſchiedenen Vorräte verpackt und fortgeſchickt, da türmten ſich wieder neue auf.
Ich trat ein; es drängte mich, die Summe, die ich in meiner Geldbörſe trug, dem Komitee zu überreichen. Vielleicht konnte dieſelbe einem leidenden Soldaten Hilfe und Rettung bringen — und deſſen Mutter vor Wahnſinn bewahren.
Ich kannte den Präſidenten. „Iſt Fürſt C. anweſend?“ fragte ich den Portier.
„Im Augenblick nicht. Nur der Vizepräſident Baron S. iſt oben.“ Er zeigte mir den Weg nach dem Lokale, wo die Geldſpenden abgegeben wurden. Ich mußte durch mehrere Säle gehen, wo auf langen Tiſchen die Pakete an einander gereiht lagen. Stöße von Wäſcheſtücken, Cigarren, Tabak — und namentlich Berge von Charpie … Mir ſchauderte. Wie viel Wunden mußten da bluten, um mit ſo viel gezupfter Leinwand bedeckt zu werden? „Und da wollte mein Vater,“ dachte ich wieder, „daß zum Wohle des Landes der Krieg noch dreißig Jahre dauere? Wie viel Söhne des Landes müßten da noch ihren Wunden erliegen?“
Baron S. nahm meine Gabe dankend in Empfang und erteilte mir auf meine verſchiedenen Fragen über die Wirkſamkeit des Vereins bereitwilligſt Auskunft. Es war erfreulich und tröſtlich zu hören, wie viel des Guten da geſchah. Soeben kam der Poſtbote mit eingelaufenen Briefen herein und meldete, daß zwei Schubkarren voll Sendungen aus den Provinzen abzugeben ſeien. Ich ſetze mich auf ein im Hintergrund des Zimmers ſtehendes Sofa, um das Hereintragen der Pakete abzuwarten. Dieſelben wurden jedoch in einem anderen Raume abgegeben. Jetzt trat ein ſehr alter Herr herein, dem man an der Haltung den einſtigen Militär anſah.
„Erlauben Sie, Herr Baron,“ ſagte er, indem er ſeine Brieftaſche hervorzog und ſich auf einen neben dem Tiſche ſtehenden Seſſel niederließ, „erlauben Sie, daß auch ich mein kleines Scherflein zu Ihrem ſchönen Werke beitrage.“ Er reichte eine Hundertgulden-Note hin. „Ich betrachte Sie alle, die Sie das organiſiert haben, als wahre Engel … Sehen Sie, ich bin ſelber ein alter Soldat (Feldmarſchall-Lieutenant X ſchaltete er, ſich vorſtellend, ein) und kann es beurteilen, was für eine enorme Wohlthat den armen Kerlen geſchieht, die ſich dort ſchlagen … Ich habe die Feldzüge von anno 9 und anno 13 mitgemacht — da hat’s noch keine „patriotiſchen Hilfsvereine“ gegeben; da hat man den Verwundeten keine Kiſten voll Verbandzeug und Charpie nachgeſchickt. — Wie viele mußten da, wenn die Vorräte der Feldſcherer erſchöpft waren, jämmerlich verbluten, die durch eine Sendung, wie dieſe hier, hätten gerettet werden können! Das iſt eine ſegensreiche Arbeit, die Eure — Ihr guten edlen Menſchen — Ihr wißt gar nicht, Ihr wißt gar nicht, wie viel Gutes Ihr da thut!“ Und dem alten Manne fielen zwei große Thränen auf den weißen Schnurrbart herab.
Draußen erhob ſich ein Lärm von Schritten und Stimmen. Beide Flügel der Eingangsthüre wurden aufgeriſſen und ein Gardiſt meldete:
„Ihre Majeſtät die Kaiſerin.“
Der Vizepräſident eilte zur Thür hinaus, um die hohe Beſucherin, wie geziemend, am Fuße der Treppe zu empfangen, doch ſie war ſchon im Nebenſaal angelangt.
Ich ſchaute von meinem verborgenen Plätzchen mit Bewunderung nach der jugendlichen Monarchin, die mir im einfachen Straßenkleide beinahe noch lieblicher erſchien, als in den Prunkroben der Hoffeſte.
