Vier Jahre ſpäter. Meine beiden — nunmehr ſiebzehn- und achtzehnjährigen Schweſtern — ſollten bei Hofe vorgeſtellt werden. Aus dieſem Anlaß entſchloß auch ich mich, wieder „in die Welt“ zu gehen.
Die verſtrichene Zeit hatte ihr Werk gethan und meinen Schmerz allmählich gelindert. Die Verzweiflung wandelte ſich in Trauer, die Trauer in Wehmut, die Wehmut in Gleichgültigkeit und dieſe endlich in erneute Lebensfreudigkeit. Ich erwachte eines ſchönen Morgens zum Bewußtſein, daß ich eigentlich in einer beneidenswerten, glückverheißenden Lage mich befand: dreiundzwanzig Jahre alt, ſchön, reich, hochgeſtellt, frei, Mutter eines allerliebſten Knaben, Glied einer liebenden Familie — waren das nicht Bedingungen, genug, um des Lebens froh zu werden?
Das kurze Jahr meines Ehelebens lag hinter mir wie ein Traum. Ja — ich war in meinen ſchönen Huſaren ſterblich verliebt geweſen; ja — mein zärtlicher Mann hatte mich ſehr glücklich gemacht; ja — die Trennung hatte mir großen Kummer, ſein Verluſt wilden Schmerz bereitet — aber das war vorbei, vorbei. So innig mit meinem ganzen Seelenleben verwachſen, daß ich eine Zerreißung nicht hätte überleben, nicht verſchmerzen können, war ja meine Liebe nicht geweſen: dazu hatte unſer Zuſammenſein zu kurz gedauert. Wir hatten uns angebetet, wie ein paar feurige Verliebte; aber Herz in Herz, Geiſt in Geiſt aufgegangen, in gegenſeitiger Hochachtung und Freundſchaft feſt verbunden, wie dies manche Eheleute nach langen Jahren geteilter Leiden und Freuden ſind, — das waren wir beide nicht geweſen. Auch ich war ja ſein Höchſtes, ſein Unentbehrlichſtes nicht; wäre er ſonſt ſo frohgemut und ohne zwingende Pflicht — ſein Regiment hat niemals ausrücken müſſen — fort von mir? Zudem war ich in den vier Jahren allmählich eine Andere geworden; mein geiſtiger Geſichtskreis hatte ſich in vielem erweitert; ich war in den Beſitz von Kenntniſſen und Anſchauungen gelangt, von welchen ich zur Zeit meiner Verheiratung keine Ahnung gehabt und von welchen auch Arno — das wußte ich jetzt zu beurteilen — ſich keinen Begriff gemacht und ſo hätte er meinem jetzigen Seelenleben — wäre er auferſtanden — in mancher Richtung fremd gegenüber geſtanden.
Wieſo dieſe Wandlung mit mir geſchehen? Das iſt ſo gekommen:
Ein Jahr meiner Witwenſchaft war verſtrichen, die Verzweiflung — erſte Phaſe — in Trauer übergegangen. Aber noch in eine ſehr tiefe, herzblutende Trauer. Von einer Wiederanknüpfung geſelliger Verbindungen wollte ich durchaus nichts wiſſen. Ich meinte, fortan müſſe mein Leben nur noch mit der Erziehung meines Sohnes Rudolf ausgefüllt ſein. Nie mehr nannte ich das Kind „Ruru“ oder „Korporal;“ die Babyſpielereien des verliebten Elternpaares waren dahin; der Kleine war mein „Sohn Rudolf“ geworden, meines ganzen Strebens, Hoffens, Liebens geheiligter Mittelpunkt. Um ihm einſtens eine gute Lehrerin ſein — oder doch, um ſeinen Studien folgen und ihm eine Geiſteskameradin werden zu können, wollte ich ſelber ſo viel Wiſſen als möglich mir aneignen; zudem war Leſen die einzige Zerſtreuung, die ich mir erlaubte — ſo vertiefte ich mich denn von neuem in die Schätze unſerer Schloßbibliothek. Namentlich drängte es mich, mein einſtiges Lieblingsſtudium — die Geſchichte — wieder aufzunehmen. In der letzten Zeit, als der Krieg von meinen Zeitgenoſſen und von mir ſelber ſo ſchwere Opfer gefordert hatte, war mein früherer Enthuſiasmus ſtark abgekühlt worden und ich wünſchte denſelben durch entſprechende Lektüre wieder anzufachen. Und in der That, es gewährte mir manchmal einen gewiſſen Troſt, wenn ich ein paar Seiten Schlachtenberichte mit den daran geknüpften Heldenverherrlichungen geleſen, zu denken, daß der Tod meines armen Mannes und mein eigenes Witwenleid als Parzellen in einem ähnlichen großen geſchichtlichen Vorgang enthalten waren, ich ſage „manchmal“ — nicht immer. So ganz und gar konnte ich mich doch nicht mehr in jene Stimmungen meiner Mädchenzeit zurückverſetzen, wo ich es der Jungfrau von Orleans hätte gleich thun mögen. Vieles, vieles in den geleſenen überſchwänglichen Ruhmestiraden, welche die Schlachtenberichte begleiteten, klang mir falſch und hohl, wenn ich mir zugleich die Schrecken der Schlacht vergegenwärtigte — ſo falſch und hohl, wie eine als Preis für eine echte Perle erhaltene Blechmünze. Die Perle Leben — iſt die wohl ehrlich bezahlt, mit den Blechphraſen der geſchichtlichen Nachrufe? …
Bald hatte ich den Vorrat der in unſerer Bücherei vorhandenen hiſtoriſchen Werke erſchöpft. Ich bat unſeren Buchhändler, er möge mir ein neues Geſchichtswerk zur Anſicht ſchicken. Er ſchickte Thomas Buckles „History of Civilization“. „Das Werk iſt nicht vollendet,“ ſchrieb der Buchhändler, „aber die beifolgenden zwei, als Einleitung dienenden Bände bilden an und für ſich ein abgeſchloſſenes Ganzes und ihr Erſcheinen hat ſowohl in England, als in der übrigen gebildeten Welt großes Aufſehen erregt; der Verfaſſer, ſo ſagt man, habe damit den Grundſtein zu einer neuen Auffaſſung der Geſchichte gelegt.“
In der That ja: — ganz neu. Mir war, nachdem ich dieſe zwei Bände geleſen und wieder geleſen, wie Jemand zu Mute, der zeitlebens in einem engen Thalkeſſel gewohnt und zum erſtenmale auf eine der umgebenden Bergspitzen hinaufgeführt worden, von wo ein ausgeſtrecktes Stück Land zu ſehen iſt, mit Bauten und Gärten bedeckt, von endloſem Meere begrenzt. Ich will nicht behaupten, daß ich — die Zwanzigjährige, welcher die bekannte oberflächlich höhere Töchtererziehung zu teil geworden — das Buch in ſeiner ganzen Tragweite verſtand, oder — um obiges Bild beizubehalten — daß ich die Erhabenheit der Monumentalbauten und die Größe des Ozeans erfaßte, die vor meinen überraſchten Blicken lagen; aber ich war geblendet, war überwältigt; ich ſah, daß es jenſeits meines engen Heimatthales eine weite, weite Welt gab, von der ich bisher niemals Kunde erhalten. Erſt, als ich das Buch nach fünfzehn oder zwanzig Jahren wieder las, und nachdem ich andere im ſelben Geiſt verfaßte Werke ſtudiert hatte, konnte ich mir vielleicht anmaßen, zu ſagen, daß ich es verſtehe. Doch eins wurde mir auch ſchon damals klar: die Geſchichte der Menſchheit wird nicht — wie dies die alte Auffaſſung war — durch die Könige und Staatsmänner, durch die Kriege und Traktate beſtimmt, welche der Ehrgeiz der einen und die Schlauheit der anderen ins Leben rufen, ſondern durch die allmähliche Entwicklung der Intelligenz. Die