Als ich wieder zur Beſinnung kam, befand ich mich in einem fahrenden Eiſenbahnwagen. Mir gegenüber ſaß Doktor Breſſer. Als er gewahrte, daß ich die Augen geöffnet und erſtaunt und forſchend um mich ſchaute, ergriff er meine Hand:
„Ja, ja, Frau Martha,“ ſagte er, „dies iſt ein Koupee zweiter Klaſſe — Sie träumen nicht. Sie ſind hier in Geſellſchaft einiger leichtverwundeter Offiziere und Ihres Freundes Breſſer, und wir fahren nach Wien.“
So war es. Der Doktor hatte einen Transport Verwundeter von Horonewos nach Königinhof gebracht, und von dort war ihm ein anderer Transport zur Beförderung nach Wien anvertraut worden. Mich Ohnmächtige — in der doppelten Bedeutung des Wortes ohnmächtig — hatte er mitgenommen und brachte mich nach Hauſe. Ich hatte mich auf jenen Stätten des Elends als völlig unnütz und unfähig erwieſen, als ein Hindernis und eine Bürde; Frau Simon war ſehr froh, als Doktor Breſſer mich fortſchaffte. Und ich mußte zugeben, daß es ſo am beſten war. Aber Friedrich? — Ich hatte ihn nicht gefunden. Gott ſei Dank — daß ich ihn nicht gefunden: ſo war noch nicht alle Hoffnung tot: und hätte ich gar den geliebten Mann unter jenen Jammergeſtalten erkennen müſſen — ich wäre wahnſinnig geworden! Vielleicht würde ich zu Hauſe einen Brief meines Friedrich vorfinden … Dieſe Hoffnung — nein, Hoffnung iſt zu viel geſagt: der Gedanke an dieſe bloße Möglichkeit — goß mir einen Balſam in die wunde Seele. Ja wund — wund fühlte ich mein Inneres … Das Rieſenweh, welches ich geſehen, hatte mir ſo tief ins eigene Herz geſchnitten, daß mir war, als ſollte es nie mehr ganz geheilt werden können. — Auch wenn ich meinen Friedrich wiederfände, auch wenn mir eine lange Zukunft von Glanz und Liebe beſcheert würde, könnte ich denn jemals vergeſſen, daß ſo viele andere meiner armen Menſchenbrüder und -Schweſtern ſo unſägliches Unglück tragen müſſen? So lange tragen müſſen, als ſie nicht zur Einſicht kommen, daß dieſes Unglück nicht Verhängnis, ſondern Verbrechen iſt. — —
Ich ſchlief beinahe während der ganzen Fahrt. Doktor Breſſer hatte mir ein leichtes Narkotikum eingegeben, damit ein langer und feſter Schlaf meine durch die Erlebniſſe von Horonewos ſo erſchütterten Nerven wieder einigermaßen beruhige.
Als wir auf dem wiener Bahnhof ankamen, ſtand ſchon mein Vater da, mich abzuholen. Doktor Breſſer, der an alles dachte, hatte nach Grumitz telegraphiert. Ihm ſelbſt wäre es nicht möglich geweſen, mich dahin zu begleiten, da er ſeine Verwundeten in das Hoſpital zu bringen hatte und dann unverzüglich wieder nach Böhmen zurückkehren wollte.
Mein Vater umarmte mich ſchweigend und auch ich fand kein Wort zu ſagen. Dann wandte er ſich an Doktor Breſſer.
„Wie ſoll ich Ihnen danken? Hätten Sie nicht dieſe kleine Verrückte in Schutz genommen — —“
Aber der Doktor drückte uns eilig die Hände.
„Ich muß weg,“ ſagt er, „ich habe Dienſt. Kommen Sie glücklich nach Hauſe. Die junge Frau braucht Schonung, Excellenz … iſt ſtark erſchüttert worden … keine Vorwürfe, kein Ausfragen … ſchnell ins Bett: … Orangenblütenwaſſer … Ruhe, Adieu!“ Und fort war er.
