Das glänzende, von Vergnügungsmühen überbürdete Treiben erreichte ſeinen Höhepunkt in den Frühlingsmonaten. Da kamen noch die langen Bois-Fahrten in offenem Wagen, die verſchiedenen Gemäldeausſtellungen, Gartenfeſte, Pferderennen, Picknick-Ausflüge hinzu — und bei alledem nicht weniger Theater, nicht weniger Viſiten, nicht weniger große Diners und Soiréen, als mitten im Winter. Wir begannen ſchon ſtark, uns nach Ruhe zu ſehnen. Dieſe Art Leben hat eigentlich nur dann den wahren Reiz, wenn Koketterie- und Liebſchaftsgeſchichten damit verbunden ſind. Mädchen, welche eine Partie ſuchen, Frauen, die ſich den Hof machen laſſen und Männer, die Abenteuer wünſchen — für ſolche bietet jedes neue Feſt, bei welchem man den Gegenſtand ſeiner Träume begegnen kann, ein lebhaftes Intereſſe — aber Friedrich und ich? … Daß ich meinem Gatten unwandelbar treu war, daß ich mit keinem Blick einem anderen geſtattete, ſich mir mit verwegenen Hoffnungen zu nahen — das erzähle ich ohne jeglichen Tugendſtolz. Es iſt doch ganz ſelbſtverſtändlich. Ob ich unter anderen Verhältniſſen auch all den Verlockungen widerſtanden hätte, denen in ſolchem Vergnügungswirbel hübſche junge Frauen ausgeſetzt ſind — das kann ich ja nicht wiſſen; wenn man aber eine ſo tiefe und ſo vollbeglückte Liebe im Herzen trägt, wie ich ſie für meinen Friedrich empfand, da iſt man doch gegen alle Gefahr gepanzert. Und was ihn anbelangt: war er mir treu? Ich kann nur ſo viel ſagen: ich hab’ es nie bezweifelt.
Als der Sommer ins Land gezogen kam, der „grand-prix“ vorüber war und die verſchiedenen Mitglieder der Geſellſchaft Paris zu verlaſſen begannen — die einen nach Trouville und Dieppe, nach Biarritz und Vichy, die Anderen nach Baden-Baden, die Dritten auf ihre Schlöſſer — Prinzeſſin Mathilde nach St. Gratien, der Hof nach Compiègne — da wurden wir mit Aufforderungen, das gleiche Reiſeziel zu wählen und mit Einladungen nach den Landſitzen beſtürmt; aber wir waren durchaus nicht geſonnen, die eben durchgemachte Luxus- und Vergnügungscampagne des Winters auch noch ins Sommerliche zu übertragen. Nach Grumitz wollte ich vor der Hand nicht zurückkehren: ich fürchtete zu ſehr das Wiedererwachen der ſchmerzlichen Erinnerungen; auch hätten wir dort — der vielen Verwandten und Nachbarſchaften wegen — nicht die gewünſchte Einſamkeit gefunden. So wählten wir denn abermals als Aufenthaltsort einen ſtillen Winkel der Schweiz. Wir verſprachen unſeren pariſer Freunden im nächſten Winter wiederzukommen, und traten vergnügt, wie ferienreiſende Schüler, unſere Sommerfahrt an.
Was nun folgte, war wirklich eine Erholungszeit. Lange Spaziergänge, lange Leſeſtunden, lange Spielſtunden mit den Kindern und keine Eintragungen in die roten Hefte — letzteres ein Zeichen von Sorgloſigkeit und Seelenruhe.
Auch Europa ſchien damals ſo ziemlich ſorgenlos und ruhig zu ſein. Wenigſtens ſah man nirgends „ſchwarze Punkte“. Selbſt von der berühmten Revanche de Sadowa hörte man nichts mehr verlauten. Den größten Verdruß, den ich damals empfand, der war mir durch die ſeit einem Jahr bei uns in Öſterreich eingeführte allgemeine Wehrpflicht bereitet. Daß mein Rudolf einſt werde Soldat ſein müſſen — das konnte ich nicht faſſen. Und da phantaſieren die Leute von Freiheit!
