Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte Antikriegsliteratur, 1889 Scan, Band 1: https://archive.org/details/diewaffenniedere01suttuoft Scan, Band 2: https://archive.org/details/diewaffenniedere02suttuoft Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Waffen_nieder! Hörbuch: https://archive.org/details/waffen_nieder_1204_librivox 1. Erſtes Buch. 1859. // 1. Abſchnitt Mit ſiebzehn Jahren war ich ein recht überſpanntes Ding. Das könnte ich wohl heute nicht mehr wiſſen, wenn die aufbewahrten Tagebuchblätter nicht wären. Aber darin haben die längſt verflüchtigten Schwärmereien, die niemals wieder gedachten Gedanken, die nie wieder gefühlten Gefühle ſich verewigt, und ſo kann ich jetzt beurteilen, was für exaltierte Ideen in dem dummen, hübſchen Kopfe ſteckten. Auch dieſes Hübſchſein, von dem mein Spiegel nicht mehr viel zu erzählen weiß, wird mir durch alte Porträts verbürgt. Ich kann mir denken, welch beneidetes Geſchöpf die jugendliche, als ſchön geprieſene, von allem Luxus umgebene Komteß Martha Althaus geweſen ſein mochte. Die ſonderbaren — in rotem Umſchlag gehefteten — Tagebuchblätter jedoch, deuten mehr auf Melancholie, als auf Freude am Leben. Die Frage iſt nun die: war ich wirklich ſo thöricht, die Vorteile meiner Lage nicht zu erkennen, oder nur ſo ſchwärmeriſch zu glauben, daß allein melancholiſche Empfindungen erhaben und wert ſeien, in poetiſcher Proſa ausgedrückt und als ſolche in die roten Hefte eingetragen zu werden? Mein Los ſchien mich nicht zu befriedigen, denn da ſteht’s geſchrieben: „Oh, Jeanne d’Arc — du himmelsbegnadete Heldenjungfrau, könnt’ ich ſein wie du! Die Oriflamme ſchwingen, meinen König krönen und dann ſterben — für das Vaterland, das teure.“ Zur Verwirklichung dieſer beſcheidenen Lebensanſprüche bot ſich mir keine Gelegenheit. Auch im Cirkus von einem Löwen als chriſtliche Märtyrerin zerriſſen zu werden — ein anderer (laut Eintragung vom 19. September 1853) von mir beneideter Beruf — war mir nicht zugänglich, und ſo hatte ich offenbar unter dem Bewußtſein zu leiden, daß die großen Thaten, nach welchen meine Seele dürſtete, ewig ungeſchehen bleiben müßten, daß mein Leben — im Grunde genommen — ein verfehltes war. Ach, warum war ich nicht als Knabe zur Welt gekommen! (auch ein in dem roten Heft gegen das Schickſal oft vorgebrachter, fruchtloſer Vorwurf) — da hätte ich doch Erhabenes erſtreben und leiſten können. Vom weiblichen Heldentum bietet die Geſchichte nur wenig Beiſpiele. Wie ſelten kommen wir dazu, die Gracchen zu Söhnen zu haben, oder unſere Männer zu den Weinsberger Thoren hinauszutragen, oder uns von ſäbelſchwingenden Magyaren zuſchreien zu laſſen: „Es lebe Maria Thereſia, unſer König!“ Aber wenn man ein Mann iſt, da braucht man ja nur das Schwert umzugürten und hinauszuſtürzen, um Ruhm und Lorbeer zu erringen — ſich einen Thron erobern — wie Cromwell, ein Weltreich — wie Bonaparte! Ich erinnere mich, daß der höchſte Begriff menſchlicher Größe mir in kriegeriſchem Heldentum verkörpert ſchien. Für Gelehrte, Dichter, Länderentdecker hatte ich wohl einige Hochachtung, aber eigentliche {Bewunderung} flößten mir nur die Schlachtengewinner ein. Das waren ja die vorzüglichen Träger der Geſchichte, die Lenker der Länderſchickſale; die waren doch an Wichtigkeit, an Erhabenheit — an Göttlichkeit beinahe — über alles andere Volk ſo erhaben, wie Alpen- und Himalayagipfel über Gräſer und Blümlein des Thales. Aus alledem brauche ich nicht zu ſchließen, daß ich eine Heldennatur beſaß. Die Sache lag einfach ſo: ich war begeiſterungsfähig und leidenſchaftlich; da habe ich mich natürlich für dasjenige leidenſchaftlich begeiſtert, was mir von meinen Lehrbüchern und von meiner Umgebung am höchſten angeprieſen wurde. Mein Vater war General in der öſterreichiſchen Armee und hatte unter „Vater Radetzky“, den er abgöttiſch verehrte, in Cuſtozza gefochten. Was mußte ich da immer für Feldzugsanekdoten hören! Der gute Papa war ſo ſtolz auf ſeine Kriegserlebniſſe und ſprach mit ſolcher Genugthuung von den „mitgemachten Campagnen“, daß mir unwillkürlich um jeden Mann leid war, der keine ähnlichen Erinnerungen beſitzt. Welch eine Zurückſetzung doch für das weibliche Geſchlecht, daß es von dieſer großartigſten Bethätigung des menſchlichen Ehr- und Pflichtgefühls ausgeſchloſſen iſt! … Wenn mir je etwas von den Beſtrebungen der Frauen nach Gleichberechtigung zu Ohren kam — doch davon hörte man in meiner Jugend nur wenig und gewöhnlich in verſpottendem und verdammendem Tone — ſo begriff ich die Emanzipationswünſche nur nach einer Richtung: die Frauen ſollten auch das Recht haben, bewaffnet in den Krieg zu ziehen. Ach, wie ſchön las ſich’s in der Geſchichte von einer Semiramis oder Katharina Ⅱ.: „ſie führte mit dieſem oder jenem Nachbarſtaate Krieg — ſie eroberte dieſes oder jenes Land …“ Überhaupt, die {Geſchichte}! die iſt, ſo wie ſie der Jugend gelehrt wird, die Hauptquelle der Kriegsbewunderung. Da prägt ſich ſchon dem Kinderſinne ein, daß der Herr der Heerſcharen unaufhörlich Schlachten anordnet; daß dieſe ſozuſagen das Vehikel ſind, auf welchem die Völkergeſchicke durch die Zeiten fortrollen; daß ſie die Erfüllung eines unausweichlichen Naturgeſetzes ſind und von Zeit zu Zeit immer kommen müſſen, wie Meeresſtürme und Erdbeben; daß wohl Schrecken und Greuel damit verbunden ſind, letztere aber voll aufgewogen werden: für die Geſamtheit durch die Wichtigkeit der Reſultate, für den Einzelnen durch den dabei zu erreichenden Ruhmesglanz, oder doch durch das Bewußtſein der erhabenſten Pflichterfüllung. Gibt es denn einen ſchöneren Tod, als den auf dem Felde der Ehre — eine edlere Unſterblichkeit, als die des Helden? Das alles geht klar und einhellig aus allen Lehr- und Leſebüchern „für den Schulgebrauch“ hervor, wo nebſt der eigentlichen Geſchichte, die nur als eine lange Kette von Kriegsereigniſſen dargeſtellt wird, auch die verſchiedenen Erzählungen und Gedichte immer nur von heldenmütigen Waffenthaten zu berichten wiſſen. Das gehört ſo zum patriotiſchen Erziehungsſyſtem. Da aus jedem Schüler ein Vaterlandsverteidiger herangebildet werden ſoll, ſo muß doch ſchon des Kindes Begeiſterung für dieſe ſeine erſte Bürgerpflicht geweckt werden; man muß ſeinen Geiſt abhärten gegen den natürlichen Abſcheu, den die Schrecken des Krieges hervorrufen könnten, indem man von den furchtbarſten Blutbädern und Metzeleien, wie von etwas ganz Gewöhnlichem, Notwendigem, ſo unbefangen als möglich erzählt, dabei nur allein Nachdruck auf die ideale Seite dieſes alten Völkerbrauches legend — und auf dieſe Art gelingt es, ein kampfmutiges und kriegsluſtiges Geſchlecht zu bilden. Die Mädchen — welche zwar nicht ins Feld ziehen ſollen — werden aus denſelben Büchern unterrichtet, die auf die Soldatenzüchtung der Knaben angelegt ſind und ſo entſteht bei der weiblichen Jugend dieſelbe Auffaſſung, die ſich in Neid, nicht mitthun zu dürfen, und in Bewunderung für den Militärſtand auflöſt. Was uns zarten Jungfräulein, die wir doch in allem Übrigen zu Sanftmut und Milde ermahnt werden, für Schauderbilder aus allen Schlachten der Erde, von den bibliſchen und macedoniſchen und puniſchen bis zu den dreißigjährigen und napoleoniſchen Kriegen vorgeführt werden, wie wir da die Städte brennen und die Einwohner „über die Klinge ſpringen“ und die Beſiegten ſchinden ſehen — das iſt ein wahres Vergnügen. … Natürlich wird durch dieſe Aufhäufung und Wiederholung der Greuel das Verſtändnis, daß es Greuel ſind, abgeſtumpft; alles, was in die Rubrik Krieg gehört, wird nicht mehr vom Standpunkte der Menſchlichkeit betrachtet — und erhält eine ganz beſondere, myſtiſch-hiſtoriſch-politiſche Weihe. Es muß ſein — es iſt die Quelle der höchſten Würden und Ehren — das ſehen die Mädchen ganz gut ein: haben ſie doch die kriegsverherrlichenden Gedichte und Tiraden auch auswendig lernen müſſen. Und ſo entſtehen die ſpartaniſchen Mütter und die „Fahnenmütter“ und die zahlreichen, dem Offizierkorps geſpendeten Cotillonorden während der „Damenwahl“. 2. Erſtes Buch. 1859. // 2. Abſchnitt Ich bin nicht, wie ſo viele meiner Standesgenoſſinnen, im Kloſter, ſondern unter der Leitung von Gouvernanten und Lehrern im Vaterhauſe erzogen worden. Meine Mutter verlor ich früh. Mutterſtelle an uns Kindern — ich hatte noch drei jüngere Geſchwiſter — vertrat unſere Tante, eine alte Stiftsdame. Wir verbrachten die Wintermonate in Wien, den Sommer auf einem Familiengute in Niederöſterreich. Meinen Erzieherinnen und Lehrern habe ich viel Freude gemacht, deſſen erinnere ich mich — denn ich war eine fleißige mit gutem Gedächtnis begabte, und namentlich ehrgeizige Schülerin. Da ich meinen Ehrgeiz, wie ſchon bemerkt, nicht damit befriedigen konnte, als Heldenjungfrau Schlachten zu gewinnen, ſo begnügte ich mich damit, in den Lektionen gute Zenſuren davonzutragen und durch meinen Lerneifer der Umgebung Bewunderung abzuzwingen. In der franzöſiſchen und engliſchen Sprache brachte ich es nahezu zur Vollkommenheit; von Erd- und Himmelskunde, von Naturgeſchichte und Phyſik machte ich mir ſo viel zu eigen, als mir in dem Programm einer Mädchenerziehung überhaupt zugänglich war; aber von dem Gegenſtand „Geſchichte“ lernte ich noch mehr als von mir gefordert wurde. Aus der Bibliothek meines Vaters holte ich mir dickbändige Hiſtorienwerke hervor, in welchen ich in meinen Mußeſtunden ſtudierte. Ich glaubte mich jedesmal um ein Stück geſcheiter geworden, wenn ich ein Ereignis, einen Namen, ein Datum aus vergangenen Zeiten meinem Gedächtnis neu einverleibt hatte. Gegen Klavierſpielerei — welche doch auch im Erziehungsplan aufgezeichnet ſtand — habe ich mich ſtandhaft zur Wehr geſetzt. Ich beſaß weder Talent noch Luſt zur Muſik und fühlte, daß mir {darin} keine Ehrgeizbefriedigung winkte. Ich bat ſo lange und inſtändig, mir die koſtbare Zeit, die ich an meine anderen Studien wenden wollte, nicht für das ausſichtsloſe Geklimper zu kürzen, daß mich mein guter Vater von der muſikaliſchen Frohnarbeit freiſprach. Zum großen Leidweſen der Tante, welche meinte, ohne Klavierſpiel gäbe es keine eigentliche Bildung mehr. Am 10. März 1857 feierte ich meinen ſiebzehnten Geburtstag. „Schon ſiebzehn“ lautet unter jenem Datum die Eintragung ins Tagebuch. Dieſes „ſchon“ iſt ein Poem. Es ſteht kein Kommentar daneben, aber vermutlich wollte ich damit ſagen: „und noch nichts für die Unſterblichkeit gethan“. Dieſe roten Hefte leiſten mir heute, da ich meine Lebenserinnerungen aufzeichnen will, gar gute Dienſte. Sie ermöglichen mir, die vergangenen Ereigniſſe, welche nur als verſchwommene Umrißbilder im Gedächtnis haften geblieben, bis in die kleinſten Einzelheiten zu ſchildern, und ganze längſt vergeſſene Gedankenfolgen oder längſt verklungene Geſpräche wörtlich wiederzugeben. Im nächſtfolgenden Faſching ſollte ich in die Geſellſchaft eingeführt werden. Dieſe Ausſicht entzückte mich aber nicht ſo außerordentlich, wie dies gewöhnlich bei jungen Mädchen der Fall iſt. Mein Sinn ſtrebte nach Höherem, als nach Ballſaaltriumphen. Wonach ich ſtrebte? Dieſe Frage hätte ich mir wohl ſelber nicht beantworten können. Vermutlich nach Liebe … doch das wußte ich nicht. All dieſe glühenden Sehnſuchts- und Ehrgeizträume, welche im Jünglings- und Jungfrauenalter die Menſchenherzen ſchwellen, und welche unter allerlei Formen — Wiſſensdurſt, Reiſeluſt, Thatendrang — ſich verwirklichen wollen, ſind doch zumeiſt nur die unbewußten Beſtrebungen des erwachenden verliebten Triebes. In dieſem Sommer wurde meiner Tante ein Kurgebrauch in Marienbad verordnet. Sie fand es für gut mich mitzunehmen. Obgleich meine offizielle Einführung in die ſogenannte Welt erſt in der kommenden Winterszeit ſtattfinden ſollte, ſo wurde mir doch geſtattet, einige kleine Kurhausbälle mitzumachen; — gleichſam als Vorübung im Tanzen und Konverſieren, damit ich in meiner erſten Faſchingsſaiſon nicht gar zu ſchüchtern und ungelenk auftreten möge. Doch was geſchah auf der erſten „Reunion“, die ich beſuchte? Ein großes, ſterbliches Verlieben. Natürlich war’s ein Huſarenlieutnant. Die im Saale anweſenden Civiliſten ſchienen mir neben den Militärs wie Maikäfer neben Schmetterlingen. Und unter den anweſenden Uniformträgern waren die Huſaren jedenfalls die glänzendſten; unter den Huſaren ſchließlich war Graf Arno Dotzky der blendendſte. Über ſechs Fuß groß, ſchwarzes Kraushaar, aufgezwirbeltes Schnurrbärtchen, weißglitzernde Zähne, dunkle Augen, welche ſo durchdringend und zärtlich ſchauen konnten — kurz, auf ſeine Frage: „Haben Sie den Cotillon noch frei, Gräfin?“ fühlte ich, daß es noch andere, ebenſo erhebende Triumphe geben kann, wie das Bannerſchwingen der Jungfrau von Orleans, oder das Szepterſchwingen der großen Katharina. Und er, der Zweiundzwanzigjährige, hat wohl ähnliches empfunden als er mit dem hübſcheſten Mädchen des Balles (nach dreißig Jahren kann man ſchon ſo etwas konſtatieren) im Walzertakt durch den Saal flog; da dachte er wohl auch: Dich beſitzen Du ſüßes Ding, das wöge alle Marſchallſtäbe auf. „Aber Martha — aber Martha!“ brummte die Tante, als ich atemlos auf meinen Seſſel an ihrer Seite zurückfiel, ihr mit den ſchwingenden Tüllwolken meines Kleides um den Kopf wirbelnd. „O pardon, pardon, Tanti!“ bat ich und ſetzte mich zurecht. „Ich kann nichts dafür….“ „Davon iſt auch nicht die Rede — mein Vorwurf galt Deinem Benehmen mit dieſem Huſaren — Du darfſt Dich beim Tanzen nicht ſo anſchmiegen … und ſchaut man denn einem Herrn ſo in die Augen?“ Ich errötete tief. Hatte ich etwas Unmädchenhaftes verbrochen? Mochte der Unvergleichliche etwa eine ſchlechte Meinung von mir gefaßt haben? … Von dieſen bangen Zweifeln wurde ich noch im Verlauf des Balles befreit, denn während des Souperwalzers flüſterte der Unvergleichliche mir zu: „Hören Sie mich an — ich kann nicht anders — Sie müſſen es erfahren — heute noch: ich liebe Sie.“ Das klang ein bischen anders angenehm, als Johannas famoſe „Stimmen“… Aber ſo im Weitertanzen konnte ich doch nichts antworten. Das mochte er einſehen, denn jetzt hielt er inne. Wir ſtanden in einer leeren Ecke des Saales und konnten die Unterhaltung unbelauſcht fortführen: „Sprechen Sie, Gräfin, was habe ich zu hoffen?“ „Ich verſtehe Sie nicht,“ log ich. „Glauben Sie vielleicht nicht an „Liebe auf den erſten Blick“? Bis jetzt hielt ich es ſelber für eine Fabel, aber heute habe ich die Wahrheit davon erprobt.“ Wie mir das Herz klopfte! Aber ich ſchwieg. „Ich ſtürze mich kopfüber in mein Schickſal,“ fuhr er fort. … „Sie oder keine! Entſcheiden Sie über mein Glück oder über meinen Tod … denn ohne Sie kann und will ich nicht leben … Wollen Sie die Meine werden?“ Auf eine ſo direkte Frage mußte ich doch etwas erwidern. Ich ſuchte nach einer recht diplomatiſchen Phraſe, die — ohne jegliche Hoffnung abzuſchneiden — meiner Würde nichts vergäbe, brachte aber weiter nichts hervor, als ein zitternd gehauchtes „Ja“. „So darf ich morgen bei Ihrer Tante um Ihre Hand anhalten und dem Grafen Althaus ſchreiben?“ Wieder „ja“ — diesmal ſchon etwas feſter. O, ich Glücklicher! Alſo auch auf den erſten Blick? — Du liebſt mich?“ Jetzt antwortete ich nur mit den Augen — doch dieſe, glaub’ ich, ſprachen das allerdeutlichſte „Ja“. 3. Erſtes Buch. 1859. // 3. Abſchnitt An meinem achtzehnten Geburtstage wurde ich getraut, nachdem ich zuvor in die „Welt“ eingeführt und der Kaiſerin „als Braut“ vorgeſtellt worden war. Nach unſerer Hochzeit unternahmen wir eine Italienreiſe. Zu dieſem Zweck hatte Arno einen längeren Urlaub genommen. Von einem Austritt aus dem Militärdienſte war niemals die Rede geweſen. Zwar beſaßen wir beide ziemlich anſehnliches Vermögen — aber mein Mann liebte ſeinen Stand und ich mit ihm. Ich war ſtolz auf meinen ſchmucken Huſarenoffizier und ſah mit Befriedigung der Zeit entgegen, da er zum Rittmeiſter — zum Oberſten — und einſt zum Generalgouverneur vorrücken würde…. Wer weiß, vielleicht war er zu noch höheren Geſchicken beſtimmt: vielleicht ſollte er als großer Feldherr in der vaterländiſchen Ruhmesgeſchichte glänzen…. Daß die roten Hefte gerade in der ſeligen Brautzeit und während der Flitterwochen eine Lücke aufweiſen, thut mir jetzt ſehr leid. Verflogen, verweht, in Nichts verflattert wären die Wonnen jener Tage freilich ebenſo, wenn ich ſie auch eingetragen hätte, aber wenigſtens wäre ein Abglanz davon zwiſchen den Blättern feſtgebannt. Aber nein: für meinen Gram und meine Schmerzen fand ich nicht genug Klagen, Gedankenſtriche und Ausrufungszeichen; die jammervollen Dinge mußten der Mit- und Nachwelt ſorgfältig vorgeheult werden, aber die ſchönen Stunden, die habe ich ſchweigend genoſſen. — Ich war nicht ſtolz auf mein Glücklichſein und gab es daher niemand — nicht einmal mir ſelber im Tagebuche — kund und zu wiſſen! nur das Leiden und Sehnen empfand ich als eine Art Verdienſt, daher das viele Großthun damit. Wie doch dieſe roten Hefte alle meine traurigen Lagen getreulich ſpiegeln, während zu frohen Zeiten die Blätter ganz unbeſchrieben blieben. Zu dumm! Das iſt, als ſammelte Einer während eines Spazierganges — um Andenken daran nach Hauſe zu bringen — als ſammelte er von den Dingen, die er auf dem Wege findet, nur das Häßliche; als füllte er ſeine Botaniſierbüchſe nur mit Dornen, Diſteln, Würmern, Kröten und ließe alle Blumen und Falter weg. Dennoch, ich erinnere mich: es war eine herrliche Zeit. Eine Art Feenmärchentraum. Ich hatte ja alles, was ein junges Frauenherz nur begehren kann: Liebe, Reichtum, Rang, Vermögen — und das Meiſte ſo neu, ſo überraſchend, ſo ſtaunenerregend! Wir liebten uns wahnſinnig, mein Arno und ich, mit dem ganzen Feuer unſerer lebensſtrotzenden, ſchönheitsſicheren Jugend. Und zufällig war mein glänzender Huſar nebenbei ein braver, herzensguter, edeldenkender Junge, mit weltmänniſcher Bildung und heiterem Humor (er hätte ja ebenſogut — was bot der Marienbader Ball für eine Bürgſchaft dagegen? — ein böſer und ein roher Menſch ſein können) und zufällig war auch ich ein leidlich geſcheites und gemütliches Ding (er hätte auf beſagtem Balle ebenſogut in ein hübſches launenhaftes Gänschen ſich verlieben können); ſo kam es denn, daß wir vollkommen glücklich waren und das infolgedeſſen das rotgebundene Lamento-Hauptbuch lange Zeit leer blieb. Halt: hier finde ich eine fröhliche Eintragung — Verzückungen über die neue Mutterwürde. Am erſten Januar 1859 (war {das} ein Neujahrsgeſchenk!) ward uns ein Söhnchen geboren. Natürlich erweckte dieſes Ereignis ſo ſehr unſer Staunen und unſern Stolz, als wären wir das erſte Paar, dem ſo was paſſierte. Daher wohl auch die Wiederaufnahme des Tagebuchs. Von dieſer Merkwürdigkeit, von dieſer meiner Wichtigkeit mußte die Nachwelt doch unterrichtet werden. Ferner iſt das Thema „junge Mutter“ ſo vorzüglich kunſt- und litteraturfähig. Dasſelbe gehört zu dem beſtbeſungenen und fleißig bemalten Vorwürfen; dabei läßt ſich ſo gut myſtiſch und heilig gerührt und pathetiſch, naiv und lieblich — kurz ungeheuer poetiſch geſtimmt ſein. Zur Pflege dieſer Stimmung tragen ja (ſowie die Schulbücher zur Pflege der Kriegsbewunderung) alle möglichen Gedichtſammlungen, illuſtrierte Journale, Gemäldegalerien und landläufige Entzückungsphraſen unter der Rubrik „Mutterliebe“, „Mutterglück“, „Mutterſtolz“ nach Kräften bei. Was zunächſt der Heldenanbetung (ſiehe Carlyles [hero-worship]) im Vergötterungsfach Höchſtes geleiſtet wird, das leiſten die Leute in [baby-worship]. Natürlich blieb hierin auch ich nicht zurück. Mein kleiner herziger Ruru war mir das wichtigſte Weltwunder. Ach, mein Sohn — mein erwachſener herrlicher Rudolf — was ich {für Dich} empfinde, dagegen verblaßt jene kindiſche Babybeſtaunung — dagegen iſt jene blinde, affenmäßige, jungmütterliche Freßliebe ſo nichtig, wie ein Wickelkind ja ſelber gegen einen entfalteten Menſchen nichtig iſt…. Auch der junge Vater war nicht wenig ſtolz auf ſeinen Nachfolger und baute die ſchönſten Zukunftspläne auf ihn. „Was wird er werden?“ Dieſe eben noch nicht ſehr dringende Frage wurde des öfteren über Rurus Wiege vorgelegt, und immer einſtimmig entſchieden: Soldat. Manchmal erwachte ein ſchwacher Proteſt von ſeiten der Mutter: „Wie aber, wenn er im Kriege verunglückt?“ „Ach bah“ ward dieſer Einwurf weggeräumt — „es ſtirbt ja doch jeder nur dort und dann, wie es ihm beſtimmt iſt.“ Ruru würde ja auch nicht der einzige bleiben; von den folgenden Söhnen mochte in Gottes Namen einer zum Diplomaten, ein anderer zum Landwirt, ein dritter zum Geiſtlichen erzogen werden, aber der älteſte, der mußte ſeines Vaters und Großvaters Beruf — den ſchönſten Beruf von allen — erwählen, der mußte Soldat werden. Und dabei iſt’s geblieben. Ruru wurde ſchon mit zwei Monaten von uns zum Gefreiten befördert. Werden doch alle Kronprinzen gleich nach der Geburt zu Regimentsinhabern ernannt, warum ſollten wir unſern Kleinen nicht auch mit einem imaginären Rang ſchmücken? Das war uns ein Hauptſpaß, dieſes Soldatenſpielen mit einem Baby. Arno ſalutierte, ſo oft ſein Bub auf den Armen der Amme ins Zimmer gebracht wurde. Letztere nannten wir die Marketenderin, und was bei dieſer das Fouragemagazin hieß, laſſe ich erraten; Rurus Geſchrei ward Alarmſignal geheißen, und was „Ruru ſitzt auf dem Exerzierplatz“ bedeutete, laſſe ich abermals erraten ſein. 4. Erſtes Buch. 1859. // 4. Abſchnitt Am 1. April, als am dritten Monatstage ſeiner Geburt (nur die Jahrestage zu feiern hätte zu gar zu ſeltenen Feſten Anlaß gegeben), rückte Ruru vom Gefreiten zum Korporal vor. An jenem Tage geſchah aber auch etwas Düſteres; etwas, was mir das Herz ſchwer machte und mich veranlaßte, es in den roten Heften auszuſchütten. Schon längere Zeit war am politiſchen Horizont der gewiſſe „ſchwarze Punkt“ ſichtbar, über deſſen mögliches Anwachſen von allen Zeitungen und allen Salongeſprächen die lebhafteſten Kommentare geliefert wurden. Ich hatte bis jetzt nicht darauf geachtet. Wenn mein Mann und mein Vater und deren militäriſche Freunde auch öfters vor mir geſagt hatten: „Mit Italien ſetzt es nächſtens etwas ab“, ſo war das an meinem Verſtändnis abgeprallt. Mich um Politik zu kümmern, hatte ich gerade Zeit und Luſt! Da mochte um mich herum noch ſo eifrig über das Verhältnis Sardiniens zu Öſterreich, oder über das Verhalten Napoleons Ⅲ. debattiert werden, deſſen Hilfe Cavour durch die Teilnahme am Krimkriege ſich zugeſichert hatte: da mochte man immerhin von der Spannung reden, welche zwiſchen uns und den italieniſchen Nachbarn durch dieſe Allianz hervorgerufen worden — das beachtete ich nicht. Aber an jenem 1. April ſagte mir mein Mann allen Ernſtes: „Weißt Du, Schatz — es wird bald losgehen.“ „Was wird losgehen, mein Liebling!“ „Der Krieg mit Sardinien.“ Ich erſchrak. „Um Gotteswillen — das wäre furchtbar! Und mußt Du mit?“ „Hoffentlich.“ „Wie kannſt Du ſo etwas ſagen? {Hoffentlich} fort von Weib und Kind?“ „Wenn die Pflicht ruft …“ „Dann kann man ſich fügen. Aber hoffen — das heißt alſo wünſchen, daß einem ſolch bittere Pflicht erwachſe —“ „Bitter? So ein friſcher, fröhlicher Krieg muß ja was Herrliches ſein. Du biſt eine Soldatenfrau — vergiß das nicht —“ Ich fiel ihm um den Hals … „O Du mein lieber Mann, ſei ruhig: ich kann auch tapfer ſein … Wie oft habe ich’s den Helden und Heldinnen der Geſchichte nachempfunden, welch erhebendes Gefühl es ſein muß, in den Kampf zu ziehen. Dürfte ich nur mit — an Deiner Seite fechten, fallen oder ſiegen!“ „Brav geſprochen mein Weibchen! — aber Unſinn. Dein Platz iſt hier an der Wiege des Kleinen, in dem auch ein Vaterlandsverteidiger groß gezogen werden ſoll. Dein Platz iſt an unſerem häuslichen Herd. Um dieſen zu ſchützen und vor feindlichem Überfall zu wahren, um unſerm Heim und unſern Frauen den Frieden zu erhalten, ziehen wir Männer ja in den Krieg.“ Ich weiß nicht, warum mir dieſe Worte, welche ich in ähnlicher Faſſung doch ſchon oft zuſtimmend gehört und geleſen hatte, diesmal einigermaßen als „Phraſe“ klangen … Es war ja kein bedrohter Herd da, keine Barbarenhorden ſtanden vor den Thoren — einfach politiſche Spannung zwiſchen zwei Kabinetten … Wenn alſo mein Mann begeiſtert in den Krieg ziehen wollte, ſo war es doch nicht ſo ſehr das dringende Bedürfnis, Weib und Kind und Vaterland zu ſchützen, als vielmehr die Luſt an dem abenteuerlichen, Abwechslung bietenden Hinausmarſchieren — der Drang nach Auszeichnung — Beförderung … Nun ja, Ehrgeiz iſt es — ſchloß ich dieſen Gedankengang — ſchöner berechtigter Ehrgeiz, Luſt an tapferer Pflichterfüllung! Es war ſchön von ihm, daß er ſich freute, {wenn} er zu Felde ziehen müßte; aber noch war ja nichts entſchieden. Vielleicht würde der Krieg gar nicht ausbrechen, und ſelbſt für den Fall, daß man ſich ſchlage, wer weiß, ob gerade Arno wegkommandiert würde — es geht ja doch nicht immer die ganze Armee vor den Feind. Nein, dieſes ſo herrliche, abgerundete Glück welches mir das Schickſal zurecht gezimmert hatte, konnte doch dieſes ſelbe Schickſal nicht ſo roh zertrümmern. — O Arno, mein vielgeliebter Mann — dich in Gefahr zu wiſſen, es wäre entſetzlich! … Solche und ähnliche Ergüſſe füllen die in jenen Tagen beſchriebenen Tagebuchblätter. Von da ab ſind die roten Hefte eine Zeit lang voll Kannegießerei: Louis Napoleon iſt ein Intrigant … Öſterreich kann nicht lange zuſchauen … es kommt zum Kriege … Sardinien wird ſich vor der Übermacht fürchten und nachgeben … Der Friede bleibt erhalten … Meine Wünſche — trotz aller theoretiſchen Bewunderung vergangener Schlachten — waren natürlich inbrünſtig nach Erhaltung des Friedens gerichtet, doch der Wunſch meines Gatten rief offenbar die andere Alternative herbei. Er ſagte es nicht grad’ heraus, aber Nachrichten über die Vergrößerung des „ſchwarzen Punktes“ teilte er immer leuchtenden Auges mit; die hier und da, leider immer ſpärlicher werdenden Friedensausſichten hingegen konſtatierte er ſtets mit einer gewiſſen Niedergeſchlagenheit. Mein Vater war auch ganz Feuer und Flamme für den Krieg. Die Beſiegung der Piemonteſen würde ja nur ein Kinderſpiel ſein, und zur Bekräftigung dieſer Behauptung regneten wieder die Radetzky-Anekdoten. Ich hörte von dem drohenden Feldzug immer nur vom ſtrategiſchen Standpunkt ſprechen, nämlich ein Hin- und Herwägen der Chancen, wie und wo der Feind geſchlagen würde und die Vorteile, welche „uns“ daraus erwachſen mußten. Der menſchliche Standpunkt — nämlich daß, ob verloren oder gewonnen, jede Schlacht unzählige Blut- und Thränenopfer fordert, — kam gar nicht in Betracht. Die hier in Frage ſtehenden Intereſſen wurden als ſo ſehr über alle Einzelſchickſale erhaben dargeſtellt, daß ich mich der Kleinlichkeit meiner Auffaſſung ſchämte, wenn mir bisweilen der Gedanke aufſtieg: „Ach, was frommt den armen Toten, was den armen Verkrüppelten, was den armen Wittwen der Sieg?