Charpie zupfen, Zeitungsberichte leſen, auf einer Landkarte Stecknadelfähnchen aufſtecken, um den Bewegungen der beiden Heere zu folgen und daraus Schachaufgaben, in der Faſſung von „Öſterreich zieht an und ſetzt mit dem vierten Zuge matt“ zu löſen trachten; in der Kirche fleißig um Schutz für ſeine Lieben und um den Sieg der vaterländiſchen Waffen beten; von nichts anderem reden als von den vom Kriegsſchauplatz eingetroffenen Nachrichten: — das war es, was meine und die Exiſtenz meiner Verwandten- und Bekanntenkreiſe nunmehr ausfüllte. Das Leben mit allen ſeinen übrigen Intereſſen ſchien für die Dauer des Feldzuges ſozuſagen in der Schwebe; alles bis auf die Frage „wie und wann wird der Krieg enden?“ war der Wichtigkeit, ja beinahe der Wirklichkeit beraubt. Man aß, man trank, man las, man beſorgte ſeine Geſchäfte, aber das alles „galt“ eigentlich nicht — nur eins war von vollgewichtiger Gültigkeit: die Telegramme aus Italien.
Meine größten Lichtblicke waren ſelbſtverſtändlich die Nachrichten, welche ich von Arno ſelber erhielt. Dieſe waren ſehr kurz gefaßt — das Briefſchreiben iſt niemals ſeine ſtarke Seite geweſen —; aber ſie brachten mir doch das beglückendſte Zeugnis; noch am Leben — unverwundet. Sehr regelmäßig konnten dieſe Briefe und Depeſchen freilich nicht eintreffen, denn oft waren die Verbindungen abgebrochen, oder — wenn es irgendwo zur Aktion kam — der Feldpoſtdienſt aufgehoben.
Wenn ſo einige Tage vergangen waren, ohne daß ich von Arno gehört, und es wurde eine Verluſtliſte veröffentlicht — mit welchem Bangen las ich da nicht die Namen durch! … Es iſt ſo ſpannend, wie für den Losbeſitzer das Durchſehen der Gewinnnummern einer Ziehungsliſte, aber in umgekehrtem Sinne: was man da ſucht, wohl wiſſend, daß man (Gott ſei Dank) die Wahrſcheinlichkeit gegen ſich hat, iſt der Haupttreffer des Unglücks …
Das erſte Mal, als ich die Namen der Gefallenen durchgeleſen — ich war eben ſeit vier Tagen ohne Nachricht — und ſah, daß der Name „Arno Dotzky“ nicht darunter war, da faltete ich die Hände und ſprach mit lauter Stimme: „Mein Gott, ich danke Dir!“ Kaum aber waren die Worte geäußert, ſo klang es mir wie ein ſchriller Mißton daraus nach. Ich nahm das Blatt wieder zur Hand und betrachtete zum zweitenmal die Namenreihe. Alſo weil Adolf Schmidt und Karl Müller und viele andere — aber nicht Arno Dotzky — geblieben waren, hatte ich Gott gedankt? Derſelbe Dank wäre dann berechtigterweiſe von dem Herzen derer zum Himmel aufgeſtiegen, welche für Schmidt und Müller zittern, wenn ſie ſtatt dieſer Namen „Dotzky“ geleſen hätten? Und warum ſollte gerade mein Dank dem Himmel genehmer ſein als jener? Ja — das war der ſchrille Mißton meines Stoßgebetes geweſen: die Anmaßung und die Selbſtſucht, die darin lag, zu glauben, Dotzky ſei mir zu lieb verſchont geblieben, und Gott zu danken, daß nicht ich, ſondern nur Schmidts Mutter und Müllers Braut und fünfzig andere über dieſer Liſte weinend zuſammenbrechen …
Am ſelben Tag erhielt ich wieder von Arno einen Brief:
