Noch am ſelben Tag kam der aus Wien telegraphiſch gerufene Chirurg im Schloſſe an und nahm Friedrichs Wunde in Behandlung. Sechs Wochen äußerſte Ruhe — und die Heilung würde eine vollſtändige ſein.
Daß mein Mann den Dienſt quittieren würde, das ſtand nun bei uns beiden feſt. Natürlich konnte dies erſt nach Beendigung des Krieges ausgeführt werden. Übrigens konnte man den Krieg füglich als beendet betrachten. Nach dem Verzicht auf Venedig war der Konflikt mit Italien beſeitigt, Napoleons Freundſchaft war gewonnen und man würde im ſtande ſein, mit dem nordiſchen Sieger einen glimpflichen Frieden abzuſchließen. Unſer Kaiſer ſelbſt wünſchte ſehnlichſt, dem unglücklichen Feldzug ein Ende zu machen und wollte nicht noch ſeine Hauptſtadt einer Belagerung ausſetzen. Die preußiſchen Siege im übrigen Deutſchland, ſo der am 16. Juli ſtattgefundene Einzug der Preußen in Frankfurt a/M., verliehen dem Gegner einen gewiſſen Nimbus, der — wie alle Erfolge — auch bei uns zu Lande Bewunderung erzwang und eine Art Glauben weckte, daß es eine geſchichtliche Miſſion ſein, welche da von den Preußen mittelſt gewonnener Schlachten ausgeführt wurde. Das Wort „Waffenſtillſtand“ — „Frieden“ war nun einmal gefallen, und da konnte auf deſſen Verwirklichung ebenſo ſicher gerechnet werden, wie man in Zeiten, wo die Drohung des Krieges einmal ausgeſprochen, über kurz oder lang auf den Ausbruch des Krieges rechnen muß. Selbſt mein Vater gab jetzt zu, daß unter den obwaltenden Umſtänden ein Aufheben der Feindſeligkeiten angemeſſen wäre; die Armee war geſchwächt, die Überlegenheit des Zündnadelgewehres mußte anerkannt werden und ein Vormarſch der feindlichen Truppen nach der Hauptſtadt, die Beſchießung Wiens und nebſtbei auch die Zerſtörung von Grumitz: das waren Eventualitäten welche auch meinem kampfluſtigen Herrn Papa nicht ſonderlich zulächelten. Sein Vertrauen in die Unbeſiegbarkeit der öſterreichiſchen Truppen war durch die Thatſachen denn doch erſchüttert worden; und es iſt überhaupt eine Neigung des menſchlichen Geiſtes, von den laufenden Ereigniſſen abzunehmen, daß ſie ſerienweiſe auftreten: daß auf Erfolg wieder Erfolg, auf Unglück wieder Unglück folgen müſſe. Beſſer alſo, in der Unglücksſerie innehalten — die Zeit der Genugthuung und der Rache würde ſchon kommen …
Rache und immer wieder Rache? Jeder Krieg muß einen Beſiegten aufweiſen und wenn dieſer nur in einem nächſten Krieg Genugthuung finden kann, einem nächſten der natürlich wieder einen genugthuungheiſchenden Beſiegten ſchaffen wird — wann nimmt das ein Ende? Wie kann Gerechtigkeit erlangt, wann altes Unrecht geſühnt werden, wenn als Sühnemittel immer wieder neues Unrecht angewendet wird? Keinem vernünftigen Menſchen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen — nur Blut, das ſoll immer wieder mit Blut ausgewaſchen werden!
