Das war nun eine aufgeregte Zeit. Der Krieg iſt ausgebrochen“. Man vergißt, daß es zwei Haufen Menſchen ſind, die miteinander raufen gehen, und faßt das Ereignis ſo auf, als wäre es ein erhabenes, waltendes Drittes, deſſen „Ausbruch“ die beiden Haufen zum Raufen zwingt. Die ganze Verantwortung fällt auf dieſe außerhalb des Einzelwillens liegende Macht, welche ihrerſeits nur die Erfüllung der beſtimmten Völkerſchickſale herbeigeführt. Das iſt ſo die dunkle und ehrfürchtige Auffaſſung, welche die meiſten Menſchen vom Kriege haben und welche auch die meine war. Von einer Revolte meines Gefühls gegen das Kriegführen überhaupt, war keine Rede; nur darunter litt ich, daß mein geliebter Mann hinauszuziehen hätte in die Gefahr, und ich in Einſamkeit und Bangen zurückzubleiben. Ich kramte alle meine alten Eindrücke aus der Zeit der Geſchichtsſtudien hervor, um mich an dem Bewußtſein zu ſtärken und zu begeiſtern, daß die höchſte Menſchenpflicht es war, die meinen Teuren abberief, und daß ihm hierdurch die Möglichkeit geboten würde, ſich mit Ruhm und Ehren zu bedecken. Jetzt lebte ich ja mitten drin in einer Geſchichtsepoche: das war auch ein eigentümlich erhebender Gedanke. Weil von Herodot und Tacitus an bis zu den modernen Hiſtorikern herab die Kriege ſtets als die wichtigſten und folgenſchwerſten Ereigniſſe dargeſtellt worden, ſo meinte ich, daß auch gegenwärtig ein ſolches — künftigen Geſchichtsſchreibern als Abſchnittsüberſchrift dienendes Weltereignis im Gange war.
Dieſe gehobene, wichtigkeitsüberſtrömende Stimmung war übrigens die allgemeine herrſchende. Man ſprach von nichts Anderem in den Salons und auf den Gaſſen; las von nichts Anderem in den Zeitungen, betete für nichts Anderes in den Kirchen: wo man hinkam, überall dieſelben aufgeregten Geſichter und die gleichen lebhaften Beſprechungen der Kriegseventualitäten. Alles Übrige, was ſonſt das Intereſſe der Leute wach hält: Theater, Geſchäfte, Kunſt —, das wurde jetzt als ganz nebenſächlich betrachtet. Es war einem zu Mute, als hätte man gar kein Recht, an etwas Anderes zu denken, während dieſer große Weltſchickſalsauftritt ſich abſpiele. Und die verſchiedenen Armeebefehle mit den bekannten ſiegesbewußten und ruhmverheißenden Phraſen; und die unter klingendem Spiel und wehenden Standarten abmarſchierenden Truppen; und die in loyalſtem und patriotiſch glühendſtem Tone gehaltenen Leitartikel und öffentlichen Reden; dieſer ewige Appell an Tugend, Ehre, Pflicht, Mut, Aufopferung; dieſe ſich gegenſeitig gemachten Verſicherungen, daß man die bekannt unüberwindlichſte, tapferſte, zu hoher Machtausdehnung beſtimmte, beſte und edelſte Nation ſei! alles dies verbreitet eine heroiſche Atmoſphäre, welche die ganze Bevölkerung mit Stolz erfüllt und in jedem Einzelnen die Meinung hervorruft, er ſei ein großer Bürger einer großen Zeit.
Schlechte Eigenſchaften, als da ſind: Eroberungsgier, Raufluſt, Haß, Grauſamkeit, Tücke — werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege ſich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim „Feind“. Deſſen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgeſehen von der politiſchen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, ſowie abgeſehen von den daraus unzweifelhaft erwachſenden patriotiſchen Vorteilen, iſt die Beſiegung des Gegners ein moraliſches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung. … Dieſe Italiener — welches faule, falſche, ſinnliche, leichtſinnige eitle Volk! Und dieſer Louis Napoleon — welcher Ausbund von Ehrſucht und Intriguengeiſt! Als ſein am 29. April publiziertes Kriegsmanifeſt erſchien, mit dem Motto: „Freies Italien bis zum adriatiſchen Meer“ — rief das einen Sturm der Entrüſtung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine ſchwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und ſchöne Idee ſei, welche für italieniſche Patrioten begeiſternd wirken müſſe; aber ich ward ſchnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma „Louis Napoleon iſt ein Böſewicht“, durfte, ſo lange er „der Feind“ war, nicht gerüttelt werden; Alles, was von ihm ausging, war von vornherein „böſewichteriſch“. Noch ein leiſer Zweifel ſtieg in mir auf. In allen geſchichtlichen Kriegsberichten hatte ich die Sympathie und die Bewunderung der Erzähler immer für diejenige Partei ausgedrückt gefunden, welche einem fremden Joche ſich entringen wollte und welche für die Freiheit kämpfte. Zwar wußte ich mir weder über den Begriff „Joch“ noch über den ſo überſchwänglich beſungenen Begriff „Freiheit“ einen rechten Beſcheid zu geben, aber ſo viel ſchien mir doch klar: die Jochabſchüttelungs- und Freiheitsbeſtrebung lag diesmal nicht auf öſterreichiſcher, ſondern auf italieniſcher Seite. Aber auch für dieſe ſchüchtern gedachten und noch ſchüchterner ausgedrückten Skrupel wurde ich niedergedonnert. Da hatte ich Unſelige wieder an einem ſakroſankten Grundſatz gerührt, nämlich daß unſere Regierung — d. h. diejenige, unter welcher man zufällig geboren worden — niemals ein Joch, ſondern nur einen Segen abgeben könne; daß die von „uns“ ſich losreißen Wollenden nicht Freiheitskämpen, ſondern einfach Rebellen ſind, und daß überhaupt und unter allen Umſtänden „wir“ allemal und überall in unſerm vollen Rechte ſind.
