Welch ein Anblick!
Eine Elegie Tiedges kam mir in den Sinn:
„Welch ein Anblick! Hierher, Volksregierer!
Hier bei dem verwitternden Gebein
Schwöre, deinem Volk ein ſanfter Führer,
Deiner Welt ein Friedensgott zu ſein.
Hier ſchau’ her, wenn dich nach Ruhme dürſtet,
Zähle dieſe Schädel, Völkerhirt,
Vor dem Ernſte, der dein Haupt, entfürſtet,
In die Stille niederlegen wird.
Laß im Traum das Leben dich umwimmern,
Das hier unterging in ſtarres Grauen;
Iſt es denn ſo lockend, ſich mit Trümmern
In die Weltgeſchichte einzubauen?“
Leider ja, es iſt verlockend, ſo lang die Weltgeſchichte — das heißt Diejenigen, welche ſie ſchreiben — die Heldenſtandbilder aus Kriegstrümmern aufbauen, ſo lang ſie den Titanen des Völkermordes Kränze reichen. Auf den Lorbeerkranz verzichten, dem Ruhme entſagen, wäre edel — meint der Dichter? Erſt werde das Ding, auf das zu verzichten ſo wohlthätig erſchiene, ſeines Nimbus entkleidet und kein Ehrgeiziger wird mehr darnach greifen.
Es dämmerte ſchon, als wir in Chlum ankamen und von da, Arm in Arm, in ſchweigendem Schauer, dem nahen Schlachtfelde zuſchritten. Es fiel ein mit ganz kleinen Schneeflocken gemiſchter Nebel und die kahlen Äſte der Bäume bogen ſich unter dem ſchrill klagenden Pfeifen eines kalten Novemberwindes. Maſſen von Gräbern und Maſſengräber rings umher. Aber ein Friedhof? Nein. Da hatte man keine müden Lebenspilger zur Ruhe friedlich hingebettet, da wurden mitten in ihrem jugendlichen Lebensfeuer, in ihrer vollſten Manneskraft ſtrotzende Zukunftsanwärter gewaltſam niedergeworfen und mit Grabeserde überſchaufelt. Verſchüttet, erſtickt, auf ewig ſtumm gemacht — alle die brechenden Herzen, die blutig zerfetzten Glieder, die bitterlich weinenden Augen — die wilden Verzweiflungsſchreie, die vergeblichen Gebete …
Einſam war es auf dieſem Kriegsacker nicht. Viele, Viele hatte der Allerſeelentag hierhergebracht — aus Freundes- und aus Feindesland — welche gekommen waren, auf der Stätte niederzuknieen, wo ihr Liebſtes gefallen. Schon der Zug, mit dem wir gekommen, war mit anderen Trauernden gefüllt geweſen — und ſo hatte ich ſchon mehrere Stunden lang um mich jammern und klagen gehört. „Drei Söhne — drei Söhne … einer ſchöner und beſſer und lieber als der andere — habe ich bei Sadowa verloren!“ erzählte uns ein ganz gebrochen ausſehender alter Mann. Noch mehrere andere der Wagengenoſſen miſchten ihre Klagen dazu: um den Bruder, den Gatten, den Vater. — Aber von allen dieſen hat mir keiner ſolchen Eindruck gemacht, wie das thränenloſe, dumpfe „Drei Söhne, drei Söhne!“ des armen Alten.
Auf dem Felde ſelbſt ſah man von allen Seiten, auf allen Wegen ſchwarze Geſtalten, gehen, oder knien — oder mühſam weiter ſchwanken, mitunter laut aufſchluchzend zuſammenbrechen. Es waren nur wenig Einzelgräber da, nur wenig inſchrifttragende Kreuze oder Steine. Wir bückten uns und entzifferten, ſo gut das Dämmerlicht es noch geſtattete, einige Namen.
Major von Reuß vom 2. preußiſchen Garderegiment.
„Vielleicht ein Verwandter vom Bräutigam unſerer armen Roſa,“ bemerkte ich.
Graf Grünne — Verwundet 3. Juli — geſtorben 5. Juli …
Was mag er in den zwei Tagen gelitten haben! … Ob das wohl ein Sohn des Grafen Grünne war, der vor dem Krieg den bekannten Satz geäußert: „Mit naſſen Fetzen werden wir die Preußen verjagen?“ Ach wie wahnwitzig und frevleriſch, wie ſchrill mißtönig klingt doch jedes vor dem Kriege geſprochene Aufreizungswort, wenn man ſich’s an ſolcher Stelle wiederholt! Worte: — weiter nichts — Prahlworte, Hohnworte, Drohworte — geſprochen, geſchrieben und gedruckt — die nur haben dieſes Feld beſtellt …
Wir gehen weiter. Überall mehr oder minder hohe, mehr oder minder breite Erdhügel … auch da, wo der Boden nicht erhaben iſt, auch unter unſeren Füßen modern vielleicht Soldatenleichen — — —
Immer dichter rieſelt der Nebel:
„Friedrich — ſetze doch Deinen Hut auf: Du wirſt Dich erkälten.“
Friedrich aber blieb unbedeckt — und ich wiederholte meine Mahnung kein zweites Mal.