“ Doch bald ſtellten ſich als Antwort auf dieſe verzagten Fragen wieder die alten Schulbuchdithyramben ein: Erſatz für alles bietet der {Ruhm}. Doch wie, wenn der Feind ſiegte? Dieſe Frage ließ ich einmal im Kreiſe meiner militäriſchen Freunde laut werden — wurde aber ſchmählich niedergeziſcht. Das bloße Erwähnen von der Möglichkeit eines Schattens eines Zweifels iſt ſchon antipatriotiſch. Im voraus ſeiner Unüberwindlichkeit ſicher ſein, gehört mit zu den Soldatenpflichten. Alſo gewiſſermaßen auch zu den Pflichten einer loyalen Lieutenantsfrau. 5. Erſtes Buch. 1859. // 5. Abſchnitt Das Regiment meines Mannes lag in Wien. Von unſerer Wohnung hatte man die Ausſicht auf den Prater, und wenn man da ans Fenſter trat, wehte es ſommerlich verheißend herein. Es war ein wundervoller Frühling. Die Luft war lau und veilchenduftend, und zeitiger als in anderen Jahren ſproßte das junge Laub hervor. Auf die im kommenden Monat bevorſtehenden großen Praterfahrten freute ich mich unbändig. Wir hatten uns zu dieſem Zweck ein kokettes „Zeugel“ angeſchafft, nämlich einen Kutſchierwagen mit einem Viererzug von ungariſchen Juckern. Schon jetzt, in dieſen herrlichen Apriltagen, fuhren wir beinahe täglich in den Prateralleen ſpazieren, aber das war nur ein Vorkoſten des eigentlichen Maigenuſſes. Ach, wenn nur bis dahin nicht etwa der Krieg ausbräche! … „Na, Gott ſei Dank — jetzt hat die Unentſchiedenheit ein Ende!“ — rief mein Mann, als er am Morgen des neunzehnten April vom Exerzieren nach Hauſe kam. „Das Ultimatum iſt geſtellt.“ Ich erſchrak. „Wie — was — was heißt das?“ „Das heißt, das letzte Wort der diplomatiſchen Verhandlungen, welches der Kriegserklärung vorausgeht, iſt geſprochen. Unſer Ultimatum an Sardinien fordert, daß Sardinien entwaffne — was dieſes natürlich bleiben läßt, und wir marſchieren über die Grenze.“ „Großer Gott! — Vielleicht aber entwaffnen ſie?“ „Nun dann wäre der Streit auch beigelegt und es bleibt Frieden.“ Ich fiel auf die Knie — ich konnte nicht anders. Lautlos und dennoch heftig wie ein Schrei, ſchwang ſich aus meiner Seele die Bitte zum Himmel: „Frieden, Frieden!“ Arno hob mich auf: „Du närriſches Kind!“ Ich ſchlang meine Arme um ſeinen Hals und fing zu weinen an. Es war kein Schmerzensausbruch, denn noch war ja das Unglück nicht entſchieden — aber die Nachricht hatte mich ſo erſchüttert, daß meine Nerven zitterten und dieſen Thränenſturz verurſachten. „Martha, Martha, Du wirſt mich böſe machen,“ ſchalt Arno. „Biſt Du denn mein braves Soldatenweiblein? Vergiſſeſt Du, daß Du Generalstochter, Oberſtlieutenantsfrau und“ — ſchloß er lächelnd — „Korporalsmutter biſt?“ „Nein, nein, mein Arno … Ich begreife mich ſelber nicht … Das war nur ſo ein Anfall … ich bin ja doch ſelber für militäriſchen Ruhm begeiſtert … aber ich weiß nicht — vorhin, als Du ſagteſt, alles hänge von {einem} Worte ab, das jetzt geſprochen werden ſoll — ein Ja oder Nein auf das ſogenannte Ultimatum — und dieſes Ja oder Nein ſolle entſcheiden, ob Tauſende bluten und ſterben ſollen — ſterben in dieſen ſonnigen, ſeligen Frühlingstagen — da war mir, als {müßte} das Friedenswort fallen und ich konnte nicht anders als betend niederknieen —“ „Um dem lieben Gott die Sachlage mitzuteilen, Du Herzensnärrchen?“ Die Hausglocke ertönte. Schnell trocknete ich meine Thränen. Wer konnte das ſein — ſo früh? Es war mein Vater. Derſelbe kam haſtig hereingeſtürzt. „Nun Kinder,“ rief er atemlos, indem er ſich in einen Lehnſeſſel warf. „Wißt Ihr ſchon die große Nachricht — das Ultimatum …“ „Soeben habe ich’s meiner Frau erzählt.“ „Sag’ Papa, was meinſt Du,“ fragte ich bange, „wird der Krieg dadurch abgewendet?“ „Ich wüßte nicht, daß ein Ultimatum jemals einen Krieg abgewendet hätte. Vernünftig wäre es wohl von dieſem italieniſchen Jammerpack, wenn es nachgeben würde und ſich keinem neuen Novara ausſetzte … Ach, wäre der gute Vater Radetzky nicht voriges Jahr geſtorben, ich glaube er hätte, trotz ſeiner neunzig Jahre, ſich noch einmal an die Spitze ſeines Heeres geſtellt und ich wäre, bei Gott, auch wieder mitmarſchiert … Wir zwei haben’s ja ſchon gezeigt, wie man mit dem welſchen Geſindel fertig wird. Sie haben aber noch nicht genug daran, die Katzelmacher — ſie wollen eine zweite Lektion haben! Auch recht: unſer lombardiſch-venetianiſches Königreich wird ſich durch das piemonteſiſche Gebiet ganz ſchön vergrößern laſſen — ich ſehe ſchon den Einzug unſerer Truppen in Turin.“ „Aber Papa, Du ſprichſt ja, als wäre der Krieg ſchon erklärt und als wärſt Du darüber froh. Doch wie, wenn Arno mitgehen muß?“ Es ſtanden mir ſchon wieder die Thränen in den Augen. „Das wird er auch — der beneidenswerte Junge.“ „Aber meine Angſt — die Gefahr —“ „Ach was, Gefahr! Man kommt vom Kriege auch nach Haus, wie Figura zeigt. Ich habe mehr als eine Campagne mitgemacht. Gott ſei Dank, bin auch mehr als einmal verwundet worden — und bin doch am Leben, weil es mir eben beſtimmt war, am Leben zu bleiben.“ Die alte fataliſtiſche Redensart! Dieſelbe, welche für Rurus künftige Berufswahl hatte herhalten müſſen und die mir auch jetzt wieder als ein Stück Weisheit einleuchtete. „Wenn etwa mein Regiment nicht beordert werden ſollte —“ begann Arno. „Ach ja,“ unterbrach ich freudig, „das iſt auch noch eine Hoffnung.“ „Dann laſſe ich mich verſetzen, wenn möglich —“ „Es wird ſchon möglich ſein,“ verſicherte mein Vater. „Heß bekommt den Oberbefehl und der iſt mein guter Freund.“ Das Herz zitterte mir, aber dennoch konnte ich nicht anders, als dieſe beiden Männer bewundern. Mit welch fröhlichem Gleichmut ſie von einem kommenden Feldzug ſprachen, als handelte es ſich um einen geplanten Spaziergang. Mein tapferer Arno wollte ſogar — auch wenn ihn die Pflicht nicht riefe — freiwillig vor den Feind ziehen, und mein großdenkender Vater fand das ganz einfach und natürlich. Ich raffte mich auf. Fort mit meinem kindiſchen, weibiſchen Bangen! Jetzt galt es, mich dieſer meiner Lieben würdig zu zeigen, das Herz über alle egoiſtiſchen Befürchtungen erheben und nur dem ſchönen Bewußtſein Raum geben: Mein Gatte iſt ein Held. Ich ſprang auf und hielt ihm beide Hände hin: „Arno, ich bin ſtolz auf Dich!“ Er zog meine Hände an ſeine Lippen; dann an den Vater gewendet, mit freudeſtrahlender Miene: „Das Mädel haſt Du gut erzogen, Schwiegervater!“ Abgelehnt! Das Ultimatum abgelehnt! So geſchehen in Turin am 26. April. Die Würfel gefallen — der Krieg „ausgebrochen“! Seit einer Woche war ich auf die Kataſtrophe gefaßt, dennoch verſetzte mir deren Eintreffen einen derben Schlag. Schluchzend warf ich mich auf das Sofa, den Kopf in die Kiſſen verbergend, als mir Arno dieſe Nachricht brachte. Er ſetzte ſich an meine Seite und tröſtete mich ſanft. „Mein Liebling, Mut — Faſſung! Es iſt ja nicht ſo ſchlimm … in kurzer Zeit kehren wir als Sieger heim … Dann werden wir Zwei doppelt glücklich ſein. Weine nicht ſo, es zerreißt mir das Herz … faſt bereue ich, daß ich mich engagiert habe, auf jeden Fall mitzugehen … doch nein, bedenke: wenn meine Kameraden hinaus müſſen, mit welchem Recht dürfte ich da zu Hauſe bleiben? Du ſelber müßteſt Dich meiner ſchämen … Einmal muß ich ja die Feuertaufe erhalten — ehe das geſchehen, fühle ich mich gar nicht recht als Mann und als Soldat. Denk’ nur, wie ſchön — wenn ich zurückkomme — mit einem dritten Stern am Kragen — vielleicht mit einem Kreuz auf der Bruſt.“ Ich lehnte meinen Kopf an ſeine Achſel und weinte da weiter. Wie klein ich doch wieder dachte: Sterne und Kreuze erſchienen mir in dieſem Augenblick als ſo ſchaler Flitter … Nicht zehn Großkreuze auf dieſer teuern Bruſt konnten einen Erſatz bieten für die grauſe Möglichkeit, daß eine Kugel ſie zerſchmettere … Arno küßte mir die Stirn, ſchob mich ſanft beiſeite und ſtand auf: „Ich muß jetzt fortgehen, liebes Kind — zu meinem Oberſten. Weine Dich aus … wenn ich wiederkomme, hoffe ich, Dich ſtandhaft und heiter zu finden — ich brauche das, um nicht von trüben Ahnungen beſchlichen zu werden. Jetzt, in ſo entſcheidender Zeit, wird doch meine eigene kleine Frau nichts thun, mir den Mut zu benehmen, meine Thatenluſt zu dämpfen? Adieu, mein Schatz.“ Und er ging. Ich raffte mich auf. Seine letzten Worte klangen mir noch im Ohre nach. Ja offenbar: meine Pflicht war nun die, ſeinen Mut und ſeine Thatenluſt — nicht nur nicht zu dämpfen, ſondern nach Möglichkeit zu heben. Das iſt ja die einzige Art, wie wir Frauen unſern Patriotismus bethätigen können, wie wir des Ruhmes teilhaftig werden dürfen, den unſere Männer auf den Schlachtfeldern ſich holen … „Schlacht — felder“ — ſonderbar, wie dieſes Wort jetzt plötzlich in zwei grundverſchiedenen Bedeutungen mir vor den Sinn trat. Halb in der altgewohnten, hiſtoriſchen, pathetiſchen, höchſte Bewunderung erregenden Bedeutung, halb in dem Ekelſchauer der blutigen, brutalen Silbe „Schlacht“ … Ja {geſchlachtet} würden ſie auf dem Felde daliegen, die armen hinausgetriebenen Menſchen — mit offenen, roten Wunden — und unter ihnen vielleicht … Mit einem laut ausgeſtoßenen Schrei dachte ich dieſen Gedanken aus. Meine Jungfer, Betti, kam erſchrocken hereingerannt. Sie hatte mich ſchreien gehört. „Um Gottes willen, Frau Gräfin, was iſt geſchehen?“ fragte ſie zitternd. Ich blickte das Mädchen an: auch ſie hatte rotgeweinte Augen. Ich erriet — ſie wußte ſchon die Nachricht, und ihr Geliebter war Soldat. Mir war’s, als müßte ich die Unglücksſchweſter an mein Herz drücken. „Es iſt nichts, mein Kind,“ ſagte ich weich … „Die fortziehen, kommen ja wieder zurück —“ „Ach, gräfliche Gnaden, nicht alle,“ antwortete ſie, von neuem in Thränen ausbrechend. Jetzt trat meine Tante bei mir ein und Betti entfernte ſich. „Ich bin gekommen, Dir Troſt zu ſprechen, Martha,“ ſagte die alte Frau, mich umarmend, „und Dir in dieſer Prüfung Ergebung zu predigen.“ „Alſo weißt Du?“ — „Die ganze Stadt weiß es … Es herrſcht großer Jubel, dieſer Krieg iſt ſehr populär.“ „Jubel, Tante Marie?“ „Nun ja, bei ſolchen, die kein geliebtes Familienglied mitziehen ſehen. Daß Du traurig ſein wirſt, konnte ich mir denken, und darum bin ich hierher geeilt. Dein Papa wird auch gleich kommen; aber nicht um zu tröſten, ſondern zu gratulieren: er iſt ganz außer ſich vor Freude, daß es losgeht, und betrachtet es als eine herrliche Chance für Arno, daß er mitthun kann. Im Grunde hat er ja auch recht … für einen Soldaten gibt’s auch nichts Beſſeres, als den Krieg. So mußt auch Du die Sache betrachten, liebes Kind — Berufserfüllung geht doch allem voran. Was ſein {muß} —“ „Ja, Du haſt recht, Tante, was ſein {muß} — das Unabänderliche —“ „Das von Gott gewollte“ — ſchaltete Tante Marie bekräftigend ein. „Muß man mit Faſſung und Ergebung ertragen.“ „Brav, Martha. Es kommt ja doch alles ſo, wie es von der weiſen und allgütigen Vorſehung in unabänderlichem Ratſchluß vorher beſtimmt iſt. Die Sterbeſtunde eines Jeden, die ſteht ſchon von der Stunde ſeiner Geburt an geſchrieben. Und wir wollen für unſere lieben Krieger ſo viel und inbrünſtig beten —“ Ich hielt mich nicht dabei auf, den Widerſpruch, der in dieſen beiden Annahmen liegt: daß der Tod zugleich {beſtimmt} und durch Gebete abzuwenden ſein könne, näher zu erörtern. Ich war mir ſelbſt nicht klar darüber und hatte von meiner ganzen Erziehung her das vage Bewußtſein, daß man an ſo heilige Dinge nicht mit Vernunftfragen herantreten dürfe. Hätte ich gar der Tante gegenüber ſolche Skrupel laut werden laſſen, ſo würde ſie das arg verletzt haben. Nichts konnte ſie mehr beleidigen, als wenn man über gewiſſe Dinge rationelle Zweifel anſtellte. „Nicht darüber nachdenken“ iſt allen Myſterien gegenüber Anſtandsgebot. Wie es die Hofſitte verbietet, an einen König Fragen zu richten, ſo iſt es auch eine Art läſterlichen Etiquettenbruchs, wenn man an einem Dogma herum forſchen und prüfen will. „Nicht darüber nachdenken“ iſt übrigens ein ſehr leicht erfüllbares Gebot, und bei dieſem Anlaß fügte ich mich bereitwillig darein; ich fing daher mit der Tante keinen Streit an, ſondern klammerte mich im Gegenteil an den Troſt, der in dem Hinweis auf das Beten lag. Ja — während der ganzen Abweſenheit meines Gatten wollte ich ſo inbrünſtig um des Himmels Schutz flehn, daß dieſer alle Kugeln im Fluge von Arno abwenden werde … Abwenden? — Wohin? Auf die Bruſt eines Andern, für den doch wahrſcheinlich auch gebetet wird? … Und was war mir im phyſikaliſchen Lehrkurs demonſtriert worden, von den genau zu berechnenden, unfehlbaren Wirkungen der Stoffe und ihrer Bewegung? … Wieder ein Zweifel? Fort damit. „Ja, Tante,“ ſagte ich laut, um dieſe in meinem Geiſt ſich kreuzenden Widerſprüche abzubrechen, „ja, wir wollen fleißig beten und Gott wird uns erhören: Arno bleibt unverſehrt.“ „Siehſt Du, ſiehſt Du, Kind, wie in ſchweren Stunden die Seele doch zu der Religion flüchtet … Vielleicht ſchickt Dir der liebe Gott die Prüfung, damit Du Deine ſonſtige Lauheit ablegſt.“ Das wollte mir wieder nicht recht einleuchten, daß die ganze, noch aus dem Krimkriege herſtammende Verſtimmung zwiſchen Öſterreich und Sardinien, die ganzen Verhandlungen, die Aufſtellung des Ultimatums und die Ablehnung desſelben nur von Gott veranſtaltet worden wären, um meinen lauen Sinn zu erwärmen. Aber auch dieſen Zweifel auszudrücken, wäre unanſtändig geweſen. Sobald jemand den „lieben Gott“ in den Mund genommen, gibt das dem daran geknüpften Ausſpruch eine gewiſſe ſalbungsvolle Immunität. Was die vorgeworfene Lauheit anbelangt, ſo hatte dieſer Vorwurf einige Begründung. Tante Marias Religioſität kam aus tiefſtem Herzen, während ich mehr äußerlich fromm war. Mein Vater war in dieſer Beziehung völlig indifferent, ebenſo mein Gatte, alſo hatte ich weder von dem Einen noch dem Andern Anregung zu beſonderem Glaubenseifer erhalten. Mich in die kirchlichen Lehren mit Begeiſterung zu vertiefen, hatte ich auch niemals vermocht, da ich dieſelben überhaupt nur mit Anwendung des „Nichtdarübernachdenken“-Prinzips unangefochten laſſen konnte. Ich ging wohl allſonntäglich zur Meſſe und alljährlich zur Beichte; auch war ich bei dieſen Ceremonien voll Ehrfurcht und Andacht; aber das Ganze war doch mehr oder minder eine Art ſtandesmäßiger Etiquettenbeobachtung; ich erfüllte die religiöſen Anſtandspflichten mit derſelben Korrektheit, wie ich auf dem Kammerball die Figuren der Lanciers ausführte und die Hofreverenz machte, wenn die Kaiſerin den Saal betrat. Unſer Schloßkaplan in Niederöſterreich und der Nuntius in Wien konnten mir nichts vorwerfen, aber die von der Tante vorgebrachte Beſchuldigung war wohl berechtigt. „Ja, mein Kind,“ fuhr ſie fort, „im Glück und im Wohlſein vergeſſen die Leute leicht ihren Heiland — wenn aber Krankheit oder Todesgefahr über uns und, mehr noch, über unſere Lieben hereinbricht, wenn wir niedergeſchlagen und in Kümmernis ſind —“ In dieſem Tone wäre es noch lange fortgegangen, aber da wurde die Thüre aufgeriſſen und mein Vater ſtürzte herein! „Hurrah, jetzt geht’s los!“ lautete ſeine Begrüßung „Sie wollen Prügel haben, die Katzelmacher? So ſollen ſie Prügel haben — ſollen ſie haben!“ 6. Erſtes Buch. 1859. // 6. Abſchnitt Das war nun eine aufgeregte Zeit. Der Krieg iſt ausgebrochen“. Man vergißt, daß es zwei Haufen Menſchen ſind, die miteinander raufen gehen, und faßt das Ereignis ſo auf, als wäre es ein erhabenes, waltendes Drittes, deſſen „Ausbruch“ die beiden Haufen zum Raufen zwingt. Die ganze Verantwortung fällt auf dieſe außerhalb des Einzelwillens liegende Macht, welche ihrerſeits nur die Erfüllung der beſtimmten Völkerſchickſale herbeigeführt. Das iſt ſo die dunkle und ehrfürchtige Auffaſſung, welche die meiſten Menſchen vom Kriege haben und welche auch die meine war. Von einer Revolte meines Gefühls gegen das Kriegführen überhaupt, war keine Rede; nur {darunter} litt ich, daß mein geliebter Mann hinauszuziehen hätte in die Gefahr, und ich in Einſamkeit und Bangen zurückzubleiben. Ich kramte alle meine alten Eindrücke aus der Zeit der Geſchichtsſtudien hervor, um mich an dem Bewußtſein zu ſtärken und zu begeiſtern, daß die höchſte Menſchenpflicht es war, die meinen Teuren abberief, und daß ihm hierdurch die Möglichkeit geboten würde, ſich mit Ruhm und Ehren zu bedecken. Jetzt lebte ich ja mitten drin in einer Geſchichtsepoche: das war auch ein eigentümlich erhebender Gedanke. Weil von Herodot und Tacitus an bis zu den modernen Hiſtorikern herab die Kriege ſtets als die wichtigſten und folgenſchwerſten Ereigniſſe dargeſtellt worden, ſo meinte ich, daß auch gegenwärtig ein ſolches — künftigen Geſchichtsſchreibern als Abſchnittsüberſchrift dienendes Weltereignis im Gange war. Dieſe gehobene, wichtigkeitsüberſtrömende Stimmung war übrigens die allgemeine herrſchende. Man ſprach von nichts Anderem in den Salons und auf den Gaſſen; las von nichts Anderem in den Zeitungen, betete für nichts Anderes in den Kirchen: wo man hinkam, überall dieſelben aufgeregten Geſichter und die gleichen lebhaften Beſprechungen der Kriegseventualitäten. Alles Übrige, was ſonſt das Intereſſe der Leute wach hält: Theater, Geſchäfte, Kunſt —, das wurde jetzt als ganz nebenſächlich betrachtet. Es war einem zu Mute, als hätte man gar kein Recht, an etwas Anderes zu denken, während dieſer große Weltſchickſalsauftritt ſich abſpiele. Und die verſchiedenen Armeebefehle mit den bekannten ſiegesbewußten und ruhmverheißenden Phraſen; und die unter klingendem Spiel und wehenden Standarten abmarſchierenden Truppen; und die in loyalſtem und patriotiſch glühendſtem Tone gehaltenen Leitartikel und öffentlichen Reden; dieſer ewige Appell an Tugend, Ehre, Pflicht, Mut, Aufopferung; dieſe ſich gegenſeitig gemachten Verſicherungen, daß man die bekannt unüberwindlichſte, tapferſte, zu hoher Machtausdehnung beſtimmte, beſte und edelſte Nation ſei! alles dies verbreitet eine heroiſche Atmoſphäre, welche die ganze Bevölkerung mit Stolz erfüllt und in jedem Einzelnen die Meinung hervorruft, er ſei ein großer Bürger einer großen Zeit. Schlechte Eigenſchaften, als da ſind: Eroberungsgier, Raufluſt, Haß, Grauſamkeit, Tücke — werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege ſich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim „Feind“. Deſſen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgeſehen von der politiſchen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, ſowie abgeſehen von den daraus unzweifelhaft erwachſenden patriotiſchen Vorteilen, iſt die Beſiegung des Gegners ein moraliſches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung. … Dieſe Italiener — welches faule, falſche, ſinnliche, leichtſinnige eitle Volk! Und dieſer Louis Napoleon — welcher Ausbund von Ehrſucht und Intriguengeiſt! Als ſein am 29. April publiziertes Kriegsmanifeſt erſchien, mit dem Motto: „Freies Italien bis zum adriatiſchen Meer“ — rief das einen Sturm der Entrüſtung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine ſchwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und ſchöne Idee ſei, welche für italieniſche Patrioten begeiſternd wirken müſſe; aber ich ward ſchnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma „Louis Napoleon iſt ein Böſewicht“, durfte, ſo lange er „der Feind“ war, nicht gerüttelt werden; Alles, was von ihm ausging, war von vornherein „böſewichteriſch“. Noch ein leiſer Zweifel ſtieg in mir auf. In allen geſchichtlichen Kriegsberichten hatte ich die Sympathie und die Bewunderung der Erzähler immer für diejenige Partei ausgedrückt gefunden, welche einem fremden Joche ſich entringen wollte und welche für die Freiheit kämpfte. Zwar wußte ich mir weder über den Begriff „Joch“ noch über den ſo überſchwänglich beſungenen Begriff „Freiheit“ einen rechten Beſcheid zu geben, aber ſo viel ſchien mir doch klar: die Jochabſchüttelungs- und Freiheitsbeſtrebung lag diesmal nicht auf öſterreichiſcher, ſondern auf italieniſcher Seite. Aber auch für dieſe ſchüchtern gedachten und noch ſchüchterner ausgedrückten Skrupel wurde ich niedergedonnert. Da hatte ich Unſelige wieder an einem ſakroſankten Grundſatz gerührt, nämlich daß unſere Regierung — d. h. diejenige, unter welcher man zufällig geboren worden — niemals ein Joch, ſondern nur einen Segen abgeben könne; daß die von „uns“ ſich losreißen Wollenden nicht Freiheitskämpen, ſondern einfach Rebellen ſind, und daß überhaupt und unter allen Umſtänden „wir“ allemal und überall in unſerm vollen Rechte ſind. In den erſten Maitagen — es waren kalte, regneriſche Tage zum Glück; ſonniges, lenzfrohes Wetter hätte einen noch ſchmerzlicheren Kontraſt bewirkt — marſchierte das Regiment ab, welchem Arno ſich hatte zuteilen laſſen. Um ſieben Uhr früh … ach, die vorhergehende Nacht … war das eine fürchterliche Nacht! Wäre der Teure auch nur auf eine gefahrloſe Geſchäftsreiſe gegangen, die Trennung hätte mich unſäglich traurig gemacht — Scheiden thut ja ſo weh — aber in den Krieg! Dem Feuerregen der feindlichen Geſchütze entgegen! … Warum konnte ich in jener Nacht bei dem Worte Krieg durchaus nicht mehr deſſen erhabene, hiſtoriſche Bedeutung erfaſſen, ſondern nur deſſen toddrohendes Grauſen? Arno war eingeſchlafen. Ruhig atmend, mit heiterem Geſichtsausdruck lag er da. Ich hatte eine friſche Kerze angezündet und hinter einen Schirm geſtellt: ich konnte heute nicht im Finſtern bleiben. Von Schlafen war ja für mich ohnehin keine Rede — in dieſer {letzten} Nacht. Da mußte ich ihm wenigſtens die ganze Zeit ins liebe Geſicht ſchauen. In einen Schlafrock gehüllt, lag ich auf unſerm Bette; den Ellbogen auf das Kiſſen, das Kinn in die Handfläche geſtützt, blickte ich auf den Schlummernden herab und weinte ſtill … „Wie lieb — wie lieb ich Dich habe, mein Einziger — und Du gehſt fort von mir … Warum iſt das Schickſal ſo grauſam? Wie werde ich leben ohne Dich? Daß Du mir nur bald wiederkehrſt! O Gott, mein guter Gott, mein barmherziger Vater dort oben — laß ihn bald zurückkommen — ihn und alle … Laß es bald Frieden ſein? … Warum kann es denn nicht immer Frieden ſein? … Wir waren ſo glücklich … zu glücklich wohl … es darf ja auf Erden kein vollkommenes Glück geben … O Seligkeit — wenn er unverſehrt heimkehrt und dann wieder ſo an meiner Seite liegt und für den kommenden Morgen kein Abſchied droht … Wie er ruhig ſchläft — o Du mein tapferer Schatz! Aber wie wirſt Du dort ſchlafen? Da gibt es kein weiches Bett für Dich — da mußt Du auf harter, naſſer Erde liegen … vielleicht in einem Graben — hilflos — verwundet …“ Bei dieſem Gedanken konnte ich nicht anders, als mir eine klaffende Säbelhiebwunde auf ſeiner Stirn vorſtellen, von der das Blut herabſickert, oder ein Kugelloch in ſeiner Bruſt … und ein heißer Mitleidsſchmerz ergriff mich. Wie gerne hätte ich meine Arme um ihn geſchlungen und ihn geküßt, aber ich durfte ihn nicht wecken; er brauchte dieſen ſtärkenden Schlaf. Nur noch ſechs Stunden … tik — tak — tik — tak: unbarmherzig ſchnell und ſicher geht die Zeit jedem Ziele entgegen. Dieſes gleichgültige Tick — Tack that mir weh. Auch das Licht brannte ebenſo gleichgültig hinter ſeinem Schirm, wie dieſe Uhr mit ihrem blöden regungsloſen Bronze-Amor tickte … Begriffen denn all dieſe Dinge nicht, daß dies die {letzte} Nacht war? Die thränenden Lider fielen mir zu, das Bewußtſein ſchwand allmählich, und den Kopf auf das Kiſſen ſinken laſſend, ſchlief ich dennoch ſelber ein. Aber immer nur auf kurze Zeit. Kaum verlor ſich mein Sinn in die Nebel eines formloſen Traumes, ſo krampfte mein Herz ſich plötzlich zuſammen und ich erwachte durch einen heftigen Schlag desſelben, mit dem gleichen Angſtgefühle, wie wenn man durch Hilferuf oder Feuerlärm geweckt wird … „Abſchied, Abſchied!“ hieß der Alarm. Als ich zum zehnten oder zwölften male ſo aus dem Schlummer auffuhr, war es Tag und die Kerze flackerte noch. Man klopfte an der Thür. „Sechs Uhr, Herr Oberlieutenant,“ meldete die Ordonnanz, welche Befehl erhalten hatte, rechtzeitig zu wecken. Arno richtete ſich auf … Jetzt alſo war die Stunde gekommen — jetzt würde es geſprochen werden, dieſes jammer-jammervolle Wort „Lebwohl“. Es war ausgemacht worden, daß ich ihn {nicht} zur Bahn begleiten würde. Die eine Viertelſtunde mehr oder weniger des Beiſammenſeins — auf die kam es nicht mehr an. Und das Leid der letzten Losreißung, das wollte ich nicht vor fremden Leuten bloßlegen; ich wollte allein in meinem Zimmer ſein, wenn der Abſchiedskuß getauſcht worden, um mich auf den Boden werfen — um ſchreien, laut ſchreien zu können. Arno kleidete ſich raſch an. Dabei ſprach er allerlei Tröſtliches auf mich ein: „Wacker, Martha! In längſtens zwei Monaten iſt die Geſchichte vorbei und ich bin wieder da. … Zum Kuckuck — von tauſend Kugeln trifft nur eine und die muß nicht gerade mich treffen. … Es ſind andere auch ſchon aus dem Krieg zurückgekommen: ſieh’ Deinen Papa. Einmal mußte es doch ſein. Du haſt doch keinen Huſarenoffizier in der Idee geheiratet, ſein Handwerk ſei die Hyazinthenzucht? Ich werde Dir oft ſchreiben, ſo oft als möglich, und Dir berichten, wie friſch und fröhlich die ganze Campagne vor ſich geht. Wenn mir was Schlimmes beſtimmt wäre, ſo könnte ich mich nicht ſo wohlgemut fühlen … einen Orden geh’ ich mir holen, weiter nichts. … Gib nur hier recht acht auf Dich ſelber und auf unſern Ruru — der, wenn ich avanciere, auch wieder um einen Grad vorrücken darf. Grüß ihn von mir … ich will den Abſchied von geſtern Abend nicht noch wiederholen. … Dem wird’s einmal ein Vergnügen ſein, wenn ihm ſein Vater erzählt, daß er im Jahr 59 bei den großen italieniſchen Siegen dabei geweſen.“ … Ich hörte ihm gierig zu. Dieſes zuverſichtliche Geplauder that mir wohl. Er ging ja gern und luſtig fort — mein Schmerz war alſo ein egoiſtiſcher, daher ein unberechtigter — dieſer Gedanke würde mir die Kraft geben, ihn zu überwinden. Wieder klopfte es an der Thüre. „Es iſt ſchon Zeit, Herr Oberlieutenant.“ „Bin ſchon fertig — komme gleich.“ Er breitete die Arme aus: „Alſo jetzt, Martha, mein Weib, mein Lieb —“ Schon lag ich an ſeiner Bruſt. Reden konnte ich nicht. Das Wort Lebewohl wollte mir nicht über die Lippen — ich fühlte, daß ich bei Äußerung dieſes Wortes zuſammenbrechen mußte, und die Ruhe, den Frohmut ſeiner Abfahrt durfte ich ja nicht vergällen. Den Ausbruch meines Schmerzes ſparte ich mir — wie eine Art Belohnung — auf das Alleinſein auf. Nunmehr aber ſprach er es, das herzzerreißende Wort: „Leb’ wohl, mein alles, leb wohl!