Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 16. Zweites Buch. Friedenszeit. // 6. Abſchnitt Tags darauf trug ich in die roten Hefte folgende Zeilen ein: „Was mir geſtern die Wagenräder und die Straßenlaternen ſagten, iſt nicht wahr, oder doch zum mindeſten ſehr übertrieben. Ein ſympathiſcher Zug zu einem edlen und geſcheidten Menſchen! — ja; aber Leidenſchaft? — nein. Ich werde doch mein Herz nicht ſo hinſchleudern an jemand, der einer Anderen gehört. Auch er empfindet Sympathie für mich — wir verſtehen uns in vielen Dingen; vielleicht bin ich die Einzige, der er ſeine Gedanken über den Krieg mitteilt — aber darum iſt er noch lange nicht verliebt in mich — und ebenſowenig darf ich es in ihn ſein. Daß ich ihn nicht aufforderte, mich an einem anderen Tage, als an den ihm ſo verhaßten offiziellen Empfangstagen zu beſuchen, mochte wohl nach dem vorausgegangenen, vertrauensvollen Gedankentauſch etwas unfreundlich geſchienen haben … Aber es iſt vielleicht beſſer ſo. Wenn nur erſt ein paar Wochen über die geiſtigen Eindrücke, die mich ſo tief erſchüttert haben, verſtrichen ſind, dann werde ich Tilling wieder ganz ruhig begegnen können, mit der Idee vertraut, daß er eine Andere liebt und mich harmlos an ſeinem freundſchaftlichen und geiſtanregenden Umgang erlaben. Denn es iſt wahrhaft ein Vergnügen, mit ihm zu verkehren — er iſt ſo anders, ſo ganz anders als alle Anderen. Ich bin wirklich froh, daß ich das heute ſo gelaſſen konſtatieren kann — geſtern mußte ich einen Augenblick ſchon fürchten, daß es um meine Ruhe geſchehen ſei, und daß ich die Beute quälender Eiferſucht würde … heute iſt dieſe Furcht verflogen.“ Am ſelben Tage beſuchte ich meine Freundin Lori Griesbach — dieſelbe, bei der ich den Tod meines armen Arno erfahren. Sie war unter den jungen Frauen meiner Bekanntſchaft diejenige, mit welcher ich am meiſten und am intimſten verkehrte. Nicht, daß wir in vielen Hinſichten übereinſtimmten, oder daß wir uns gegenſeitig vollkommen verſtanden — wie dies doch die Grundlage echter Freundſchaft ſein ſoll; — aber wir waren als Kinder Geſpielinnen, als jung verheiratete Frauen Stellungsgenoſſinnen geweſen; hatten damals faſt täglich verkehrt und ſo war eine gewiſſe Gewohnheitsvertraulichkeit zwiſchen uns entſtanden, welche trotz ſo mancher Grundverſchiedenheit unſerer Weſen — unſeren gegenſeitigen Umgang zu einem recht angenehmen und gemütlichen geſtaltete. Es war ein gewiſſes, engbegrenztes Gebiet, auf dem wir uns begegneten, aber auf dem waren wir einander aufrichtig gut. Ganze Seiten meines Seelenlebens blieben ihr ganz verſchloſſen. Von den An- und Einſichten, zu welchen ich in meiner ſtillen Studierzeit gelangt war, hatte ich ihr nie ein Wort mitgeteilt und fühlte auch kein Bedürfnis dazu. Wie ſelten kann man ſich einem Menſchen {ganz} geben! Das habe ich recht oft im Leben erfahren, daß ich dem einen nur dieſe, dem anderen nur jene Seite meiner geiſtigen Perſönlichkeit erſchließen konnte; daß, ſo oft ich mit dieſem oder jenem verkehrte, ſozuſagen nur ein gewiſſes Regiſter ſich aufzog, die ganze übrige Klaviatur aber ſtumm blieb. Zwiſchen Lori und mir gab es der Gegenſtände genug, die uns zu ſtundenlangem Plaudern Stoff boten: unſere Kindheitserinnerungen, unſere Kleinen, die Ereigniſſe und Vorkommniſſe unſeres Geſellſchaftskreiſes, Toilette, engliſche Romane und dergleichen mehr. Loris Knabe, Xaver, war im Alter meines Sohnes Rudolf und deſſen liebſter Spielkamerad; und Loris Töchterchen, Beatrix, damals zehn Monate alt, wurde ſcherzweiſe von uns beſtimmt, einſt Gräfin Rudolf Dotzky zu werden. „Sieht man Dich endlich wieder!