Friedrichs Geneſung machte ſichere Fortſchritte. Auch die fiebernde Welt draußen ſchien ihrer Geſundung näher zu kommen: immer öfter und immer lauter ward das Wort Friede geſprochen. Der Vormarſch der Preußen, welche auf ihrem Wege keinen Widerſtand mehr fanden und welche über Brünn — deſſen Schlüſſel der Bürgermeiſter dem König Wilhelm überreicht hatte — ruhig gegen Wien zogen, dieſer Vormarſch glich eher einem militäriſchen Spaziergang, als einem Kriegszug — und am 26. Juli wurde denn auch richtig zu Nikolsburg ein Waffenſtillſtand mit Friedenspräliminarien abgeſchloſſen.
Eine große Freude erlebte mein Vater an der eingelaufenen Nachricht von Admiral Tegethoffs Sieg bei Liſſa. Italieniſche Schiffe in die Luft geſprengt — der „Affundatore“ zerſtört: welche Genugthuung! Ich konnte mich an dem Entzücken nicht ſo recht beteiligen. Überhaupt konnte ich nicht recht verſtehen, warum dieſe Seeſchlachten überhaupt noch geliefert wurden. Aber ſo viel iſt gewiß, über das Ereignis brach — nicht nur bei meinem Vater — ſondern in allen Wiener Blättern, der hellſte Jubel aus. Der Ruhm eines kriegeriſchen Sieges iſt etwas durch Jahrtauſende lange Tradition zu ſolcher Größe Aufgebauſchtes, daß auf die Kunde eines ſolchen für das ganze Volk ein Stolzanteil entfällt. Wenn irgendwo ein vaterländiſcher General einen fremden General geſchlagen hat, ſo wird jedem einzelnen Angehörigen des betreffenden Staates gratuliert, und da jeder hört, daß ſich alle anderen freuen — was allerdings erfreulich iſt — ſo freut ſich ſchließlich in der That ein jeder. „Heerdengefühle“ würde das Friedrich genannt haben.
Ein anderes politiſches Ereignis jener Tage war, daß ſich Öſterreich nunmehr dem Genfer Vertrage anſchloß:
„Nun — biſt Du jetzt zufrieden?“ fragte mein Vater, als er dieſe Nachricht geleſen; — „ſiehſt Du ein, daß der Krieg, den Du immer eine Barbarei nennſt, mit der fortſchreitenden Civiliſation immer humaner wird? Ich bin ja auch für das menſchliche Kriegführen: den Verwundeten gebührt die ſorgfältigſte Pflege und alle mögliche Erleichterung … Schon aus ſtrategiſchen Gründen, welche ſchließlich in Kriegsſachen doch das Wichtigſte ſind; durch eine gehörige Behandlung der Kranken können ſehr viele in kurzer Zeit wieder kampffähig und in die Reihen zurück verſetzt werden.“
„Du haſt recht, Papa: wieder brauchbares Material — das iſt die Hauptſache … Aber nach den Dingen, die ich geſehen, kann kein rotes Kreuz ausreichen — und hätte es zehnmal mehr Leute und Mittel, — um das Elend abzuwehren, welches eine Schlacht im Gefolge hat —“
„Abwehren freilich nicht, aber mildern. Was ſich nicht verhüten läßt, muß man eben zu mildern trachten.“
„Die Erfahrung lehrt, daß eine ausreichende Milderung nicht möglich iſt. Ich wollte daher, der Satz würde umgekehrt: Was ſich nicht mildern läßt, ſoll man verhüten!“
Es fing bei mir an, eine fixe Idee zu werden: Die Kriege müſſen aufhören. Und jeder Menſch muß beitragen, was er nur immer kann, auf daß die Menſchheit dieſem Ziele — ſei’s auch nur 1/1000 Linie — näher rücke. Die Bilder wurde ich nicht mehr los, die ich da oben in Böhmen geſchaut. Beſonders des Nachts, wenn ich aus feſtem Schlafe auffuhr, fühlte ich jenes wunde Weh im Herzen, und zugleich im Gewiſſen eine Pflichtmahnung — als erteilte mir jemand den Befehl: „Verhindere, verhüte, duld’ es nicht!“ Erſt wenn ich vollends wach geworden und mich beſann, was ich war, kam mir die Einſicht meiner Ohnmacht: Was ſoll denn ich verhindern und verhüten können? Da könnte mir einer ebenſogut angeſichts des flut- und ſturmdrohenden Meeres befehlen: Duld’ es nicht! Schöpfe es aus! — Und mein nächſter Gedanke war — beſonders wenn ich ſeine Atemzüge hörte — war ein tiefglückliches: „Friedrich hab’ ich wieder“, und ich verſenkte mich in dieſe Vorſtellung, ſo lebhaft als nur möglich, da legte ich den Arm um den neben mir Liegenden, auch auf die Gefahr, ihn aufzuwecken, und küßte ihn auf den Mund.
Mein Sohn Rudolf hatte eigentlich recht, auf ſeinen Stiefvater eiferſüchtig zu ſein — dieſes Gefühl war nämlich ſeit letzter Zeit im Herzen des Kleinen erwacht. Daß ich von Grumitz abgereiſt war, ohne ihm adieu zu ſagen, daß ich bei meiner Rückkunft nicht zuerſt ihn zu umarmen verlangt; — daß ich überhaupt faſt den ganzen Tag nicht von des Gatten Seite wich — das alles zuſammengenommen hatte das arme Bürſchchen veranlaßt, mir eines ſchönen Morgens weinend an den Hals zu ſinken und zu ſchluchzen:
„Mama, Mama, Du haſt mich gar nicht mehr lieb!“
„Was ſprichſt Du für Unſinn, Kind?“
„Ja … nur … nur Pa-pa … Ich … ich will gar nicht … groß werden, wenn Du mich … nicht mehr magſt …“
„Nicht mehr mögen? Dich, mein Kleinod!“ — Ich küßte und herzte das weinende Kind — „Dich, mein einziger Sohn, mein Stolz, meine Zukunftsfreude! Ich habe Dich ja ſo, ich habe Dich ja über — nein, nicht über alles, aber ſo unendlich lieb.“
Nach dieſem kleinen Auftritt war mir die Liebe zu meinem Buben wieder lebhafter zum Bewußtſein gekommen. In der letzten Zeit war ich in der That von der Angſt um Friedrich ſo ſehr eingenommen geweſen, daß der arme Rudolf ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden.