“ und drückte innig ſeinen Mund auf den meinen. Wir konnten uns aus dieſer Umarmung garnicht losreißen — war es doch die letzte. Da plötzlich fühle ich, wie ſeine Lippen beben, ſeine Bruſt ſich krampfhaft hebt … und — mich freilaſſend, bedeckt er ſein Geſicht mit beiden Händen und ſchluchzt laut auf. Das war zu viel für mich. Ich glaubte wahnſinnig zu werden. „Arno, Arno,“ rief ich, ihn umklammernd: „Bleib, bleib!“ Ich wußte, daß ich unmögliches verlangte, doch rief ich hartnäckig: „Bleib, bleib!“ „Herr Oberlieutenant,“ kam es von draußen, „ſchon höchſte Zeit.“ Noch einen Kuß — den allerletzten — und er ſtürzte hinaus. 7. Erſtes Buch. 1859. // 7. Abſchnitt Charpie zupfen, Zeitungsberichte leſen, auf einer Landkarte Stecknadelfähnchen aufſtecken, um den Bewegungen der beiden Heere zu folgen und daraus Schachaufgaben, in der Faſſung von „Öſterreich zieht an und ſetzt mit dem vierten Zuge matt“ zu löſen trachten; in der Kirche fleißig um Schutz für ſeine Lieben und um den Sieg der vaterländiſchen Waffen beten; von nichts anderem reden als von den vom Kriegsſchauplatz eingetroffenen Nachrichten: — das war es, was meine und die Exiſtenz meiner Verwandten- und Bekanntenkreiſe nunmehr ausfüllte. Das Leben mit allen ſeinen übrigen Intereſſen ſchien für die Dauer des Feldzuges ſozuſagen in der Schwebe; alles bis auf die Frage „wie und wann wird der Krieg enden?“ war der Wichtigkeit, ja beinahe der Wirklichkeit beraubt. Man aß, man trank, man las, man beſorgte ſeine Geſchäfte, aber das alles „galt“ eigentlich nicht — nur eins war von vollgewichtiger Gültigkeit: die Telegramme aus Italien. Meine größten Lichtblicke waren ſelbſtverſtändlich die Nachrichten, welche ich von Arno ſelber erhielt. Dieſe waren ſehr kurz gefaßt — das Briefſchreiben iſt niemals ſeine ſtarke Seite geweſen —; aber ſie brachten mir doch das beglückendſte Zeugnis; noch am Leben — unverwundet. Sehr regelmäßig konnten dieſe Briefe und Depeſchen freilich nicht eintreffen, denn oft waren die Verbindungen abgebrochen, oder — wenn es irgendwo zur Aktion kam — der Feldpoſtdienſt aufgehoben. Wenn ſo einige Tage vergangen waren, ohne daß ich von Arno gehört, und es wurde eine Verluſtliſte veröffentlicht — mit welchem Bangen las ich da nicht die Namen durch! … Es iſt ſo ſpannend, wie für den Losbeſitzer das Durchſehen der Gewinnnummern einer Ziehungsliſte, aber in umgekehrtem Sinne: was man da ſucht, wohl wiſſend, daß man (Gott ſei Dank) die Wahrſcheinlichkeit gegen ſich hat, iſt der Haupttreffer des Unglücks … Das erſte Mal, als ich die Namen der Gefallenen durchgeleſen — ich war eben ſeit vier Tagen ohne Nachricht — und ſah, daß der Name „Arno Dotzky“ nicht darunter war, da faltete ich die Hände und ſprach mit lauter Stimme: „Mein Gott, ich danke Dir!“ Kaum aber waren die Worte geäußert, ſo klang es mir wie ein ſchriller Mißton daraus nach. Ich nahm das Blatt wieder zur Hand und betrachtete zum zweitenmal die Namenreihe. Alſo weil Adolf Schmidt und Karl Müller und viele andere — aber {nicht} Arno Dotzky — geblieben waren, hatte ich Gott gedankt? Derſelbe Dank wäre dann berechtigterweiſe von dem Herzen derer zum Himmel aufgeſtiegen, welche für Schmidt und Müller zittern, wenn ſie ſtatt dieſer Namen „Dotzky“ geleſen hätten? Und warum ſollte gerade {mein} Dank dem Himmel genehmer ſein als jener? Ja — das war der ſchrille Mißton meines Stoßgebetes geweſen: die {Anmaßung} und die {Selbſtſucht}, die darin lag, zu glauben, Dotzky ſei {mir} zu lieb verſchont geblieben, und Gott zu danken, daß nicht ich, ſondern nur Schmidts Mutter und Müllers Braut und fünfzig andere über dieſer Liſte weinend zuſammenbrechen … Am ſelben Tag erhielt ich wieder von Arno einen Brief: „Geſtern gab’s einen tüchtigen Kampf. Leider — leider eine Niederlage. Aber tröſte Dich, meine geliebte Martha, die nächſte Schlacht bringt uns den Sieg. Es war dies meine erſte große Affaire. Ich ſtand mitten in dichtem Kugelregen — ein eigenes Gefühl … das erzähle ich mündlich — es iſt {doch} furchtbar: die armen Kerle, die da um einen herum fallen und die man liegen laſſen muß, trotz ihres kläglichen Wimmerns. — „[c’est la guerre!]“ Auf baldiges Wiederſehen, mein Herz. Wenn wir einmal in Turin die Friedensbedingungen diktieren, dann kommſt Du mir nachgereiſt. Tante Marie wird indeſſen ſo gut ſein, über unſern kleinen Korporal zu wachen.“ Wenn der Empfang ſolcher Briefe die Sonnenblicke meines Daſeins abgab — die ſchwärzeſten Schatten desſelben waren meine Nächte. Wenn ich da aus ſelig vergeſſendem Traum erwachte und mir die entſetzliche Wirklichkeit mit ihrer entſetzlichen Möglichkeit vor das Bewußtſein trat, ſo erfaßte mich ſchier unerträgliches Leid und ich konnte ſtundenlang nicht wieder einſchlafen. Die Idee war nicht loszuwerden, daß Arno in dieſem Augenblick vielleicht ſtöhnend und ſterbend in einem Graben lag — nach einem Tropfen Waſſer lechzend — ſehnſüchtig nach mir rufend … Nur damit konnte ich mich allmählich beruhigen, daß ich mir mit aller Gewalt die Szene ſeiner Rückkunft vor die Einbildung rief. Die war ja ebenſo wahrſcheinlich — ſogar viel wahrſcheinlicher, als das verlaſſene Sterben — und da malte ich mir denn aus, wie er ins Zimmer hereinſtürmte und ich an ſein Herz flöge — wie ich ihn dann zu Rurus Wiege führte und wie glücklich und froh wir dann wieder ſein könnten …. Mein Vater war ſehr niedergeſchlagen. Es kam eine ſchlimme Nachricht nach der anderen. Zuerſt Montebello, dann Magenta. Nicht er allein — ganz Wien war niedergeſchlagen. Man hatte zu Anfang ſo zuverſichtlich gehofft, daß ununterbrochene Siegesbotſchaften Anlaß zu Häuſerbeflaggung und [Te deum] Abſingen geben würden; ſtatt deſſen wehten die Fahnen und ſangen die Prieſter in Turin. … Dort hieß es jetzt: „Herr Gott, wir loben Dich, daß Du uns geholfen haſt, die böſen [Tedeschi] zu ſchlagen.“ „Meinſt Du nicht, Papa,“ frug ich, „daß, wenn noch eine Niederlage für uns käme, dann Frieden geſchloſſen würde? In dieſem Falle könnte ich wünſchen, daß —“ „Schämſt Du Dich nicht, ſo etwas zu ſagen? Lieber ſoll es ein ſiebenjähriger — ſoll es ein dreißigjähriger Krieg werden, nur ſollen ſchließlich unſere Waffen ſiegen und {wir} die Friedensbedingungen diktieren. Wozu geht man denn in den Krieg, doch nicht dazu, daß er baldmöglichſt aus ſei — ſonſt könnte man von vornherein zu Hauſe bleiben.“ „Das wäre wohl das beſte,“ ſeufzte ich. „Was ihr Weibervolk doch feige ſeid! Selbſt Du — die Du ſo gute Grundſätze von Vaterlandsliebe und Ehrgefühl erhalten — biſt jetzt ganz verzagt und ſchätzeſt Deine perſönliche Ruhe höher als die Wohlfahrt und den Ruhm des Landes.“ „Ja — wenn ich meinen Arno nicht gar ſo lieb hätte!“ … „Gattenliebe — Familienliebe — das iſt alles recht ſchön … aber es ſoll erſt in zweiter Linie kommen.“ „{Soll es?}“ … 8. Erſtes Buch. 1859. // 8. Abſchnitt Die Verluſtliſte hatte ſchon mehrere Namen von Offizieren gebracht, die ich perſönlich gekannt hatte. Unter anderen des Sohnes — des einzigen — einer alten Dame, für die ich eine große Verehrung empfand. An jenem Tage wollte ich die Ärmſte aufſuchen. Es war mir ein peinlicher, ſchwerer Gang. Tröſten konnte ich ſie doch nicht — höchſtens mitweinen. Aber es war eine Liebespflicht — und ſo machte ich mich denn auf den Weg. Vor der Wohnung der Frau v. Ullsmann angelangt, zögerte ich lange, ehe ich die Glocke zog. Das letzte Mal, daß ich hierher gekommen, war es zu einer luſtigen kleinen Tanzunterhaltung geweſen. Die liebenswürdige alte Hausfrau war damals ſelber voller Luſtigkeit. „Martha,“ hatte ſie mir im Laufe des Abends geſagt, „wir ſind die beiden beneidenswerteſten Frauen Wiens: Du haſt den hübſcheſten Mann und ich den trefflichſten Sohn.“ — Und heute? Da beſaß ich wohl noch meinen Mann … Wer weiß? Die Bomben und Granaten flogen ja dort unabläſſig; die letzte Minute konnte mich zur Witwe gemacht haben … Und ich fing vor der Thür zu weinen an. — Das war die richtige Verfaſſung für ſolch traurigen Beſuch. Ich klingelte, Niemand kam. Ich klingelte ein zweites Mal. Wieder nichts. Da ſtreckte jemand aus einer anderen Flurthür den Kopf heraus: „Sie läuten umſonſt, Fräulein — die Wohnung iſt leer.“ „Wie? iſt Frau v. Ullsmann fortgezogen?“ „Vor drei Tagen in die Irrenanſtalt überführt worden.“ Und der Kopf war hinter der zufallenden Thür wieder verſchwunden. Ein paar Minuten blieb ich regungslos auf demſelben Flecke ſtehen und vor meinem inneren Auge ſpielten ſich die Szenen ab, die hier ſtattgefunden haben mochten. Bis zu welchem Grade mußte die arme Frau gelitten haben, bis daß ihr Schmerz in Wahnſinn ausbrach! „Und da wollte mein Vater, daß der Krieg dreißig Jahre währte — für das Wohl des Landes … wie viele ſolcher Mütter mußten da noch im Lande verzweifeln?“ Aufs tiefſte erſchüttert ging ich die Treppe herab. Ich beſchloß, noch einen anderen Beſuch bei einer befreundeten jungen Frau abzuſtatten, deren Gatte gleich dem meinen auf dem Kriegsſchauplatz war. Mein Weg führte mich durch die Herrengaſſe an dem Gebäude — das ſogenannte Landhaus — vorbei wo der „patriotiſche Hilfsverein“ ſeine Büreaus untergebracht hatte. Damals gab es noch keine Genfer Konvention, kein „Rotes Kreuz“, und als Vorbote jener humanen Inſtitutionen hatte ſich dieſer Hilfsverein gebildet, deſſen Aufgabe es war, allerlei Spenden in Geld, Wäſche, Charpie, Verbandszeug u._ſ._w. für die armen Verwundeten in Empfang zu nehmen und nach dem Kriegsſchauplatz zu befördern. Von allen Seiten kamen die Gaben reichlich gefloſſen; ganze Magazine mußten zur Aufnahme derſelben dienen; und kaum waren die verſchiedenen Vorräte verpackt und fortgeſchickt, da türmten ſich wieder neue auf. Ich trat ein; es drängte mich, die Summe, die ich in meiner Geldbörſe trug, dem Komitee zu überreichen. Vielleicht konnte dieſelbe einem leidenden Soldaten Hilfe und Rettung bringen — und deſſen Mutter vor Wahnſinn bewahren. Ich kannte den Präſidenten. „Iſt Fürſt C. anweſend?“ fragte ich den Portier. „Im Augenblick nicht. Nur der Vizepräſident Baron S. iſt oben.“ Er zeigte mir den Weg nach dem Lokale, wo die Geldſpenden abgegeben wurden. Ich mußte durch mehrere Säle gehen, wo auf langen Tiſchen die Pakete an einander gereiht lagen. Stöße von Wäſcheſtücken, Cigarren, Tabak — und namentlich Berge von Charpie … Mir ſchauderte. Wie viel Wunden mußten da bluten, um mit ſo viel gezupfter Leinwand bedeckt zu werden? „Und da wollte mein Vater,“ dachte ich wieder, „daß zum Wohle des Landes der Krieg noch dreißig Jahre dauere? Wie viel Söhne des Landes müßten da noch ihren Wunden erliegen?“ Baron S. nahm meine Gabe dankend in Empfang und erteilte mir auf meine verſchiedenen Fragen über die Wirkſamkeit des Vereins bereitwilligſt Auskunft. Es war erfreulich und tröſtlich zu hören, wie viel des Guten da geſchah. Soeben kam der Poſtbote mit eingelaufenen Briefen herein und meldete, daß zwei Schubkarren voll Sendungen aus den Provinzen abzugeben ſeien. Ich ſetze mich auf ein im Hintergrund des Zimmers ſtehendes Sofa, um das Hereintragen der Pakete abzuwarten. Dieſelben wurden jedoch in einem anderen Raume abgegeben. Jetzt trat ein ſehr alter Herr herein, dem man an der Haltung den einſtigen Militär anſah. „Erlauben Sie, Herr Baron,“ ſagte er, indem er ſeine Brieftaſche hervorzog und ſich auf einen neben dem Tiſche ſtehenden Seſſel niederließ, „erlauben Sie, daß auch ich mein kleines Scherflein zu Ihrem ſchönen Werke beitrage.“ Er reichte eine Hundertgulden-Note hin. „Ich betrachte Sie alle, die Sie das organiſiert haben, als wahre Engel … Sehen Sie, ich bin ſelber ein alter Soldat (Feldmarſchall-Lieutenant X ſchaltete er, ſich vorſtellend, ein) und kann es beurteilen, was für eine enorme Wohlthat den armen Kerlen geſchieht, die ſich dort ſchlagen … Ich habe die Feldzüge von anno 9 und anno 13 mitgemacht — da hat’s noch keine „patriotiſchen Hilfsvereine“ gegeben; da hat man den Verwundeten keine Kiſten voll Verbandzeug und Charpie nachgeſchickt. — Wie viele mußten da, wenn die Vorräte der Feldſcherer erſchöpft waren, jämmerlich verbluten, die durch eine Sendung, wie dieſe hier, hätten gerettet werden können! Das iſt eine ſegensreiche Arbeit, die Eure — Ihr guten edlen Menſchen — Ihr wißt gar nicht, Ihr wißt gar nicht, {wie} viel Gutes Ihr da thut!“ Und dem alten Manne fielen zwei große Thränen auf den weißen Schnurrbart herab. Draußen erhob ſich ein Lärm von Schritten und Stimmen. Beide Flügel der Eingangsthüre wurden aufgeriſſen und ein Gardiſt meldete: „Ihre Majeſtät die Kaiſerin.“ Der Vizepräſident eilte zur Thür hinaus, um die hohe Beſucherin, wie geziemend, am Fuße der Treppe zu empfangen, doch ſie war ſchon im Nebenſaal angelangt. Ich ſchaute von meinem verborgenen Plätzchen mit Bewunderung nach der jugendlichen Monarchin, die mir im einfachen Straßenkleide beinahe noch lieblicher erſchien, als in den Prunkroben der Hoffeſte. „Ich bin gekommen,“ ſagte ſie zu Baron S., „weil ich heute früh einen Brief des Kaiſers vom Kriegsſchauplatz erhalten habe, worin er mir ſchreibt, wie nützlich und willkommen die Gaben des „patriotiſchen Hilfsvereins“ ſich erweiſen — und da wollte ich ſelbſt Einſicht nehmen … und das Komitee von der Anerkennung des Kaiſers in Kenntnis ſetzen.“ Hierauf ließ ſie ſich von allen Einzelheiten der Vereinsthätigkeit unterrichten und betrachtete eingehend die verſchiedenen aufgeſtapelten Gegenſtände. „Sehen Sie nur, Gräfin,“ ſagte ſie zu der ſie begleitenden Oberſthofmeiſterin, indem ſie ein Wäſcheſtück zur Hand nahm, „wie gut dieſe Leinwand iſt — und wie hübſch genäht.“ Dann bat ſie den Vizepräſidenten, ſie noch in die anderen Räume zu geleiten und verließ an ſeiner Seite den Saal. Sie ſprach mit ſichtlicher Zufriedenheit zu ihm und ich hörte ſie noch ſagen: „Es iſt ein ſchönes, patriotiſches Unternehmen, welches den armen Soldaten —“ Den Reſt verſtand ich nicht mehr. „Arme Soldaten —“ das Wort klang mir noch lange nach, ſie hatte es ſo mitleidsvoll betont. Ja wohl, {arm}; und je mehr man that, ihnen Troſt und Hilfe zu ſenden, deſto beſſer. Aber wie — flog es mir durch den Kopf — wenn man ſie gar nicht hinſchicken würde in all den Jammer, die armen Leute: wäre das nicht noch viel beſſer?“ „Ich verſcheuchte dieſen Gedanken … es muß ja ſein — es muß ja ſein. Andere Entſchuldigung gibt es für das Greuel des Kriegführens keine, als die das Wörtlein „muß“ enthält. Nun ging ich wieder meiner Wege. Die Freundin, die ich beſuchen wollte, wohnte ganz nahe vom „Landhaus“ — auf dem Kohlmarkt. Im Vorübergehen trat ich in eine Buch- und Kunſthandlung, um eine neue Karte Oberitaliens zu kaufen; die unſere war von den fähnchengekrönten Stecknadeln ſchon ganz durchlöchert. Außer mir waren noch mehrere Kunden anweſend. Alle verlangten nach Karten, Schematismen und dergleichen. Nun kam die Reihe an mich. „Auch ein Kriegsſchauplatz gefällig?“ fragte der Buchhändler. „Sie haben es erraten.“ „Das iſt nicht ſchwer. Es wird ja beinahe nichts anderes gekauft.“ Er holte das Gewünſchte herbei, und während er die Rolle für mich in ein Papier ſchlug, ſagte er zu einem neben mir ſtehenden Herrn: „Sehen Sie, Herr Profeſſor, jetzt geht es jenen ſchlecht, welche belletriſtiſche oder wiſſenſchaftliche Werke ſchreiben, oder verlegen — es fragt kein Menſch darnach. So lange der Krieg währt, intereſſiert ſich niemand für das geiſtige Leben. Das iſt für Schriftſteller und Buchhändler eine ſchlimme Zeit.“ „Und eine ſchlimme Zeit für die Nation,“ entgegnete der Profeſſor, „bei welcher ſolche Intereſſeloſigkeit natürlich geiſtigen Niedergang zur Folge hat.“ Und da wollte mein Vater — dachte ich zum drittenmale — daß zum Wohle des Landes dreißig Jahre lang … „So gehen Ihre Geſchäfte ſchlecht?“ miſchte ich mich jetzt laut in die Unterhaltung. „Nur meine? Alle, faſt alle, meine Gnädige,“ antwortete der Buchhändler. „Mit Ausnahme der Armeelieferanten gibt es keinen Geſchäftsmann, dem der Krieg nicht unberechenbaren Schaden brächte. Alles ſtockt: die Arbeit in den Fabriken, die Arbeit auf den Feldern, unzählige Menſchen werden verdienſt- und brodlos. Die Papiere fallen, das Agio ſteigt, alle Unternehmungsluſt verſiegt, zahlreiche Firmen müſſen Bankerott erklären — kurz, es iſt ein Elend — ein Elend!“ „Und da wollte mein Vater —“ wiederholte ich im Stillen, während ich den Laden verließ. 9. Erſtes Buch. 1859. // 9. Abſchnitt Meine Freundin fand ich zu Hauſe. Gräfin Lori Griesbach war in mehr als einer Hinſicht meine Schickſalsgenoſſin, Generalstochter, wie ich, kurze Zeit an einen Offizier verheiratet, wie ich, und — wie ich — Strohwitwe. In einem übertrumpfte ſie mich: ſie hatte nicht nur ihren Mann, ſondern auch noch zwei Brüder im Krieg. Aber Lori war keine ängſtliche Natur; ſie war vollkommen überzeugt, daß ihre Lieben unter dem beſonderen Schutze eines von ihr ſehr verehrten Heiligen ſtanden, und ſie rechnete zuverſichtlich auf deren Wiederkehr. Sie empfing mich mit offenen Armen. „Ach, grüß’ Dich Gott, Martha — das iſt wunderhübſch von Dir, daß Du mich aufſuchſt. — Aber Du ſiehſt gar ſo bleich und gedrückt aus … doch keine ſchlimme Nachricht vom Kriegsſchauplatze?“ „Nein, Gott ſei Dank. Aber das Ganze iſt doch ſo traurig —“ „Ja ſo — Du meinſt die Niederlage? Da mußt Du Dir nichts daraus machen, die nächſten Berichte können einen Sieg vermelden.“ „Siegen oder beſiegt werden — der Krieg an und für ſich iſt ſchon ſchrecklich … Wäre es nicht beſſer, wenn es gar keinen ſolchen gäbe?“ „Wozu wäre denn da das Militär da?“ „Ja, wozu?“ Ich ſann nach. „Dann gäb’ es keins.“ „Was Du für Unſinn ſprichſt! Das wäre eine ſchöne Exiſtenz — lauter Civiliſten — mir ſchaudert! Das iſt zum Glück unmöglich.“ „Unmöglich? Du mußt recht haben. Ich {will} es glauben — ſonſt könnte ich nicht faſſen, daß es nicht ſchon längſt geſchehen.“ „Was geſchehen?“ „Die Abſchaffung des Krieges. Doch nein: ebenſogut könnte ich ſagen, man ſolle das Erdbeben abſchaffen …“ „Ich weiß nicht, was Du meinſt. Was mich anbelangt, ſo bin ich froh, daß dieſer Krieg ausgebrochen, weil ich hoffe, daß ſich mein Ludwig auszeichnen wird. Auch für meine Brüder iſt es eine gute Sache. Das Avancement ging ſchon ſo langſam von ſtatten, jetzt haben ſie doch eine Chance —“ „Haſt Du kürzlich Nachricht erhalten,“ unterbrach ich. „Sind die Deinen alle heil?“ „Eigentlich ſchon ziemlich lange nicht. Aber Du weißt, wie der Poſtverkehr oft unterbrochen iſt, und wenn man von einem heißen Marſch- oder Schlachttag ſo recht müde geworden, hat man auch nicht viel Luſt zum Schreiben. Ich bin ganz ruhig. Sowohl Ludwig als meine Brüder tragen geweihte Amulette — Mama hat ſie ihnen ſelber umgehängt“ … „Wie ſtellſt Du Dir denn einen Krieg vor, Lori, wo in beiden Heeren jeder Mann ein Amulett trüge? Wenn da die Kugeln hin und her fliegen, werden ſie ſich harmlos in die Wolken zurückziehen?“ „Ich verſteh’ Dich nicht. Du biſt ſo lau im Glauben. Das klagt mir öfters Deine Tante Marie.“ „Warum beantworteſt Du meine Frage nicht?“ „Weil in ihr ein Spott auf eine Sache liegt, die mir heilig iſt.“ „Spott? Nicht doch … Einfach eine vernünftige Erwägung.“ „Du weißt doch, daß es Sünde iſt, der eigenen Vernunft die Kraft zuzutrauen, in Dingen urteilen zu wollen, die über ſie erhaben ſind.“ „Ich ſchweige ſchon, Lori. Du kannſt recht haben: das Nachdenken und Grübeln taugt nicht … Seit einiger Zeit ſteigen mir ſo allerlei Zweifel an meinen älteſten Überzeugungen auf, und ich empfinde dabei nur Qual. Wenn ich die Überzeugung verlöre, daß es unbedingt notwendig und gut war, dieſen Krieg zu beginnen, ſo könnte ich jenen nicht verzeihen, welche —“ „Du meinſt Louis Napoleon? Das iſt freilich ein Intrigant.“ „Ob dieſer oder andere — ich wollte unerſchüttert glauben, daß es überhaupt keine Menſchen waren, die den Krieg veranlaßt haben, ſondern, daß er von ſelber „ausgebrochen“ — ausgebrochen wie das Nervenfieber, wie das Veſuvfeuer —“ „Wie Du exaltirt biſt, mein Schatz. Laß uns doch vernünftig reden. Alſo hör’ mich an. In kurzem wird die Campagne ein Ende haben und unſere beiden Männer kommen als Rittmeiſter zurück … Ich werde den meinen dann zu bewegen trachten, daß er einen vier- oder ſechswöchentlichen Urlaub nehme, um mit mir ins Bad zu reiſen. Es wird ihm gut thun nach ſeinen ausgeſtandenen Strapazen und auch mir, nach der ausgeſtandenen Hitze, Langeweile und Bangigkeit. Denn Du mußt nicht glauben, daß ich gar keine Angſt habe … Es könnte doch Gottes Wille ſein, daß einer meiner Lieben den Soldatentod finde — und wenn es auch ein ſchöner, beneidenswerter Tod iſt … auf dem Felde der Ehre … für Kaiſer und Vaterland —“ „Du ſprichſt ja wie der erſte beſte Armeebefehl.“ „Es wäre doch ſchrecklich … die arme Mama, wenn Guſtav oder Karl etwas zuſtoßen würde … Reden wir nicht davon! Alſo, um uns von all dem Schreck zu erholen, gilt es, eine amüſante Badeſaiſon durchmachen … Am liebſten in Karlsbad — dort bin ich einmal als Mädchen geweſen und habe mich göttlich unterhalten.“ „Und ich war in Marienbad … Dort habe ich Arno kennen gelernt … Aber warum ſitzen wir ſo müßig da? Haſt Du nicht etwas Leinwand zur Hand, daß wir Charpie zupfen? Ich war heute im „patriotiſchen Hilfsverein“ und da kam — rate wer?“ Hier wurden wir unterbrochen. Ein Diener brachte einen Brief herein. „Von Guſtav!“ rief Lori freudig, indem ſie das Siegel brach. Nachdem ſie ein paar Zeilen geleſen, ſtieß ſie einen Schrei aus; das Blatt entfiel ihren Händen und ſie warf ſich an meinen Hals. „Lori — mein armes Herz, was iſt’s?“ fragte ich tief ergriffen — „Dein Mann? …“ „O Gott, o Gott,“ ſtöhnte ſie. „Lies ſelber …“ Ich hob das Blatt vom Boden auf und begann zu leſen. Ich kann den Wortlaut genau wiedergeben, denn in der Folge habe ich den Brief von Lori mir erbeten, um deſſen Inhalt in mein Tagebuch zu übertragen. „Lies laut,“ bat ſie — „ich habe nicht zu Ende kommen können.“ Ich that nach ihrem Wunſche. „Liebſte Schweſter! Geſtern hatten wir eine heiße Schlacht — das wird eine große Verluſtliſte geben. Damit Du — damit unſere arme Mutter nicht aus dieſer das Unglück erfährt und damit Du ſie langſam vorbereiten könnteſt (ſag’, er ſei ſchwer verwundet) ſchreibe ich Dir lieber gleich, daß zu den für das Vaterland gefallenen Kriegern auch unſer tapferer Bruder Karl zählt.“ Ich unterbrach mich, um die Freundin zu umarmen. „Bis dahin war ich gekommen,“ ſagte ſie leiſe. Mit thränenerſtickter Stimme las ich weiter. „Dein Mann iſt unverſehrt und ſo auch ich. Hätte die feindliche Kugel doch lieber mich getroffen: ich beneide Karl um ſeinen Heldentod — er fiel zu Anfang der Schlacht, und weiß nicht, daß dieſe wieder — verloren iſt. Das iſt gar zu bitter. Ich habe ihn fallen geſehen, denn wir ritten nebeneinander. Ich ſprang gleich ab, um ihn aufzuheben — nur noch einen Blick und er war tod. Die Kugel muß ihm durch Herz oder Lunge gedrungen ſein! es war ein ſchnelles, ſchmerzloſes Ende. Wie viele andere mußten ſtundenlang leiden und mitten im Toben der Schlacht hilflos daliegen, bis ſie der Tod erlöſte. Das war ein mörderiſcher Tag — mehr als tauſend Leichen — Freund und Feind — bedeckten die Wahlſtatt. Ich habe unter den Toten ſo manches liebe, bekannte Geſicht erkannt — das iſt unter anderen auch der arme — (hier mußte die Seite umgewendet werden) der arme Arno Dotzky —“ Ich fiel ohnmächtig zu Boden. 10. Erſtes Buch. 1859. // 10. Abſchnitt „Jetzt iſt alles aus, Martha! Solferino hat entſchieden: wir ſind geſchlagen.“ Mit dieſen Worten kam mein Vater eines Morgens auf das Gartenplätzchen geeilt, wo ich unter den Schatten einer Lindengruppe ſaß. Ich war mit meinem kleinen Rudolf in mein Mädchenheim zurückgekehrt. Acht Tage nach dem großen Schlage, der mich getroffen, überſiedelte meine Familie nach Grumitz, unſerm Landſitz in Niederöſterreich, und ich mit ihr. Allein hätte ich ja verzweifeln müſſen. Jetzt waren ſie wieder alle um mich, wie vor meiner Verheiratung: mein Vater, Tante Marie, mein kleiner Bruder und meine zwei aufblühenden Schweſtern. Sie alle thaten, was ſie nur konnten, meinen Kummer zu lindern und behandelten mich mit einer Art Hochachtung, die mir wohlthat. In meinem traurigen Schickſal lag für ſie offenbar eine gewiſſe Weihe, etwas, was mich über meine Umgebung erhob — ſelbſt eine Gattung Verdienſt. Neben dem Blute, das die Soldaten auf dem Altar des Vaterlandes vergießen, bilden ja die am ſelben Altar vergoſſenen Thränen der beraubten Soldatenmütter, Frauen und Bräute die nächſte heilige Libation. So war es auch ein leiſes Stolzgefühl — ein Bewußtſein, daß es ſozuſagen eine militäriſche Würde vorſtellt, einen geliebten Mann auf dem Felde der Ehre verloren zu haben, welches mir meinen Schmerz am beſten tragen half. Und ich war ja nicht die einzige. Wie Viele, Viele im ganzen Land trauerten jetzt um ihre in italieniſcher Erde ruhenden Lieben … Nähere Einzelheiten über Arnos Ende ſind mir damals nicht bekannt geworden; man hat ihn tot aufgefunden, agnosziert, begraben, das war alles, was ich wußte. Sein letzter Gedanke war gewiß zu mir und zu unſerem kleinen Liebling geflogen, und ſein Troſt im letzten Augenblick muß das Bewußtſein geweſen ſein: Ich habe meine Pflicht — mehr als meine Pflicht gethan. „Wir ſind geſchlagen,“ wiederholte mein Vater, düſter, indem er ſich neben mich auf die Gartenbank ſetzte. „Alſo wurden die Geopferten umſonſt geopfert,“ ſeufzte ich. „Die Geopferten ſind zu beneiden, weil ſie von der Schmach nichts wiſſen, die uns getroffen hat. Aber wir werden uns ſchon noch aufraffen, wenn auch jetzt — wie es heißt — Friede geſchloſſen werden ſoll —“ „Ah, Gott geb’s!“ unterbrach ich. „Für mich Arme freilich zu ſpät … aber ſo werden doch tauſend andere verſchont.“ „Du denkſt immer nur an Dich und an die einzelnen Menſchen. Aber in dieſer Frage handelt es ſich um Öſterreich.“ „Und beſteht dieſes nicht aus lauter einzelnen Menſchen?“ „Mein Kind, ein Reich, ein Staat lebt ein längeres und wichtigeres Leben, als die Individuen. Dieſe ſchwinden, Generation um Generation, und das Reich entfaltet ſich weiter; wächſt zu Ruhm, Größe und Macht, oder ſinkt und ſchrumpft zuſammen und verſchwindet, wenn es ſich von anderen Reichen beſiegen läßt. Darum iſt das Wichtigſte und Höchſte, was jeder Einzelne erſtreben muß und wofür er jederzeit gern ſterben ſoll, die Exiſtenz, die Größe, die Wohlfahrt des Reiches.