„Ein Jahr „Freiwilliger“ — tröſtete mich Friedrich — „das iſt nicht viel.“
Ich ſchüttelte den Kopf:
„Und wäre es nur ein Tag! Keinen Menſchen ſollte man zwingen können, ein beſtimmtes Amt, das er vielleicht haßt, auch nur einen Tag zu bekleiden, denn an dieſem Tag muß er das Gegenteil von dem, was er fühlt zur Schau tragen, muß beſchwören, das mit Freuden zu thun, was er verabſcheut — kurz, er muß lügen — und meinen Sohn wollte ich vor Allem zur Wahrhaftigkeit erziehen.“
„Dann hätte er um ein paar hundert Jahre ſpäter geboren werden müſſen, Liebſte!“ erwiderte Friedrich. „Ganz wahr kann nur ein ganz freier Mann ſein: und mit dieſen Beiden — Wahrheit und Freiheit — iſt’s noch ſchlecht beſtellt in unſeren Tagen, das wird mir — je mehr ich mich in mein Studium vertiefe — deſto klarer.“
Jetzt, in unſerer Weltabgeſchiedenheit, hatte Friedrich zu ſeinen Arbeiten doppelte Muße und er oblag denſelben mit wahrem Feuereifer. So glücklich und zufrieden wir in der Einſamkeit lebten, ſo blieben wir doch bei dem Entſchluſſe, den folgenden Winter wieder in Paris zu verbringen. Diesmal aber nicht in der Abſicht, uns zu beluſtigen, ſondern um für unſere Lebensaufgabe einigermaßen praktiſch zu wirken. Dabei hegten wir zwar nicht die Zuverſicht, etwas zu erreichen — aber wenn einem auch nur die Möglichkeit des Schattens einer Chance geboten ſcheint, für eine Sache, die man als die edelſte Sache der Welt erkannt hat, etwas leiſten zu können, ſo empfindet man es als unabweisliche Pflicht, dieſe Chance zu verſuchen. Wir hatten nämlich, wenn wir in unſeren traulichen Geſprächen die pariſer Erinnerungen rekapitulierten, auch jenes Planes des Kaiſers Napoleon gedacht, der uns durch die Mitteilungen ſeiner Vertrauten zu Ohren gekommen — des Planes, den Mächten Abrüſtung vorzuſchlagen. Daran knüpften wir unſere Hoffnungen und unſere Projekte. Friedrichs Forſchungen hatten ihm die Memoiren Sullys in die Hände geſpielt, in welchen der Friedensplan Heinrichs Ⅳ. mit allen Einzelheiten verzeichnet ſtand. Davon wollten wir dem Kaiſer der Franzoſen eine Abſchrift zukommen laſſen; zugleich würden wir verſuchen, durch unſere Verbindungen in Öſterreich und Preußen dieſe beiden Regierungen auf die Vorſchläge der franzöſiſchen Regierung vorzubereiten; ich konnte dies durch Miniſter Allerdings bewerkſtelligen, und Friedrich beſaß in Berlin einen Verwandten, der in einflußreicher politiſcher Stellung und bei Hofe ſehr gut angeſchrieben war.
Im Dezember, als wir nach Paris überſiedeln wollten, wurden wir jedoch daran gehindert. Unſer Schatz — unſere kleine Sylvia erkrankte. Das waren bange Stunden! … Natürlich traten da Napoleon Ⅲ. und Heinrich Ⅳ. in den Hintergrund: unſer Kind im Sterben!
Aber es ſtarb nicht. Nach zwei Wochen war alle Gefahr vorbei. Nur unterſagte uns der Arzt, mit der Kleinen während der ärgſten Winterkälte zu reiſen. Wir verſchoben demnach unſere Abfahrt auf den Monat März.
Dieſe Krankheit und dieſe Geneſung — die Gefahr und die Rettung —, wie hatten die unſere Herzen erſchüttert und dieſelben — ich hätte dies nicht mehr für möglich gehalten — einander wieder näher gebracht! Gemeinſchaftliches Zittern vor einem gräßlichen Unglück, welches man beſonders wegen der Verzweiflung des andern fürchtet, und gemeinſchaftlich geweinte Freudenthränen, wenn dieſes Unglück abgewendet, das vermag gar mächtig zwei Seelen in eine zu verſchmelzen.