“ empfing mich Lori. „Du biſt ja in letzter Zeit ganz Einſiedlerin geworden. Auch meinen künftigen Schwiegerſohn habe ich ſchon lange nicht die Ehre gehabt bei mir zu ſehen — Beatrix wird das ſehr übel nehmen … Jetzt erzähle, Kind, was treibſt Du? … Und wie geht es Roſa und Lilli? Für Lilli habe ich übrigens eine intereſſante Nachricht, die mir mein Mann geſtern aus dem Kaffeehaus mitgebracht: es iſt einer ſehr verliebt in ſie — einer, von dem ich glaubte, er machte {Dir} die Kour … doch das erzähle ich ſpäter. Was Du da für ein hübſches Kleid haſt — von der Francine, nicht wahr? Das habe ich gleich erkannt — ſie hat doch ein eigentümliches Cachet … Und der Hut von Gindreau? Steht Dir allerliebſt … Er macht jetzt auch Koſtüme, nicht nur Hüte … auch mit ungeheurem Geſchmack. Geſtern Abend bei Dietrichſtein — warum biſt Du nicht gekommen? — hatte die Nini Chotek eine Gindreauſche Toilette an und ſah beinahe hübſch aus …“ So ging es eine Zeit lang fort und ich antwortete im ſelben Tone. Nachdem ich das Geſpräch geſchickt auf die in der „Welt“ kurſierenden Klatſchereien gelenkt, ſtellte ich in möglichſt unbefangener Weiſe die Frage: „Haſt Du auch gehört, daß Prinzeſſin *** ein Verhältnis mit — mit einem gewiſſen Baron Tilling haben ſoll?“ „Ich habe ſo etwas gehört — aber jedenfalls iſt das [de l’histoire ancienne]. Heute iſt es eine allbekannte Sache, daß die Prinzeſſin für einen Burgſchauſpieler ſchwärmt. Intereſſierſt Du Dich etwa für dieſen Baron Tilling? Du wirſt rot? Da hilft kein verneinendes Kopfſchütteln — beichte lieber! Es iſt ohnedies unerhört, daß Du ſo lang kalt und fühllos bleibſt … es wäre mir eine wahre Genugthuung, Dich einmal verliebt zu wiſſen … Freilich, eine Partie für Dich wäre Tilling nicht — da haſt Du glänzendere Bewerber — er ſoll gar nichts haben. Nun, Du biſt ſelber reich genug — aber er iſt auch zu alt für Dich … Wie alt wäre jetzt der arme Arno? … Das war doch gar zu traurig damals … den Augenblick werde ich nie vergeſſen, da Du mir meines Bruders Brief vorgeleſen … Ja, es iſt doch eine ſchlimme Einrichtung, der Krieg … Für manche — für andere iſt er eine wunderſchöne Einrichtung: mein Mann wünſcht ſich nichts ſehnlicher, als daß es bald wieder zu etwas käme; er möchte ſich ſo gern auszeichnen. Ich begreife dies — wenn ich ein Soldat wäre, würde ich mir auch wünſchen, eine Großthat machen zu können, oder doch in der Karriere vorwärts zu kommen —“ „Oder verkrüppelt oder totgeſchoſſen zu werden?“ „{Daran} dächt’ ich nie. Daran ſoll man nicht denken — und es trifft ja doch nur die, denen es beſtimmt iſt. — So war es Deine Beſtimmung, Herz eine junge Wittwe zu werden.“ „Darum mußte der Krieg mit Italien ausbrechen?