“ Dieſe Worte prägte ich mir ein, um ſie am ſelben Tag in den roten Heften zu notieren. Sie ſchienen mir ſo kräftig und bündig dasjenige auszudrücken, was ich in meiner Lernzeit aus den Geſchichtsbüchern herausgefühlt hatte, und was mir in der letzten Zeit — ſeit Arnos Abmarſch — durch Angſt und Mitleid aus dem Bewußtſein verdrängt worden war. Daran wollte ich mich wieder ſo feſt wie möglich klammern, um in der Idee Troſt und Erhebung zu finden, daß mein Liebſter um einer großen Sache willen gefallen, daß mein Unglück ſelber ein Beſtandteil dieſer großen Sache war. Tante Marie hatte wieder andere Troſtgründe zur Hand. „Weine nicht, liebes Kind,“ pflegte ſie zu ſagen, wenn ſie mich in Trauer verſunken fand. „Sei nicht ſo ſelbſtſüchtig, denjenigen zu beklagen, dem es jetzt ſo wohl geht. Er iſt unter den Seligen und ſieht ſegnend auf Dich herab. Noch ein paar ſchnell verfloſſene Erdenjahre und Du findeſt ihn wieder in ſeiner vollen Glorie. Für die, welche auf dem Schlachtfeld bleiben, bereitet den Himmel ſeine ſchönſten Wohnungen … Glücklich ſolche, die in dem Augenblicke abberufen werden, wo ſie eine heilige Pflicht erfüllen. Dem ſterbenden Märtyrer ſteht der ſterbende Soldat an Verdienſt am nächſten.“ „Ich ſoll mich alſo freuen, daß Arno —“ „Freuen: nein — das wäre zu viel verlangt. Aber Dein Schickſal mit demütiger Ergebung tragen. Es iſt eine Prüfung, die Dir der Himmel ſchickt und aus der Du geläutert und im Glauben geſtärkt hervorgehen wirſt.“ „Alſo damit {ich} geprüft und geläutert werde, mußte Arno —“ „Nicht deshalb — doch wer kann, wer darf die verſchlungenen Wege der Vorſehung ergründen wollen? Ich ſicher nicht.“ Obwohl mir gegen Tante Mariens Tröſtungen immer derlei Einwendungen entſchlüpften, ſo gab ich mich im Grund der Seele doch gern der myſtiſchen Auffaſſung hin, daß mein Verklärter jetzt im Himmel den Lohn ſeines Opfertodes genießt, und daß ſein Andenken unter den Menſchen mit der unvergänglichen Glorie der Heldenhaftigkeit geſchmückt iſt. Wie erhebend — wenngleich ſchmerzlich — hatte die große Trauerceremonie auf mich gewirkt, welcher ich, am Tage vor unſrer Abreiſe, im Stefansdom beigewohnt. Es war ein [De profundis] für unſere auf fremder Erde gefallenen und dort begrabenen Krieger. In der Mitte der Kirche war ein hoher Katafalk aufgeſtellt, von hunderten brennender Wachslichter umgeben und mit militäriſchen Emblemen — Fahnen, Waffen — geſchmückt. Vom Chor herab klang das rührend geſungene Requiem, und die Anweſenden — meiſt ſchwarzgekleidete Frauen — weinten faſt alle laut. Und jede weinte nicht nur um den Einen, den ſie verloren, ſondern um alle Anderen, die denſelben Tod gefunden: ſie hatten ja alle zuſammen, die armen, tapferen Waffenbrüder, für uns Alle, das heißt für ihr Land, für die Ehre der Nation ihr junges Leben hingegeben. Und die lebenden Soldaten, die dieſer Feier beiwohnten, — ſämtliche in Wien zurückgebliebenen Generäle und Offiziere waren da, und mehrere Compagnien Mannſchaft führten den Hintergrund — dieſe alle waren gewärtig und bereit, ihren gefallenen Kameraden zu folgen ohne Zaudern, ohne Murren, ohne Furcht … Ja, mit den Weihrauchwolken, mit dem Geläute und den Orgeltönen, mit den in einem gemeinſamen Schmerz vergoſſenen Thränen ſtieg da ſicherlich ein wohlgefälliges Opfer zum Himmel auf und der Herr der Heerſchaaren mußte ſeinen Segen träufeln auf jene, denen dieſer Katafalk errichtet war … So dachte ich damals. Wenigſtens ſind dies die Worte, mit welchen die roten Hefte die Trauerfeier beſchreiben. Ungefähr vierzehn Tage ſpäter als die Nachricht von der Niederlage bei Solferino, kam die Nachricht von der Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Villafranca. Mein Vater gab ſich alle mögliche Mühe, mir zu erklären, daß es aus politiſchen Gründen zwingend notwendig war, dieſen Frieden zu ſchließen; worauf ich verſicherte, daß es mir auf jeden Fall erfreulich ſchien, wenn das böſe Kämpfen und Sterben ein Ende fand; aber der gute Papa ließ es ſich nicht nehmen, mir entſchuldigende Auseinanderſetzungen zu unterbreiten: „Du mußt nicht glauben, daß wir Angſt haben … Wenn es auch den Anſchein hat, als machten wir Konzeſſionen, wir vergeben unſerer Würde nichts und wiſſen ſchon, was wir thun. Wenn es ſich um uns allein handelte, ſo hätten wir wegen dieſes kleinen Schachs in Solferino die Partie nicht aufgegeben. O nein, noch lange nicht. Wir brauchten nur noch ein Armeekorps hinunter zu ſchicken, und der Feind müßte Mailand ſchnell wieder räumen … Aber weißt Du, Martha, es handelt ſich um andere allgemeine Intereſſen und Prinzipien. Wir verzichten jetzt darauf, uns weiter zu ſchlagen, um die anderen bedrohten italieniſchen Fürſtentümer zu bewahren, welche der ſardiniſche Räuberhauptmann ſamt ſeinem franzöſiſchen Henkersbeiſtand auch gern überfallen wollte. Gegen Modena, Toskana — wo, wie Du weißt, mit unſerem Kaiſerhaus verwandte Dynaſtien regieren — ja ſogar gegen Rom, gegen den Papſt wollen ſie ziehen — die Vandalen. Wenn wir nun vorläufig die Lombardei hergeben, ſo erhalten wir uns damit Venetien und können den ſüditalieniſchen Staaten und dem heiligen Stuhl unſere Stütze gewähren. Du ſiehſt alſo ein, daß wir aus rein politiſchen Gründen und im Intereſſe des europäiſchen Gleichgewichts —“ „Ja, Vater,“ unterbrach ich, „ich ſehe es ein. Ach hätten dieſe Gründe doch ſchon vor Magenta gewaltet!“ fügte ich bitter ſeufzend hinzu. Dann, um abzulenken, zeigte ich auf ein Bücherpaket, das heute aus Wien eingetroffen war. „Schau’ her: der Buchhändler ſchickt uns verſchiedene Sachen zur Anſicht. Darunter ein eben erſchienenes Werk eines engliſchen Naturforſchers, eines gewiſſen Darwin: „[The Origin of Species]“ — und er macht uns aufmerkſam, daß dies beſonders intereſſant ſei und geeignet, epochemachend zu wirken.“ „Er ſoll mich auslaſſen, der gute Mann. Wer ſoll ſich in einer ſo wichtigen Zeit, wie die gegenwärtige, für derlei Lappalien intereſſieren? Was kann denn in einem Buch über Tier- und Pflanzenarten Epochemachendes für uns Menſchen enthalten ſein? Ja, die Konföderation der italieniſchen Staaten, die Hegemonie Öſterreichs im deutſchen Bunde: das ſind weittragende Dinge; die werden noch lange in der Geſchichte beſtehen, wenn von dieſem engliſchen Buch da kein Menſch mehr etwas wiſſen wird. Merk’ Dir das.“ Ich habe es mir gemerkt. 11. Zweites Buch. Friedenszeit. // 1. Abſchnitt Vier Jahre ſpäter. Meine beiden — nunmehr ſiebzehn- und achtzehnjährigen Schweſtern — ſollten bei Hofe vorgeſtellt werden. Aus dieſem Anlaß entſchloß auch ich mich, wieder „in die Welt“ zu gehen. Die verſtrichene Zeit hatte ihr Werk gethan und meinen Schmerz allmählich gelindert. Die Verzweiflung wandelte ſich in Trauer, die Trauer in Wehmut, die Wehmut in Gleichgültigkeit und dieſe endlich in erneute Lebensfreudigkeit. Ich erwachte eines ſchönen Morgens zum Bewußtſein, daß ich eigentlich in einer beneidenswerten, glückverheißenden Lage mich befand: dreiundzwanzig Jahre alt, ſchön, reich, hochgeſtellt, frei, Mutter eines allerliebſten Knaben, Glied einer liebenden Familie — waren das nicht Bedingungen, genug, um des Lebens froh zu werden? Das kurze Jahr meines Ehelebens lag hinter mir wie ein Traum. Ja — ich war in meinen ſchönen Huſaren ſterblich verliebt geweſen; ja — mein zärtlicher Mann hatte mich ſehr glücklich gemacht; ja — die Trennung hatte mir großen Kummer, ſein Verluſt wilden Schmerz bereitet — aber das war vorbei, vorbei. So innig mit meinem ganzen Seelenleben verwachſen, daß ich eine Zerreißung nicht hätte überleben, nicht verſchmerzen können, war ja meine Liebe nicht geweſen: dazu hatte unſer Zuſammenſein zu kurz gedauert. Wir hatten uns angebetet, wie ein paar feurige Verliebte; aber Herz in Herz, Geiſt in Geiſt aufgegangen, in gegenſeitiger Hochachtung und Freundſchaft feſt verbunden, wie dies manche Eheleute nach langen Jahren geteilter Leiden und Freuden ſind, — das waren wir beide nicht geweſen. Auch ich war ja ſein Höchſtes, ſein Unentbehrlichſtes nicht; wäre er ſonſt ſo frohgemut und ohne zwingende Pflicht — {ſein} Regiment hat niemals ausrücken müſſen — fort von mir? Zudem war ich in den vier Jahren allmählich eine Andere geworden; mein geiſtiger Geſichtskreis hatte ſich in vielem erweitert; ich war in den Beſitz von Kenntniſſen und Anſchauungen gelangt, von welchen ich zur Zeit meiner Verheiratung keine Ahnung gehabt und von welchen auch Arno — das wußte ich jetzt zu beurteilen — ſich keinen Begriff gemacht und ſo hätte er meinem jetzigen Seelenleben — wäre er auferſtanden — in mancher Richtung fremd gegenüber geſtanden. Wieſo dieſe Wandlung mit mir geſchehen? Das iſt ſo gekommen: Ein Jahr meiner Witwenſchaft war verſtrichen, die Verzweiflung — erſte Phaſe — in Trauer übergegangen. Aber noch in eine ſehr tiefe, herzblutende Trauer. Von einer Wiederanknüpfung geſelliger Verbindungen wollte ich durchaus nichts wiſſen. Ich meinte, fortan müſſe mein Leben nur noch mit der Erziehung meines Sohnes Rudolf ausgefüllt ſein. Nie mehr nannte ich das Kind „Ruru“ oder „Korporal;“ die Babyſpielereien des verliebten Elternpaares waren dahin; der Kleine war mein „Sohn Rudolf“ geworden, meines ganzen Strebens, Hoffens, Liebens geheiligter Mittelpunkt. Um ihm einſtens eine gute Lehrerin ſein — oder doch, um ſeinen Studien folgen und ihm eine Geiſteskameradin werden zu können, wollte ich ſelber ſo viel Wiſſen als möglich mir aneignen; zudem war Leſen die einzige Zerſtreuung, die ich mir erlaubte — ſo vertiefte ich mich denn von neuem in die Schätze unſerer Schloßbibliothek. Namentlich drängte es mich, mein einſtiges Lieblingsſtudium — die Geſchichte — wieder aufzunehmen. In der letzten Zeit, als der Krieg von meinen Zeitgenoſſen und von mir ſelber ſo ſchwere Opfer gefordert hatte, war mein früherer Enthuſiasmus ſtark abgekühlt worden und ich wünſchte denſelben durch entſprechende Lektüre wieder anzufachen. Und in der That, es gewährte mir manchmal einen gewiſſen Troſt, wenn ich ein paar Seiten Schlachtenberichte mit den daran geknüpften Heldenverherrlichungen geleſen, zu denken, daß der Tod meines armen Mannes und mein eigenes Witwenleid als Parzellen in einem ähnlichen großen geſchichtlichen Vorgang enthalten waren, ich ſage „manchmal“ — nicht immer. So ganz und gar konnte ich mich doch nicht mehr in jene Stimmungen meiner Mädchenzeit zurückverſetzen, wo ich es der Jungfrau von Orleans hätte gleich thun mögen. Vieles, vieles in den geleſenen überſchwänglichen Ruhmestiraden, welche die Schlachtenberichte begleiteten, klang mir falſch und hohl, wenn ich mir zugleich die Schrecken der Schlacht vergegenwärtigte — ſo falſch und hohl, wie eine als Preis für eine echte Perle erhaltene Blechmünze. Die Perle Leben — iſt die wohl ehrlich bezahlt, mit den Blechphraſen der geſchichtlichen Nachrufe? … Bald hatte ich den Vorrat der in unſerer Bücherei vorhandenen hiſtoriſchen Werke erſchöpft. Ich bat unſeren Buchhändler, er möge mir ein neues Geſchichtswerk zur Anſicht ſchicken. Er ſchickte Thomas Buckles „[History of Civilization]“. „Das Werk iſt nicht vollendet,“ ſchrieb der Buchhändler, „aber die beifolgenden zwei, als Einleitung dienenden Bände bilden an und für ſich ein abgeſchloſſenes Ganzes und ihr Erſcheinen hat ſowohl in England, als in der übrigen gebildeten Welt großes Aufſehen erregt; der Verfaſſer, ſo ſagt man, habe damit den Grundſtein zu einer neuen Auffaſſung der Geſchichte gelegt.“ In der That ja: — ganz neu. Mir war, nachdem ich dieſe zwei Bände geleſen und wieder geleſen, wie Jemand zu Mute, der zeitlebens in einem engen Thalkeſſel gewohnt und zum erſtenmale auf eine der umgebenden Bergspitzen hinaufgeführt worden, von wo ein ausgeſtrecktes Stück Land zu ſehen iſt, mit Bauten und Gärten bedeckt, von endloſem Meere begrenzt. Ich will nicht behaupten, daß ich — die Zwanzigjährige, welcher die bekannte oberflächlich höhere Töchtererziehung zu teil geworden — das Buch in ſeiner ganzen Tragweite verſtand, oder — um obiges Bild beizubehalten — daß ich die Erhabenheit der Monumentalbauten und die Größe des Ozeans erfaßte, die vor meinen überraſchten Blicken lagen; aber ich war geblendet, war überwältigt; ich ſah, daß es jenſeits meines engen Heimatthales eine weite, weite Welt gab, von der ich bisher niemals Kunde erhalten. Erſt, als ich das Buch nach fünfzehn oder zwanzig Jahren wieder las, und nachdem ich andere im ſelben Geiſt verfaßte Werke ſtudiert hatte, konnte ich mir vielleicht anmaßen, zu ſagen, daß ich es verſtehe. Doch eins wurde mir auch ſchon damals klar: die Geſchichte der Menſchheit wird nicht — wie dies die alte Auffaſſung war — durch die Könige und Staatsmänner, durch die Kriege und Traktate beſtimmt, welche der Ehrgeiz der einen und die Schlauheit der anderen ins Leben rufen, ſondern durch die allmähliche Entwicklung der Intelligenz. Die Hof- und Schlachtenchroniken, welche in den Hiſtorienbüchern an einander gereiht ſind, ſtellen einzelne Erſcheinungen der jeweiligen Kulturzuſtände vor, nicht aber deren bewegende Urſachen. Von der althergebrachten {Bewunderung}, mit welcher andere Geſchichtsſchreiber die Lebensläufe gewaltiger Eroberer und Länderverwüſter zu erzählen pflegen, konnte ich im Buckle gar nichts finden. Im Gegenteil, er führt den Nachweis, daß das Anſehen des Kriegerſtandes im umgekehrten Verhältnis zu der Kulturhöhe eines Volkes ſteht: — je tiefer in der barbariſchen Vergangenheit zurück, deſto häufiger die gegenſeitige Bekriegung und deſto enger die Grenzen des Friedens: Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Familie gegen Familie. Er betont, daß im Fortſchritt der Geſellſchaft, mehr noch als der Krieg ſelber, die {Liebe} zum Kriege im Schwinden begriffen ſei. Das war mir aus der Seele geſprochen. Sogar in meinem kurzen Innenleben war dieſe Verminderung vor ſich gegangen; und wenn ich oft dieſe Regung als etwas Feiges, Unwürdiges unterdrückt hatte, glaubend, daß ich allein mich ſolchen Frevels ſchuldig mache, ſo erkannte ich jetzt, daß dies bei mir nur der ſchwache Widerhall des Zeitgeiſtes war; daß Gelehrte und Denker, wie dieſer engliſche Geſchichtsſchreiber, daß unzählige Menſchen mit ihm, die einſtige Kriegsvergötterung verloren hatten, welche — wie ſie eine Phaſe meiner Kindheit geweſen — in dieſem Buche auch als eine Phaſe aus der Kindheit der Geſellſchaft dargeſtellt war. Somit hatte ich in Buckles Geſchichtswerke eigentlich das Gegenteil von dem gefunden, was ich geſucht. Dennoch empfand ich dieſen Fund als einen Gewinn — ich fühlte mich dadurch gehoben, geklärt, beruhigt. Einmal verſuchte ich mit meinem Vater über dieſe neugewonnenen Geſichtspunkte zu reden — aber vergebens. Auf den Berg hinauf wollte er mir nicht folgen — das heißt er wollte das Buch nicht leſen — alſo war es ausſichtslos, mit ihm von Dingen zu reden, die man nur von dort oben aus wahrnehmen konnte. Nun folgte das Jahr — zweite Phaſe —, da die Trauer in Melancholie übergegangen war. Jetzt las und ſtudierte ich noch fleißiger. Das erſte Werk Buckles hatte mir Geſchmack am Nachdenken gegeben und die Freuden eines erweiterten Weltausblickes koſten gemacht. Davon wollte ich nun noch immer mehr und mehr genießen, und ſo ließ ich dieſem Buche noch viele andere im gleichen Geiſt verfaßte, folgen. Und das Intereſſe, die Genüſſe, welche ich in dieſen Studien fand, trugen dazu bei, die dritte Phaſe eintreten — nämlich die Melancholie ſchwinden zu machen. Als aber die letzte Wandlung mit mir vorging, das iſt, als die Lebensluſt von neuem erwachte, da wollten mir auf einmal die Bücher nicht mehr genügen; da ſah ich auf einmal ein, daß Ethnographie und Anthropologie und vergleichende Mythologie und ſonſtige -logien und -graphien unmöglich meine Sehnſucht ſtillen konnten; daß für eine junge Frau in meiner Lage das Leben noch ganz andere Glücksblüten bereit hielt, nach welchen ich nur die Hand auszuſtrecken brauchte … Und ſo kam es, daß ich im Winter 1863 mich anbot, meine jüngeren Schweſtern ſelber in die Welt einzuführen und meine Salons der Wiener Geſellſchaft öffnete. 12. Zweites Buch. Friedenszeit. // 2. Abſchnitt Martha Gräfin Dotzky, eine reiche, junge Witwe. Unter dieſem vielverſprechenden Namen ſtand ich auf dem Perſonenverzeichnis der „große-Welt“-Komödie. Und ich muß ſagen, die Rolle ſagte mir zu. Es iſt kein geringes Vergnügen, von allen Seiten Huldigungen zu empfangen, von der ganzen Geſellſchaft gefeiert, verwöhnt, mit Auszeichnungen überſchüttet zu werden. Es iſt kein geringer Genuß, nach beinahe vierjähriger Weltabgeſchiedenheit plötzlich in einen Strudel von allerlei Vergnügungen zu gelangen; intereſſante, bedeutende Menſchen kennen zu lernen, an faſt jedem Tage ein glänzendes Feſt mitzumachen — und dabei ſich ſelber als den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerkſamkeit zu fühlen. Wir drei Schweſtern hatten den Spitznamen „die Göttinnen vom Berge Ida“ bekommen und die Erisäpfel laſſen ſich nicht zählen, welche die verſchiedenen jungen Pariſſe unter uns verteilten; ich natürlich — in meiner oben erwähnten Theaterzettelwürde „reiche, junge Witwe“ war gewöhnlich die Bevorzugte. Es galt übrigens in meiner Familie — und auch ein klein wenig in meinem eigenen Bewußtſein — als ausgemachte Sache, daß ich mich wieder vermählen würde. Tante Marie pflegte in ihren Homilien nicht mehr auf den Verklärten anzuſpielen, der „dort oben meiner harrte“, denn wenn ich in den kurzen Erdenjahren, die mich vom Grabe trennten, mir einen zweiten Gatten angeeignet — eine von Tante Marie ſelber gewünſchte Eventualität — ſo war dadurch die Gemütlichkeit des himmliſchen Wiederſehens mit dem erſten ſtark beeinträchtigt. Alle um mich herum ſchienen Arnos Exiſtenz vergeſſen zu haben — nur ich nicht. Obwohl die Zeit meinen Schmerz um ihn geheilt hatte — ſein Bild hatte ſie nicht verlöſcht. Man kann aufhören um ſeine Toten zu trauern — die Trauer hängt auch nicht vom Willen ab — aber vergeſſen ſoll man ſie nicht. Ich betrachtete dieſes von meiner Umgebung geübte Todſchweigen eines Verſtorbenen als eine zweite nachträgliche Tödtung und vermied es, den Armen auch noch {totzudenken}. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, täglich zum kleinen Rudolf von ſeinem Vater zu ſprechen, und in ſeinem Abendgebet mußte das Kind ſtets ſagen: „Gott, laß mich gut und brav ſein, meinem geliebten Vater Arno zu Liebe!“ Meine Schweſtern und ich „amüſierten“ uns köſtlich — ich gewiß nicht minder als ſie. Es war ja ſozuſagen auch {mein} Debut in der Welt. Das erſte Mal war ich als Braut und Neuvermählte eingeführt worden; da hatten ſich ſelbſtverſtändlich alle Kurmacher von mir fern gehalten, und was iſt des „Welt“-Lebens höchſter Reiz, wenn nicht die Kurmacher? Aber ſonderbar! ſo ſehr es mir behagte, von einer Schar von Anbetern umgeben zu ſein, keiner von ihnen machte einen tieferen Eindruck auf mich. Es lag eine Schranke zwiſchen ihnen und mir, die ſchier unüberſteiglich war. Und dieſe Schranke hatte ſich durch die drei Jahre meines einſamen Studierens und Denkens aufgerichtet. Alle dieſe glänzenden jungen Herren, deren Lebensintereſſen in Sport, Spiel, Ballet, Hofklatſch und, wenn es hoch ging, in Berufsehrgeiz (die meiſten waren Militärs) gipfelten, die hatten von den Dingen, die ich in meinen Büchern von ferne erſchaut und an denen mein Geiſt ſich gelabt, auch nicht die entfernteſte Idee. Jene Sprache, von der ich freilich auch nur Anfangsgründe kennen gelernt, von der ich aber wußte, daß in ihr durch die Männer der Wiſſenſchaft die höchſten Fragen beraten und einſt gelöſt werden; jene Sprache war ihnen nicht nur „ſpaniſch“, ſondern — patagoniſch. Unter dieſer Kategorie junger Leute würde ich mir keinen Gatten wählen — das ſtand feſt. Überhaupt hatte ich keine Eile, meine Freiheit, die mir ſo wohl gefiel, wieder aufzugeben. Ich wußte meine ſeinwollenden Freier ſo in Entfernung zu halten, daß keiner einen Antrag wagte und daß auch niemand in der Geſellſchaft das kompromittierende Wort von mir ſagen konnte: „Sie läßt ſich den Hof machen.“ Mein Sohn Rudolf ſollte einſt auf ſeine Mutter ſtolz ſein dürfen — keinen Hauch des Verdachtes auf dem blanken Spiegel ihres guten Rufes vorfinden. Wenn jedoch der Fall einträte, daß mein Herz von neuem in Liebe erglühte — es konnte nur für einen Würdigen ſein — dann war ich ja geneigt, das Anrecht, welches meine Jugend noch auf irdiſches Glück beſaß, geltend zu machen und eine zweite Ehe einzugehen. Unterdeſſen — von Liebe und Glück abgeſehen — war ich recht guter Dinge. Der Tanz, das Theater, der Putz: an alledem fand ich ein lebhaftes Vergnügen. Dabei vernachläſſigte ich weder meinen kleinen Rudolf noch meine eigene Ausbildung. Nicht, daß ich mich in gründliche Fachſtudien vertiefte; aber über die Bewegung der Geiſter erhielt ich mich ſtets auf dem Laufenden, indem ich mir die hervorragendſten neuen Erſcheinungen der Weltlitteratur anſchaffte und regelmäßig ſämtliche Artikel, auch die wiſſenſchaftlichen, der „[Revue des deux Mondes]“ und ähnlicher Zeitſchriften aufmerkſam las. Dieſe Beſchäftigung hatte freilich zur Folge, daß die vorerwähnte Schranke, welche mein Seelenleben von der mich umgebenden Junge-Herrenwelt abſchloß, immer höher wurde — aber das war ſchon recht ſo. Gern hätte ich in meinen Salon einige Perſönlichkeiten aus der Litteraten- und Gelehrtenwelt zugezogen, allein dies war in der Mitte, in der ich mich bewegte, nicht recht thunlich. Bürgerliche Elemente werden der öſterreichiſchen ſogenannten „Societät“ nicht beigemiſcht. Namentlich damals; ſeither hat ſich dieſer ausſchließliche Geiſt etwas geändert und es iſt Mode geworden, einzelnen Vertretern der Kunſt und Wiſſenſchaft ſeine Salons zu öffnen. Zu der Zeit, von der ich ſpreche, war dies jedoch nicht der Fall; was nicht hoffähig war — das heißt was nicht ſechzehn Ahnen aufzuweiſen hatte — war von vornherein ausgeſchloſſen. Unſere gewohnte Geſellſchaft wäre ganz unangenehm überraſcht geweſen, bei mir unadelige Leute anzutreffen, und hätte nicht den rechten Ton gefunden, mit ſolchen zu verkehren. Und dieſe ſelber hätten meinen mit „Komteſſeln“ und Sportsmen, mit alten Generälen und allen Stiftsdamen gefüllten Salon ſchon gar unerträglich langweilig gefunden. Welchen Anteil konnten Männer von Geiſt und Wiſſen, Schriftſteller und Künſtler, an den ewig gleichen Erörterungen nehmen: bei wem geſtern getanzt worden und bei wem morgen getanzt wird — ob bei Schwarzenberg bei Pallavicini oder bei Hof — welche Paſſionen Baronin Pacher einflößt, welche Partie Komteß Palffy ausgeſchlagen, wieviel Herrſchaften Fürſt Croy beſitzt, was die junge Almaſy für eine „Geborene“ ſei, ob eine Feſtetics oder eine Wenkheim, und ob {die} Wenkheim, deren Mutter eine Khevenhüller geweſen u._ſ._w. u._ſ._w. Das war nämlich ſo der Stoff der meiſten um mich herum geführten Unterhaltungen. Auch die geiſtvollen und unterrichteten Leute, von welchen doch gar manche in unſeren Kreiſen ſich fanden — Staatsmänner und dergleichen — glaubten ſich verpflichtet, wenn ſie mit uns — tanzender Jugend — verkehrten, denſelben frivolen und inhaltsloſen Ton anzuſchlagen. Wie gerne hätte ich oft nach einem Diner mich in die Ecke begeben, wo ein paar unſerer vielgereiſten Diplomaten, beredten Reichsräten, oder ſonſtige bedeutende Männer über bedeutende Fragen ihre Meinung austauſchten — aber das war nicht thunlich; ich mußte ſchon bei den anderen jungen Frauen bleiben und die Toiletten beſprechen, die wir für den nächſten großen Ball vorbereiteten. Und hätte ich mich auch in jene Gruppe eingedrängt, ſogleich würden die eben geführten Geſpräche über Nationalökonomie, über Byrons Poeſie, über Theorien von Strauß und Renan verſtummt ſein und es würde geheißen haben: „Ach, Gräfin Dotzky! … geſtern auf dem Damen-Pique-nique haben Sie bezaubernd ausgeſehen … und Sie gehen doch morgen zum Empfang bei der ruſſiſchen Botſchaft?“ 13. Zweites Buch. Friedenszeit. // 3. Abſchnitt „Erlaube, liebe Martha,“ ſagte mein Vetter Konrad Althaus, „daß ich Dir Oberſtlieutenant Baron Tilling vorſtelle.“ Ich neigte den Kopf. Der Vorſtellende entfernte ſich und der Vorgeſtellte blieb ſtumm. Ich faßte dies als eine Aufforderung zum Tanze auf und erhob mich von meinem Sitz — mit gerundet aufgehobenem linken Arm, bereit, ihn auf Baron Tillings Schulter zu lehnen. „Verzeihen Sie, Gräfin,“ ſagte jener mit einem flüchtigen Lächeln, das blitzend weiße Zähne aufdeckte, „ich kann nicht tanzen.“ „Ah ſo — deſto beſſer,“ antwortete ich, mich wieder ſetzend. „Ich hatte mich ohnehin hierher zurückgezogen, um ein wenig auszuruhen.“ „Und ich hatte mir die Ehre erbeten, Ihnen vorgeſtellt zu werden, gnädige Gräfin, um Ihnen eine Mitteilung zu machen.“ Ich blickte erſtaunt auf. Der Baron machte ein ſehr ernſtes Geſicht. Er war überhaupt ein ernſthaft ausſehender Mann — nicht mehr jung, etwa vierzig, mit einigen Silberfäden an den Schläfen — im ganzen eine vornehme, ſympathiſche Erſcheinung. Ich hatte mir angewöhnt, jeden Neuvorgeſtellten auf die Frage hin prüfend anzuſehen: Biſt Du ein Freier? — würde ich Dich nehmen? Beide Fragen beantwortete ich mir in dieſem Falle mit einem ſchnellen „Nein“. Es fehlte dem Betreffenden durchaus der verbindlich-anbetende Ausdruck, welchen alle jene anzunehmen pflegen, die ſich den Frauen mit ſogenannten „Abſichten“ nahen; — und die andere Frage fand ſchon durch ſeine Uniform verneinende Erledigung. Ein zweites Mal würde ich keinem Soldaten die Hand reichen — das hatte ich mir feſt vorgenommen. Nicht nur aus dem Grunde, um kein zweites Mal der ſchrecklichen Angſt ausgeſetzt zu werden, den Gatten ins Feld ziehen zu ſehen, ſondern weil ich ſeither über den Krieg im allgemeinen zu Anſichten gelangt war, in welchen ich unmöglich mit einem Krieger hätte übereinſtimmen können. Oberſtlieutenant von Tilling machte von meiner Aufforderung, ſich neben mich zu ſetzen, keinen Gebrauch. „Ich will Sie nicht lange beläſtigen, Gräfin. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, paßt nicht in ein Ballfeſt. Ich wollte mir nur die Erlaubnis erbitten, mich in Ihrem Hauſe einzufinden; können Sie mir gnädigſt einen Tag und eine Stunde beſtimmen, wann ich Sie ſprechen darf?“ „Ich empfange an Samstagen zwiſchen zwei und vier.“ „Dann gleicht an Samstagen zwiſchen zwei und vier Ihr Haus vermutlich einem Bienenſtock, wo die Honigträger aus- und einfliegen —“ „Und ich als Königin in der Zelle ſitze, meinen Sie — das iſt ein recht hübſches Kompliment.“ „Komplimente mache ich nie — ebenſowenig als Honig, und ſo behagt mir die ſamstägliche Schwarmſtunde durchaus nicht; ich {muß} Sie allein ſprechen.“ „Sie reizen meine Neugier. Sagen wir alſo morgen Dienſtag, um die gleiche Stunde; ich werde für Sie und ſonſt niemand zu Hauſe ſein.