Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 32. Drittes Buch. 1864. // 6. Abſchnitt Friedrich hatte vor ſeiner Abreiſe noch an Tante Marie telegraphiert, daß ich ihrer Pflege bedürfe, und ſie kam einige Stunden ſpäter bei mir an. Sie fand mich bewußtlos und in großer Gefahr. Mehrere Wochen ſchwebte ich zwiſchen Leben und Tod. Mein Kind war am Tage ſeiner Geburt geſtorben. Der moraliſche Schmerz, den mir der Abſchied von dem geliebten Manne verurſacht hatte — gerade in dem Zeitpunkt, wo ich aller Kräfte bedurft hätte, um den phyſiſchen Schmerz zu bewältigen — durch den war ich widerſtandsunfähig geworden, und es fehlte nicht viel, ſo wäre ich unterlegen. Meinem armen Manne mußte der Arzt, ſeinem eidlichen Verſprechen gemäß, den traurigen Bericht ſchicken, daß das Kind geſtorben und die Wöchnerin in Todesgefahr ſei. Was die Nachrichten betraf, die von ihm anlangten, ſo konnten mir dieſelben nicht mitgeteilt werden. Ich kannte niemand und delirierte Tag und Nacht. Ein ſonderbares Delirium. Ich habe davon eine ſchwache Erinnerung in das zurückgekehrte Bewußtſein mit hinübergenommen — aber dies mit vernünftigen Worten wiederzugeben, wäre mir unmöglich. In dem anormalen Wirbel des fiebernden Hirns bilden ſich eben Begriffe und Vorſtellungen, für welche die dem normalen Denken angepaßte Sprache keine Ausdrücke hat. Nur ſo viel kann ich andeuten — ich habe das phantaſtiſche Zeug in die roten Hefte einzuzeichnen verſucht —: daß ich die beiden Ereigniſſe, den Krieg und meine Niederkunft, miteinander verwechſelte; mir war, als wären Kanonen und blanke Waffen — ich fühlte deutlich die Bajonettſtiche — das Werkzeug der Geburt und als läge ich da, das Streitobjekt zwiſchen zwei aufeinander losſtürmende Armeen … Daß mein Gatte fortgezogen, wußte ich; doch ſah ich ihn in Geſtalt des toten Arno, während Friedrich an meiner Seite, als Krankenwärterin verkleidet, den ſilbernen Storch ſtreichelte. Jeden Augenblick erwartete ich die platzende Granate, welche uns alle drei — Arno, Friedrich und mich zerſplittern ſollte, damit das Kind zur Welt kommen könne, welches beſtimmt war, über Dänewig, Schlesſtein und Holmark zu regieren … Und das alles that ſo unſäglich weh und war ſo überflüſſig … Es mußte doch irgendwo jemand geben, der es hätte ändern und aufheben können, der dieſen Alp von meiner Bruſt und von der ganzen Menſchheit mittelſt eines Machtwortes hätte abwälzen können — und die Sehnſucht verzehrte mich, dieſem jemand mich zu Füßen zu werfen und zu flehen: Hilf ab — aus Barmherzigkeit, aus Gerechtigkeit hilf ab! — Die Waffen nieder — nieder!! Mit dieſem Ruf auf den Lippen erwachte ich eines Tages zum Bewußtſein. Mein Vater und Tante Marie ſtanden am Fuße des Bettes, und beſchwichtigend ſagte mir der erſtere: „Ja, ja, Kind, ſei ruhig, — alle Waffen nieder —“ Dieſes Wiedererlangen des Ichgefühls nach langer Geiſtesabweſenheit iſt doch ein eigentümlich Ding. Zuerſt die frohe erſtaunte Wahrnehmung, daß man lebt und dann die geſpannte, an ſich ſelber gerichtete Frage: wer man eigentlich ſei … Aber die plötzlich mit vollem Licht hereinbrechende Antwort auf dieſe Frage verwandelte mir die eben erwachte Daſeinsluſt in heftigen Schmerz. Ich war die kranke Martha Tilling, deren neugeborenes Kind geſtorben, deren Mann in den Krieg gezogen war … Seit wann? Das wußt’ ich nicht. „Lebt er? Sind Briefe da? Depeſchen?