Die in Grumitz obwaltende Stimmung war allgemein eine düſtere. In der Ortſchaft herrſchte Panik: „die Preußen kommen, die Preußen kommen“ war auch hier — trotz den von mancher Seite gehegten Friedenshoffnungen — immer noch die ausgegebene Angſtparole, und die Leute verpackten und vergruben ihre Koſtbarkeiten; auch bei uns im Schloſſe hatten Tante Marie und Frau Walter dafür geſorgt, daß das Familienſilber in ein geheimes Verſteck gebracht werde. Lilli war in ſteter Sorge um Konrad, von welchem jetzt ſeit einigen Tagen die Nachrichten ausgeblieben waren; mein Vater fühlte ſich in ſeiner patriotiſchen Ehre gekränkt und wir beide, Friedrich und ich, trotz des ſtill in unſeren Herzen ruhenden Glückes über unſere Wiedervereinigung, waren von dem miterlebten, ſo heftig mitempfundenen Unglück der Zeit aufs ſchmerzlichſte erſchüttert. Und von allen Seiten floß dieſem Schmerze immer wieder neue Nahrung zu. In ſämtlichen Zeitungsberichten, in allen Briefen aus Verwandten- und Bekanntenkreiſen nichts als Klage und Trauer. Da war ein Brief von Tante Kornelie, welche ihr Unglück noch nicht kannte, worin ſie in ſo rührenden Worten von der Furcht ſprach, ihr einziges Kind etwa verlieren zu müſſen — ein Brief, über den wir Zwei bittere Thränen vergoſſen. Und wenn wir abends im Kreiſe beiſammen ſaßen, da gab es nicht heiteres, ſcherzgewürztes Geplauder, Muſik, Kartenſpiel und anregende Lektüre, ſondern immer nur — geſprochen oder geleſen — Geſchichten von Jammer und Tod. Wir laſen nichts anderes als Zeitungen und dieſe waren mit „Krieg“ und nichts als „Krieg“ gefüllt, und was wir ſprachen, bezog ſich meiſt auf die Erfahrungen, welche Friedrich und ich von den böhmiſchen Schlachtfeldern zurückgebracht hatten. Meine Abreiſe dahin wurde mir zwar von Allen ſehr übel genommen, dennoch lauſchten ſie geſpannt, wenn ich von den dortigen, teils ſelbſterlebten, teils mitgeteilten Ereigniſſen erzählte. Roſa ſchwärmte für Frau Simon und ſchwor, falls der Krieg andauern ſollte, ſich der ſächſiſchen Samariterin anzuſchließen. Dagegen proteſtierte natürlich unſer Vater: „Mit Ausnahme der barmherzigen Schweſtern und der Marketenderinnen, hat kein Frauenzimmer im Krieg ’was zu ſuchen … ihr ſeht ja, wie untauglich unſere Martha ſich erwieſen hat. Das war ein unverzeihlicher Streich von Dir, Du tolles Kind — Dein Mann ſollte Dich noch nachträglich dafür züchtigen.“ Friedrich ſtreichelte meine Hand: „Ja, eine Thorheit war’s — aber eine ſchöne.“ — Wenn ich von den Schreckniſſen, die ich ſelber geſehen, oder die mir meine Reiſegefährten mitgeteilt, in gar zu unverhüllter Weiſe ſprach, wurde ich oft von Tante Marie oder von meinem Vater rügend unterbrochen: „Wie kann man ſo abſcheuliche Dinge wiederholen?“ Oder: „Schämſt Du Dich nicht, als Frau, als zarte Dame, ſo häßliche Worte in den Mund zu nehmen?“ Als ich gar eines Abends von den Verſtümmelten ſprach und das Los derer beklagte, die im Namen des Mannesmuts, der Manneszucht und der Mannesehre in den Krieg getrieben, von dort zurückkehren müſſen, ihrer Mannheit auf ewig beraubt — —
„Martha! Vor den Mädchen!!!“ ſtöhnte Tante Marie, im Tone der höchſten ſittlichen Entrüſtung.
Da riß mir die Geduld:
„O über eure Prüderie — und o über eure zimperliche Wohlanſtändigkeit! Geſchehen dürfen alle Greuel, aber nennen darf man ſie nicht. Von Blut und Unrat ſollen die zarten Frauen nichts erfahren und nichts erwähnen, wohl aber die Fahnenbänder ſticken, welche das Blutbad überflattern werden; davon dürfen Mädchen nichts wiſſen, daß ihre Verlobten unfähig gemacht werden können, den Lohn ihrer Liebe zu empfangen, aber dieſen Lohn ſollen ſie ihnen zur Kampfesanfeuerung verſprechen. Tod und Tötung hat nichts unſittliches für euch, ihr wohlerzogenen Dämchen — aber bei der bloßen Erwähnung der Dinge, welche die Quellen des fortgepflanzten Lebens ſind, müßt ihr errötend wegſchauen. Das iſt eine grauſame Moral, wißt ihr das? Grauſam und feig! Dieſes Wegſchauen — mit dem leiblichen und mit dem geiſtigen Auge — das iſt an dem Beharren ſo vielen Elends und Unrechts ſchuld! Wer nur erſt den Mut hätte, hinzuſchauen, wo Mitgeſchöpfe in Leid und Elend ſchmachten und den Mut hätte, über das Geſchaute nachzudenken —“
„Ereifere Dich nicht“, unterbrach Tante Marie, „wir können doch nicht, ſo viel wir auch zuſchauen und nachdenken wollten, das Übel von der Erde wegſchaffen — dieſelbe iſt nun einmal ein Jammerthal und wird es immer bleiben.“
„Das wird ſie nicht“, entgegnete ich und behielt ſo doch das letzte Wort.