“ Er dankte mit einer Verbeugung und ging. Eine Weile ſpäter kam mein Vetter Althaus vorbei. Ich rief ihn zu mir, ließ ihn an meiner Seite Platz nehmen und verlangte Auskunft über Baron Tilling. „Gefällt er Dir? Hat er dir ſolch’ tiefen Eindruck gemacht, daß Du Dich gar ſo angelegentlich erkundigſt? Er iſt zu haben — das heißt er iſt noch ledig. Darum ſoll er aber doch nicht frei ſein … Man munkelt, daß eine ſehr hohe Dame (Althaus nannte eine Prinzeſſin aus regierendem Hauſe) ihn durch zarte Bande an ſich feſſelt — deshalb heirate er nicht. Sein Regiment iſt erſt ſeit kurzer Zeit hierher verſetzt worden, daher hat man ihn noch nicht viel in der Geſellſchaft beſehen — auch iſt er, glaube ich, ein Feind von Bällen und dergleichen. Ich habe ihn im adeligen Kaſino kennen gelernt, wo er täglich ein paar Stunden verbringt, aber gewöhnlich im Leſezimmer in die Zeitungen, oder mit unſeren beſten Schachſpielern in eine Partie vertieft. Ich war erſtaunt, ihn hier zu treffen — da jedoch die Hausfrau ſeine Kouſine iſt, ſo erklärt ſich ſeine kurze Erſcheinung auf dem Ball — er iſt auch ſchon wieder weg. Nachdem er ſich von Dir empfohlen, ſah ich ihn fortgehen.“ „Haſt Du ihn noch mehreren anderen Damen vorgeſtellt?“ „Nein, nur Dir. Aber darum mußt Du Dir nicht einbilden, daß Du es ihm von weitem angethan, und er deshalb verlangte, Dich kennen zu lernen: — „Können Sie mir nicht ſagen, fragte er mich, ob eine gewiſſe Gräfin Dotzky, geborene Althaus — vermutlich mit Ihnen verwandt — hier anweſend iſt? Ich muß mit derſelben ſprechen.“ — „Ja, antwortete ich, auf Dich zeigend, — dort in jener Ecke auf dem Sofa — im blauen Kleide.“ — „Ah, die? Seien Sie ſo gut, ſtellen Sie mich vor.“ — Was ich denn bereitwilligſt that, ohne zu ahnen, daß ich Dich dadurch um Deine Ruhe bringen würde.“ „So ſprich doch keinen Unſinn, Konrad — meine Ruhe iſt nicht ſo leicht zu untergraben. Tilling? was iſt das für eine Familie? — ich höre den Namen zum erſtenmale.“ „Aha, Du gibſt nicht nach … Iſt das ein Glücksmenſch! Ich habe mich durch volle drei Monate, mit Aufwand aller meiner Bezauberungskräfte, in Deine Gunſt einzuſchleichen verſucht — vergebens. Und dieſer kalte Oberſtlieutenant — denn er iſt kalt und fühllos, laß Dir das geſagt ſein — kam, ſah und ſiegte. — Was ‚Tilling‘ für eine Familie ſei, fragteſt Du? Ich glaube preußiſchen Urſprungs — doch war ſchon ſein Vater in öſterreichiſche Dienſte getreten — ſeine Mutter iſt auch Preußin — Du mußt ſeinen norddeutſchen Accent bemerkt haben.“ „Ja, er ſpricht ein wunderſchönes Deutſch.“ „Natürlich — alles iſt wunderſchön an ihm.“ Althaus ſtand auf. „Jetzt habe ich gerade genug. Erlaube, daß ich Dich Deinen Träumen überlaſſe; ich will verſuchen, mich mit Damen zu unterhalten welche“ „{Dich} wunderſchön finden. Solche giebt es wohl genug.“ Ich verließ den Ball zu früher Stunde. Meine Schweſtern konnten unter dem Schutze Tante Maries noch bleiben und mich hielt nichts zurück. Die Luſt am Tanzen war mir vergangen, ich fühlte mich ermüdet und ſehnte mich nach Einſamkeit. Warum? … Doch nicht, um ungeſtört an Tilling denken zu können? … Es ſcheint doch ſo — da ich noch um Mitternacht die roten Hefte mit Eintragung der oben angeführten Geſpräche bereicherte und Betrachtungen daran knüpfte, wie folgt: „Ein intereſſanter Menſch, dieſer Tilling … Die hohe Frau, die ihn liebt, denkt jetzt wahrſcheinlich an ihn … oder vielleicht kniet er in dieſem Augenblick zu ihren Füßen und ſie iſt nicht ſo allein — allein — wie ich. Ach, jemand ſo recht innig lieben zu können … es müßte nicht eben Tilling ſein — ich kenne ihn ja nicht … Nicht um Tilling beneide ich die Prinzeſſin, aber um ihr Verliebtſein. Und je leidenſchaftlicher, je wärmer ſie ihm zugethan iſt, deſto mehr beneide ich ſie.“ Mein erſter Gedanke beim Erwachen war wieder — Tilling. Ja richtig: er hatte ſich für dieſen Tag behufs wichtiger Mitteilungen bei mir angeſagt. So geſpannt, wie auf dieſen Beſuch, hatte ich mich ſchon lange nicht gefühlt. Um die beſtimmte Stunde gab ich Befehl, daß mit Ausnahme des Erwarteten niemand vorgelaſſen werde. Meine Schweſtern waren nicht zu Hauſe, Tante Marie, die unermüdliche [garde-dame], hatte ſie auf den Eislaufplatz begleitet. Ich ſetzte mich in meinen kleinen Salon — mit einer hübſchen Haustoilette von violettem Sammt angethan (violett ſteht Blondinen bekanntlich vorteilhaft), nahm ein Buch zur Hand und wartete. Lang’ habe ich nicht warten müſſen: zehn Minuten nach Zwei trat Freiherr von Tilling bei mir ein. „Wie Sie ſehen, Gräfin, habe ich von Ihrer Erlaubnis pünktlich Gebrauch gemacht“, ſagte er, mir die Hand küſſend. „Glücklicherweiſe,“ antwortete ich lächelnd, indem ich ihm einen Platz anwies; „ich hätte ſonſt vor Ungeduld vergehen müſſen, denn Sie haben mich wahrhaftig in große Spannung verſetzt.“ „Dann will ich gleich, ohne lange Einleitung, ſagen, was ich zu ſagen habe. Daß ich es nicht ſchon geſtern gethan, geſchah, um Ihre fröhliche Stimmung nicht zu trüben —“ „Sie erſchrecken mich —“ „Mit einem Wort: ich habe die Schlacht von Magenta mitgemacht —“ „Und Sie haben Arno ſterben ſehen!“ ſchrie ich auf. „So iſt es. Ich bin in der Lage, Ihnen über ſeine letzten Augenblicke Beſcheid zu geben.“ „Sprechen Sie,“ ſagte ich bebend. „Zittern Sie nicht, Gräfin. Wenn dieſe letzten Augenblicke ſo ſchrecklich geweſen wären, wie bei ſo manchen anderen Kameraden, ſo würde ich Ihnen ſicher nicht davon geſprochen haben: es gibt nichts Traurigeres, als von einem teueren Toten zu erfahren, daß er qualvoll geſtorben — das iſt aber hier nicht der Fall.“ „Sie nehmen mir einen Stein vom Herzen. Erzählen Sie.“ „Ich werde Ihnen nicht die leere Phraſe wiederholen, mit welcher man Soldatenhinterbliebene zu tröſten pflegt. „Er ſtarb als Held,“ denn ich weiß nicht recht, was man damit ſagen will; — den wirklichen Troſt kann ich Ihnen aber bieten: er ſtarb, ohne an den Tod zu denken. Er war von allem Anfang überzeugt, daß ihm nichts geſchehen werde. Wir waren viel zuſammen und er erzählte mir oft von ſeinem Familienglück, zeigte mir das Bild ſeines ſchönen jungen Weibchens und das ſeines Kindes; er lud mich ein, ‚wenn nur einmal die Campagne aus ſei‘, ihn in ſeiner Häuslichkeit zu beſuchen. In dem Gemetzel von Magenta befand ich mich zufällig an ſeiner Seite. Ich erſpare Ihnen die Schilderung der vorhergehenden Szenen — ſo etwas erzählt ſich nicht. Männer, die kriegeriſchen Geiſtes ſind, werden mitten im Pulverdampf und Kugelregen von ſo einem Taumel erfaßt, daß ſie eigentlich nicht wiſſen, was um ſie vorgeht. Dotzky war ein ſolcher Mann. Seine Augen ſprühten, er zielte mit feſter Hand; er war in vollem Kriegsrauſch, das konnte ich — Nüchterner — ſehen. Da kam ein Hohlgeſchoß geflogen und fiel auf ein paar Schritte Entfernung vor uns nieder. Als das Ungetüm platzte, ſtürzten zehn Mann zuſammen — darunter Dotzky. Es erhob ſich ein Jammergeſchrei unter den Unglücklichen — aber Dotzky ſchrie nicht: er war tot. Ich und noch ein paar Kameraden bückten uns zu den Getroffenen herab, um ihnen, wenn möglich, Hilfe zu bringen. — Es war aber nicht möglich. Sie rangen alle mit dem Tode, auf das greulichſte zerriſſen und zerfleiſcht, die Beute ſchrecklichſter Schmerzen … Nur Dotzky, zu dem ich mich zuerſt auf den Boden gekniet, atmete nicht mehr; ſein Herz ſtand ſtill und aus der aufgeriſſenen Seite quoll das Blut in ſolchen Strömen, daß — wenn ſein Zuſtand auch nur Ohnmacht und nicht der Tod geweſen wäre — es nicht zu befürchten ſtand, daß er wieder zu ſich komme —“ „Zu befürchten?“ unterbrach ich weinend. „Ja — denn wir mußten ſie hilflos da liegen laſſen: vor uns erklang wieder das mordgebietende „Hurra!“ und hinter uns ſtürmten berittene Scharen heran, welche über dieſe Sterbenden hinwegsetzen würden — glücklich der Bewußtloſe! Sein Geſicht hatte einen ganz ruhigen, ſchmerzloſen Ausdruck — und als wir, nachdem der Kampf vorüber war, unſere Toten und Verwundeten auflaſen, fand ich ihn auf derſelben Stelle, in gleicher Lage und mit dem gleichen friedlichen Ausdruck. Das habe ich Ihnen ſagen wollen, Gräfin. Freilich hätte ich das ſchon vor Jahren thun können und, da ich nicht mit Ihnen zuſammentraf, an Sie ſchreiben — aber die Idee kam mir erſt geſtern, als mir meine Couſine ſagte, ſie erwarte unter ihren Gäſten die ſchöne Witwe Arno Dotzkys. Verzeihen Sie, wenn ich ſchmerzliche Erinnerungen wachgerufen; ich glaube doch eine Pflicht erfüllt und Sie von peinlichen Zweifeln befreit zu haben.“ Er ſtand auf. Ich reichte ihm die Hand: „Ich danke, Baron Tilling,“ ſagte ich, meine Thränen trocknend. „Sie haben mir in der That ein wertvolles Geſchenk gemacht: die Beruhigung, daß das Ende meines teueren Mannes frei von Schmerz und Qual war … Aber bleiben Sie noch ein wenig, ich bitte Sie … Ich wollte Sie noch ſprechen hören … Vorhin, in Ihrer Ausdrucksweiſe, haben Sie einen Ton angeſchlagen, der in meinem Gemüte eine gewiſſe Saite vibrieren gemacht — ohne Umſchweife, Sie verabſcheuen den Krieg?“ Tillings Geſicht verfinſterte ſich: „Verzeihen Sie, Gräfin,“ ſagte er, „wenn ich Ihnen über dieſen Gegenſtand nicht Rede ſtehe. Auch bedauere ich, mich nicht länger aufhalten zu können — ich werde erwartet.“ Jetzt nahm {mein} Geſicht einen kalten Ausdruck an: vermutlich erwartete ihn die Prinzeſſin — und der Gedanke war mir unangenehm. „Da will ich Sie nicht zurückhalten, Herr Oberſtlieutenant,“ entgegnete ich kalt. Ohne nur die Erlaubnis zu erbitten, wiederkommen zu dürfen, verbeugte er ſich und ging. 14. Zweites Buch. Friedenszeit. // 4. Abſchnitt Der Faſching war zu Ende. Roſa und Lilli, meine Schweſtern, hatten ſich „ungeheuer amüſiert“. Jede verzeichnete ein halb Dutzend Eroberungen; dennoch befand ſich keine wünſchenswerte Partie darunter und der „Rechte“ war für keine erſchienen. Deſto beſſer: ſie wollten gern noch ein paar Mädchenjahre genießen, ehe ſie ins Ehejoch traten. Und ich? In den roten Heften ſtehen meine Faſchingseindrücke folgendermaßen notiert: „Ich bin froh, daß die Tanzerei vorüber iſt. Es fing ſchon an, eintönig zu werden. Immer dieſelben Touren und immer dieſelben Geſpräche und immer ein und derſelbe Tänzer: — denn ob es nun der Huſarenlieutenant X, oder der Dragonerlieutenant Y, oder der Ulanenrittmeiſter Z iſt — es ſind doch die gleichen Verbeugungen, die gleichen Bemerkungen, die gleichen Seufzer und Blicke. Nicht ein intereſſanter Menſch darunter, nicht einer. Und der einzige, der allenfalls … reden wir nichts von dem, der gehört ja ſeiner Prinzeſſin. Sie iſt eine hübſche Frau, ja — zugeſtanden, aber ich finde ſie ſehr unſympathiſch.“ Obgleich der Faſching mit ſeinen großen Ballfeſten zu Ende war, ſo hatten die geſelligen Vergnügungen darum nicht aufgehört. Soiréen, Diners, Konzerte: der Wirbel dauerte fort. Auch eine große Liebhabertheatervorſtellung ward in Ausſicht genommen — dies jedoch erſt nach Oſtern. Für die Faſtenzeit war doch eine Mäßigung in Vergnügen geboten — nach Tante Maries Anſicht mäßigten wir uns lange nicht genug. Daß ich die Faſtenpredigten nicht regelmäßig beſuchte, konnte ſie mir nicht recht verzeihen, und ſie entſchädigte ſich für meine Lauheit, indem ſie Roſa und Lilli zu allen berühmten Kanzelrednern ſchleppte. Die Mädchen ließen ſich das gern gefallen; einmal trafen ſie in den Kirchen mit ihrer ganzen gewohnten Koterie zuſammen — Pater Klinkowſtröm war ebenſoſehr Mode bei den Jeſuiten, als die Murska in der Oper, und in zweiter Linie waren ſie ja auch leidlich fromm. Aber nicht nur den Predigten, auch den Soiréen hielt ich mich während jener Faſtenzeit ziemlich fern. Ich hatte plötzlich an geſelligen Zuſammenkünften den Geſchmack verloren und liebte es, manchmal allein zu Hauſe zu bleiben — mit meinem Sohn zu ſpielen, und wenn der Kleine zu Bett gebracht war, mich mit einem guten Buch an das Kaminfeuer zu ſetzen und zu leſen. Zuweilen beſuchte mich dann mein Vater und verplauderte ein bis zwei Stunden bei mir. Natürlich kamen die Feldzugserinnerungen dabei unabläſſig zum Vorſchein. Ich hatte ihm Tillings Bericht über Arnos Ende mitgeteilt; er nahm die Geſchichte jedoch ziemlich kühl auf. Ob einer mit Schmerzen oder ohne Schmerzen geendet, ſchien ihm eine ganz nebenſächliche Frage. „Geblieben“ ſein — wie der Tod auf dem Schlachtfelde heißt — war ſeiner Anſchauung nach eine ſo rühmliche — durch ein ſo erhabenes Fatum herbeigeführte Sache, daß die Details der dabei allenfalls ausgeſtandenen körperlichen Leiden garnicht in Betracht kamen. In ſeinem Munde klang das „Geblieben“ ſtets wie die neidende Konſtatierung einer beſonderen Auszeichnung, und die dem „Bleiben“ nächſtfolgende Annehmlichkeit war nach ſeiner Auffaſſung offenbar das „Bleſſiert“-werden. Die Art und Weiſe, wie er von ſich mit Stolz und von den anderen mit Reſpekt erzählte, daß ſie bei dieſem oder jenem — nach irgend einer Ortſchaft benannten — Gefecht verwundet worden, ließ einen ganz vergeſſen, daß das Ding eigentlich weh thun könne. Welch ein Unterſchied mit der kurzen Erzählung Tillings: in der Schilderung der zehn Unglücklichen, welche, von dem platzenden Geſchoß zerſchmettert, in lauten Jammer ausbrachen — was lag da für ein anderer Ton erſchütternden Mitleids darin! Ich habe Tillings Worte meinem Vater nicht wiederholt, denn ich empfand inſtinktiv, daß ihm dieſelben unſoldatenmäßig erſchienen wären und ſeine Achtung vor dem Sprecher beeinträchtigt hätten, und das hätte mich verdroſſen; denn gerade der vielleicht unſoldatiſche, aber ſicherlich menſchliche Abſcheu, mit welchem er das ſchreckliche Ende ſeiner Kampfgenoſſen geſchaut und erzählt, war mir ins Herz gedrungen. Wie gern hätte ich mit Tilling über dieſes Thema noch weiter geſprochen — aber er ſchien meine Bekanntſchaft nicht pflegen zu wollen. Seit ſeinem Beſuche waren vierzehn Tage vergangen und weder hatte er den Beſuch wiederholt, noch war ich ihm in der Geſellſchaft begegnet. Nur zwei- oder dreimal auf der Ringſtraße und einmal im Burgtheater war ich ſeiner anſichtig geworden: er grüßte ehrerbietig, ich dankte freundlich — weiter nichts. Weiter nichts? … Warum klopfte mir bei dieſen Gelegenheiten das Herz, warum konnte ich dann ſtundenlang die Gebärde ſeines Grußes nicht aus dem Sinn bringen? … „Liebes Kind, ich habe eine Bitte an Dich.“ Mit dieſen Worten trat eines Vormittags mein Vater bei mir ein. Er hielt ein papierumwickeltes Paket in der Hand, „hier bringe ich Dir etwas mit,“ fügte er hinzu, das Ding auf einen Tiſch legend. „Eine Bitte und ein Geſchenk zugleich?“ lachte ich. „Das iſt ja Beſtechung.“ „So höre mein Anliegen, ehe Du mein Geſchenk auspackſt und von deſſen Pracht geblendet wirſt. Ich habe heute ein langweiliges Diner —“ „Ja, ich weiß; drei alte Generäle mit ihren Frauen.“ „Und zwei Miniſter mit den ihrigen; kurz, eine feierliche, ſteife, einſchläfernde Geſchichte —“ „Da muteſt Du mir doch nicht zu, daß ich —“ „Ja, ich mute es Dir zu, denn — da mich Damen mit ihrer Gegenwart beehren wollen — muß ich doch eine Dame zum Honneurs machen haben.“ „Dieſes Amt hat ja Tante Marie übernommen?“ „Die iſt heute wieder von ihrem gewiſſen Kopfſchmerz befallen; es bleibt mir alſo nichts anderes übrig —“ „Als Deine Tochter hinzuopfern — wie dies ſchon andere Väter im Altertum — z._B. Agamemnon mit Iphigenia — gethan? Ich füge mich.“ „Übrigens ſind unter den Gäſten auch ein paar jüngere Elemente: Doktor Breſſer, der mich in meiner letzten Krankheit ſo ausgezeichnet behandelt hat und dem ich die Artigkeit einer Einladung erweiſen wollte; ferner Oberſtlieutenant Tilling — Du wirſt ja ganz feuerrot — was iſt Dir?“ „Ich? … Es iſt die Neugier: jetzt muß ich doch ſchauen, was Du mir gebracht haſt.“ Und ich begann, das Paket aus ſeiner Papierhülle zu löſen. „Es iſt nichts für Dich — erwarte nicht etwa ein Perlenhalsband. Das gehört dem Rudi.“ „Ja, ich ſehe, eine Spielereiſchachtel — ah, Bleiſoldaten! Aber Vater, das vierjährige Kind ſoll doch nicht —“ „Ich habe ſchon mit drei Jahren Soldaten geſpielt — man kann nicht früh genug damit anfangen … Meine allererſten Eindrücke waren Trommeln, Säbel — exerzieren, kommandieren: auf die Art erwacht die Liebe zum Metier, auf die Art —“ „Mein Sohn Rudolf wird nicht unter die Soldaten gehen,“ unterbrach ich. „Martha! Ich weiß doch, daß ſeines Vaters Wunſch —“ „Der arme Arno iſt nicht mehr. Rudolf iſt mein alleiniges Eigentum und ich will nicht —“ „Daß er den ſchönſten und ehrenvollſten Beruf einſchlage?“ „Das Leben meines einzigen Kindes ſoll nicht im Kriege auf das Spiel geſetzt werden.“ „Ich war auch ein einziger Sohn und bin Soldat geworden. Arno hat keine Geſchwiſter, ſo viel ich weiß, und Dein Bruder Otto iſt gleichfalls einziger Sohn und ich habe ihn doch in die Militärakademie gegeben. Die Tradition unſerer Familie fordert es, daß der Sproſſe eines Dotzky und einer Althaus ſeine Dienſte dem Vaterlande weihe.“ „Das Vaterland wird ihn weniger brauchen als ich.“ „Wenn alle Mütter ſo dächten!“ „Dann gäbe es keine Paraden und Revuen — und keine Männerwälle zum Niederſchießen — kein ‚Kanonenfutter‘, wie der bezeichnende Ausdruck heißt. Das wäre auch kein Unglück.“ Mein Vater machte ein ſehr böſes Geſicht. Dann aber zuckte er die Achſeln: „Ach, ihr Weiber,“ ſagte er verächtlich. „Zum Glück wird der Junge nicht um Deine Erlaubnis fragen; das Soldatenblut fließt ihm in den Adern — Na, und Dein einziger Sohn wird er ja nicht bleiben. Du mußt wieder heiraten, Martha. In Deinem Alter iſt’s nicht gut, allein ſein. Erzähl’ mir: giebt es keinen unter Deinen Bewerbern, der vor Deinen Augen Gnade findet? Da iſt zum Beiſpiel der Rittmeiſter Olensky, der ſterblich in Dich verliebt iſt — er hat mir neulich wieder vorgeſeufzt. Der gefiele mir recht gut als Schwiegerſohn.“ „Mir aber nicht als Gatte.“ „Da wäre noch der Major Millersdorf —“ „Und wenn Du mir den ganzen Militärſchematismus herſagſt — es iſt vergebens. Um wie viel Uhr findet Dein Diner ſtatt — wann ſoll ich kommen?“ fragte ich, um abzubrechen. „Um fünf. Aber komm’ um eine halbe Stunde früher. Und jetzt adieu — ich muß fort. Grüß mir den Rudi — zukünftigen Oberbefehlshaber der k._k. Armee.“ Eine feierliche, ſteife, einſchläfernde Geſchichte — ſo hatte mein Vater ſein bevorſtehendes Diner genannt und ſo würde ich die Ceremonie auch aufgefaßt haben, wäre nicht der eine Gaſt geweſen, deſſen Nähe mich eigentümlich bewegte … Baron Tilling war knapp vor dem Speiſen gekommen; ich hatte daher, als er mich im Salon begrüßte, nur zu einem ganz kurzen Wortaustauſch Zeit gefunden, und bei Tiſch, wo ich zwiſchen zwei eisgrauen Generälen ſaß, war der Baron ſo weit von mir entfernt, daß ich ihn unmöglich in die an unſerem Tiſchende geführte Unterhaltung ziehen konnte. Ich freute mich auf die Rückkehr in den Salon; dort wollte ich Tilling an meine Seite rufen und ihn noch weiter ausforſchen über jene Schlachtzene; ich ſehnte mich darnach, noch einmal jenen Ton zu hören, der mich das erſte Mal ſo ſympathiſch berührt hatte. Doch zur Ausführung dieſes Vorhabens bot ſich mir anfänglich keine Gelegenheit; die beiden Eisgrauen blieben mir auch nach Tiſche treu und nahmen an meiner Seite Platz, als ich im Salon mich anſchickte, den ſchwarzen Kaffee einzugießen. Dazu geſellten ſich noch, im Halbkreis, mein Vater, der Miniſter ***, Doktor Breſſer — und auch Tilling, aber die ſich entſpinnende Unterhaltung war eine allgemeine. Die übrigen Gäſte, darunter ſämtliche Damen, ließen ſich in einer anderen Ecke des Salons nieder, wo nicht geraucht wurde; während in unſerer Ecke — auch ich hatte mir eine Cigarette angezündet — das Rauchen geſtattet war. „Ob es denn nicht bald wieder losgehen wird?“ warf einer der Generäle hin. „Hm,“ meinte der andere, „den nächſten Krieg werden wir mit Rußland haben, denk’ ich.“ „Muß es denn immer einen nächſten Krieg geben?“ warf ich dazwiſchen, aber niemand achtete darauf. „Eher mit Italien,“ verſicherte mein Vater. „Wir müſſen doch unſere Lombardei zurückbekommen … So einen Einmarſch in Mailand, wie im Jahre 49 mit Vater Radetzky an der Spitze — das wollte ich doch noch erleben. Es war an einem ſonnigen Vormittag —“ „Ach, die Geſchichte vom Einmarſch in Mailand kennen wir alle,“ unterbrach ich. „Auch die vom braven Hupfauf?“ „Ich ſchon — und ich finde dieſelbe ſogar höchſt widerwärtig.“ „Was verſtehſt Du davon?“ „Laſſen Sie hören, Althaus — wir kennen die Geſchichte nicht.“ Das ließ ſich der Vater nicht zweimal ſagen. „Der Hupfauf alſo — vom Regiment Tiroler Jäger — ſelber ein Tiroler, hat ein famoſes Stück’l aufgeführt. Er war der beſte Schütz’, den man ſich denken kann; bei allen Scheibenſchießen war er immer König — er traf faſt jedesmal ins Ziel. Was hat der Mann gethan, als die Mailänder revoltierten? Er erbat ſich die Erlaubnis, mit vier Kameraden auf das Dach des Domes zu ſteigen und von dort auf die Rebellen herab zu ſchießen. Man hat’s ihm erlaubt und er hat’s auch ausgeführt. Die vier anderen, von welchen jeder einen Stutzen trug, thaten weiter nichts, als ohne Unterlaß ihre Waffen laden und ſie dem Hupfauf reichen, damit dieſer keine Zeit verliere. Und ſo hat er hintereinander neunzig Italiener totgeſchoſſen.“ „Abſcheulich!“ rief ich. „Jeder dieſer totgeſchoſſenen Italiener, auf die der oben aus ſicherer Höhe zielte, hatte eine Mutter und eine Geliebte zu Haus und hing wohl ſelber an ſeinem Leben.“ „Jeder war ein Feind, Kind; das ändert den ganzen Standpunkt.“ „Sehr richtig,“ ſagte Doktor Breſſer; „ſo lange der Begriff Feindſchaft unter den Menſchen ſanktioniert wird, ſo lange können die Gebote der Menſchlichkeit keine allgemeine Geltung erlangen.“ „Was ſagen Sie, Baron Tilling?“ fragte ich. „Ich hätte dem Manne einen Orden gewünſcht, der ihm die tapfere Bruſt geſchmückt — und eine Kugel, die ihm das harte Herz durchſchoſſen hätte. Beides wäre verdient geweſen.“ Ich warf dem Sprecher einen warmen, dankbaren Blick zu; die anderen aber, mit Ausnahme des Doktors, ſchienen von den eben gehörten Worten unangenehm berührt. Es entſtand eine kleine Pauſe. [Cela avait jeté un froid]. „Haben Sie ſchon von dem Buche eines engliſchen Naturforſchers Namens Darwin gehört, Exzellenz?“ wandte ſich jetzt der Doktor an meinen Vater. „Nein, nichts.“ „Doch, Papa … erinnere Dich nur: ſchon vor vier Jahren, als es eben erſchienen war, hat uns unſer Buchhändler das Buch geſchickt und Du ſagteſt noch damals, es werde bald von aller Welt vergeſſen ſein.“ „Was mich betrifft, ſo habe ich’s auch vergeſſen.“ „Alle Welt hingegen wird dadurch ziemlich in Aufregung verſetzt,“ ſagte der Doktor. „Es wird aller Orten für und gegen die neue Abſtammungslehre geſtritten.“ „Ach, Sie meinen wohl die Affentheorie?“ fragte der General zu meiner Rechten. „Davon war geſtern im Kaſino die Rede. Die Herren Gelehrten kommen oft auf ſonderbare Einfälle — der Menſch ſoll urſprünglich ein Orang-Utang geweſen ſein!“ „Allerdings,“ nickte der Miniſter — (wenn Miniſter*** „allerdings“ ſagte, ſo war das ein Zeichen, daß er ſich zu einer längeren Rede den Anlauf nahm), „die Sache klingt etwas komiſch; doch kann dieſelbe nicht als Scherz aufgefaßt werden. Es iſt eine nicht ohne Talent und mit dem Apparat fleißig geſammelter Thatſachen aufgeſtellte wiſſenſchaftliche Theorie, welche allerdings von den Männern vom Fach ſchon genügend widerlegt worden, welche aber, wie alle abenteuerlichen Ideen — ſo abgeſchmackt dieſelben auch ſeien — einen gewiſſen Effekt hervorgebracht hat und ihre Verteidiger findet. Über Darwin zu disputieren, iſt Mode geworden. Es wird nicht lange dauern, ſo kann man das Wort „Darwinismus“ erfinden — allerdings wird dann die ſo benannte Theorie ſelber ſchon aufgehört haben, ernſt genommen zu werden. Es iſt ein Fehler, daß die Leute in Bekämpfung dieſes engliſchen Sonderlings ſich ſo erhitzen; dadurch wird ſeiner Lehre eine Wichtigkeit beigelegt, die ihr nicht zukommt. Namentlich iſt es die Geiſtlichkeit, welche ſich gegen die allerdings herabwürdigende Zumutung zur Wehr ſetzt, daß der nach dem Ebenbilde Gottes geſchaffene Menſch jetzt plötzlich als dem Tierreich entſtammend gedacht werden ſoll, eine vom religiöſen Standpunkte aus allerdings höchſt anſtößige Annahme. Jedoch iſt bekanntermaßen die kirchliche Verdammung einer unter dem Gewand der Wiſſenſchaftlichkeit auftretenden Lehre, nicht im ſtande der Verbreitung derſelben Einhalt zu thun. Dieſelbe wird erſt dann unſchädlich, wenn ſie von den Vertretern der Wiſſenſchaft [ad absurdum] geführt worden iſt, was gegenüber der Darwiniſchen allerdings —“ „Aber {der} Unſinn!“ unterbrach mein Vater, welcher fürchten mochte, daß noch eine lange Kette von „allerdings“ ſeine übrigen Gäſte ermüden konnte, der Unſinn: vom Affen der Menſch! Da genügt doch wohl der ſogenannte geſunde Menſchenverſtand, um ſolche tolle Einfälle abzuweiſen — da braucht man doch nicht erſt gelehrte Widerlegungen“ … „Nun, für gar ſo apodiktiſch ſicher möchte ich dieſe Widerlegungen doch nicht halten,“ nahm nun der Doktor das Wort. „Es haben ſich zwar Zweifel erhoben, aber die Theorie hat doch manches Wahrſcheinliche für ſich und es wird noch eine Zeit brauchen, bis die Gelehrten einig werden.“ „Ich glaub’ {die} Herren werden {nie} einig,“ bemerkte der General zu meiner Linken, welcher in barſchem Ton und in Wiener Dialekt zu ſprechen pflegte, „{die} leben ja vom Disputieren. Ich hab’ von der Affeng’ſchicht auch ſchon was g’hört. War mir aber zu dumm, um aufzupaſſen. Wenn man ſich immer um alles Geſchwätz kümmern ſollt’, mit dem uns die Sterngucker und Graspflücker und Froſchhaxl-Unterſucher ein X für ein U vormachen wollen — da müßt einem ja Hören und Sehen vergehen. Übrigens habe ich neulich in einer illuſtrierten Zeitung dem Darwin ſein G’ſicht g’ſehen und das is ſelber ſo affenmäßig, daß ich faſt glauben möcht, ſein Großvater is ä Schimpans g’weſen.“ Dieſem letzten, den Sprecher ſehr befriedigenden Witz ließ derſelbe ein ſchallendes Gelächter folgen, in welches mein Vater aus hausherrlicher Zuvorkommenheit einſtimmte. „Gelächter iſt allerdings auch eine Waffe,“ ſprach der Miniſter ernſt, — „beweiſt aber nichts. Dem Darwinismus — ich benütze ſchon das neue Wort — kann man doch auch ernſthafte, auf wiſſenſchaftlicher Baſis ruhende Argumente ſiegreich entgegenſtellen. Wenn man gegen einen Schriftſteller ohne Autorität, Namen wie Linné, Cuvier, Agaſſiz, Quatrefages anführen kann, ſo muß deſſen Syſtem zuſammenſtürzen. Anderſeits läßt ſich allerdings nicht leugnen, daß zwiſchen Menſch und Affe eine große Stammesähnlichkeit beſteht und daß —“ „Trotz dieſer Ähnlichkeit iſt die Kluft doch eine meilenweite,“ unterbrach der ſanfte General. „Läßt ſich ein Affe denken, der den Telegraphen erfinden könnte? Die Sprache allein erhebt den Menſchen ſo weit über das Tier —“ „Entſchuldigen Sie, Exzellenz,“ ſagte Doktor Breſſer, „Sprache und techniſche Erfindungen waren dem Menſchen nicht urſprünglich angeboren — ein Wilder wird auch heute noch keinen Telegraphenapparat konſtruieren; das alles ſind Früchte langſamer Vervollkommnung und Entwickelung —“ „Ja ja, lieber Doktor,“ verſetzte der General, „ich weiß: Entwickelung iſt das Schlagwort der neuen Theorie — aber aus einem Känguruh entwickelt ſich kein Kameel … und warum ſieht man heutzutage keinen Affen Menſch werden?