Unter den Leidtragenden, die hier umher wandelten, befanden ſich auch viele Offiziere und Soldaten; wahrſcheinlich ſolche, die den heißen Tag von Königgrätz ſelber mitgemacht und jetzt an die Stelle gepilgert waren, wo ihre gefallenen Kameraden ruhten.
Jetzt waren wir an den Platz gelangt, wo die meiſten Krieger — Freund und Feind nebeneinander — begraben lagen. Der Platz war — wie ein Kirchhof — umfriedigt. Hierher ſtrömte die größte Anzahl der Trauernden, den auf dieſer Stelle war es am wahrſcheinlichſten, daß die von ihnen Beweinten da begraben ſeien. An dieſer Umfriedigung knieten und ſchluchzten die Beraubten, hier hingen ſie ihre Kränze und ihre Grablaternen auf.
Ein großer, ſchlanker Mann, von vornehmer jugendlicher Geſtalt, in einen Generalsmantel gehüllt, kam auf den Tumulus zu. Die Anderen wichen von der Stelle ehrerbietig zurück und ich hörte einige Stimmen flüſtern:
„Der Kaiſer …“
Ja, es war Franz Joſeph. Der Landesherr, der oberſte Kriegsherr war es, der da am Allerſeelentag gekommen war, für ſeine toten Landeskinder, für ſeine gefallenen Krieger ein ſtilles Gebet zu verrichten. Auch er ſtand unbedeckten, gebeugten Hauptes da, in ſchmerzerfüllter Ehrerbietung von der Majeſtät des Todes.
Lange, lange blieb er unbeweglich. — Ich konnte mein Auge nicht von ihm wenden. Was mochten für Gedanken durch ſeine Seele ziehen — was für Gefühle durch ſein Herz, welches doch — das wußte ich — ein gutes und ein weiches Herz war? Es überkam mich, als könnte ich ihm nachfühlen, als könnte ich gleichzeitig mit ihm die Gedanken denken, die ſeinen geſenkten Kopf durchkreuzten:
… Ihr, meine armen Tapferen … geſtorben … und wofür? … Wir haben ja nicht geſiegt … mein Venedig! Verloren … ſo Vieles, ſo Vieles verloren … auch euer junges Leben … Und ihr habt es ſo opfermutig hergegeben … für mich … O könnte ich es euch zurückgeben! Ich, für mich, habe ja das Opfer nicht begehrt — für euch, für euer Land, ihr meine Landeskinder, ſeid ihr in dieſen Krieg geführt worden … Und nicht durch mich … wenn es auch auf meinen Befehl geſchehen — hab’ ich denn nicht befehlen müſſen? Nicht meinetwillen ſind die Unterthanen da — nein, ihretwillen bin ich auf den Thron berufen … und jede Stunde wäre ich bereit, für meines Volkes Wohl zu ſterben … O, hätte ich meinem Herzensdrang gefolgt und nimmer „ja“ geſagt, wenn ſie Alle um mich herum riefen: „Krieg, Krieg!“ … Doch — konnte ich mich widerſetzen? Gott iſt mein Zeuge, ich konnte nicht … Was mich drängte, was mich zwang — ich weiß es ſelbſt nicht mehr genau — nur ſo viel weiß ich — es war ein unwiderſtehlicher Druck von außen — von euch ſelber, ihr toten Soldaten … O wie traurig, traurig, traurig — was habt ihr nicht Alles gelitten und jetzt liegt ihr hier und auf anderen Wahlſtätten — von Kartätſchen und Säbelhieben, von Cholera und Typhus hingerafft … O hätte ich „nein“ ſagen können … du haſt mich darum gebeten, Eliſabeth … O hätte ich’s geſagt! Der Gedanke iſt unerträglich, daß … ach, es iſt eine elende, unvollkommene Welt … zu viel, zu viel des Jammers! …
Immer noch, während ich ſo für ihn dachte, haftete mein Auge an ſeinen Zügen, und jetzt — ja es war „zu viel, zu viel des Jammers“ — jetzt bedeckte er ſein Geſicht mit beiden Händen und brach in heftiges Weinen aus.
So geſchehen am Allerſeelentag 1866 auf dem Totenfelde von Sadowa.