“ „Und wenn es meine Beſtimmung iſt, die Frau eines verhältnismäßig jungen Generals zu ſein —“ „So muß es nächſtens zu einem Völkerkonflikt kommen, damit Griesbach ſchnell avancieren könne? Du zeichneſt der Weltordnung einen ſehr einfachen Lauf vor. — Was wollteſt Du mir mit Bezug auf Lilli erzählen?“ „Daß Euer Vetter Konrad für ſie ſchwärmt. Ich vermute, er wird nächſtens um ſie anhalten.“ „Das bezweifle ich. Konrad Althaus iſt ein viel zu flatterhafter und toller Burſch’, um ans Heiraten zu denken.“ „Ach, toll und flatterhaft ſind ſie ja alle und heiraten doch, wenn ſie ſich vernarren … Glaubſt Du, daß er der Lilli gefällt?“ „Ich habe nichts bemerkt.“ „Er wäre eine ſehr gute Partie. Wenn ſein Onkel Drontheim ſtirbt, ſo erbt er die Herrſchaft Selavetz. Apropos Drontheim — weißt Du, daß der Ferdi Drontheim, derſelbe, der ſein Vermögen mit der Tänzerin Grill durchgebracht hat, jetzt eine reiche Bankierstochter heiraten ſoll? — Nun — empfangen wird ſie doch niemand … Kommſt Du heute Abend zur engliſchen Botſchaft? Wieder nicht? Eigentlich haſt Du recht — in dieſen Geſandtſchafts-Raouts fühlt man ſich doch nicht ſo ganz unter ſich: es ſind ſo viele fremdartige Leute dabei, von denen man nicht ſicher weiß, ob ſie [comme il faut] ſind; jeder durchreiſende Engländer, der ſich bei ſeinem Geſandten vorſtellen läßt, wird da eingeladen — wenn es auch ein bürgerlicher Gutsbeſitzer, oder gar Induſtrieller oder ſo etwas iſt. Ich habe die Engländer nur in der Tauchnitz-Edition gern … Haſt Du „[Jane Eyre]“ ſchon ausgeleſen? — nicht wahr, wunderhübſch? Wenn Beatrix zu ſprechen anfängt, werde ich ihr eine engliſche Bonne nehmen … Mit der Franzöſin des Xaver bin ich gar nicht zufrieden … Neulich bin ich ihr auf der Straße begegnet, wie ſie den Kleinen ausführte, und ein junger Mann — anſcheinend ein Kommis — ging nebenher, in angelegentlichſtem Geſpräch mit ihr. Plötzlich ſtand ich vor ihnen — die Verlegenheit hätteſt Du ſehen ſollen! Überhaupt, mit den Leuten hat man ſein Kreuz! … Da iſt meine Jungfer, die hat mir gekündigt, weil ſie heiratet — jetzt, wo ich ſie gewohnt war — es iſt nichts unausſtehlicher, als neue Geſichter zum bedienen … Was? Du willſt ſchon fort?“ „Ja, liebes Herz — ich muß noch einige unaufſchiebbare Beſuche machen …“ Und ich ließ mich nicht bewegen auch „nur noch fünf Minuten!“ zu bleiben, obwohl die unaufſchiebbaren Beſuche erlogen waren. Sonſt hatte ich es doch ſtundenlang ausgehalten, ſolch’ inhaltsloſes Geplapper anzuhören und mitzuplappern — aber an dieſem Tage widerte es mich an. Eine Sehnſucht ergriff mich: … Ach nur wieder ſo ein Geſpräch wie geſtern abends — ach Tilling — Friedrich Tilling … Die Wagenräder hatten alſo doch recht mit ihrem Refrain! … Es war eine Wandlung mit mir geſchehen — ich war in eine andere Gefühlswelt hinaus gehoben; dieſe kleinlichen Intereſſen, in welche meine Freundin ſo ganz vertieft war: Toiletten, Bonnen, Heirats- und Erbſchaftsgeſchichten aus der Geſellſchaft — das war doch gar zu nichtig, zu erbärmlich, zu erſtickend … Hinaus, hinauf in eine andere Lebensluft! Und Tilling war ja frei: die Prinzeſſin „ſchwärmt für einen Burgſchauſpieler“ … Die hat er wohl nie geliebt … ein vorübergehendes — ein {vorübergegangenes} Abenteuer, weiter nichts. 17. Zweites Buch. Friedenszeit. // 7. Abſchnitt