“ Jetzt wandte ich mich an Baron Tilling: „Und was ſagen Sie? Haben Sie von Darwin gehört und zählen Sie ſich zu ſeinen Anhängern oder — Gegnern?“ „Gehört habe ich über dieſen Gegenſtand ſchon vieles, Gräfin; aber ich kann kein Urteil abgeben, denn das in Frage ſtehende Werk: „[The origin of species]“ habe ich nicht geleſen.“ „Ich muß geſtehen,“ ſagte der Doktor, „ich auch nicht.“ „{Geleſen} habe ich es allerdings auch nicht,“ geſtand der Miniſter. „Ich auch nicht“ — „ich auch nicht“ — „ich auch nicht“ — kam es nun von den Anderen. „Aber,“ fuhr der Miniſter fort, „das Thema wird ſo vielfach beſprochen, die Schlagwörter des Syſtems ſind in aller Mund; „Kampf ums Daſein“ — natürliche Zuchtwahl“ — „Evolution“ und ſo weiter, daß man ſich doch einen klaren Begriff vom Ganzen machen kann und ſich reſolut auf die Seite der Anhänger oder der Gegner ſtellen, zu welch’ erſter Kategorie allerdings nur umſturzliebende und effekthaſchende Heißſporne gehören, während die kaltblütigen, nach poſitiven Beweiſen verlangenden, ſtreng kritiſchen Leute unmöglich einen anderen, als den von ſo bedeutenden Fachgelehrten geteilten Standpunkt der Gegnerſchaft einnehmen können; ein Standpunkt, der allerdings —“ „Nicht mit Sicherheit zu behaupten iſt, wenn man denjenigen der Anhängerſchaft nicht kennt,“ ergänzte Tilling. „Um zu wiſſen, was die Gegenargumente wert ſind, welche man, ſo oft eine neue Idee auftaucht, um ſich herum im Chor vorbringen hört, muß man in dieſe neue Idee auch ſelber eingedrungen ſein. Gewöhnlich ſind es die ſchlechteſten und ſeichteſten Gründe, die mit ſolcher Einſtimmigkeit von den Maſſen wiederholt werden — und auf dieſe hin fällt mir nicht ein, ein Urteil zu ſtützen. Als die Lehre des Kopernikus auftauchte, konnten nur diejenigen, die ſich der Mühe unterzogen, die kopernikaniſchen Berechnungen nachzurechnen, einſehen, daß dieſelben richtig waren; die anderen, die ihr Urteil nach den Bannflüchen richteten, welche von Rom aus gegen das neue Syſtem geſchleudert wurden —“ „In unſerem Jahrhundert werden, wie ich ſchon früher bemerkte,“ unterbrach der Miniſter, „wiſſenſchaftliche Hypotheſen, wenn ſie irrig ſind, nicht mehr vom Standpunkte der Orthodoxie, ſondern von demjenigen der Wiſſenſchaft abgefertigt.“ „Nicht nur wenn ſie irrig ſind,“ verſetzte Tilling, „auch wenn ſie ſich ſpäter bewahrheiten ſollen, werden neue Hypotheſen anfänglich immer von einer Zopfpartei unter den Gelehrten beſtritten. Dieſe läßt auch heute nicht gern an ihren althergebrachten Anſchauungen und Dogmen rütteln; gerade ſo wie damals nicht nur die Kirchenväter, ſondern ebenſo die Aſtronomen gegen Kopernikus geeifert.“ „Wollen’s damit behaupten,“ fiel der barſche General ein, „daß dem verrückten Engländer ſeine Affenidee ſo richtig iſt, wie daß die Erd’ um die Sonn’ herumlauft?“ „Ich will garnichts behaupten, weil ich, wie geſagt, das Buch nicht kenne. Doch nehme ich mir vor, dasſelbe zu leſen; vielleicht — aber auch nur vielleicht, denn meine einſchlagenden Kenntniſſe ſind nur gering — werde ich mir dann ein Urteil bilden können. Bis dahin muß ich mich darauf beſchränken, meine Meinung auf den Umſtand zu ſtützen, daß die Theorie auf verbreiteten und leidenſchaftlichen Widerſpruch ſtößt, ein Umſtand, welcher mir {allerdings} eher für als gegen deren Richtigkeit zeugt.“ „Du tapferer, gerader, heller Geiſt,“ apoſtrophierte ich in Gedanken den Sprecher. 15. Zweites Buch. Friedenszeit. // 5. Abſchnitt Gegen acht Uhr brachen ſämtliche Gäſte auf. Mein Vater wollte ſie noch alle zurückhalten und auch ich murmelte verbindlich ein paar gaſtliche Phraſen, wie „Doch wenigſtens noch eine Taſſe Thee?“ aber vergebens. Jeder brachte eine Entſchuldigung vor: der eine wurde im Kaſino, der andere in einer Soirée erwartet; eine der Damen hatte ihren Logentag in der Oper und wollte den vierten Akt der Hugenotten hören; die zweite erwartete noch Gäſte bei ſich; kurz, man mußte ſie — und nicht ſo ungern als es den Anſchein hatte — ziehen laſſen. Tilling und Doktor Breſſer, die ſich gleichzeitig mit den anderen erhoben hatten, empfahlen ſich zuletzt. „Und was haben Sie beide noch Wichtiges vor?“ fragte mein Vater. „Ich eigentlich nichts,“ antwortete Tilling lächelnd; „da aber ſämtliche Gäſte ſich entfernen, wäre es unbeſcheiden —“ „Dasſelbe gilt von mir,“ fiel der Doktor ein. „Nun, dann laſſe ich keinen von beiden fort.“ Ein paar Minuten ſpäter hatten mein Vater und der Doktor am Spieltiſch Platz genommen und vertieften ſich in eine Partie Piket, während Baron Tilling ſich an meine Seite zum Kamin ſetzte. — „Eine „einſchläfernde Geſchichte“ dieſes Diner? — Nein, wahrlich, angenehmer und anregender hätte ſich mir kein Abend geſtalten können —“ flog es mir durch den Sinn, und laut: „Eigentlich ſollte ich Ihnen Vorwürfe machen, Baron Tilling: warum haben Sie nach Ihrem erſten Beſuche den Weg in mein Haus vergeſſen?“ „Sie hatten mich nicht aufgefordert, wiederzukommen.“ „Ich teilte Ihnen doch mit, daß an Samstagen —“ „Ja, ja, zwiſchen Zwei und Vier … Das dürfen Sie mir nicht zumuten, Gräfin. Aufrichtig: ich kenne nichts Schrecklicheres, als dieſe offiziellen Empfangstage. In einen mit fremden Leuten angefüllten Salon eintreten; — ſich vor der Hausfrau verbeugen; — am äußerſten Ende eines Halbkreiſes Platz nehmen; — Bemerkungen über das Wetter austauſchen hören und, wenn man zufällig neben einen Bekannten zu ſitzen kam, eine eigene Bemerkung hinzufügen; — von der Hausfrau über alle Hinderniſſe weg mit einer Frage ausgezeichnet zu werden, die man eifrigſt beantwortet, hoffend, daß ſich nun mit derjenigen, die man beſuchen wollte, ein Geſpräch entſpinnen werde — vergebens: ſoeben tritt wieder ein anderer Gaſt ein, der begrüßt werden muß und der ſich hierauf auf das nächſte leere Plätzchen des Halbkreiſes niederläßt und — in der Meinung, das Thema ſei noch nicht berührt worden — eine neue Bemerkung über das Wetter in Umlauf bringt; dann nach zehn Minuten — wenn abermals Beſuchsverſtärkung kommt, womöglich eine Mama mit vier heiratsfähigen Töchtern, für die nicht genug Seſſel mehr frei wären — im Verein mit einigen anderen aufſtehen, von der Hausfrau ſich empfehlen und gehen … nein, Gräfin, ſo etwas überſteigt meine ohnehin nur ſchwachen geſelligen Fähigkeiten.“ „Sie ſcheinen überhaupt der Geſellſchaft ſich fern zu halten — man ſieht Sie nirgends. Sie ſind ein Menſchenfeind? … Doch nein, dieſe Frage nehme ich zurück. Aus manchem, was Sie ſagten, habe ich herausgehört, daß Sie alle Menſchen lieben.“ „Die Menſchheit liebe ich, aber alle Menſchen? — Nein. Es gibt zu viele nichtswürdige, bornierte, ſelbſtſüchtige, kaltblütig grauſame darunter — die kann ich nicht lieben, wenngleich ich ſie bedaure, daß ihnen Erziehung und Umſtände nicht geſtattet haben, liebenswert zu ſein.“ „Umſtände und Erziehung? Der Charakter hängt doch hauptſächlich von den angeborenen Anlagen ab — meinen Sie nicht?“ „Was Sie angeborene Anlagen nennen, ſind doch weiter nichts als auch Umſtände, ererbte Umſtände.“ „Dann ſind Sie der Anſicht, daß ein ſchlechter Menſch an ſeiner Schlechtigkeit unſchuldig und darum nicht zu verabſcheuen ſei?“ „Der Nachſatz iſt durch den Vorderſatz nicht bedingt: unſchuldig wohl — aber dennoch zu verabſcheuen. Sie ſind an Ihrer Schönheit auch unſchuldig und darum doch bewunderungswürdig.“ „Baron Tilling! Wir haben angefangen, als zwei vernünftige Leute ernſte Dinge zu ſprechen — verdiene ich da, plötzlich als komplimentenſüchtige Salondame behandelt zu werden?“ „Verzeihen Sie mir — ſo war es nicht gemeint. Ich habe nur das mir zunächſt liegende Argument gebraucht.“ Es entſtand eine kleine Pauſe. Tillings Blick hing mit einem bewundernden, faſt zärtlichen Ausdruck an meinen Augen, die ich nicht ſenkte … Ich weiß wohl, daß ich hätte wegſchauen ſollen — aber ich that es nicht. Ich fühlte meine Wangen erglühen und wußte, daß, wenn er mich hübſch fand, ich in dieſem Augenblick noch hübſcher erſcheinen mußte … es war ein angenehmes, „bösgewiſſiges“, verwirrendes Gefühl und dauerte eine halbe Minute. Länger durfte es nicht dauern; ich hob den Fächer vors Geſicht und veränderte meine Stellung. Dann in gleichgültigem Tone: „Sie haben vorhin dem Miniſter „Allerdings“ eine vortreffliche Antwort gegeben.“ Tilling ſchüttelte den Kopf, als ob er ſich aus einem Traume riſſe: „Ich? … Vorhin? … Ich erinnere mich nicht. Im Gegenteil: mir ſcheint, daß ich Ärgernis gegeben habe, mit meiner Bemerkung über den Springauf — Hopsauf — oder wie der brave Schütze hieß.“ „Hupfauf.“ „Sie waren die Einzige, der ich zu Dank geſprochen. Die Exzellenzherren hingegen habe ich mit meiner, für einen k._k. Oberſtlieutenant höchſt unpaſſenden Äußerung natürlich verletzt … „hartes Herz“, von einem, der ſo braves Beſtſchießen auf den Feind leiſtet: Läſterung! Soldaten ſind doch bekanntlich — je kaltblütiger ſie töten — deſto gutmütigere Kumpane; es giebt keine ſentimentalere Rührfigur im melodramatiſchen Repertoir, als den ſchlachtenergrauten, weichherzigen Krieger: keiner Fliege könnte der ſtelzfüßige Veteran etwas zu Leide thun.“ „Warum ſind Sie Soldat geworden?“ „Mit dieſer ſo geſtellten Frage beweiſen Sie, daß Sie mir ins Herz geſchaut haben. Nicht ich — nicht der neununddreißigjährige Friedrich Tilling, der drei Feldzüge geſehen, habe den Beruf gewählt, ſondern der zehn- oder zwölfjährige kleine Fritzl, der unter hölzernen Streitroſſen und bleiernen Regimentern aufgewachſen und den ſein Vater, der ordensgeſchmückte General, und ſein Onkel, der mädchenerobernde Lieutnant, aufmunternd fragten: Junge, was willſt Du werden? Was ſonſt als ein wirklicher Soldat, mit einem wirklichen Säbel und einem lebendigen Pferd?“ „Für meinen Sohn Rudolf wurde mir heute auch eine Schachtel Bleiſoldaten gebracht — ich werde ſie ihm nicht geben. — Doch warum — als der Fritzl zum Friedrich ſich entwickelt hatte, warum haben Sie da nicht einen Stand verlaſſen, der Ihnen verhaßt geworden?“ „Verhaßt? Das iſt zu viel geſagt. Ich haſſe den Zuſtand der Dinge, der uns Menſchen ſo grauſige Pflichten auferlegt, wie das Kriegsführen; da dieſer Zuſtand nun aber einmal da iſt — unvermeidlich da iſt — ſo kann ich die Leute nicht haſſen, welche die daraus erwachſenden Pflichten auf ſich nehmen und gewiſſenhaft, mit Aufwand ihrer beſten Kräfte, erfüllen. Wenn ich den Militärdienſt verließe, würde darum weniger Krieg geführt? Gewiß nicht. Es würde nur an meiner Stelle ein Anderer ſein Leben einſetzen — das kann ich ſchon auch ſelber thun.“ „Könnten Sie Ihren Mitmenſchen nicht in einem anderen Stande mehr Nutzen bringen?“ „Ich wüßte nicht. Ich habe nichts Anderes gründlich gelernt als die Soldaterei. Man kann um ſich herum immer Gutes und Nützliches wirken; ich habe Gelegenheit genug, den Leuten, die unter mir dienen, das Leben zu erleichtern. Und was mich ſelber betrifft — ich bin ja ſozuſagen auch ein Mitmenſch — ſo genieße ich den Reſpekt, welchen die Welt meinem Stande entgegenbringt; ich habe eine leidlich gute Karrière gemacht — bin bei den Kameraden beliebt, und freue mich dieſer Erfolge. Vermögen beſitze ich keins, als Privatmann hätte ich weder die Mittel, anderen noch mir zu nützen — aus welchem Grunde hätte ich da meine Laufbahn aufgeben ſollen?“ „Weil Ihnen das Totſchlagen widerſtrebt.“ „Wenn es gilt, das eigene Leben gegen einen anderen Totſchläger zu verteidigen, ſo hört die perſönliche Tötungsverantwortung auf. Der Krieg iſt oft und ganz zutreffend ein Maſſenmord benannt worden, aber der einzelne fühlt ſich nicht als Mörder. Daß mir jedoch der Kampf widerſtrebt, daß mir die Jammerauftritte des Schlachtfeldes Schmerz und Ekel einflößen — das iſt wahr. Ich leide dabei, leide intenſiv … aber ſo muß auch mancher Seemann während des Sturmes von der Seekrankheit leiden, und dennoch, wenn er ein halbwegs braver Kerl iſt, hält er aus auf Deck, und wagt ſich, wenn es ſein muß, immer wieder hinaus ins Meer.“ „Ja, wenn es ſein muß. Muß der Krieg denn ſein?“ „Das iſt eine andere Frage. Aber mitziehen muß der einzelne — und das giebt ihm, wenn auch nicht Luſt, ſo doch Kraft zu ſeiner Amtserfüllung.“ So ſprachen wir noch eine Zeit lang fort — in leiſem Ton, um die Piketſpieler nicht zu ſtören — und wohl auch, um von ihnen nicht gehört zu werden, denn unſere getauſchten Anſichten — Tilling ſchilderte noch einige Schlachtenepiſoden und ſeinen dabei empfundenen Abſcheu, ich teilte ihm die von Buckle aufgeſtellten Betrachtungen über den mit ſteigender Civiliſation abnehmenden Kriegsgeiſt mit — dieſe Reden paßten nicht für die Ohren des Generals Althaus. Ich empfand, daß es ein Zeichen großen Vertrauens von ſeiten Tillings war, mir über dieſes Thema ſo rückhaltlos ſein Inneres aufzudecken — es war da ein Strom von Sympathie von einer Seele zur anderen übergegangen … „Ihr ſeid ja dort in ſehr eifriges Geflüſter vertieft!“ rief einmal beim Kartenmiſchen mein Vater zu uns herüber. „Was komplottiert Ihr denn?“ „Ich erzähle der Gräfin Feldzugsgeſchichten —“ „So? Das iſt ſie ſchon von Kindheit an gewohnt. Ich erzähle dergleichen auch zuweilen. Sechs Blatt, Herr Doktor, und eine Quartmajor —“ Wir nahmen unſer Geflüſter wieder auf. Plötzlich, während Tilling ſprach — er hatte ſeinen Blick wieder in den meinen geſenkt und aus ſeiner Stimme klang ſo inniges Vertrauen — fiel mir die Prinzeſſin ein. Es gab mir einen Stich und ich wandte den Kopf ab. Tilling unterbrach ſich mitten in ſeinem Satz: „Was machen Sie ſo ein böſes Geſicht, Gräfin?“ fragte er erſchrocken; „hab’ ich etwas geſagt, das Ihnen mißfallen?“ „Nein, nein … es war nur ein peinlicher Gedanke. Fahren Sie fort.“ „Ich weiß nicht mehr, wovon ich ſprach. Vertrauen Sie mir lieber Ihren peinlichen Gedanken an. Ich habe Ihnen die ganze Zeit über ſo offen mein Herz ausgeſchüttet — vergelten Sie mir das.“ „Es iſt mir ganz unmöglich, Ihnen das mitzuteilen, woran ich vorhin dachte.“ „Unmöglich? darf ich raten? … Betraf es Sie?“ „Nein.“ „Mich?“ Ich nickte. „Etwas Peinliches über mich, was Sie mir nicht ſagen können? … Iſt es —“ „Zerbrechen Sie ſich nicht den Kopf; ich verweigere jede weitere Auskunft!“ Dabei ſtand ich auf und blickte nach der Uhr. „Schon halb zehn … Ich werde Dir jetzt adieu ſagen, Papa —“ Mein Vater ſchaute von ſeinen Karten auf: „Gehſt Du noch in eine Soirée?“ „Nein, nach Hauſe — ich bin geſtern ſehr ſpät zu Bett gegangen —“ „Und da biſt Du ſchläfrig? Tilling, das iſt kein Kompliment für Sie.“ „Nein, nein,“ proteſtierte ich lächelnd, „den Baron trifft keine Schuld … wir haben uns ſehr lebhaft unterhalten.“ Ich verabſchiedete mich von meinem Vater und dem Doktor; Tilling bat ſich die Erlaubnis aus, mich bis zu meinem Wagen zu geleiten. Er war’s, der mir im Vorzimmer den Mantel umhing und der mir über die Treppe hinab den Arm reichte. Beim Hinuntergehen blieb er einen Moment ſtehen und fragte mich ernſthaft: „Nochmals, Gräfin, habe ich Sie etwa erzürnt?“ „Nein — auf Ehre.“ „Dann bin ich beruhigt.“ Indem er mich in den Wagen hob, drückte er feſt meine Hand und führte ſie an die Lippen.“ „Wann darf ich Ihnen meine Aufwartung machen?“ „An Samstagen bin ich —“ Er verneigte ſich und trat zurück. Ich wollte ihm noch etwas zurufen, aber der Bediente ſchloß den Wagenſchlag. Ich warf mich in die Ecke zurück und hätte am liebſten geweint — Thränen des Trotzes, wie ein erboſtes Kind. Ich war auf mich ſelber wütend: wie konnte ich nur ſo kalt, ſo unhöflich, ſo beinahe grob mit einem Menſchen ſein, der mir ſo warme Sympathie einflößte … Daran war dieſe Prinzeſſin ſchuld — wie ich die haßte! Was war das? … Eiferſucht? Jetzt blitzte mir das Verſtändnis deſſen auf, was mich bewegte: ich war in Tilling verliebt — — — — „Verliebt, liebt, liebt“ raſſelten die Räder auf dem Pflaſter, „Du liebſt ihn,“ leuchteten mir die vorüberfliegenden Straßenlaternen zu — „Du liebſt ihn,“ duftete es mir aus dem Handſchuh, den ich an meine Lippen führte — an der Stelle, die er geküßt. 16. Zweites Buch. Friedenszeit. // 6. Abſchnitt Tags darauf trug ich in die roten Hefte folgende Zeilen ein: „Was mir geſtern die Wagenräder und die Straßenlaternen ſagten, iſt nicht wahr, oder doch zum mindeſten ſehr übertrieben. Ein ſympathiſcher Zug zu einem edlen und geſcheidten Menſchen! — ja; aber Leidenſchaft? — nein. Ich werde doch mein Herz nicht ſo hinſchleudern an jemand, der einer Anderen gehört. Auch er empfindet Sympathie für mich — wir verſtehen uns in vielen Dingen; vielleicht bin ich die Einzige, der er ſeine Gedanken über den Krieg mitteilt — aber darum iſt er noch lange nicht verliebt in mich — und ebenſowenig darf ich es in ihn ſein. Daß ich ihn nicht aufforderte, mich an einem anderen Tage, als an den ihm ſo verhaßten offiziellen Empfangstagen zu beſuchen, mochte wohl nach dem vorausgegangenen, vertrauensvollen Gedankentauſch etwas unfreundlich geſchienen haben … Aber es iſt vielleicht beſſer ſo. Wenn nur erſt ein paar Wochen über die geiſtigen Eindrücke, die mich ſo tief erſchüttert haben, verſtrichen ſind, dann werde ich Tilling wieder ganz ruhig begegnen können, mit der Idee vertraut, daß er eine Andere liebt und mich harmlos an ſeinem freundſchaftlichen und geiſtanregenden Umgang erlaben. Denn es iſt wahrhaft ein Vergnügen, mit ihm zu verkehren — er iſt ſo anders, ſo ganz anders als alle Anderen. Ich bin wirklich froh, daß ich das heute ſo gelaſſen konſtatieren kann — geſtern mußte ich einen Augenblick ſchon fürchten, daß es um meine Ruhe geſchehen ſei, und daß ich die Beute quälender Eiferſucht würde … heute iſt dieſe Furcht verflogen.“ Am ſelben Tage beſuchte ich meine Freundin Lori Griesbach — dieſelbe, bei der ich den Tod meines armen Arno erfahren. Sie war unter den jungen Frauen meiner Bekanntſchaft diejenige, mit welcher ich am meiſten und am intimſten verkehrte. Nicht, daß wir in vielen Hinſichten übereinſtimmten, oder daß wir uns gegenſeitig vollkommen verſtanden — wie dies doch die Grundlage echter Freundſchaft ſein ſoll; — aber wir waren als Kinder Geſpielinnen, als jung verheiratete Frauen Stellungsgenoſſinnen geweſen; hatten damals faſt täglich verkehrt und ſo war eine gewiſſe Gewohnheitsvertraulichkeit zwiſchen uns entſtanden, welche trotz ſo mancher Grundverſchiedenheit unſerer Weſen — unſeren gegenſeitigen Umgang zu einem recht angenehmen und gemütlichen geſtaltete. Es war ein gewiſſes, engbegrenztes Gebiet, auf dem wir uns begegneten, aber auf dem waren wir einander aufrichtig gut. Ganze Seiten meines Seelenlebens blieben ihr ganz verſchloſſen. Von den An- und Einſichten, zu welchen ich in meiner ſtillen Studierzeit gelangt war, hatte ich ihr nie ein Wort mitgeteilt und fühlte auch kein Bedürfnis dazu. Wie ſelten kann man ſich einem Menſchen {ganz} geben! Das habe ich recht oft im Leben erfahren, daß ich dem einen nur dieſe, dem anderen nur jene Seite meiner geiſtigen Perſönlichkeit erſchließen konnte; daß, ſo oft ich mit dieſem oder jenem verkehrte, ſozuſagen nur ein gewiſſes Regiſter ſich aufzog, die ganze übrige Klaviatur aber ſtumm blieb. Zwiſchen Lori und mir gab es der Gegenſtände genug, die uns zu ſtundenlangem Plaudern Stoff boten: unſere Kindheitserinnerungen, unſere Kleinen, die Ereigniſſe und Vorkommniſſe unſeres Geſellſchaftskreiſes, Toilette, engliſche Romane und dergleichen mehr. Loris Knabe, Xaver, war im Alter meines Sohnes Rudolf und deſſen liebſter Spielkamerad; und Loris Töchterchen, Beatrix, damals zehn Monate alt, wurde ſcherzweiſe von uns beſtimmt, einſt Gräfin Rudolf Dotzky zu werden. „Sieht man Dich endlich wieder!“ empfing mich Lori. „Du biſt ja in letzter Zeit ganz Einſiedlerin geworden. Auch meinen künftigen Schwiegerſohn habe ich ſchon lange nicht die Ehre gehabt bei mir zu ſehen — Beatrix wird das ſehr übel nehmen … Jetzt erzähle, Kind, was treibſt Du? … Und wie geht es Roſa und Lilli? Für Lilli habe ich übrigens eine intereſſante Nachricht, die mir mein Mann geſtern aus dem Kaffeehaus mitgebracht: es iſt einer ſehr verliebt in ſie — einer, von dem ich glaubte, er machte {Dir} die Kour … doch das erzähle ich ſpäter. Was Du da für ein hübſches Kleid haſt — von der Francine, nicht wahr? Das habe ich gleich erkannt — ſie hat doch ein eigentümliches Cachet … Und der Hut von Gindreau? Steht Dir allerliebſt … Er macht jetzt auch Koſtüme, nicht nur Hüte … auch mit ungeheurem Geſchmack. Geſtern Abend bei Dietrichſtein — warum biſt Du nicht gekommen? — hatte die Nini Chotek eine Gindreauſche Toilette an und ſah beinahe hübſch aus …“ So ging es eine Zeit lang fort und ich antwortete im ſelben Tone. Nachdem ich das Geſpräch geſchickt auf die in der „Welt“ kurſierenden Klatſchereien gelenkt, ſtellte ich in möglichſt unbefangener Weiſe die Frage: „Haſt Du auch gehört, daß Prinzeſſin *** ein Verhältnis mit — mit einem gewiſſen Baron Tilling haben ſoll?“ „Ich habe ſo etwas gehört — aber jedenfalls iſt das [de l’histoire ancienne]. Heute iſt es eine allbekannte Sache, daß die Prinzeſſin für einen Burgſchauſpieler ſchwärmt. Intereſſierſt Du Dich etwa für dieſen Baron Tilling? Du wirſt rot? Da hilft kein verneinendes Kopfſchütteln — beichte lieber! Es iſt ohnedies unerhört, daß Du ſo lang kalt und fühllos bleibſt … es wäre mir eine wahre Genugthuung, Dich einmal verliebt zu wiſſen … Freilich, eine Partie für Dich wäre Tilling nicht — da haſt Du glänzendere Bewerber — er ſoll gar nichts haben. Nun, Du biſt ſelber reich genug — aber er iſt auch zu alt für Dich … Wie alt wäre jetzt der arme Arno? … Das war doch gar zu traurig damals … den Augenblick werde ich nie vergeſſen, da Du mir meines Bruders Brief vorgeleſen … Ja, es iſt doch eine ſchlimme Einrichtung, der Krieg … Für manche — für andere iſt er eine wunderſchöne Einrichtung: mein Mann wünſcht ſich nichts ſehnlicher, als daß es bald wieder zu etwas käme; er möchte ſich ſo gern auszeichnen. Ich begreife dies — wenn ich ein Soldat wäre, würde ich mir auch wünſchen, eine Großthat machen zu können, oder doch in der Karriere vorwärts zu kommen —“ „Oder verkrüppelt oder totgeſchoſſen zu werden?“ „{Daran} dächt’ ich nie. Daran ſoll man nicht denken — und es trifft ja doch nur die, denen es beſtimmt iſt. — So war es Deine Beſtimmung, Herz eine junge Wittwe zu werden.“ „Darum mußte der Krieg mit Italien ausbrechen?“ „Und wenn es meine Beſtimmung iſt, die Frau eines verhältnismäßig jungen Generals zu ſein —“ „So muß es nächſtens zu einem Völkerkonflikt kommen, damit Griesbach ſchnell avancieren könne? Du zeichneſt der Weltordnung einen ſehr einfachen Lauf vor. — Was wollteſt Du mir mit Bezug auf Lilli erzählen?“ „Daß Euer Vetter Konrad für ſie ſchwärmt. Ich vermute, er wird nächſtens um ſie anhalten.“ „Das bezweifle ich. Konrad Althaus iſt ein viel zu flatterhafter und toller Burſch’, um ans Heiraten zu denken.“ „Ach, toll und flatterhaft ſind ſie ja alle und heiraten doch, wenn ſie ſich vernarren … Glaubſt Du, daß er der Lilli gefällt?“ „Ich habe nichts bemerkt.“ „Er wäre eine ſehr gute Partie. Wenn ſein Onkel Drontheim ſtirbt, ſo erbt er die Herrſchaft Selavetz. Apropos Drontheim — weißt Du, daß der Ferdi Drontheim, derſelbe, der ſein Vermögen mit der Tänzerin Grill durchgebracht hat, jetzt eine reiche Bankierstochter heiraten ſoll? — Nun — empfangen wird ſie doch niemand … Kommſt Du heute Abend zur engliſchen Botſchaft? Wieder nicht? Eigentlich haſt Du recht — in dieſen Geſandtſchafts-Raouts fühlt man ſich doch nicht ſo ganz unter ſich: es ſind ſo viele fremdartige Leute dabei, von denen man nicht ſicher weiß, ob ſie [comme il faut] ſind; jeder durchreiſende Engländer, der ſich bei ſeinem Geſandten vorſtellen läßt, wird da eingeladen — wenn es auch ein bürgerlicher Gutsbeſitzer, oder gar Induſtrieller oder ſo etwas iſt. Ich habe die Engländer nur in der Tauchnitz-Edition gern … Haſt Du „[Jane Eyre]“ ſchon ausgeleſen? — nicht wahr, wunderhübſch? Wenn Beatrix zu ſprechen anfängt, werde ich ihr eine engliſche Bonne nehmen … Mit der Franzöſin des Xaver bin ich gar nicht zufrieden … Neulich bin ich ihr auf der Straße begegnet, wie ſie den Kleinen ausführte, und ein junger Mann — anſcheinend ein Kommis — ging nebenher, in angelegentlichſtem Geſpräch mit ihr. Plötzlich ſtand ich vor ihnen — die Verlegenheit hätteſt Du ſehen ſollen! Überhaupt, mit den Leuten hat man ſein Kreuz! … Da iſt meine Jungfer, die hat mir gekündigt, weil ſie heiratet — jetzt, wo ich ſie gewohnt war — es iſt nichts unausſtehlicher, als neue Geſichter zum bedienen … Was? Du willſt ſchon fort?“ „Ja, liebes Herz — ich muß noch einige unaufſchiebbare Beſuche machen …“ Und ich ließ mich nicht bewegen auch „nur noch fünf Minuten!“ zu bleiben, obwohl die unaufſchiebbaren Beſuche erlogen waren. Sonſt hatte ich es doch ſtundenlang ausgehalten, ſolch’ inhaltsloſes Geplapper anzuhören und mitzuplappern — aber an dieſem Tage widerte es mich an. Eine Sehnſucht ergriff mich: … Ach nur wieder ſo ein Geſpräch wie geſtern abends — ach Tilling — Friedrich Tilling … Die Wagenräder hatten alſo doch recht mit ihrem Refrain! … Es war eine Wandlung mit mir geſchehen — ich war in eine andere Gefühlswelt hinaus gehoben; dieſe kleinlichen Intereſſen, in welche meine Freundin ſo ganz vertieft war: Toiletten, Bonnen, Heirats- und Erbſchaftsgeſchichten aus der Geſellſchaft — das war doch gar zu nichtig, zu erbärmlich, zu erſtickend … Hinaus, hinauf in eine andere Lebensluft! Und Tilling war ja frei: die Prinzeſſin „ſchwärmt für einen Burgſchauſpieler“ … Die hat er wohl nie geliebt … ein vorübergehendes — ein {vorübergegangenes} Abenteuer, weiter nichts. 