Ich bin nicht, wie ſo viele meiner Standesgenoſſinnen, im Kloſter, ſondern unter der Leitung von Gouvernanten und Lehrern im Vaterhauſe erzogen worden. Meine Mutter verlor ich früh. Mutterſtelle an uns Kindern — ich hatte noch drei jüngere Geſchwiſter — vertrat unſere Tante, eine alte Stiftsdame. Wir verbrachten die Wintermonate in Wien, den Sommer auf einem Familiengute in Niederöſterreich.
Meinen Erzieherinnen und Lehrern habe ich viel Freude gemacht, deſſen erinnere ich mich — denn ich war eine fleißige mit gutem Gedächtnis begabte, und namentlich ehrgeizige Schülerin. Da ich meinen Ehrgeiz, wie ſchon bemerkt, nicht damit befriedigen konnte, als Heldenjungfrau Schlachten zu gewinnen, ſo begnügte ich mich damit, in den Lektionen gute Zenſuren davonzutragen und durch meinen Lerneifer der Umgebung Bewunderung abzuzwingen. In der franzöſiſchen und engliſchen Sprache brachte ich es nahezu zur Vollkommenheit; von Erd- und Himmelskunde, von Naturgeſchichte und Phyſik machte ich mir ſo viel zu eigen, als mir in dem Programm einer Mädchenerziehung überhaupt zugänglich war; aber von dem Gegenſtand „Geſchichte“ lernte ich noch mehr als von mir gefordert wurde. Aus der Bibliothek meines Vaters holte ich mir dickbändige Hiſtorienwerke hervor, in welchen ich in meinen Mußeſtunden ſtudierte. Ich glaubte mich jedesmal um ein Stück geſcheiter geworden, wenn ich ein Ereignis, einen Namen, ein Datum aus vergangenen Zeiten meinem Gedächtnis neu einverleibt hatte. Gegen Klavierſpielerei — welche doch auch im Erziehungsplan aufgezeichnet ſtand — habe ich mich ſtandhaft zur Wehr geſetzt. Ich beſaß weder Talent noch Luſt zur Muſik und fühlte, daß mir darin keine Ehrgeizbefriedigung winkte. Ich bat ſo lange und inſtändig, mir die koſtbare Zeit, die ich an meine anderen Studien wenden wollte, nicht für das ausſichtsloſe Geklimper zu kürzen, daß mich mein guter Vater von der muſikaliſchen Frohnarbeit freiſprach. Zum großen Leidweſen der Tante, welche meinte, ohne Klavierſpiel gäbe es keine eigentliche Bildung mehr.
Am 10. März 1857 feierte ich meinen ſiebzehnten Geburtstag. „Schon ſiebzehn“ lautet unter jenem Datum die Eintragung ins Tagebuch. Dieſes „ſchon“ iſt ein Poem. Es ſteht kein Kommentar daneben, aber vermutlich wollte ich damit ſagen: „und noch nichts für die Unſterblichkeit gethan“. Dieſe roten Hefte leiſten mir heute, da ich meine Lebenserinnerungen aufzeichnen will, gar gute Dienſte. Sie ermöglichen mir, die vergangenen Ereigniſſe, welche nur als verſchwommene Umrißbilder im Gedächtnis haften geblieben, bis in die kleinſten Einzelheiten zu ſchildern, und ganze längſt vergeſſene Gedankenfolgen oder längſt verklungene Geſpräche wörtlich wiederzugeben.
Im nächſtfolgenden Faſching ſollte ich in die Geſellſchaft eingeführt werden. Dieſe Ausſicht entzückte mich aber nicht ſo außerordentlich, wie dies gewöhnlich bei jungen Mädchen der Fall iſt. Mein Sinn ſtrebte nach Höherem, als nach Ballſaaltriumphen. Wonach ich ſtrebte? Dieſe Frage hätte ich mir wohl ſelber nicht beantworten können. Vermutlich nach Liebe … doch das wußte ich nicht. All dieſe glühenden Sehnſuchts- und Ehrgeizträume, welche im Jünglings- und Jungfrauenalter die Menſchenherzen ſchwellen, und welche unter allerlei Formen — Wiſſensdurſt, Reiſeluſt, Thatendrang — ſich verwirklichen wollen, ſind doch zumeiſt nur die unbewußten Beſtrebungen des erwachenden verliebten Triebes.