„Geſtern gab’s einen tüchtigen Kampf. Leider — leider eine Niederlage. Aber tröſte Dich, meine geliebte Martha, die nächſte Schlacht bringt uns den Sieg. Es war dies meine erſte große Affaire. Ich ſtand mitten in dichtem Kugelregen — ein eigenes Gefühl … das erzähle ich mündlich — es iſt doch furchtbar: die armen Kerle, die da um einen herum fallen und die man liegen laſſen muß, trotz ihres kläglichen Wimmerns. — „c’est la guerre!“ Auf baldiges Wiederſehen, mein Herz. Wenn wir einmal in Turin die Friedensbedingungen diktieren, dann kommſt Du mir nachgereiſt. Tante Marie wird indeſſen ſo gut ſein, über unſern kleinen Korporal zu wachen.“
Wenn der Empfang ſolcher Briefe die Sonnenblicke meines Daſeins abgab — die ſchwärzeſten Schatten desſelben waren meine Nächte. Wenn ich da aus ſelig vergeſſendem Traum erwachte und mir die entſetzliche Wirklichkeit mit ihrer entſetzlichen Möglichkeit vor das Bewußtſein trat, ſo erfaßte mich ſchier unerträgliches Leid und ich konnte ſtundenlang nicht wieder einſchlafen. Die Idee war nicht loszuwerden, daß Arno in dieſem Augenblick vielleicht ſtöhnend und ſterbend in einem Graben lag — nach einem Tropfen Waſſer lechzend — ſehnſüchtig nach mir rufend … Nur damit konnte ich mich allmählich beruhigen, daß ich mir mit aller Gewalt die Szene ſeiner Rückkunft vor die Einbildung rief. Die war ja ebenſo wahrſcheinlich — ſogar viel wahrſcheinlicher, als das verlaſſene Sterben — und da malte ich mir denn aus, wie er ins Zimmer hereinſtürmte und ich an ſein Herz flöge — wie ich ihn dann zu Rurus Wiege führte und wie glücklich und froh wir dann wieder ſein könnten ….
Mein Vater war ſehr niedergeſchlagen. Es kam eine ſchlimme Nachricht nach der anderen. Zuerſt Montebello, dann Magenta. Nicht er allein — ganz Wien war niedergeſchlagen. Man hatte zu Anfang ſo zuverſichtlich gehofft, daß ununterbrochene Siegesbotſchaften Anlaß zu Häuſerbeflaggung und Te deum Abſingen geben würden; ſtatt deſſen wehten die Fahnen und ſangen die Prieſter in Turin. … Dort hieß es jetzt: „Herr Gott, wir loben Dich, daß Du uns geholfen haſt, die böſen Tedeschi zu ſchlagen.“
„Meinſt Du nicht, Papa,“ frug ich, „daß, wenn noch eine Niederlage für uns käme, dann Frieden geſchloſſen würde? In dieſem Falle könnte ich wünſchen, daß —“
„Schämſt Du Dich nicht, ſo etwas zu ſagen? Lieber ſoll es ein ſiebenjähriger — ſoll es ein dreißigjähriger Krieg werden, nur ſollen ſchließlich unſere Waffen ſiegen und wir die Friedensbedingungen diktieren. Wozu geht man denn in den Krieg, doch nicht dazu, daß er baldmöglichſt aus ſei — ſonſt könnte man von vornherein zu Hauſe bleiben.“
„Das wäre wohl das beſte,“ ſeufzte ich.
„Was ihr Weibervolk doch feige ſeid! Selbſt Du — die Du ſo gute Grundſätze von Vaterlandsliebe und Ehrgefühl erhalten — biſt jetzt ganz verzagt und ſchätzeſt Deine perſönliche Ruhe höher als die Wohlfahrt und den Ruhm des Landes.“
„Ja — wenn ich meinen Arno nicht gar ſo lieb hätte!“ …
„Gattenliebe — Familienliebe — das iſt alles recht ſchön … aber es ſoll erſt in zweiter Linie kommen.“
„Soll es?“ …