„Ich bin gekommen,“ ſagte ſie zu Baron S., „weil ich heute früh einen Brief des Kaiſers vom Kriegsſchauplatz erhalten habe, worin er mir ſchreibt, wie nützlich und willkommen die Gaben des „patriotiſchen Hilfsvereins“ ſich erweiſen — und da wollte ich ſelbſt Einſicht nehmen … und das Komitee von der Anerkennung des Kaiſers in Kenntnis ſetzen.“
Hierauf ließ ſie ſich von allen Einzelheiten der Vereinsthätigkeit unterrichten und betrachtete eingehend die verſchiedenen aufgeſtapelten Gegenſtände.
„Sehen Sie nur, Gräfin,“ ſagte ſie zu der ſie begleitenden Oberſthofmeiſterin, indem ſie ein Wäſcheſtück zur Hand nahm, „wie gut dieſe Leinwand iſt — und wie hübſch genäht.“ Dann bat ſie den Vizepräſidenten, ſie noch in die anderen Räume zu geleiten und verließ an ſeiner Seite den Saal. Sie ſprach mit ſichtlicher Zufriedenheit zu ihm und ich hörte ſie noch ſagen: „Es iſt ein ſchönes, patriotiſches Unternehmen, welches den armen Soldaten —“
Den Reſt verſtand ich nicht mehr. „Arme Soldaten —“ das Wort klang mir noch lange nach, ſie hatte es ſo mitleidsvoll betont. Ja wohl, arm; und je mehr man that, ihnen Troſt und Hilfe zu ſenden, deſto beſſer. Aber wie — flog es mir durch den Kopf — wenn man ſie gar nicht hinſchicken würde in all den Jammer, die armen Leute: wäre das nicht noch viel beſſer?“
„Ich verſcheuchte dieſen Gedanken … es muß ja ſein — es muß ja ſein. Andere Entſchuldigung gibt es für das Greuel des Kriegführens keine, als die das Wörtlein „muß“ enthält.
Nun ging ich wieder meiner Wege. Die Freundin, die ich beſuchen wollte, wohnte ganz nahe vom „Landhaus“ — auf dem Kohlmarkt. Im Vorübergehen trat ich in eine Buch- und Kunſthandlung, um eine neue Karte Oberitaliens zu kaufen; die unſere war von den fähnchengekrönten Stecknadeln ſchon ganz durchlöchert. Außer mir waren noch mehrere Kunden anweſend. Alle verlangten nach Karten, Schematismen und dergleichen. Nun kam die Reihe an mich.
„Auch ein Kriegsſchauplatz gefällig?“ fragte der Buchhändler.
„Sie haben es erraten.“
„Das iſt nicht ſchwer. Es wird ja beinahe nichts anderes gekauft.“
Er holte das Gewünſchte herbei, und während er die Rolle für mich in ein Papier ſchlug, ſagte er zu einem neben mir ſtehenden Herrn:
„Sehen Sie, Herr Profeſſor, jetzt geht es jenen ſchlecht, welche belletriſtiſche oder wiſſenſchaftliche Werke ſchreiben, oder verlegen — es fragt kein Menſch darnach. So lange der Krieg währt, intereſſiert ſich niemand für das geiſtige Leben. Das iſt für Schriftſteller und Buchhändler eine ſchlimme Zeit.“
„Und eine ſchlimme Zeit für die Nation,“ entgegnete der Profeſſor, „bei welcher ſolche Intereſſeloſigkeit natürlich geiſtigen Niedergang zur Folge hat.“
Und da wollte mein Vater — dachte ich zum drittenmale — daß zum Wohle des Landes dreißig Jahre lang … „So gehen Ihre Geſchäfte ſchlecht?“ miſchte ich mich jetzt laut in die Unterhaltung.
„Nur meine? Alle, faſt alle, meine Gnädige,“ antwortete der Buchhändler. „Mit Ausnahme der Armeelieferanten gibt es keinen Geſchäftsmann, dem der Krieg nicht unberechenbaren Schaden brächte. Alles ſtockt: die Arbeit in den Fabriken, die Arbeit auf den Feldern, unzählige Menſchen werden verdienſt- und brodlos. Die Papiere fallen, das Agio ſteigt, alle Unternehmungsluſt verſiegt, zahlreiche Firmen müſſen Bankerott erklären — kurz, es iſt ein Elend — ein Elend!“
„Und da wollte mein Vater —“ wiederholte ich im Stillen, während ich den Laden verließ.