17. Zweites Buch. Friedenszeit. // 7. Abſchnitt Es verſtrichen mehrere Tage, ohne daß ich Tilling wiederſah. Jeden Abend ging ich ins Theater und von da in eine Soirée, in der hoffenden Erwartung ihm zu begegnen, aber vergebens. Mein Empfangstag brachte mir viele Beſuche, aber natürlich nicht den ſeinen. Den hatte ich auch nicht erwartet. Es ſah ihm nicht ähnlich, nach ſeinem beſtimmten „Gräfin, das dürfen Sie mir nicht zumuten“ und ſeinem am Wagenſchlag geſagten „Ich verſtehe — alſo gar nicht“ ſich dennoch an einem ſolchen Tage bei mir einzufinden. Ich hatte ihn an jenem Abend gekränkt, das war gewiß; und er vermied es, mit mir zuſammenzukommen, das war offenbar. Allein, was konnte ich thun? Ich brannte danach, ihn wieder zu ſehen, meine damalige Unfreundlichkeit wieder gut zu machen und eine neue ſolche Plauderſtunde zu erleben, wie jene in meines Vaters Haus; eine Plauderſtunde, deren Reiz mir jetzt noch hundertfach erhöht worden wäre, durch das mir nunmehr klar gewordene Bewußtſein meiner Liebe. In Ermangelung Tillings brachte mir der nächſtfolgende Samstag doch wenigſtens Tillings Couſine — dieſelbe, auf deren Ball ich ihn kennen gelernt. Als ſie eintrat, fing mir das Herz zu pochen an; jetzt konnte ich doch wenigſtens etwas von demjenigen erfahren, der meine Gedanken ſo beſchäftigte. Ich brachte es jedoch nicht über mich, eine diesbezügliche Frage zu ſtellen; ich fühlte, daß ich nicht im ſtande wäre, den gewiſſen Namen auszuſprechen, ohne verräteriſch zu erglühen, und ſo unterhielt ich meine Beſucherin von hundert verſchiedenen Dingen — unter anderen auch vom Wetter — aber nur nicht von dem, was ich auf dem Herzen hatte. „Ah, Martha,“ ſagte jene unvermittelt, „ich habe eine Poſt an Sie zu beſtellen: mein Vetter Friedrich läßt Sie grüßen — er iſt vorgeſtern abgereiſt.“ Ich fühlte, daß mir das Blut aus den Wangen wich. „Abgereiſt? Wohin? Wurde ſein Regiment verſetzt?“ „Nein … er hat nur einen kurzen Urlaub genommen, um nach Berlin zu eilen, wo ſeine Mutter auf dem Sterbebette liegt. Der Arme, er dauert mich; denn ich weiß, wie er ſeine Mutter vergöttert.“ Nach zwei Tagen erhielt ich einen Brief von unbekannter Hand, mit dem Poſtſtempel Berlin. Noch ehe ich nach der Unterſchrift geſchaut, wußte ich, daß das Schreiben von Tilling kam. Es lautete: „Berlin, Friedrichſtr. 8, 30. März 1863. // 1 Uhr nachts. Teure Gräfin! Ich muß Jemandem klagen … Warum gerade Ihnen? Habe ich ein Recht dazu? Nein — aber den unwiderſtehlichen Drang. Sie werden mir nachfühlen — ich weiß es. Hätten Sie die Sterbende gekannt. Sie würden ſie geliebt haben. Dieſes weiche Herz, dieſer helle Verſtand, dieſe heitere Laune, dieſe Hoheit und Würde — und das alles ſoll jetzt ins Grab — keine Hoffnung! Ich habe den ganzen Tag an ihrem Lager verbracht und werde auch die Nacht über hier bleiben — ihre letzte Nacht … Sie hat viel gelitten, die Arme. Jetzt iſt ſie ruhig — die Kräfte ſchwinden, der Pulsſchlag hat beinah ſchon aufgehört … Außer mir wachen noch ihre Schweſter und ein Arzt im Krankenzimmer. Ach, dieſe ſchreckliche Zerreißung: der Tod! Man weiß doch, daß er alle fällen muß und doch kann man’s nie recht faſſen, daß er auch unſere Lieben hinraffen darf. Was mir {dieſe} Mutter war, das vermag ich nicht zu ſagen. Sie weiß, daß ſie ſtirbt. Als ich ankam, heute morgen, empfing ſie mich mit einem Freudenſchrei: — Alſo doch — ſehe ich Dich noch einmal, mein Fritz! Ich fürchtete ſo, Du kämſt zu ſpät. — Du wirſt ja wieder geſund werden, Mutter, rief ich. — Nein, nein — davon iſt keine Rede, mein alter Bub’. Nimm dieſem unſerem letzten Beiſammenſein nicht die Weihe durch die üblichen Krankenbettvertröſtungen. Sagen wir uns Lebewohl — Ich fiel ſchluchzend an der Bettſeite in die Knie. — Du weinſt, Fritz? Schau, ich ſage Dir auch nicht das üble „Weine nicht“. Es iſt mir lieb, daß Dir der Abſchied von Deiner beſten alten Freundin leid thut. Das bürgt mir, daß ich lange unvergeſſen bleibe — — Solang ich lebe, Mutter! — Erinnere Dich dabei, daß ich viel Freude an Dir gehabt. Außer der Sorge, die mir Deine Kinderkrankheiten bereitet, und dem Bangen, während Du im Kriege warſt, haſt Du nur glückliche Gefühle verurſacht und haſt mir Alles tragen helfen, was das Schickſal mir Trübes auferlegt. Ich ſegne Dich dafür, mein Kind.“ Jetzt kam wieder ein Anfall ihrer Schmerzen über ſie. Wie ſie jammerte und ſtöhnte, wie ihre Züge ſich verzerrten — es war herzzerreißend. Ja, es iſt ein fürchterlicher, grimmer Feind, der Tod … und der Anblick dieſer Agonie rief mir alle Agonien ins Gedächtnis, welche ich auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten geſehen … Wenn ich denke, daß wir Menſchen bisweilen willkürlich, frohgemut einander dem Tod entgegenhetzen, daß wir der vollkräftigen Jugend zumuten, dieſem Feind ſich willig zu ergeben, gegen den das müde und gebrechliche Alter ſogar noch verzweifelt ringt, es iſt — niederträchtig! Dieſe Nacht iſt ſchaurig lang … Wenn die arme Kranke nur ſchlief — aber ſie liegt mit offnen Augen da. Ich verbringe immer halbe Stunden lang regungslos an ihrem Lager, dann ſchleiche ich mich zu dieſem Briefbogen, um ein paar Worte zu ſchreiben — dann wieder zurück zu ihr. So iſt es ſchon vier Uhr geworden. Ich habe eben die vier Schläge von allen Glockentürmen hallen gehört — es mutet einem ſo kalt, ſo teilnahmslos an, daß die Zeit ſtetig unbeirrt durch alle Ewigkeit fortſchreitet, während eben für ein heißgeliebtes Weſen die Zeit aufhören ſoll — für alle Ewigkeit. Aber je kälter, je teilnahmsloſer das All ſich zu unſerem Schmerz verhält, deſto ſehnſüchtiger flüchten wir an ein anderes Menſchenherz, von dem wir glauben, daß es mitfühlend ſchlägt. Darum hat mich das weiße Papierblatt, das der Arzt beim Rezeptſchreiben auf dem Tiſche liegen ließ, herangelockt — und darum ſchicke ich das Blatt an Sie … 7 Uhr. Es iſt vorbei. — Lebewohl, mein alter Bub’. Das waren ihre letzten Worte. Darauf ſchloß ſie die Augen und ſchlief ein. — Schlaf wohl, meine alte Mutter! Weinend küßt Ihre lieben Hände Ihr zu Tode betrübter Friedrich Tilling.“ Dieſen Brief beſitze ich noch. Wie zerknittert und verblaßt ſieht das Blatt nicht aus! Nicht nur die verfloſſenen fünfundzwanzig Jahre haben dieſe Verwitterung verurſacht, ſondern auch die Thränen und Küſſe, mit welchen ich damals die lieben Schriftzüge bedeckte. „Zu Tode betrübt“ — ja — aber auch „himmelhochjauchzend“ war mir zu Mute, nachdem ich geleſen. Deutlicher — obwohl kein Wort von Liebe darin ſtand — konnte kein Brief den Beweis erbringen, daß der Schreiber die Empfängerin — und keine andere — liebte. Daß er in ſolcher Stunde, am Sterbelager der Mutter, ſein Leid nicht am Herzen der Prinzeſſin auszuweinen ſich ſehnte, ſondern an dem meinen — das mußte doch jeden eiferſüchtigen Zweifel erſticken. Ich überſchickte am ſelben Tage einen Totenkranz aus hundert großen weißen Kamelien, mit einer halberblühten roten Roſe drin. Ob er wohl verſtehen würde, daß die blaſſen, duftloſen Blumen der Dahingeſchiedenen galten, als Symbole der Trauer, und das glutfarbige Röschen — ihm? … 18. Zweites Buch. Friedenszeit. // 8. Abſchnitt Drei Wochen waren vergangen Konrad Althaus hatte um meine Schweſter Lilli angehalten und einen Korb bekommen. Er nahm jedoch die Sache nicht tragiſch und blieb wie zuvor ein eifriger Beſucher unſeres Hauſes und umſchwärmte uns in den Salons der Geſellſchaft. Ich drückte ihm einmal meine Verwunderung über ſeine unerſchütterte Vaſallentreue aus: „Es freut mich ſehr,“ ſagte ich, „daß Du nicht zürnſt; aber es beweiſt mir, daß Dein Gefühl für Lilli doch kein ſo heftiges war, wie Du vorgibſt, denn verſchmähte Liebe pflegt boshaft und nachträgeriſch zu ſein.“ „Du irrſt, verehrteſte Frau Couſine — ich habe die Lilli raſend gern. Zuerſt glaubte ich, mein Herz gehöre Dir; Du haſt Dich aber ſo zurückhaltend kalt erwieſen, daß ich noch rechtzeitig die keimende Leidenſchaft erſtickte; dann hab’ ich mich eine Zeit lang für Roſa intereſſiert; ſchließlich aber hat ſich meine Neigung bei Lilli fixiert — und dieſer Neigung werde ich jetzt treu bleiben — bis an mein Lebensende.“ „Sieht Dir ganz ähnlich.“ „Lilli oder keine!“ „Da ſie Dich aber nicht will, mein armer Konrad?“ „Glaubſt Du, ich wäre der erſte, der einen Korb bekommen, der ſich bei der Selben einen zweiten und dritten geholt und beim vierten Antrag angenommen wurde? — ſchon um der Zudringlichkeit ein Ende zu machen? … Lilli hat ſich nicht verliebt in mich, eine nicht ganz erklärliche — aber immerhin eine Thatſache. Daß ſie unter ſo bewandten Umſtänden der für ſo viele Mädchen unwiderſtehlichen Verlockung, Frau zu werden, widerſtanden hat, und auf einen, vom weltlichen Standpunkt annehmbaren Antrag nicht eingegangen iſt, das gefällt mir eigentlich ſehr gut von ihr, und ich bin noch verliebter als zuvor. Nach und nach wird meine Anhänglichkeit ſie rühren und Gegenliebe erwecken; dann ſollſt Du noch meine Schwägerin werden, liebſte Martha. Hoffentlich wirſt Du mir nicht entgegenwirken?“ „Ich? — o nein, im Gegenteil; mir gefällt Dein Verharrungsſyſtem. So ſollte immer um uns geworben werden — mit Zeit- und Zärtlichkeitsaufwand — was die Engländer [to woe and to win] nennen. Aber minnen und gewinnen: dazu geben ſich unſere jungen Herren wahrlich nicht die Mühe. Sie wollen ihr Glück nicht erſt erringen, ſondern es mühelos pflücken, wie eine Blume am Wegesrand!“ Tilling war ſeit vierzehn Tagen nach Wien zurückgekehrt — ſo hatte ich erfahren — doch kam er nicht zu mir. In den Salons konnte ich natürlich nicht erwarten, ihm zu begegnen, da ihn ſeine Trauer von allem geſellſchaftlichen Umgang fern hielt. Doch hatte ich gehofft, daß er zu mir kommen oder wenigſtens mir ſchreiben würde; es verging aber ein Tag um den andern, ohne mir den erwarteten Beſuch oder Brief zu bringen. „Ich begreife nicht, was Du haſt, Martha,“ ſo ſprach mich eines Morgens Tante Marie an; „Du biſt ſeit einiger Zeit ſo verſtimmt, ſo zerſtreut, ſo, ich weiß nicht wie … Du haſt ſehr, ſehr unrecht, daß Du keinem Deiner Bewerber Gehör ſchenkſt. Dieſes Alleinſein — das habe ich zu allem Anfang geſagt — taugt nicht für Dich. Die Folge davon iſt dieſer Spleen, der Dich jetzt auszeichnet. — Haſt Du ſchon Deine öſterliche Andacht verrichtet? Das würde Dir auch gut thun.“ „Ich denke, beides: heiraten und beichten, ſollte aus Liebe zur Sache gethan werden und nicht als Spleenkur. — Von meinen Bewerbern gefällt mir keiner, und was das Beichten betrifft —“ „So iſt es höchſte Zeit: morgen iſt Gründonnerſtag … Haſt Du Billets zur Fußwaſchung?“ „Ja — Papa hat mir welche verſchafft — aber ich weiß wirklich nicht, ob ich gehen werde.“ „O das mußt Du — es gibt nichts Schöneres und Erhebenderes, als dieſe Ceremonie … der Triumph der chriſtlichen Demut: Kaiſer und Kaiſerin auf dem Boden rutſchend, um die Füße armer Pfründner und Pfründnerinnen zu waſchen — ſymboliſiert das nicht ſo recht, wie klein und nichtig die irdiſche Majeſtät vor der göttlichen iſt?“ „Um durch Niederknieen Demut ſinnbildlich darzuſtellen, muß man ſich eben ſehr erhaben fühlen. Es drückt aus: was Gott Sohn im Verhältnis zu den Apoſteln, das bin ich, Kaiſer, zu Pfründnern. Mir kommt dieſes Grundmotiv der Ceremonie nicht gerade demütig vor.“ „Du haſt ſo kurioſe Anſichten, Martha. In den drei Jahren, die Du in ländlicher Einſamkeit und mit Leſen ſchlechter Bücher zugebracht, haſt, ſind Deine Ideen ſo verſchroben geworden.“ „{Schlechte} Bücher?“ „Ja, ſchlecht — ich halte das Wort aufrecht. Neulich, als ich in meiner Unſchuld zum Erzbiſchof von einem Buch ſprach, das ich auf Deinem Tiſch geſehen und das ich dem Titel nach für ein Andachtsbuch hielt: „Das Leben Jeſu“ von einem gewiſſen Strauß — da ſchlug er die Hände über dem Kopf zuſammen und rief: „Barmherziger Himmel, wie kommen Sie zu ſo einem ruchloſen Werk?“ Ich wurde ganz feuerrot und verſicherte, daß ich das Buch nicht ſelber geleſen, ſondern nur bei einer Verwandten geſehen. „Dann fordern Sie dieſe Verwandte bei ihrer Seligkeit auf, dieſe Schrift ins Feuer zu werfen.“ Das thue ich hiermit, Martha. Wirſt Du dies Buch verbrennen?“ „Wären wir um zwei- oder dreihundert Jahre jünger, ſo könnten wir zuſehen, wie nicht nur das Werk, ſondern auch der Autor in Flammen aufginge. Das wäre wirkſamer — momentan wirkſamer — auch nicht für lang’ …“ „Du antworteſt mir nicht. Wirſt Du das Buch verbrennen?“ „Nein.“ „So kurzweg ‚nein‘?“ „Wozu lange Reden? Wir verſtehen einander in dieſer Richtung doch nicht, mein liebſtes Tantchen. Laß Dir lieber erzählen, was geſtern der kleine Rudolf …“ Und damit war das Geſpräch glücklich auf ein anderes, ſehr ergiebiges Thema gelenkt, wo es zu keiner Meinungsverſchiedenheit zwiſchen uns kam; denn über die Thatſache, daß Rudolf Dotzky das herzigſte, originellſte, für ſein Alter vorgeſchrittenſte Kind der Welt iſt — darüber waren wir beide einig. Am folgenden Tag entſchloß ich mich doch, der Fußwaſchung beizuwohnen. Etwas nach zehn Uhr, ſchwarz gekleidet, wie es ſich für die Karwoche ziemt, begaben wir uns, meine Schweſter Roſa und ich, in den großen Ceremonienſaal der Burg. Daſelbſt waren auf einer Eſtrade Plätze für die Mitglieder der Ariſtokratie und des diplomatiſchen Korps vorbehalten. Man war da alſo wieder unter ſich und teilte rechts und links Grüße aus. Auch die Galerie war dicht gefüllt: gleichfalls Bevorzugte, welche Eintrittskarten erlangt hatten — aber doch etwas „gemiſcht“, nicht zur „Crème“ gehörig, wie wir da unten, auf unſerer Eſtrade. Kurz, die alte Kaſtenabſonderung und -bevorrechtung — anläßlich dieſer Feier der ſymboliſierten Demut. Ich weiß nicht, ob den anderen irgendwie religiös-weihevoll zu Mute war; aber ich erwartete das Kommende mit ganz derſelben Empfindung, mit welcher man im Theater einem angekündigten Spektakelſtück entgegenſieht. Ebenſo geſpannt, wie man da — nachdem die Grüße von Loge zu Loge getauſcht, den aufzurollenden Vorhang anſieht, ſchaute ich nach der Richtung, wo die Chöre und Soliſten des bevorſtehenden Schaugedränges erſcheinen ſollten. Die Dekoration war ſchon aufgeſtellt — nämlich die lange Tafel, an welcher die zwölf Greiſe und zwölf Greiſinnen Platz zu nehmen hatten. Ich war doch froh, gekommen zu ſein; denn ich fühlte mich geſpannt, was immerhin eine angenehme Empfindung iſt, und eine Empfindung, welche momentan von kummervollen Gedanken befreit. Mein ſteter Kummer war der: „Warum läßt ſich Tilling nicht ſehen?“ Jetzt hatte mich dieſe fixe Idee verlaſſen; was ich zu ſehen erwartete und wünſchte, waren die kaiſerlichen und die pfründneriſchen Mitwirkenden der angeſetzten Feier. Und gerade in dieſem Augenblicke, wo ich ſeiner nicht dachte, fielen meine Augen auf Tilling. Soeben nach beendeter Meſſe, waren die Hofwürdenträger in den Saal getreten, gefolgt von der Generalität und dem Offizierkorps; ich ließ meinen Blick gleichgültig über alle dieſe uniformierten Geſtalten ſchweifen — dieſelben waren ja nicht die Träger der Hauptrollen, ſondern nur zum Ausfüllen der Bühne beſtimmt — da plötzlich erkannte ich Tilling, der gerade unſerer Tribüne gegenüber Aufſtellung genommen hatte. Es durchzuckte mich wie ein elektriſcher Schlag. Er ſah nicht in unſere Richtung. Seine Miene trug die Spur des in den letzten Wochen durchgemachten Leides: es lag ein tieftrauriger Ausdruck in ſeinen Zügen. Wie gern hätte ich durch einen ſtummen, innigen Händedruck mein Mitgefühl ihm ausgedrückt! Ich ließ meinen Blick hartnäckig auf ihn geheftet, hoffend, daß dies durch eine magnetiſche Gewalt ihn zwingen würde, auch zu mir aufzuſchauen — aber vergebens. „Sie kommen ſie kommen!“ rief Roſa, mich anſtoßend. „So ſieh doch hin. … Wie ſchön! Wie ein Gemälde!“ Es waren die Greiſe und Greiſinnen, angethan in altdeutſche Tracht, welche jetzt hereingeleitet wurden. Die jüngſte von den Frauen — ſo hatten die Zeitungen berichtet — war achtundachtzig, der jüngſte von den Männern fünfundachtzig Jahre alt. Runzlig, zahnlos, gebückt; — ich konnte Roſas „Ach wie ſchön“ wahrlich nicht beſtätigt finden. Was ihr gefiel war jedenfalls die Verkleidung. Dieſe ſtimmte eigentlich auch vortrefflich zu der ganzen, von mittelalterlichem Geiſt durchwehten Ceremonie. Die Anachronismen hier waren wir, in unſeren modernen Kleidern und mit unſeren modernen Begriffen — {wir} paßten nicht in dies Gemälde. Nachdem die vierundzwanzig Alten ihre Sitze an der Tafel eingenommen hatten, trat eine Anzahl goldgeſtickter und ordengeſchmückter, zumeiſt ältlicher Herren in den Saal: — die Geheimen Räte und Kammerherren; viele bekannte Geſichter — auch Miniſter „Allerdings“ befand ſich darunter. Zuletzt folgten die Geiſtlichen, welche bei der feierlichen Handlung fungieren ſollten. Jetzt alſo war der Einmarſch der Statiſten vorüber und die Erwartung des Publikums auf das höchſte geſpannt. Meine Augen waren jedoch nicht ſo ſtarr, wie diejenigen der übrigen Zuſchauer, nach jener Richtung geheftet, wo der Hof erſcheinen ſollte, ſondern kehrten immer zu Tilling zurück. Dieſer hatte mich nunmehr geſehen und erkannt. Er grüßte. Wieder legte ſich Roſas Hand auf meinen Arm: „Martha — iſt Dir unwohl? Du biſt plötzlich blaß und rot geworden — ſchau’! … jetzt! jetzt!!“ In der That: der Kapell- — will ſagen der Oberceremonienmeiſter hob ſeinen Stab und gab das Zeichen, daß das Kaiſerpaar nahe. Dies verſprach nun allerdings einen lohnenden Anblick, denn abgeſehen davon, daß es das höchſte war — war es ſicherlich eins der ſchönſten Paare im Lande. Mit Kaiſer und Kaiſerin zugleich waren auch mehrere Erzherzoge und Erzherzoginnen hereingekommen und jetzt konnte die Feier beginnen. Truchſeſſen und Edelknaben trugen die gefüllten Schüſſeln herbei, und der Monarch und die Monarchin ſtellten dieſelben vor die ſitzenden Alten hin. Das war wieder mehr Gemälde als je. Das Geräte und die Speiſen und die Art der Pagen, dieſelben zu tragen, erinnerte an verſchiedene berühmte Bilder von Feſtgelagen im Renaiſſanceſtil. Kaum aber waren die Gerichte aufgeſtellt, ſo wurde die Tafel wieder abgeräumt, eine Arbeit, welche — gleichfalls als Zeichen der Demut — die Erzherzoge verrichteten. Hiernach ward die Tafel hinausgetragen, die eigentliche Effektſcene des Stückes (was die Franzoſen „[le clou de la pièce]“ nennen) — die Fußwaſchung — begann. Freilich nur eine Scheinwaſchung, wie das Mahl nur ein Scheinmahl geweſen. Auf dem Boden knieend, ſtreifte der Kaiſer mit einem Tuch über die Füße der Greiſe hinweg, nachdem der ihm aſſiſtierende Prieſter aus einer Kanne ſcheinbar Waſſer darüber gegoſſen, und ſo rutſchte er vom erſten bis zum zwölften Pfründner, während die Kaiſerin — die man ſonſt nur ſo majeſtätiſch hochaufgerichtet zu ſehen bekommt — in derſelben demütigen Stellung, in welcher ſie ihre gewohnte Anmut übrigens nicht verließ, die gleiche Prozedur an den zwölf Pfründnerinnen vornahm. Die begleitende Muſik, oder, wenn man will, den erklärenden Chor, bildete das gleichzeitig vom Hofburgpfarrer vorgeleſene Evangelium des Tages. Gern hätte ich auf einige Augenblicke mitempfinden mögen, was in dem Geiſte dieſer Alten vorging, während ſie ſo daſaßen, in der ſeltſamen Tracht, von einer glänzenden Menge angegafft, den Landesvater, die Landesmutter — Ihre Majeſtäten — zu ihren Füßen … Wahrſcheinlich wäre es gar keine klare Empfindung geweſen, die ich da nachgefühlt hätte, wenn mir der gewünſchte momentane Bewußtſeinstauſch gewährt worden wäre, ſondern ein verwirrter, geblendeter Halbtraum, ein zugleich frohes und peinliches, verlegenes und feierliches Gefühl, ein vollſtändiges Stillſtehen der Gedanken in den ohnehin unwiſſenden und altersſchwachen armen Köpfen. Das einzige Wirkliche und Faßbare an der Sache mochte den guten Alten nur die Ausſicht auf das rotſeidene Beutelchen mit den dreißig Silberſtücken ſein, welches jedem von Allerhöchſter Hand umgehängt wird und auf den Korb voll Speiſen, welchen man ihnen auf die Heimfahrt mitgibt. Die ganze Ceremonie war ſchnell zu Ende und gleich darauf leerte ſich der Saal. Zuerſt zog ſich der Hof zurück; hierauf entfernten ſich alle anderen Mitbeteiligten, und zugleich auch das Publikum von Eſtrade und Galerie. „Schön war’s, ſchön war’s!“ flüſterte Roſa mit einem tiefen Atemzug. Ich antwortete nichts. Eigentlich hatte ich keine Urſache, die Verwirrung und Gedankenarmut der Feſtgreiſe zu bemitleiden, war mir doch ſelber das Verſtändnis der eben ſtattgehabten Feier ein ziemlich verſchwommenes, und hatte ich nur noch den einen Gedanken im Sinn: „Wird er uns am Ausgang erwarten?“ Doch wir gelangten nicht ſo ſchnell zum Ausgang, als ich gewollt hätte. Zuerſt hieß es noch, mit faſt ſämtlichen Eſtradezuſchauern, welche gleichzeitig mit uns ihre Plätze verließen, Hände ſchütteln und ein paar Phraſen tauſchen. Man blieb da im Stiegenhauſe in einer großen Gruppe ſtehen und es gab einen förmlichen Morgenraout. „Grüß’ Dich, Tini.“ — „[Bonjour], Martha.“ — „Ah, Sie auch da, Gräfin?“ — „Biſt Du für den Oſterſonntag ſchon vergeben?“ — „Guten Tag, Durchlaucht, vergeſſen Sie nicht, daß wir Sie Montag Abend zu einer kleinen Tanzerei erwarten.“ — „Warſt Du geſtern bei den Dominikanern in der Predigt?“ — „Nein, ich war im [Sacré-cœur], wo meine Töchter eine Retraite machen.“ — „Die nächſte Probe zu unſerer Wohlthätigkeitsvorſtellung iſt Dienſtag um zwölf Uhr, lieber Baron, ſeien Sie ja pünktlich.“ — „Die Kaiſerin hat wieder ſuperb ausgeſehen.“ — „Haſt Du bemerkt, Lori, wie der Erzherzog Ludwig Viktor immer zu der Götter-Fanny herüberſchielte?“ — „[Madame, j’ai l’honneur de vous présenter mes hommages.]“ — „[Ah, c’est vous, marquis … charmée.]“ — „[I wish you good morning, Lord Chesterfield.]“ — „[Oh, how are you? Awfully fine woman, your Empress.]“ — „Haben Sie ſchon eine Loge geſichert für die Vorſtellung der Adelina Patti? Ein ganz wunderbarer aufgehender Stern …“ — „Die Nachricht von der Verlobung des Ferdi Drontheim mit der Bankierstochter ſoll ſich alſo doch beſtätigen — es iſt ein Skandal!“ Und ſo ſchwirrte es hin und her. Ein unbefangener Horcher hätte dieſen Geſprächen wohl kaum angemerkt, daß ſie der Nachſtimmung einer eben verrichteten Demutsandacht entſprangen. Endlich traten wir vor das Thor hinaus, wo unſere Wagen warteten und eine Menge Volk verſammelt war. Dieſe Leute wollten wenigſtens diejenigen ſehen, welche ſo glücklich waren, den Allerhöchſten Hof geſehen zu haben: ſie konnten dann ihrerſeits als diejenigen, welche die Geſehenhabenden geſehen hatten, wieder minder Bevorzugten ſich ſehen laſſen. Kaum waren wir hinausgetreten, ſo ſtand Tilling vor mir. Er verneigte ſich. „Ich muß Ihnen noch danken, Gräfin Dotzky, für den herrlichen Kranz.“ Ich reichte ihm die Hand — aber konnte kein Wort ſprechen. Unſer Wagen war vorgefahren; wir mußten einſteigen und Roſa drängte mich vorwärts; Tilling führte die Hand an die Mütze und wollte zurücktreten. Da machte ich eine heftige Anſtrengung und ſagte mit einer Stimme, die mir ſelber ganz fremd klang: „Sonntag zwiſchen zwei und drei, werde ich zu Hauſe ſein.“ Er verneigte ſich ſtumm und wir ſtiegen ein. „Du mußt Dich erkältet haben, Martha,“ bemerkte meine Schweſter, als wir davonfuhren; „Deine Aufforderung klang furchtbar heiſer. Und warum haſt Du mir dieſen ſchwermütigen Stabsoffizier nicht vorgeſtellt? Ich habe noch ſelten ein weniger aufheiterndes Geſicht geſehen.“ 19. Zweites Buch. Friedenszeit. // 9. Abſchnitt Am beſtimmten Tage und zur beſtimmten Stunde ließ ſich Tilling bei mir anmelden. Vorher hatte ich in die roten Hefte folgende Eintragung gemacht: „Ich ahne, daß der heutige Tag über mein Schickſal entſcheiden wird. Mir iſt ſo feierlich und bang, ſo ſüß erwartungsvoll zu Mute. Dieſe Stimmung muß ich in dieſen Blättern fixieren, damit, wenn ich einſt nach langen Jahren darin blättere, ich mir recht lebhaft die Stunde ins Gedächtnis zurückrufen könne, welcher ich jetzt ſo bewegt entgegenſehe. Vielleicht kommt es ganz anders, als ich denke — vielleicht auch genau ſo … jedenfalls wird es mich einſt intereſſieren, zu ſehen, wie weit Vorausſicht und Wirklichkeit ſich deckten. — — — Der Erwartete liebt mich — das bewies mir ſein am Sterbelager der Mutter geſchriebener Brief; er iſt wiedergeliebt — das muß ihm das Röslein im Totenkranz verraten haben … Und nun kommen wir zuſammen — ohne Zeugen — im Innerſten bewegt — er troſtbedürftig — ich vom Wunſche zu tröſten durchdrungen: ich glaube, es wird gar nicht viel Worte geben … Thränen in unſerer beiden Augen, zitternd vereinte Hände — und wir werden uns verſtanden haben … Zwei liebende, zwei glückliche Menſchen — ernſthaft, weihevoll, leidenſchaftlich, andächtig glücklich — während in der Geſellſchaft die Sache gleichgültig und trocken etwa ſo verkündet wird! „Wiſſen Sie ſchon? die Martha Dotzky hat ſich mit Tilling verlobt — eine miſerable Partie.“ … Es iſt zwei Uhr und fünf Minuten — jetzt kann er jeden Augenblick eintreten. — Die Glocke … dieſes Herzklopfen dieſes Zittern, ich fühle, daß — —“ So weit war ich gekommen. Die letzte Zeile iſt mit beinahe unleſerlichen Buchſtaben gekritzelt, ein Zeichen, daß „dieſes Herzklopfen, dieſes Zittern“ keine bloße rhetoriſche Figur war. Vorausſicht und Wirklichkeit deckten ſich nicht. Tilling verhielt ſich während ſeines halbſtündigen Beſuches ganz zurückhaltend und kalt. Er bat mich um Verzeihung für die Kühnheit, welche er gehabt, an mich zu ſchreiben; ich möge dieſes Beiſeiteſetzen der Etikette der Unzurechnungsfähigkeit zu gute halten, welche einen Menſchen in ſo ſchmerzlichen Augenblicken befallen kann. Dann erzählte er mir noch einiges von den letzten Tagen und aus dem Leben ſeiner Mutter; aber von dem, was ich erwartet hatte — kein Wort. Und ſo wurde auch ich immer zurückhaltender und kälter. Als er ſich zum Gehen erhob, machte ich keinen Verſuch, ihn zu halten und forderte ihn auch nicht auf, wiederzukommen. Und als er draußen war, ſtürzte ich wieder zu den noch offen liegenden roten Heften hin und ſchrieb den unterbrochenen Satz weiter: „Ich fühle, daß — alles aus iſt … daß ich mich ſchmählich getäuſcht habe, daß er mich nicht liebt und jetzt auch glauben wird, daß er mir ebenſo gleichgültig iſt, wie ich ihm. Beinahe abſtoßend habe ich mich benommen. Ich fühle — er kommt nie wieder. Und doch enthält die Welt keinen zweiten Menſchen für mich! So gut, ſo edel, ſo geiſtvoll iſt keiner mehr — und ſo lieb wie {ich} Dich gehabt hätte, Friedrich, ſo lieb hat Dich keine andere, Deine Prinzeſſin — zu der Du zurückgekehrt zu ſein ſcheinſt — ſchon gewiß nicht. Mein Sohn Rudolf, Du ſollſt mein Troſt und mein Halt ſein. Fortan will ich von Frauenliebe nichts mehr wiſſen; nur die Mutterliebe ſoll mir Herz und Leben ausfüllen … Wenn es mir gelingt, einen ſolchen Mann aus Dir zu bilden, wie jener einer iſt — wenn ich einſt von Dir ſo beweint werde, Rudolf, wie jener ſeine Mutter beweint, ſo werde ich mein Ziel erreicht haben.