Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 40. Drittes Buch. 1864. // 14. Abſchnitt Näher gebracht — immer näher! Ich habe es erfahren, daß die Annäherungsfähigkeit liebender Herzen zu jenen Dingen gehört, die keine Grenzen haben — wie zum Beiſpiel die Teilbarkeit. Man ſollte glauben, ein Partikelchen ſei ſchon ſo klein, daß es nicht kleiner gedacht werden könne, und doch: es läßt ſich noch in zwei Hälften ſpalten; und man ſollte glauben, zwei Herzen ſeien ſchon ſo ineinander verſchmolzen, daß ein innigeres Einswerden nicht mehr möglich wäre, und doch: eine äußere Einwirkung und noch feſter und näher — immer näher — umſchlingen und durchdringen ſich die Herzensatome. So hatte Loris ziemlich geſchmackloſer Aprilſcherz auf uns gewirkt, und ſo wirkte noch ein äußeres Ereignis, welches kurz darauf eintrat. Ein heftiges Nervenfieber nämlich, das mich ſechs Wochen auf das Krankenlager warf. Ein an ſich zwar trübes Ereignis — und doch wie fruchtbar an glücklichen Erinnerungen für mich und wie einflußreich auf den oben geſchilderten Vorgang: das „Noch-näher-bringen“ von zwei ſo allernaheſten Herzen. War es die Furcht, mich zu verlieren, die mich dem Gatten noch teurer machte, oder war mir ſeine Liebe nur noch offenbarer geworden durch ſein Krankenwärter-Benehmen — kurz, während dieſes Nervenfiebers und nach demſelben fühlte ich mich noch viel mehr und noch viel ſicherer geliebt als zuvor. Vor dem Sterben hatte ich mich auch wohl gefürchtet. Einmal, weil es mir ſchrecklich leid gethan hätte, ein Leben zu verlieren, das mir ſo reich an Schönheit und Glück ſchien, und meine Lieben — Friedrich, mit dem ich ſo gern alt geworden wäre, Rudolf, den ich ſo gern zum Manne auferzogen hätte, zu verlaſſen; zweitens auch — nicht in Selbſtſucht, ſondern im Hinblick auf Friedrich — war mir der Gedanke an den Tod entſetzlich, denn ich wußte, ſo gewiß als man nur wiſſen kann, daß der Schmerz, mich zu begraben, den Beraubten ſchier unerträglich wäre … Nein, nein: glückliche Menſchen und von teuern Weſen geliebte Menſchen {können} nicht Todesverachtung empfinden. Zu dieſer gehört vor allem Lebensverachtung. Ich konnte auf meinem Lager, wo die Krankheit mit ihrer tödlichen Gewalt mich umſchwirrte, wie der Krieger auf dem Schlachtfeld von Kugeln umſchwirrt wird, mich ſo recht in die Empfindung ſolcher Soldaten hineindenken, welche das Leben lieben, und welche wiſſen, daß ihr Tod geliebte Weſen in Verzweiflung ſtürzen würde. „Nur das eine hat der Soldat vor dem Fieberkranken voraus: das Bewußtſein erfüllter Pflicht,“ antwortete mir Friedrich, als ich ihm dieſe Gedanken mitteilte. „Doch darin gebe ich Dir recht: gleichgültig ſterben, {freudig} ſterben, — was uns allenthalben zugemutet wird — das kann kein glücklicher Menſch. Das konnten nur die aller Lebensnot Preisgegebenen in alter Zeit, die an der Friedensexiſtenz gar nichts zu verlieren hatten, oder ſolche, die ſich und ihre Brüder nur durch den Tod von Schmach und unerträglichem Joch befreien können.“ Als die Gefahr überſtanden war, wie genoß ich da meine Geneſung, meine Wiedergeburt! Das war ein Feſt — für uns beide. Ähnlich dem Glücke bei der Wiedervereinigung nach dem Schleswig-Holſteiner Kriege, aber doch anders. Dort kam die Freude mit einem Schlag und hier nach und nach — und zudem, wir waren uns ja ſeither wieder näher, immer näher. Mein Vater hatte mich während meiner Krankheit täglich beſucht und viel Beſorgnis gezeigt; dennoch, ich wußte, daß er ſich meinen Tod nicht übertrieben zu Herzen genommen hätte. Seine beiden jüngeren Töchter hatte er viel lieber als mich, und der Liebſte von Allen war ihm Otto. Ich war ihm durch meine zwei Heiraten, namentlich durch die zweite, und vielleicht auch durch meine ganz verſchiedene Denkungsart, einigermaßen entfremdet. Als ich vollſtändig hergeſtellt war — es war Mitte Juni —, überſiedelte er nach Grumitz und forderte mich lebhaft auf, ſamt meinem kleinen Rudolf mitzukommen. Ich aber zog es vor, da Friedrich dienſteshalber die Stadt nicht verlaſſen durfte, meinen Landaufenthalt ganz in der Nähe von Wien zu nehmen, wo mein Mann mich täglich beſuchen konnte, und ſo mietete ich eine Sommerwohnung in