Die Pläne, welche wir miteinander, Friedrich und ich, für die Zukunft ſchmiedeten, waren folgende: nach Beendigung des Krieges Austritt aus dem Militärdienſt und Zurückziehung nach einem kleinen, billigen Ort, wo Friedrichs Oberſten-Penſion und meine Zulage genügen konnten, unſeren kleinen Haushalt zu beſtreiten. Wir freuten uns auf dieſes einſame, ſelbſtſtändige Beiſammenſein, wie ein Paar junge Verliebte. Durch die zuletzt durchgemachten Ereigniſſe hatten wir wieder ſo recht gelernt, daß wir uns gegenſeitig die Welt bedeuteten. Der kleine Rudolf war übrigens aus dieſer Gemeinſchaft nicht ausgeſchloſſen. Seine Erziehung ſollte als eine Hauptaufgabe unſere geplante Exiſtenz ausfüllen. Nicht müßig und zwecklos wollten wir die Tage dahinleben; da hatten wir unter Anderem eine ganze Liſte von Studien aufgeſtellt, die wir gemeinſchaftlich pflegen wollten. Unter den Wiſſenſchaften war es namentlich ein Zweig der Rechtswiſſenſchaft, nämlich das Völkerrecht, dem ſich Friedrich ganz beſonders zu widmen vornahm. Er beabſichtigte, fern von allen utopiſtiſchen und ſentimalen Theorien, die praktiſche, die reale Seite des Völkerfriedens zu unterſuchen. Durch die Lektüre Buckles — zu welcher ich ihm den Anſtoß gegeben — durch die Bekanntmachung mit den neueſten naturwiſſenſchaftlichen Errungenſchaften, welche ihm durch die Bücher Darwins, Büchners und Anderer geoffenbart worden, hatte ſich ihm die Überzeugung erſchloſſen, daß die Welt einer neuen Erkenntnisphaſe entgegen geht; und dieſe Erkenntnis in möglichſter Fülle ſich anzueignen, das ſchien ihm nunmehr — neben den Freuden der Häuslichkeit — Lebensinhalt genug.
Mein Vater, der von unſeren Abſichten vorläufig nichts wußte, machte ganz andere Zukunftspläne für uns:
„Du wirſt jetzt ein junger Oberſt ſein, Tilling, und in zehn Jahren biſt Du ſicher General. Bis dahin wird ſchon wieder ein Krieg ausbrechen und Du kannſt das Kommando eines ganzen Armeekorps — oder, wer weiß? die Würde eines Generaliſſimus erlangen, und es wird Dir vielleicht das große Glück beſchieden, Öſterreichs Waffen wieder zu ihrem vollen — momentan verdunkelten — Glanz zu verhelfen. Wenn wir einmal das Zündnadelgewehr, oder vielleicht noch ein wirkſameres Syſtem eingeführt haben, dann werden wir die Herren Preußen ſchon drunter kriegen.“
„Wer weiß,“ meinte ich, „vielleicht wird die Feindſchaft mit Preußen aufhören, vielleicht ſchließen wir einſt mit ihnen ein Bündnis —“
Mein Vater zuckte die Achſeln:
„Wenn nur Frauen nicht über Politik reden wollten!“ ſagte er verächtlich. „Nach dem Vorgefallenen müſſen wir die Übermütigen züchtigen, wir müſſen den anektierten (ſo nennen ſie’s — ich ſage „geraubten“) Staaten wieder zu ihrem zertretenen Recht verhelfen, das erfordert unſere Ehre und das Intereſſe unſerer europäiſchen Machtſtellung. Freundſchaft — Allianz mit dieſen Frevlern? Nimmermehr. Außer ſie kämen demütig gekrochen.“
„In dieſem Fall,“ bemerkte Friedrich, „würde man wohl den Fuß auf ihren Nacken ſetzen; Bündniſſe ſucht und ſchließt man nur mit Jenen, die einem imponieren, oder die gegen einen gemeinſchaftlichen Feind Schutz leiſten können. In der Staatskunſt iſt Egoismus das oberſte Prinzip.“
„Nun ja,“ gab mein Vater zurück, „wenn das ego „Vaterland“ heißt, ſo iſt ſolchem Egoismus doch alles Andere unterzuordnen, ſo iſt doch Alles erlaubt und geboten, was dem Intereſſe dieſes Ichs dienlich erſcheint.“
„Es iſt nur zu wünſchen,“ entgegnete Friedrich, „daß im Verkehr der Gemeinweſen dieſelbe erhöhte Geſittung erlangt werde, welche im Verkehr der Einzelnen den rohen, fauſtrechtlichen Ich-Kultus verdrängt hat, und die Einſicht immer mehr Platz greife, daß die eigenen Intereſſen auch ohne Schädigung der fremden, vielmehr im Verein mit dieſen, am wirkſamſten zu fördern ſind.“
„Was?“ fragte mein Vater, die Hand ans Ohr legend.
Natürlich mochte Friedrich ſeinen langen Satz nicht wiederholen und erläutern — und die Diskuſſion war zu Ende.