“ war meine erſte Frage. Ja, es hatte ſich ein ganzer kleiner Stoß von Briefen und Telegrammen angeſammelt, welche während meiner Krankheit eingelangt. Zumeiſt waren es nur Anfragen über {meinen} Zuſtand, Bitten um tägliche, um möglichſt ſtündliche Benachrichtigung. Dies natürlich nur, ſolange der Schreiber an Orten ſich befand, wo der Telegraph ihn erreichen konnte. Man wollte mir nicht gleich erlauben, die Briefe Friedrichs zu leſen; — es hätte mich zu ſehr aufregen und erſchüttern können, meinten ſie, und jetzt, da ich kaum aus dem Delirium erwacht, mußte ich vor allem Ruhe haben. So viel konnten ſie mir ſagen: Friedrich war bis jetzt unverſehrt. Er hatte ſchon mehrere glückliche Gefechte durchgemacht — der Krieg müßte bald zu Ende ſein; der Feind behauptete ſich nur noch auf Alſen; und war dies einmal genommen, ſo würden unſere Truppen — ruhmgekrönt — heimkehren. So ſprach mein Vater tröſtend auf mich ein. Und Tante Marie erzählte mir meine eigene Krankheitsgeſchichte. Es waren nun mehrere Wochen ſeit dem Tage ihrer Ankunft vergangen, welcher zugleich der Tag war, an welchem Friedrich ſchied und an welchem mein Kind geboren wurde und ſtarb … Daran war mir die Erinnerung geblieben, aber was dazwiſchen lag: des Vaters Ankunft, die laufenden Nachrichten von Friedrich, der Verlauf meiner Krankheit — von dem allen wußte ich nichts. Jetzt erſt erfuhr ich, mein Zuſtand ſei ein ſo ſchlimmer geweſen, daß die Ärzte mich bereits aufgegeben hatten und mein Vater gerufen worden war, um mich „ein letztes Mal“ zu ſehen. An Friedrich waren die böſen Nachrichten gewiſſenhaft geſchickt worden, aber auch die beſſeren Nachrichten — ſeit einigen Tagen nämlich gaben die Ärzte wieder Hoffnung — mußten zur Stunde ſchon in ſeinen Händen ſein. „Wenn er ſelbſt noch am Leben iſt“ — warf ich mit einem ſchweren Seufzer ein. „Verſündige Dich nicht, Martha,“ ermahnte die Tante; „der liebe Gott und ſeine Heiligen werden Dich nicht auf unſer Flehen hin gerettet haben, um Dich dann ſo heimzuſuchen. Auch Dein Mann wird Dir erhalten bleiben, für den ich, Du kannſt es mir glauben, ebenſo heiß gebetet habe, wie für Dich … ſogar ein Skapulier habe ich ihm nachgeſchickt … Ja, ja — zucke nur die Achſeln — aber ſchaden können ſie doch keinesfalls, nicht wahr? Und wie viele Beiſpiele hat man, daß ſie genützt haben … Du ſelber biſt mir auch wieder ein Beweis, was die Fürſprache der Heiligen vermag — denn Du warſt ſchon am Rande des Grabes, glaube mir — da habe ich mich an Deine Schutzpatronin, die heilige Martha, gewendet —“ „Und ich,“ unterbrach mein Vater, welcher in politiſcher Hinſicht zwar ſehr klerikal geſinnt war, in praktiſcher Hinſicht jedoch durchaus nicht mit ſeiner Schweſter ſympatiſierte, „ich habe aus Wien den Doktor Braun verſchrieben, und der hat Dich gerettet.“ Am nächſten Tage, auf mein dringendes Bitten, wurde mir geſtattet, ſämtliche von Friedrich eingelaufenen Sendungen durchzuleſen. Zumeiſt waren es nur zeilenlange Anfragen oder ebenſo lakoniſche Berichte: „Geſtern Gefecht — bin unverſehrt.“ — „Marſchieren heute weiter — Depeſchen zu adreſſieren nach *_*_*.“ Ein längerer Brief trug auf dem Umſchlag den Vermerk: „Nur zu übergeben, wenn jede Gefahr vorüber iſt.