In den erſten Maitagen — es waren kalte, regneriſche Tage zum Glück; ſonniges, lenzfrohes Wetter hätte einen noch ſchmerzlicheren Kontraſt bewirkt — marſchierte das Regiment ab, welchem Arno ſich hatte zuteilen laſſen. Um ſieben Uhr früh … ach, die vorhergehende Nacht … war das eine fürchterliche Nacht! Wäre der Teure auch nur auf eine gefahrloſe Geſchäftsreiſe gegangen, die Trennung hätte mich unſäglich traurig gemacht — Scheiden thut ja ſo weh — aber in den Krieg! Dem Feuerregen der feindlichen Geſchütze entgegen! … Warum konnte ich in jener Nacht bei dem Worte Krieg durchaus nicht mehr deſſen erhabene, hiſtoriſche Bedeutung erfaſſen, ſondern nur deſſen toddrohendes Grauſen?
Arno war eingeſchlafen. Ruhig atmend, mit heiterem Geſichtsausdruck lag er da. Ich hatte eine friſche Kerze angezündet und hinter einen Schirm geſtellt: ich konnte heute nicht im Finſtern bleiben. Von Schlafen war ja für mich ohnehin keine Rede — in dieſer letzten Nacht. Da mußte ich ihm wenigſtens die ganze Zeit ins liebe Geſicht ſchauen. In einen Schlafrock gehüllt, lag ich auf unſerm Bette; den Ellbogen auf das Kiſſen, das Kinn in die Handfläche geſtützt, blickte ich auf den Schlummernden herab und weinte ſtill … „Wie lieb — wie lieb ich Dich habe, mein Einziger — und Du gehſt fort von mir … Warum iſt das Schickſal ſo grauſam? Wie werde ich leben ohne Dich? Daß Du mir nur bald wiederkehrſt! O Gott, mein guter Gott, mein barmherziger Vater dort oben — laß ihn bald zurückkommen — ihn und alle … Laß es bald Frieden ſein? … Warum kann es denn nicht immer Frieden ſein? … Wir waren ſo glücklich … zu glücklich wohl … es darf ja auf Erden kein vollkommenes Glück geben … O Seligkeit — wenn er unverſehrt heimkehrt und dann wieder ſo an meiner Seite liegt und für den kommenden Morgen kein Abſchied droht … Wie er ruhig ſchläft — o Du mein tapferer Schatz! Aber wie wirſt Du dort ſchlafen? Da gibt es kein weiches Bett für Dich — da mußt Du auf harter, naſſer Erde liegen … vielleicht in einem Graben — hilflos — verwundet …“ Bei dieſem Gedanken konnte ich nicht anders, als mir eine klaffende Säbelhiebwunde auf ſeiner Stirn vorſtellen, von der das Blut herabſickert, oder ein Kugelloch in ſeiner Bruſt … und ein heißer Mitleidsſchmerz ergriff mich. Wie gerne hätte ich meine Arme um ihn geſchlungen und ihn geküßt, aber ich durfte ihn nicht wecken; er brauchte dieſen ſtärkenden Schlaf. Nur noch ſechs Stunden … tik — tak — tik — tak: unbarmherzig ſchnell und ſicher geht die Zeit jedem Ziele entgegen. Dieſes gleichgültige Tick — Tack that mir weh. Auch das Licht brannte ebenſo gleichgültig hinter ſeinem Schirm, wie dieſe Uhr mit ihrem blöden regungsloſen Bronze-Amor tickte … Begriffen denn all dieſe Dinge nicht, daß dies die letzte Nacht war? Die thränenden Lider fielen mir zu, das Bewußtſein ſchwand allmählich, und den Kopf auf das Kiſſen ſinken laſſend, ſchlief ich dennoch ſelber ein. Aber immer nur auf kurze Zeit. Kaum verlor ſich mein Sinn in die Nebel eines formloſen Traumes, ſo krampfte mein Herz ſich plötzlich zuſammen und ich erwachte durch einen heftigen Schlag desſelben, mit dem gleichen Angſtgefühle, wie wenn man durch Hilferuf oder Feuerlärm geweckt wird … „Abſchied, Abſchied!“ hieß der Alarm.