Hof- und Schlachtenchroniken, welche in den Hiſtorienbüchern an einander gereiht ſind, ſtellen einzelne Erſcheinungen der jeweiligen Kulturzuſtände vor, nicht aber deren bewegende Urſachen. Von der althergebrachten Bewunderung, mit welcher andere Geſchichtsſchreiber die Lebensläufe gewaltiger Eroberer und Länderverwüſter zu erzählen pflegen, konnte ich im Buckle gar nichts finden. Im Gegenteil, er führt den Nachweis, daß das Anſehen des Kriegerſtandes im umgekehrten Verhältnis zu der Kulturhöhe eines Volkes ſteht: — je tiefer in der barbariſchen Vergangenheit zurück, deſto häufiger die gegenſeitige Bekriegung und deſto enger die Grenzen des Friedens: Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Familie gegen Familie. Er betont, daß im Fortſchritt der Geſellſchaft, mehr noch als der Krieg ſelber, die Liebe zum Kriege im Schwinden begriffen ſei. Das war mir aus der Seele geſprochen. Sogar in meinem kurzen Innenleben war dieſe Verminderung vor ſich gegangen; und wenn ich oft dieſe Regung als etwas Feiges, Unwürdiges unterdrückt hatte, glaubend, daß ich allein mich ſolchen Frevels ſchuldig mache, ſo erkannte ich jetzt, daß dies bei mir nur der ſchwache Widerhall des Zeitgeiſtes war; daß Gelehrte und Denker, wie dieſer engliſche Geſchichtsſchreiber, daß unzählige Menſchen mit ihm, die einſtige Kriegsvergötterung verloren hatten, welche — wie ſie eine Phaſe meiner Kindheit geweſen — in dieſem Buche auch als eine Phaſe aus der Kindheit der Geſellſchaft dargeſtellt war.
Somit hatte ich in Buckles Geſchichtswerke eigentlich das Gegenteil von dem gefunden, was ich geſucht. Dennoch empfand ich dieſen Fund als einen Gewinn — ich fühlte mich dadurch gehoben, geklärt, beruhigt. Einmal verſuchte ich mit meinem Vater über dieſe neugewonnenen Geſichtspunkte zu reden — aber vergebens. Auf den Berg hinauf wollte er mir nicht folgen — das heißt er wollte das Buch nicht leſen — alſo war es ausſichtslos, mit ihm von Dingen zu reden, die man nur von dort oben aus wahrnehmen konnte.
Nun folgte das Jahr — zweite Phaſe —, da die Trauer in Melancholie übergegangen war. Jetzt las und ſtudierte ich noch fleißiger. Das erſte Werk Buckles hatte mir Geſchmack am Nachdenken gegeben und die Freuden eines erweiterten Weltausblickes koſten gemacht. Davon wollte ich nun noch immer mehr und mehr genießen, und ſo ließ ich dieſem Buche noch viele andere im gleichen Geiſt verfaßte, folgen. Und das Intereſſe, die Genüſſe, welche ich in dieſen Studien fand, trugen dazu bei, die dritte Phaſe eintreten — nämlich die Melancholie ſchwinden zu machen. Als aber die letzte Wandlung mit mir vorging, das iſt, als die Lebensluſt von neuem erwachte, da wollten mir auf einmal die Bücher nicht mehr genügen; da ſah ich auf einmal ein, daß Ethnographie und Anthropologie und vergleichende Mythologie und ſonſtige -logien und -graphien unmöglich meine Sehnſucht ſtillen konnten; daß für eine junge Frau in meiner Lage das Leben noch ganz andere Glücksblüten bereit hielt, nach welchen ich nur die Hand auszuſtrecken brauchte … Und ſo kam es, daß ich im Winter 1863 mich anbot, meine jüngeren Schweſtern ſelber in die Welt einzuführen und meine Salons der Wiener Geſellſchaft öffnete.