“ Dieſen las ich zuerſt: „Mein Alles! Ob Du dieſes jemals leſen wirſt? Die letzte Nachricht, die ich von Deinem Arzt erhalten, meldete: Patientin in heftigem Fieber: Zuſtand bedenklich. „Bedenklich“ — den Ausdruck hat der Mann vielleicht aus Schonung gebraucht, um nicht zu ſagen „hoffnungslos“ … {Wenn} Dir dieſes eingehändigt wird, ſo weißt Du ja, daß Du der Gefahr entronnen biſt; aber Du mögeſt denn nachträglich erfahren, wie mir zu Mute war, während ich — am Vorabend einer Schlacht — mir vorſtellte, daß mein angebetetes Weib im Sterben liegt. Daß ſie nach mir ruft — die Arme nach mir ausſtreckt … Wir hatten uns ja nicht einmal ordentlich Lebewohl geſagt … Und unſer Kind, auf das ich mich ſo gefreut — tot! Und ich ſelber morgen — ob mich eine Kugel trifft? Wenn ich vorher wüßte, daß Du nicht mehr biſt, ſo wäre mir die tödliche Kugel das liebſte — aber wenn Du gerettet werden ſollſt — nein; dann will ich vom Sterben noch nichts wiſſen. „Todesfreudigkeit“, dieſes widernatürliche von den Feldpredigern uns ſtets angeprieſene Ding, das kann ein glücklicher Menſch nicht empfinden — und wenn Du lebſt und ich heimkomme, ſo habe ich noch unberechenbare Schätze von Glück zu beheben. O, welche {Lebensfreudigkeit}, mit der wir beide noch die Zukunft genießen wollten, wenn uns eine ſolche beſchieden iſt! Heute trafen wir zum erſtenmal mit dem Feind zuſammen. Bisher ging unſer Weg durch eroberte Länderſtriche, aus welchen die Dänen ſich zurückgezogen. Rauchende Dorftrümmer, zertretene Saaten, herumliegende Waffen und Torniſter, durch Granaten aufgewirbelte Erde, Blutlachen, Pferdeleichen, Maſſengräber: — das ſind die Landſchaften und deren Staffage, durch welche wir hinter dem Sieger hergewandelt ſind, um womöglich neue Siege daran zu reihen, das heißt neue Dörfer anzuzünden und ſo weiter … Das haben wir nun heute auch gethan. Die Poſition iſt unſer. Hinter uns ſteht ein Dorf in Flammen. Die Einwohner hatten es zum Glück vorher verlaſſen. Aber in einem Stall war ein Pferd vergeſſen worden — ich hörte das verzweifelte Tier ſtampfen und ſchreien … Weißt Du, was ich that? das hat mir wahrlich keinen Orden eingetragen — denn ſtatt ein paar Dänen niederzumachen, ſprengte ich auf jenen Stall zu, um das arme Roß zu befreien. Unmöglich: ſchon brannte die Krippe, ſchon das Stroh unter ſeinen Hufen, ſchon ſeine Mähne … Da ſchoß ich ihm zwei Revolverkugeln durch den Kopf — es fiel getroffen nieder und war von dem qualvollen Flammentod gerettet. Dann zurück in den Kampf, in den Mordgeſtank des Pulvers, in den wüſten Lärm knatternder Schüſſe, ſtürzenden Gebälks, wütenden Kriegsgeſchreies. Die Meiſten um mich her, Freund und Feind, waren wohl vom Kriegstaumel erfaßt — ich aber blieb in unſeliger Nüchternheit. Zu Dänenhaß konnte ich mich nicht aufſchwingen — was thaten die Braven indem ſie über uns herfielen? weiter nichts als ihre Pflicht. — Meine Gedanken waren bei Dir Martha … Ich ſah Dich auf dem Paradebette liegen, und was ich mir wünſchte, war, daß mich eine Kugel treffe. Dazwiſchen blitzte doch wieder ein Sehnſuchts- und ein Hoffnungsſtrahl: „Wie, wenn ſie lebt? Wie, wenn ich heimkehrte?“ … Das Gemetzel dauerte über zwei Stunden und wir behaupteten, wie geſagt, das Feld. Der geſchlagene Feind entfloh. Wir verfolgten ihn nicht. Auf dem Platze blieb uns Arbeit genug zu verrichten. Von dem Dorfe einige hundert Schritte entfernt und vom Brande unverſehrt geblieben, ſteht ein großer Meierhof, mit zahlreichen leeren Wohnräumen und Ställen; hier werden wir die Nacht über ausruhen und hierher haben wir unſere Verwundeten gebracht. Das Begraben der Toten bleibt auf morgen früh. Dabei werden natürlich wieder einige Lebendige verſcharrt, denn der Starrkrampf nach Verwundungen iſt eine häufige