Als ich zum zehnten oder zwölften male ſo aus dem Schlummer auffuhr, war es Tag und die Kerze flackerte noch. Man klopfte an der Thür.
„Sechs Uhr, Herr Oberlieutenant,“ meldete die Ordonnanz, welche Befehl erhalten hatte, rechtzeitig zu wecken.
Arno richtete ſich auf … Jetzt alſo war die Stunde gekommen — jetzt würde es geſprochen werden, dieſes jammer-jammervolle Wort „Lebwohl“.
Es war ausgemacht worden, daß ich ihn nicht zur Bahn begleiten würde. Die eine Viertelſtunde mehr oder weniger des Beiſammenſeins — auf die kam es nicht mehr an. Und das Leid der letzten Losreißung, das wollte ich nicht vor fremden Leuten bloßlegen; ich wollte allein in meinem Zimmer ſein, wenn der Abſchiedskuß getauſcht worden, um mich auf den Boden werfen — um ſchreien, laut ſchreien zu können.
Arno kleidete ſich raſch an. Dabei ſprach er allerlei Tröſtliches auf mich ein:
„Wacker, Martha! In längſtens zwei Monaten iſt die Geſchichte vorbei und ich bin wieder da. … Zum Kuckuck — von tauſend Kugeln trifft nur eine und die muß nicht gerade mich treffen. … Es ſind andere auch ſchon aus dem Krieg zurückgekommen: ſieh’ Deinen Papa. Einmal mußte es doch ſein. Du haſt doch keinen Huſarenoffizier in der Idee geheiratet, ſein Handwerk ſei die Hyazinthenzucht? Ich werde Dir oft ſchreiben, ſo oft als möglich, und Dir berichten, wie friſch und fröhlich die ganze Campagne vor ſich geht. Wenn mir was Schlimmes beſtimmt wäre, ſo könnte ich mich nicht ſo wohlgemut fühlen … einen Orden geh’ ich mir holen, weiter nichts. … Gib nur hier recht acht auf Dich ſelber und auf unſern Ruru — der, wenn ich avanciere, auch wieder um einen Grad vorrücken darf. Grüß ihn von mir … ich will den Abſchied von geſtern Abend nicht noch wiederholen. … Dem wird’s einmal ein Vergnügen ſein, wenn ihm ſein Vater erzählt, daß er im Jahr 59 bei den großen italieniſchen Siegen dabei geweſen.“ …
Ich hörte ihm gierig zu. Dieſes zuverſichtliche Geplauder that mir wohl. Er ging ja gern und luſtig fort — mein Schmerz war alſo ein egoiſtiſcher, daher ein unberechtigter — dieſer Gedanke würde mir die Kraft geben, ihn zu überwinden.
Wieder klopfte es an der Thüre.
„Es iſt ſchon Zeit, Herr Oberlieutenant.“
„Bin ſchon fertig — komme gleich.“ Er breitete die Arme aus: „Alſo jetzt, Martha, mein Weib, mein Lieb —“
Schon lag ich an ſeiner Bruſt. Reden konnte ich nicht. Das Wort Lebewohl wollte mir nicht über die Lippen — ich fühlte, daß ich bei Äußerung dieſes Wortes zuſammenbrechen mußte, und die Ruhe, den Frohmut ſeiner Abfahrt durfte ich ja nicht vergällen. Den Ausbruch meines Schmerzes ſparte ich mir — wie eine Art Belohnung — auf das Alleinſein auf.
Nunmehr aber ſprach er es, das herzzerreißende Wort:
„Leb’ wohl, mein alles, leb wohl!“ und drückte innig ſeinen Mund auf den meinen.
Wir konnten uns aus dieſer Umarmung garnicht losreißen — war es doch die letzte. Da plötzlich fühle ich, wie ſeine Lippen beben, ſeine Bruſt ſich krampfhaft hebt … und — mich freilaſſend, bedeckt er ſein Geſicht mit beiden Händen und ſchluchzt laut auf.
Das war zu viel für mich. Ich glaubte wahnſinnig zu werden.
„Arno, Arno,“ rief ich, ihn umklammernd: „Bleib, bleib!“ Ich wußte, daß ich unmögliches verlangte, doch rief ich hartnäckig: „Bleib, bleib!“
„Herr Oberlieutenant,“ kam es von draußen, „ſchon höchſte Zeit.“
Noch einen Kuß — den allerletzten — und er ſtürzte hinaus.