Mein Vater legte meinen Arm in den ſeinen und führte mich durch das Gedränge dem Ausgang zu. Da ſtand wieder eine lange Reihe von Ambulanzwagen. Wir mußten eine Strecke zu Fuß gehen, um zu der Stelle zu gelangen, wo unſer Wagen wartete.
Die Frage: „Iſt mittlerweile Nachricht von Friedrich gekommen?“ ſtieg mir wiederholt zu den Lippen empor, ich fand aber nicht den Mut, ſie auszuſprechen. Endlich — wir waren ſchon ein Stück gefahren und mein Vater war noch immer ſtumm — brachte ich dieſelbe hervor:
„Bis geſtern Abend nicht,“ lautete die Antwort. „Möglich, daß wir heute Nachricht finden. Ich bin nämlich ſchon geſtern, gleich nach Empfang des Telegramms, zur Stadt gefahren. Ach, haſt Du uns Angſt gemacht, Du närriſches Ding! Auf die Schlachtfelder fahren, dem grimmigen Feind entgegen — dieſe Leute ſind ja wie die Wilden … Durch ihre Spitzkugelſiege ſind ſie ganz berauſcht … und überhaupt: disciplinierte Soldaten ſind ſie ja nicht, dieſe Landwehrleute — von ſolchen kann man ſich auf die ärgſten Unthaten gefaßt machen, und Du — eine Frau — läufſt da mitten hinein; Du — nun der Doktor hat mir verordnet, Dir keine Vorwürfe zu machen —“
„Wie geht es meinem Sohne Rudolf?“
„Der ſchreit und heult nach Dir, ſucht Dich im ganzen Haus, will nicht glauben, daß Du weggereiſt ſeieſt, ohne ihm einen Abſchiedskuß zu geben. Und nach den Anderen frägſt Du nicht? nach Lilli, Roſa, Otto, Tante Marie? Du kommſt mir überhaupt ſo teilnahmslos vor —“
„Wie geht es Allen? Hat Konrad geſchrieben?“
„Gut geht es allen. Von Konrad kam geſtern ein Brief — es iſt ihm nichts geſchehen. Lilli iſt ſelig. Du wirſt ſehen, von Tilling wird nächſtens auch gute Nachricht eintreffen. Leider iſt in politiſcher Hinſicht nichts Gutes zu erwarten. Du haſt doch von dem großen Unglück gehört?“
„Welches … Ich habe in der Zeit gar nichts Anderes geſehen, als großes Unglück.“
„Ich meine Venetien — unſer ſchönes Venetien fortgeſchleudert — dem Intriganten Louis Napoleon auf dem Präſentierteller gereicht! Und das nach ſolchen glänzenden Siegen, wie wir bei Cuſtozza errungen haben … Statt unſere Lombardei zurückzunehmen, auch noch unſer Venedig hingeben! Freilich, dadurch ſind wir die Feinde im Süden los, haben auch den Louis Napoleon für uns und können jetzt mit aller Wucht für Sadowa Rache nehmen, den Preußen aus dem Lande hinauswerfen, ihn verfolgen und uns Schleſien holen. Benedek hat große Fehler begangen, jetzt aber wird der Oberbefehl in die Hände des glorreichen Feldherrn der Südarmee gelegt … Du antworteſt nicht? Nun denn, ſo will ich Dir, immer nach Breſſers Verordnung Ruhe laſſen.“
Nach zweiſtündiger Fahrt kamen wir in Grumitz an.
Als unſer Wagen im Schloßhof einfuhr, ſtürzten uns die Schweſtern entgegen.
„Martha, Martha“ — riefen beide ſchon von weitem: „Er iſt da!“
Und nochmals — am Wagenſchlag.
„Er iſt da, Martha!“
„Wer!“
„Friedrich, Dein Mann.“