In dieſem Sommer wurde meiner Tante ein Kurgebrauch in Marienbad verordnet. Sie fand es für gut mich mitzunehmen. Obgleich meine offizielle Einführung in die ſogenannte Welt erſt in der kommenden Winterszeit ſtattfinden ſollte, ſo wurde mir doch geſtattet, einige kleine Kurhausbälle mitzumachen; — gleichſam als Vorübung im Tanzen und Konverſieren, damit ich in meiner erſten Faſchingsſaiſon nicht gar zu ſchüchtern und ungelenk auftreten möge.
Doch was geſchah auf der erſten „Reunion“, die ich beſuchte? Ein großes, ſterbliches Verlieben. Natürlich war’s ein Huſarenlieutnant. Die im Saale anweſenden Civiliſten ſchienen mir neben den Militärs wie Maikäfer neben Schmetterlingen. Und unter den anweſenden Uniformträgern waren die Huſaren jedenfalls die glänzendſten; unter den Huſaren ſchließlich war Graf Arno Dotzky der blendendſte. Über ſechs Fuß groß, ſchwarzes Kraushaar, aufgezwirbeltes Schnurrbärtchen, weißglitzernde Zähne, dunkle Augen, welche ſo durchdringend und zärtlich ſchauen konnten — kurz, auf ſeine Frage: „Haben Sie den Cotillon noch frei, Gräfin?“ fühlte ich, daß es noch andere, ebenſo erhebende Triumphe geben kann, wie das Bannerſchwingen der Jungfrau von Orleans, oder das Szepterſchwingen der großen Katharina. Und er, der Zweiundzwanzigjährige, hat wohl ähnliches empfunden als er mit dem hübſcheſten Mädchen des Balles (nach dreißig Jahren kann man ſchon ſo etwas konſtatieren) im Walzertakt durch den Saal flog; da dachte er wohl auch: Dich beſitzen Du ſüßes Ding, das wöge alle Marſchallſtäbe auf.
„Aber Martha — aber Martha!“ brummte die Tante, als ich atemlos auf meinen Seſſel an ihrer Seite zurückfiel, ihr mit den ſchwingenden Tüllwolken meines Kleides um den Kopf wirbelnd.
„O pardon, pardon, Tanti!“ bat ich und ſetzte mich zurecht. „Ich kann nichts dafür….“
„Davon iſt auch nicht die Rede — mein Vorwurf galt Deinem Benehmen mit dieſem Huſaren — Du darfſt Dich beim Tanzen nicht ſo anſchmiegen … und ſchaut man denn einem Herrn ſo in die Augen?“
Ich errötete tief. Hatte ich etwas Unmädchenhaftes verbrochen? Mochte der Unvergleichliche etwa eine ſchlechte Meinung von mir gefaßt haben? …
Von dieſen bangen Zweifeln wurde ich noch im Verlauf des Balles befreit, denn während des Souperwalzers flüſterte der Unvergleichliche mir zu:
„Hören Sie mich an — ich kann nicht anders — Sie müſſen es erfahren — heute noch: ich liebe Sie.“
Das klang ein bischen anders angenehm, als Johannas famoſe „Stimmen“… Aber ſo im Weitertanzen konnte ich doch nichts antworten. Das mochte er einſehen, denn jetzt hielt er inne. Wir ſtanden in einer leeren Ecke des Saales und konnten die Unterhaltung unbelauſcht fortführen:
„Sprechen Sie, Gräfin, was habe ich zu hoffen?“
„Ich verſtehe Sie nicht,“ log ich.
„Glauben Sie vielleicht nicht an „Liebe auf den erſten Blick“? Bis jetzt hielt ich es ſelber für eine Fabel, aber heute habe ich die Wahrheit davon erprobt.“
Wie mir das Herz klopfte! Aber ich ſchwieg.
„Ich ſtürze mich kopfüber in mein Schickſal,“ fuhr er fort. … „Sie oder keine! Entſcheiden Sie über mein Glück oder über meinen Tod … denn ohne Sie kann und will ich nicht leben … Wollen Sie die Meine werden?“
Auf eine ſo direkte Frage mußte ich doch etwas erwidern. Ich ſuchte nach einer recht diplomatiſchen Phraſe, die — ohne jegliche Hoffnung abzuſchneiden — meiner Würde nichts vergäbe, brachte aber weiter nichts hervor, als ein zitternd gehauchtes „Ja“.
„So darf ich morgen bei Ihrer Tante um Ihre Hand anhalten und dem Grafen Althaus ſchreiben?“
Wieder „ja“ — diesmal ſchon etwas feſter.
O, ich Glücklicher! Alſo auch auf den erſten Blick? — Du liebſt mich?“
Jetzt antwortete ich nur mit den Augen — doch dieſe, glaub’ ich, ſprachen das allerdeutlichſte „Ja“.