Hietzing. Meine Schweſtern, immer unter Tante Mariens Schutz — reiſten nach Marienbad. In ihrem letzten Brief aus Prag ſchrieb mir Lilli unter Anderem: „Ich muß Dir geſtehen, daß Vetter Konrad anfängt, mir — gar nicht zuwider zu werden. Während ſo manchen Cotillons war ich in der Laune, wenn er nur die betreffende Frage geſtellt hätte, „ja“ zu ſagen. Er unterließ es aber, den entſcheidenden Schritt im {rechten} Moment zu thun. Als es hieß, daß wir abreiſen ſollten, hat er zwar wieder einen neuen Antrag gemacht, aber da hatte ich einen neuen Anfall von Korbgeben. Das habe ich mir dem armen Konrad gegenüber ſchon ſo angewöhnt, daß, wenn er das bekannte: „Willſt Du nicht doch meine Frau werden, Lilli?“ vorbringt, meine Zunge ganz von ſelber antwortet: „Fällt mir gar nicht ein.“ Diesmal aber habe ich hinzugefügt: „Frage in ſechs Monaten nochmals an.“ Ich werde nämlich den Sommer über mein Herz prüfen. Sehne ich mich nach dem Abweſenden, verläßt mich der Gedanke an ihn — der mich jetzt ſo ziemlich unabläſſig im Wachen und Träumen verfolgt — auch in Marienbad nicht; gelingt es dort und auch in folgender Jagdſaiſon keinem Anderen, Eindruck auf mich zu machen — dann hat des eigenſinnigen Vetters Ausdauer geſiegt.“ Um dieſelbe Zeit ſchrieb mir Tante Marie; (Es iſt zufällig der einzige Brief von ihr, den ich aufbewahrt habe.) „Mein liebes Kind! Das war eine ermüdende Winter-Campagne: Ich werde nicht wenig froh ſein, wenn Roſa und Lilli Partien gefunden haben werden. {Gefunden} hätten ſie deren zwar genug, denn wie Du weißt, haben ſie hier im Laufe des Faſchings jede ein Vierteldutzend Körbe ausgeteilt — den perennierenden Konrad gar nicht mitgerechnet. Jetzt wird die Plackerei in Marienbad wieder anheben. Ich wäre für mein Leben gern nach Grumitz gegangen, oder zu Dir — und muß ſtatt deſſen die mühſame und undankbare Chaperon-Rolle bei den vergnügungsſüchtigen Mädchen weiterſpielen. Ich freue mich ſehr, zu hören, daß Du wieder ganz geſund biſt. Jetzt, da die Gefahr vorüber, kann ich Dir ſagen, daß wir ſehr beſorgt waren — Dein Mann ſchrieb uns eine Zeit lang ſo verzweifelte Briefe: jeden Augenblick fürchtete er, Dich ſterben zu ſehen. Nun das war Dir, Gott ſei Dank, nicht beſtimmt. Die Novene, welche ich für Deine Geneſung bei den Urſulinerinnen abgehalten, hat vielleicht auch zu Deiner Rettung beigetragen. Der liebe Gott wird Dich für Deinen Rudi erhalten. Grüße mir den lieben Kleinen, und er ſoll nur immer recht brav lernen. Ich ſchicke ihm gleichzeitig ein paar Bücher: „Das fromme Kind und ſein Schutzengel“ — eine wunderſchöne Geſchichte — und „Vaterländiſche Helden“ — eine Sammlung von Kriegsbildern für Knaben. Man kann den Kleinen nicht früh genug Sinn für derlei beibringen. Dein Bruder Otto z._B. war noch nicht fünf Jahre alt, als ich ihm ſchon vom großen Alexander, von Cäſar und anderen berühmten Eroberern erzählte — und wie iſt er jetzt für alles Heroiſche begeiſtert — es iſt ein Vergnügen! Ich habe vernommen, daß Du den Sommer in der Nähe von Wien bleiben willſt, ſtatt nach Grumitz zu gehen. Daran thuſt Du ſehr unrecht. Die Luft in Grumitz würde Dir viel beſſer bekommen, als die des ſtaubigen Hietzing — und der arme Papa wird ſich langweilen, ſo allein. Vermutlich willſt Du Deines Mannes wegen nicht fort; aber mir will ſcheinen, daß die Tochterpflichten doch auch nicht ganz vernachläſſigt werden ſollten. Tilling könnte ja doch bisweilen auch einen Tag nach Grumitz kommen. Gar ſo viel beieinander ſein iſt für Eheleute nicht einmal gut — glaube meiner Lebenserfahrung. Ich habe bemerkt, daß die beſten Ehen diejenigen ſind, wo die Gatten ſich nicht immer gegenſeitig auf dem Halſe ſitzen, ſondern einander eine gewiſſe Freiheit laſſen. Jetzt leb’ wohl, ſchone Dich, damit Du keinen Rückfall bekommſt, und überlege Dir das noch mit Hietzing. Der Himmel ſchütze Dich und Deinen Rudi! — Dies das aufrichtige Gebet Deiner Dich liebenden Tante Marie. [P. S.] Dein Mann hat ja Verwandte in Preußen (zum Glück iſt er nicht ſo arrogant wie ſeine Landsleute), frage ihn doch, was man dort im allgemeinen ſpricht über die politiſche Lage. Dieſelbe iſt doch ſehr bedenklich.“ 41. Drittes Buch. 1864. // 15. Abſchnitt