Erſcheinung. Manche, die drüben geblieben, ob tot, oder verletzt, oder auch unverletzt, werden wir ganz zurücklaſſen müſſen; diejenigen nämlich, welche unter den Trümmern der eingeſtürzten Häuſer liegen. Die können dann hier, wenn ſie tot ſind, langſam vermodern; wenn verwundet — langſam verbluten, und wenn unverſehrt — langſam verhungern. Und wir — hurrah! — können weiterziehen, in unſeren friſchen, fröhlichen Krieg … Der nächſte Zuſammenſtoß wird wohl eine Feldſchlacht abgeben. Allem Anſchein nach werden ſich zwei große Armeekorps gegenüberſtehen. Dann kann die Zahl der Toten und Verwundeten leicht in die Zehntauſend gehen; denn wenn die Kanonen ihres vernichtungſpeienden Amtes walten, ſo werden beiderſeitig die vorderen Reihen ſchnell weggefegt. Das iſt ja eine wunderſchöne Einrichtung. Aber noch beſſer wird es ſein, wenn einſt die Schießtechnik ſo weit vorgeſchritten iſt, daß jede Armee ein Geſchoß abfeuern kann, welches die ganze feindliche Armee mit einem Schlag zertrümmert. Vielleicht würde ſo das Kriegsführen überhaupt unterbleiben. Der {Gewalt} könnte dann — wenn zwiſchen zwei Streitenden die Allgewalt eine gleich große wäre — nicht mehr die Rechtsentſcheidung überantwortet werden. Warum ſchreibe ich Dir dies alles? Warum breche ich nicht, wie es einem Kriegsmann ziemt, in begeiſterte Lobeshymnen auf das Kriegshandwerk aus? Warum? Weil ich nach Wahrheit — und nach rückhaltloſer Äußerung derſelben — dürſte; weil ich jederzeit die lügenhafte Phraſe haſſe, — in dieſem Augenblick aber — wo ich dem Tode ſo nahe bin; und wo ich zu Dir ſpreche, die Du vielleicht auch im Sterben liegſt — es mich doppelt drängt, zu ſprechen, wie es mir ums Herz iſt. Mögen tauſend Andere auch anders denken, oder doch anders zu ſprechen ſich verpflichtet dünken, ich will, ich {muß} es noch einmal geſagt haben, eh’ ich dem Krieg zum Opfer falle: ich haſſe den Krieg. Würde nur jeder, der das Gleiche fühlt, es laut zu verkünden wagen — welch ein dröhnender Proteſt ſchrie da zum Himmel auf! Alles jetzt erſchallende Hurrah ſamt dem begleitenden Kanonendonner würde dann durch den Schlachtruf der nach Menſchlichkeit lechzenden Menſchheit übertönt, durch das ſiegesgewiſſe: „Krieg dem Kriege!“ ½_4_Uhr früh. „Obiges ſchrieb ich geſtern nachts. Dann habe ich mich auf einen Strohſack gelegt und ein paar Stunden geſchlafen. In einer halben Stunde wird aufgebrochen, und dies kann ich noch der Feldpoſt übergeben. Alles iſt ſchon wach und rüſtet zum Abmarſch. Die armen Leute: wenig Ruhe haben ſie gefunden, nach der geſtern vollbrachten — wenig Kräftigung zu der heute zu vollbringenden Blutarbeit … Vorhin habe ich noch einen Rundgang durch unſer inproviſiertes Lazareth gemacht, welches hier zurückbleibt. Da ſah ich unter den Verwundeten und Sterbenden ein paar, denen ich es gern ſo gemacht hätte, wie dem brennenden Pferde: ihnen eine Gnadenkugel durch den Kopf gejagt. Da iſt einer, dem der ganze Unterkiefer weggeſchoſſen iſt; da iſt ein anderer, der — Genug … Ich kann nicht helfen — niemand kann da helfen, als der Tod. Leider iſt der oft ſo langſam … Wer ihn verzweifelt anruft, dem gegenüber ſtellt er ſich taub. Er iſt anderweitig viel zu ſehr beſchäftigt, diejenigen hinzuraffen, die inbrünſtig auf Geneſung hoffen, die ihn flehentlich anrufen: O verſchone mich! Mein Pferd iſt geſattelt — jetzt heißt es, dieſe Zeilen ſchließen. Leb wohl! Martha — {wenn} Du lebſt.“ 33. Drittes Buch. 1864. // 7. Abſchnitt