“ Eigentlich eine thörichte Einrichtung, das Tagebuchſchreiben. Dieſe ſtets wechſelnden, zerfließenden und neu erſtehenden Wünſche, Vorſätze und Anſchauungen, welche den Lauf des Seelenlebens bilden, durch aufgeſchriebene Worte verewigen zu wollen, das iſt ein verfehltes Beginnen und bringt dem älteren nachleſenden Ich die immerhin beſchämende Erkenntnis der eigenen Veränderlichkeit. Hier ſtanden nun auf demſelben Blatte und unter demſelben Datum, zwei ſo grundverſchiedene Stimmungen verzeichnet: zuerſt die zuverſichtlichſte Hoffnung — daneben die vollſtändigſte Entſagung und die nächſten Blätter ſollten doch wieder ganz Neues berichten … Der Oſtermontag war vom herrlichſten Frühlingswetter begünſtigt und die an dieſem Tage hergekommenermaßen ſtattfindende Praterfahrt — eine Art Vorfeier des großen Erſten-Mai-Corſo, fiel beſonders glänzend aus. Ich weiß noch, wie dieſer Glanz, dieſe Feſt- und Lenzwonne, die mich da umgab, mit der Traurigkeit kontraſtierte, welche mein Gemüt erfüllte. Und doch — ich hätte meine Traurigkeit nicht hergeben wollen — nicht wieder ſo heiteren, dabei aber leeren Herzens ſein, wie vor etwa zwei Monaten, als ich Tilling noch nicht kannte. Denn wenn meine Liebe auch allem Anſchein nach eine unglückliche war, ſo war es doch Liebe — das heißt eine Steigerung der Lebensintenſität: dieſes warme, zärtliche Gefühl, welches mein Herz ſchwellte, ſo oft das teure Bild mir vor das innere Auge trat — ich hätte es nimmer miſſen mögen. Daß ich den Gegenſtand meiner Träume hier im Prater, mitten im Gewühle weiblicher Fröhlichkeit zu Geſicht bekommen würde, erwartete ich nicht. Und doch: als ich einmal zerſtreut die Blicke nach der Reit-Allee ſchweifen ließ, ſah ich von weitem, die Allee in unſerer Richtung herabgaloppierend, einen Offizier, in welchem ich ſogleich — obſchon mein kurzſichtiges Auge ihn nur undeutlich ausnahm — Tilling erkannte. Als er nun in die Nähe kam und, zu uns herüberſalutierend, ſich mit unſerem Wagen kreuzte, da erwiderte ich ſeinen Gruß nicht nur mit einem Kopfnicken, ſondern mit lebhaftem Winken. Im ſelben Augenblick war ich gewahr, daß ich da etwas Unpaſſendes und Ungerechtfertigtes gethan. „Wem haſt Du ſolche Zeichen gemacht?“ fragte meine Schweſter Lilli: „War es etwa Papa? … Ah, ich ſehe,“ fügte ſie hinzu, „da ſpaziert ja eben der unvermeidliche Konrad — dem galt Deine Handverrenkung?“ Dieſes rechtzeitige Erſcheinen des „unvermeidlichen Konrad“ kam mir ſehr gelegen. Ich war dem treuen Vetter dankbar dafür und bethätigte dieſe Dankbarkeit ſofort: „Schau, Lilli,“ ſagte ich, „er iſt doch ein lieber Menſch und gewiß nur wieder Deinetwegen hier — Du ſollteſt Dich ſeiner erbarmen, Du ſollteſt ihm gut ſein … O, wenn Du wüßteſt, wie ſüß es iſt, Jemanden lieb zu haben, Du würdeſt Dein Herz nicht ſo verſchließen. Geh, mach ihn glücklich, den guten Menſchen.“ Lilli ſchaute mich erſtaunt an. „Wenn er mir aber gleichgültig iſt, Martha?“ „So liebſt Du vielleicht einen anderen?“ Sie ſchüttelte den Kopf: „Nein, niemand.“ „O Du Arme!“ Wir fuhren noch zwei- oder dreimal die Allee auf und nieder. Aber denjenigen, nach welchem meine Blicke jetzt ſpähend umherſuchten, ſah ich kein zweites Mal. Er hatte den Prater wieder verlaſſen. 20. Zweites Buch. Friedenszeit. // 10. Abſchnitt Einige Tage ſpäter, um die Nachmittagsſtunde, trat Tilling bei mir ein. Er traf mich jedoch nicht allein. Mein Vater und Tante Marie waren auf Beſuch gekommen, und außerdem befanden ſich noch Roſa und Lilli, Konrad Althaus und Miniſter „Allerdings“ in meinem Salon. Ich hatte Mühe, einen Überraſchungsſchrei zu unterdrücken: der Beſuch kam mir ſo unerwartet und ſo freudig erregend zugleich. Aber mit der Freude war es bald vorüber, als Tilling, nachdem er die Anweſenden begrüßt und ſich auf meine Einladung mir gegenüber niedergeſetzt hatte, in kaltem Tone ſagte: „Ich bin gekommen, Ihnen meine Abſchiedsaufwartung zu machen, Gräfin. Ich verlaſſe in den nächſten Tagen Wien.“ „Auf lange?“ „Und wohin?“ „Und warum?“ „Und wieſo?“ fragten gleichzeitig und lebhaft die anderen, während ich ſtumm blieb. „Vielleicht auf immer. — Nach Ungarn. — Zu einem anderen Regiment verſetzen laſſen. — Aus Vorliebe für die Magyaren,“ gab Tilling nach den verſchiedenen Seiten Beſcheid. Indeſſen hatte ich mich gefaßt. „Das war ein raſcher Entſchluß,“ ſagte ich möglichſt ruhig. „Was hat Ihnen denn unſer Wien zu leid gethan, daß Sie es auf ſo gewaltſame Weiſe verlaſſen?“ „Es iſt mir zu lebhaft und zu luſtig. Ich bin in einer Stimmung, welche die Sehnſucht nach einſamer Pußta mit ſich bringt.“ „Ach was,“ meinte Konrad, „je trüber die Stimmung, deſto mehr ſoll man Zerſtreuung ſuchen. Ein Abend im Carltheater wirkt jedenfalls erfriſchender, als tagelange beſchauliche Einſamkeit.“ „Das beſte, um Sie aufzurütteln, lieber Tilling,“ ſagte mein Vater, „wäre wohl ein friſcher, fröhlicher Krieg — aber leider iſt jetzt gar keine Ausſicht dazu vorhanden; der Friede droht ſich unabſehbar auszudehnen.“ „Was das doch für ſonderbare Wortzuſammenſetzungen ſind,“ konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken: „Krieg und — fröhlich; Friede und — drohen.“ „Allerdings,“ beſtätigte der Miniſter, „der politiſche Horizont zeigt vor der Hand noch keinen ſchwarzen Punkt; doch es ſteigen Wetterwolken mitunter ganz unerwartet raſch auf, und die Chance iſt niemals ausgeſchloſſen, daß eine — wenn auch geringfügige — Differenz einen Krieg zum Ausbruch bringt. Das ſage ich Ihnen zum Troſt, Herr Oberſtlieutenant. Was mich anbelangt, der ich kraft meines Amtes die inneren Angelegenheiten meines Landes zu verwalten habe, ſo müſſen meine Wünſche allerdings nur nach möglichſt langer Erhaltung des Friedens gerichtet ſein; denn dieſer allein iſt geeignet, die in meinem Reſſort liegenden Intereſſen zu fördern; doch hindert dies mich nicht, die berechtigten Wünſche derer anzuerkennen, welche vom militäriſchen Standpunkt allerdings —“ „Geſtatten Sie mir, Excellenz,“ unterbrach Tilling, „für meine Perſon gegen die Zumutung mich zu verwahren, daß ich einen Krieg herbeiwünſche. Und auch gegen die Unterſtellung zu proteſtieren, als dürfe der militäriſche Standpunkt ein anderer ſein, als der menſchliche. Wir ſind da, um, wenn der Feind das Land bedroht, dasſelbe zu ſchützen, geradeſo wie die Feuerwehr da iſt, um, wenn ein Brand ausbricht, denſelben zu löſchen. Damit iſt weder der Soldat berechtigt, einen Krieg, noch der Feuerwehrmann, einen Brand herbeizu{wünſchen}. Beides bedeutet Unglück, ſchweres Unglück, und als Menſch darf keiner am Unglück ſeiner Mitmenſchen ſich erfreuen.“ „Du guter, teurer Mann!“ redete ich im Stillen den Sprecher an. Dieſer fuhr fort: „Ich weiß wohl, daß die Gelegenheit zu perſönlicher Auszeichnung dem einen nur bei Feuersbrünſten, dem anderen nur bei Feldzügen geboten wird; aber wie kleinherzig und enggeiſtig muß ein Menſch nicht ſein, damit ſein ſelbſtiſches Intereſſe ihm ſo rieſig erſcheine, daß es ihm den Ausblick auf das allgemeine Weh verrammelt. Oder wie hart und grauſam, wenn er es dennoch ſieht und nicht als ſolches mitempfindet. Der Friede iſt die höchſte Wohlthat — oder vielmehr die Abweſenheit der höchſten Übelthat, — er iſt, wie Sie ſelber ſagten, der einzige Zuſtand, in welchem die Intereſſen der Bevölkerung gefördert werden können, und Sie wollten einem ganzen großen Bruchteil dieſer Bevölkerung — der Armee — das Recht zuerkennen, den gedeihlichen Zuſtand wegzuwünſchen und den verderblichen zu erſehnen? Dieſen „berechtigten“ Wunſch großziehen, bis er zur Forderung anwächſt, und dann vielleicht ſogar erfüllen? Krieg führen, damit die Armee doch beſchäftigt und befriedigt werde — Häuſer anzünden, damit die Löſchmannſchaft ſich bewähren und Lob ernten könne?“ „Ihr Vergleich hinkt, lieber Oberſtlieutenant,“ entgegnete mein Vater, indem er gegen ſeine Gewohnheit Tilling mit ſeinem militäriſchen Titel anſprach, vielleicht um ihn zu ermahnen, daß ſeine Geſinnungen mit ſeiner Charge nicht übereinſtimmten. — „Feuersbrünſte bringen nur Schaden, während Kriege dem Lande Macht und Größe zuführen können. Wie anders haben ſich denn die Staaten gebildet und ausgebreitet, als durch ſiegreiche Feldzüge? Der perſönliche Ehrgeiz iſt wohl nicht das einzige, was dem Soldaten Freude am Kriege macht, vor allem iſt es der nationale, der vaterländiſche Stolz, der da ſeine köſtliche Nahrung findet; — mit einem Wort, der Patriotismus —“ „Nämlich die Liebe zur Heimat!“ fiel Tilling ein. „Ich begreife wirklich nicht, warum gerade wir Militärs machen, als hätten wir dieſes, den meiſten Menſchen natürliche Gefühl, allein in Pacht. Jeder liebt die Scholle, auf der er aufgewachſen; jeder wünſcht die Hebung und den Wohlſtand der eigenen Landsleute; aber Glück und Ruhm ſind durch ganz andere Mittel zu erreichen, als durch den Krieg; ſtolz kann man auf ganz andere Leiſtungen ſein, als auf Waffenthaten; ich bin zum Beiſpiel auf unſeren Anaſtaſius Grün ſtolzer, als auf dieſen oder jenen Generaliſſimus.“ „Wie kann man einen Dichter mit einem Feldherrn nur vergleichen!“ rief mein Vater. „Das frage ich auch. Der unblutige Lorbeer iſt weitaus der ſchönere.“ „Aber lieber Baron,“ ſagte nun meine Tante, „ſo habe ich noch keinen Soldaten ſprechen hören. Wo bleibt da die Kampfbegeiſterung, wo das kriegeriſche Feuer?“ „Das ſind mir keine unbekannten Gefühle, meine Gnädige. Von ſolchen beſeelt, bin ich als neunzehnjähriger Junge zum erſtenmal zu Feld gezogen. Als ich aber die Wirklichkeit des Gemetzels geſehen, nachdem ich Zeuge der dabei entfeſſelten Beſtialität geweſen, da war es mit meinem Enthuſiasmus vorbei, und in die nachfolgenden Schlachten ging ich ſchon nicht mehr mit Luſt, ſondern mit Ergebung.“ „Hören Sie, Tilling, ich habe mehr Campagnen mitgemacht als Sie und auch Schauderſcenen genug geſehen, aber mich hat der Eifer nicht verlaſſen. Als ich im Jahre 49 ſchon als ältlicher Mann mit Radetzky marſchierte, war’s mit demſelben Jubel wie das erſte Mal.“ „Entſchuldigen Sie, Excellenz — aber Sie gehören einer älteren Generation an, einer Generation, in welcher der kriegeriſche Geiſt noch viel lebendiger war, als in der unſeren, und in welcher das Weltmitleid, das nach Abſchaffung alles Elends begehrt und jetzt in immer größere Kreiſe dringt, noch ſehr unbekannt war.“ „Was hilft’s? Elend muß es immer geben — das läßt ſich nicht abſchaffen, ebenſowenig wie der Krieg.“ … „Sehen Sie, Graf Althaus, mit dieſen Worten kennzeichnen Sie den einſtigen, jetzt ſchon ſehr erſchütterten Standpunkt, auf welchem ſich die Vergangenheit allen ſozialen Übeln gegenüber verhielt, nämlich den Standpunkt der Reſignation, mit der man das Unvermeidliche, das Naturnotwendige betrachtet. Wenn aber einmal beim Anblick eines großen Elends die zweifelnde Frage „Mußte es ſein?“ ins Herz gedrungen iſt, ſo kann das Herz nicht mehr kalt bleiben, und es ſteigt neben dem Mitleid zugleich eine Art Reue auf — keine perſönliche Reue, ſondern — wie ſoll ich ſagen? — {ein Vorwurf des Zeitgewiſſens.}“ Mein Vater zuckte die Achſeln. „Das iſt mir zu hoch,“ ſagte er. „Ich kann Sie nur verſichern, daß nicht nur wir Großväter mit Stolz und Freude an die durchgemachten Feldzüge zurückdenken, ſondern daß auch die meiſten von den Jungen und Jüngſten, wenn befragt, ob ſie gern in den Krieg zögen, lebhaft antworten würden: Ja gern — ſehr gern.“ „Die Jüngſten — gewiß. Die haben noch den in der Schule eingepflanzten Enthuſiasmus im Herzen. Und von den anderen antworten viele dieſes „Gern!“, weil es nach allgemeinen Begriffen als männlich und tapfer erſcheint, das aufrichtige „Nicht gern“ aber gar zu leicht als Furcht gedeutet werden könnte.“ „Ach,“ ſagte Lilli mit einem kleinen Schauder, „ich würde mich auch fürchten … Das muß ja entſetzlich ſein, wenn ſo von allen Seiten die Kugeln fliegen, wenn jeden Augenblick der Tod droht —“ „So etwas klingt aus Ihrem Mädchenmunde ganz natürlich,“ entgegnete Tilling, „aber wir müſſen den Selbſterhaltungstrieb verleugnen … Soldaten müſſen auch das Mitleid, den Mitſchmerz für den auf Freund und Feind hereinbrechenden Rieſenjammer verleugnen, denn nächſt der Furcht wird uns jede Sentimentalität, jede Rührſeligkeit am meiſten verübelt.“ „Nur im Krieg, lieber Tilling,“ ſagte mein Vater, „nur im Krieg; im Privatleben haben wir, Gott ſei Dank, auch weiche Herzen.“ „Ja, ich weiß: das iſt ſo eine Art Verzauberung. Nach der Kriegserklärung heißt es plötzlich von allen Schreckniſſen: „Es gilt nicht“. Kinder laſſen manchmal dieſe Konvention in ihren Spielen walten. „Wenn ich dies oder jenes thue, ſo gilt es nicht,“ hört man ſie ſagen. Und im Kriegsſpiel herrſchen auch ſolche unausgeſprochene Übereinkommen: Totſchlag gilt nicht mehr als Totſchlag, Raub iſt nicht Raub — ſondern Requiſition, brennende Dörfer ſtellen keine Brandunglücke, ſondern „genommene Poſitionen“ vor. Von allen Satzungen des Geſetzbuches, des Katechismus, der Sittlichkeit heißt es da — ſolange die Partie dauert — „Es gilt nicht.“ Wenn aber manchmal der Spieleifer nachläßt, wenn das verabredete „Gilt nicht“ für einen Moment aus dem Bewußtſein ſchwindet und man die umgebenden Scenen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und dies abgrundtiefe Unglück, das Maſſenverbrechen als {geltend} begreift, da wollte man nur noch eins, um ſich aus dem unerträglichen Weh dieſer Einſicht zu retten: — tot ſein.“ „Eigentlich, es iſt wahr,“ bemerkte Tante Marie nachdenklich, „Sätze wie: Du ſollſt nicht töten — ſollſt nicht ſtehlen — liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt — verzeihe deinen Feinden —“ „Gilt nicht,“ wiederholte Tilling. „Und diejenigen, deren Beruf es wäre, dieſe Sätze zu lehren, ſind die erſten, welche unſere Waffen ſegnen und des Himmels Segen auf unſere Schlachtarbeit herabflehen.“ „Und mit Recht,“ ſagte mein Vater. „Schon der Gott der Bibel war der Gott der Schlachten, der Herr der Heerſchaaren … Er iſt es, der uns befiehlt, das Schwert zu führen, er iſt es —“ „Als deſſen Willen die Menſchen immer dasjenige dekretieren,“ unterbrach Tilling, „was ſie gethan ſehen wollen — und dem ſie zumuten, ewige Geſetze der Liebe erlaſſen zu haben, welche er, — wenn die Kinder das große Haßſpiel aufführen —, durch göttliches „Gilt nicht“ aufhebt. Genau ſo roh, genau ſo inkonſequent, genau ſo {kindiſch} wie der Menſch, iſt der jeweilig von ihm dargeſtellte Gott. Und jetzt, Gräfin,“ fügte er hinzu, indem er aufſtand, „verzeihen Sie mir, daß ich eine ſo unerquickliche Diskuſſion heraufbeſchworen habe, und laſſen Sie mich Abſchied nehmen.“ Stürmiſche Empfindungen durchbebten mich. Alles, was er eben geſprochen, hatte mir den teuren Mann noch teurer gemacht … Und jetzt ſollte ich von ihm ſcheiden — vielleicht auf Nimmerwiederſehen? So vor anderen Leuten ein kaltes Abſchiedswort mit ihm wechſeln und damit alles zu Ende ſein laſſen? … Es war nicht möglich: ich hätte, wenn die Thüre ſich hinter ihm geſchloſſen, in Schluchzen ausbrechen müſſen. Das durfte nicht ſein. Ich ſtand auf: „Einen Augenblick, Baron Tilling,“ ſagte ich … „ich muß Ihnen doch noch jene Photographie zeigen, von der wir neulich geſprochen.“ Er ſchaute mich erſtaunt an, denn es war zwiſchen uns niemals von einer Photographie die Rede geweſen. Dennoch folgte er mir in die andere Ecke des Salons, wo auf einem Tiſche verſchiedene Albums lagen und — wo man ſich außer Gehörweite der anderen befand. Ich ſchlug ein Album auf und Tilling beugte ſich darüber. Indeſſen ſprach ich halblaut und zitternd zu ihm: „So laſſe ich Sie nicht fort … Ich will, ich muß mit Ihnen reden.“ „Wie Sie wünſchen, Gräfin — ich höre.“ „Nein, nicht jetzt. Sie müſſen wiederkommen … morgen, um dieſe Stunde!“ Er ſchien zu zögern. „Ich befehle es … bei dem Andenken Ihrer Mutter, um welche ich mit Ihnen geweint —“ „Oh Martha!“ … Der ſo ausgeſprochene Name durchzuckte mich wie ein Glücksſtrahl. „Alſo morgen,“ wiederholte ich, ihm in die Augen ſchauend. „Um dieſelbe Stunde.“ Wir waren einig. Ich kehrte zu den andern zurück und Tilling, nachdem er noch meine Hand an ſeine Lippen geführt und die übrigen mit einer Verbeugung begrüßt hatte, ging zur Thüre hinaus. „Ein ſonderbarer Menſch,“ bemerkte mein Vater kopfſchüttelnd. „Was er da alles geſagt hat, würde höheren Ortes kaum Beifall finden.“ 21. Zweites Buch. Friedenszeit. // 11. Abſchnitt Als am folgenden Tage die beſtimmte Stunde ſchlug, gab ich, wie anläßlich ſeines erſten Beſuches, Befehl, niemand anderen als Tilling vorzulaſſen. Ich ſah der kommenden Unterhaltung mit gemiſchten Gefühlen leidenſchaftlichen Bangens, ſüßer Ungeduld und — einiger Verlegenheit entgegen. {Was} ich eigentlich ihm ſagen wollte, das wußte ich nicht genau — darüber wollte ich gar nicht nachdenken … Wenn Tilling etwa die Frage an mich ſtellte: „Nun denn, Gräfin, was haben Sie mir mitzuteilen — was wünſchen Sie von mir?“ ſo konnte ich doch nicht die Wahrheit antworten, nämlich: „Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie liebe; ich wünſche, daß — Du bleibſt.“ — Aber in ſo trockener Form würde er mich wohl nicht verhören und wir würden uns ſchon verſtehen, ohne ſolche kategoriſche Fragen und Antworten. Die Hauptſache war: ihn noch einmal ſehen — und wenn ſchon geſchieden ſein mußte, ſo doch nicht ohne vorher ein herzliches Wort geſprochen, ein inniges Lebewohl getauſcht zu haben … Bei dem bloß {gedachten} Worte Lebewohl füllten ſich meine Augen mit Thränen. — In dieſem Augenblick trat der Erwartete ein. „Ich gehorche Ihrem Befehle, Gräfin und — Was iſt Ihnen?“ unterbrach er ſich. „Sie haben geweint? Sie weinen noch?“ „Ich? … nein … es war der Rauch — im Nebenzimmer, der Kamin … Setzen Sie ſich, Tilling … Ich bin froh, daß Sie gekommen ſind —“ „Und ich glücklich, daß Sie mir befohlen haben zu kommen — erinnern Sie ſich? im Namen meiner Mutter befohlen … Auf das hin habe ich mir vorgenommen, Ihnen alles zu ſagen, was mir auf dem Herzen liegt. Ich —“ „Nun — warum halten Sie inne?“ „Das Sprechen wird mir ſchwerer noch, als ich glaubte.“ „Sie zeigten mir doch ſo viel Vertrauen — in jener ſchmerzlichen Nacht, wo Sie an einem Sterbebette wachten. — Wie kommt es, daß Sie jetzt ſo alles Vertrauen wieder verloren haben?“ „In jener feierlichen Stunde war ich aus mir ſelber herausgetreten — ſeither hat mich wieder meine gewohnte Schüchternheit erfaßt. Ich ſehe ein, daß ich damals mein Recht überſchritten — und um es nicht wieder zu überſchreiten, hatte ich Ihre Nähe geflohen.“ … „In der That ja: Sie ſcheinen mich zu meiden. Warum?“ „Warum? Weil — weil ich Sie anbete.“ Ich antwortete nichts, und um meine Bewegung zu verbergen, wandte ich den Kopf ab. Auch Tilling war verſtummt. Endlich faßte ich mich wieder und brach das Schweigen: „Und warum wollen Sie Wien verlaſſen?“ fragte ich. „Aus demſelben Grunde.“ „Können Sie Ihren Entſchluß nicht mehr rückgängig machen?“ „Ich könnte wohl — noch iſt die Verſetzung nicht entſchieden.“ „Dann bleiben Sie.“ Er faßte meine Hand — „Martha!“ Es war zum zweitenmale, daß er mich bei meinem Namen nannte. Dieſe beiden Silben hatten einen berauſchenden Klang für mich … Darauf mußte ich etwas erwidern, was ihm ebenſo ſüß klänge — auch zwei Silben, in welchen alles lag, was mir das Herz ſchwellte, und meinen Blick zu ihm erhebend, ſagt’ ich leiſe: „Friedrich!“ In dieſem Augenblicke öffnete ſich die Thür und mein Vater kam herein. „Ah, da biſt Du ja!“ Der Bediente ſagte, Du wäreſt nicht zu Hauſe … ich aber antwortete, daß ich auf Dich warten wollte … Guten Tag, Tilling! Nach Ihrem geſtrigen Abſchied bin ich ſehr überraſcht, Sie hier zu finden —“ „Meine Abreiſe iſt wieder aufgehoben, Excellenz, und da kam ich —“ „Meiner Tochter eine Antrittsviſite machen? Schön. Und jetzt wiſſe, was mich zu Dir führt, Martha. Es iſt eine Familienangelegenheit …“ Tilling ſtand auf: „Dann ſtöre ich vielleicht?“ „Meine Mitteilung hat ja keine ſolche Eile.“ — Ich wünſchte Papa ſamt ſeiner Familienangelegenheit zu den Antipoden. Ungelegener hätte mir keine Unterbrechung kommen können. Tilling blieb jetzt nichts Anderes übrig, als zu gehen. Aber nach dem, was eben zwiſchen uns vorgefallen, bedeutete Entfernung keine Trennung: unſere Gedanken, unſere Herzen blieben bei einander. „Wann ſeh’ ich Sie wieder?“ fragte er leiſe, als er mir zum Abſchied die Hand küßte. „Morgen um neun Uhr früh im Prater, zu Pferd,“ antwortete ich raſch im ſelben Tone. Mein Vater grüßte den Fortgehenden ziemlich kalt, und nachdem ſich die Thür hinter ihm geſchloſſen: „Was ſoll das bedeuten?“ fragte er mit ſtrenger Miene. „Du läſſeſt Dich verleugnen — und ich finde Dich in [tête-à-tête] mit dieſem Herrn?“ Ich wurde rot — halb in Zorn, halb in Verlegenheit. „Was iſt die Familienangelegenheit, welche Du —“ „{Das} iſt ſie. Ich wollte Deinen Courmacher nur entfernen, um Dir meine Meinung ſagen zu können … Und ich betrachte es als eine für unſere Familie ſehr wichtige Angelegenheit, daß Du, Gräfin Dotzky, geborene Althaus, Deinen Ruf nicht etwa verſcherzeſt.“ „Lieber Vater, der ſicherſte Wächter meines Rufes und meiner Ehre iſt mir in der Perſon des kleinen Rudolf Dotzky gegeben, und was die väterliche Autorität des Grafen Althaus anbelangt, ſo laſſe mich in aller Ehrerbietung {Dich} erinnern, daß ich in meiner Eigenſchaft als ſelbſtſtändige Witwe derſelben entwachſen bin. Ich beabſichtige nicht, mir einen Liebhaber zu nehmen, denn das iſt’s, was Du zu vermuten ſcheinſt; aber wenn ich mich entſchließen wollte, wieder zu heiraten, ſo behalte ich mir vor, ganz frei nach meinem Herzen zu wählen.“ „Den Tilling heiraten? wo denkſt Du hin? Das gäbe erſt eine rechte Familienkalamität. Da wäre mir beinahe noch lieber … nein, das will ich nicht geſagt haben … aber ernſtlich, Du führſt doch keine ſolche Idee im Schilde?“ „Was wäre dagegen einzuwenden? Du haſt mir erſt neulich einen Oberlieutenant, einen Hauptmann und einen Major in Vorſchlag gebracht — Tilling iſt nun gar ſchon Oberſtlieutenant —“ „Das iſt das ſchlimmſte an ihm. Wäre er Civiliſt, ſo könnte man ihm die Anſichten noch verzeihen, die er geſtern vorgebracht hat; aber bei einem Militär grenzen dieſelben hart an Verrat … Er möchte wohl gern ſeinen Abſchied nehmen, um ja nicht der Gefahr ausgeſetzt zu ſein, einen Feldzug mitzumachen, deſſen Strapazen und Leiden er offenbar fürchtet. Und da er kein Vermögen beſitzt, ſo iſt es eine ganz kluge Idee von ihm, eine reiche Heirat machen zu wollen. Ich hoffe aber zu Gott, daß ſich zu dieſem Zwecke keine Frau hergeben wird, welche die Tochter eines alten Soldaten iſt, der in vier Kriegen gefochten hat, und bereit wäre, heute noch mit Begeiſterung auszurücken — und die Witwe eines tapferen jungen Kriegers, welcher auf dem Felde der Ehre einen ruhmvollen Tod gefunden.“ Mein Vater, welcher während des Sprechens mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder ging, war hochgerötet und ſeine Stimme zitterte vor Erregung. Auch ich war im Innerſten erregt. Das Phraſenwerk, das hohle Wortgeklingel, in welche die Angriffe auf den Mann meiner Liebe eingekleidet waren, widerte mich an. Aber ich fand keine Entgegnung. Daß meine Verteidigung das bodenloſe Unrecht, welches Tilling hier geſchah, nicht aufheben konnte, das fühlte ich. Wenn mein Vater die geſtern geäußerten Anſichten ſo falſch beurteilte, ſo lag das eben an einem gänzlichen Unverſtändnis. Gegen die Geſichtspunkte, welche Tilling vertreten hatte, war mein Vater einfach blind. Ich konnte ihn nicht ſehend machen. Ich konnte ihn nicht lehren, einen anderen ethiſchen Maßſtab — als den ſoldatiſchen, der ja in General Althaus’ Augen der höchſte Maßſtab war — an die Geſinnungen zu legen, welche jener als Menſch und Denker hegte. Aber während ich dem eben gehörten Ausfall gegenüber ſo ſtumm daſtand, daß mein Vater wohl glauben mochte, er habe mich beſchämt und meine Abſichten im Keime erſtickt, fühlte ich mich doppelt ſehnſüchtig zu dem verkannten Manne hingezogen und in dem Entſchluß beſtärkt, die Seine zu werden. Ich war ja zum Glück frei. Des Vaters Mißbilligung konnte mich allerdings betrüben, allein mich von dem Zuge meines Herzens zurückhalten, das konnte ſie nicht. Und auch zu großer Betrübnis war kein Raum in meiner Seele. Das wunderbare, das mächtige Glück, welches in der letzten Viertelſtunde ſich mir eröffnet hatte, war zu lebhaft, um daneben den Verdruß aufkommen zu laſſen. 22. Zweites Buch. Friedenszeit. // 12. Abſchnitt Am folgenden Morgen erwachte ich mit einem Gefühle, das dem glich, womit ich jedesmal als Kind am Weihnachtstage und einmal als Braut an meinem Vermählungsmorgen erwachte: dieſelbe unausſprechliche Erwartung, dasſelbe erregte Bewußtſein, daß heute Frohes, Großes bevorſtünde. Einige Mißſtimmung brachte mir zwar die Erinnerung an die Worte, welche Tags vorher mein Vater geſprochen — aber dieſen Gedanken hatte ich ſchnell wieder verſcheucht. Es war noch nicht neun Uhr, als ich am Eingang der Praterallee den Wagen verließ und mein mit dem Reitknecht vorausgeſchicktes Pferd beſtieg. Das Wetter war frühlingsduftend und mild — zwar ſonnenlos, darum aber nur deſto milder, und Sonnenſchein trug ich ohnehin im Herzen. Es hatte in der Nacht geregnet; die Blätter prangten in friſchem Grün und aus dem Boden drang feuchter Erdgeruch herauf. Ich war kaum hundert Schritte die Allee hinabgeritten, als ich hinter mir den Hufſchlag eines in ſcharfem Trabe heranſprengenden Pferdes vernahm. „Ah, grüß Gott, Martha — das freut mich, Dich hier zu treffen.“ Es war Konrad, der Unvermeidliche. {Mich} freute dieſe Begegnung gar nicht. Nun freilich, der Prater war nicht mein Privatpark und an ſo ſchönen Frühlingsmorgen iſt die Reit-Allee ſtets gefüllt: wie konnte ich nur ſo ungeſchickt ſein, hier auf ein ungeſtörtes Stelldichein zu rechnen? Althaus hatte ſein Pferd die Gangart des meinen annehmen laſſen und ſchickte ſich offenbar an, der treue Begleiter meines Spazierrittes zu ſein. Jetzt erblickte ich von weitem Friedrich von Tilling, der in unſerer Richtung die Allee herabgaloppierte. „Vetter — nicht wahr, ich bin Dir eine gute Verbündete? Du weißt, daß ich mir Mühe gebe, Lilli für Dich zu ſtimmen?“ „Ja, edelſte der Couſinen.“ „Erſt geſtern abends habe ich ihr wieder Deine guten Eigenſchaften geprieſen … denn Du biſt wirklich ein prächtiger Junge: gefällig, rückſichtsvoll —“ „Was willſt Du nur von mir?“ „Daß Du Deinem Tiere einen Gertenhieb giebſt und weiter trabſt …“ Schon war Tilling ganz nahe. Zuerſt ſchaute Konrad ihn, dann mich an, und ohne ein Wort zu ſagen, nickte er mir lächelnd zu und ſtürmte davon, als wäre er auf der Flucht. „Wieder dieſer Althaus!“ waren Tillings erſte Worte, nachdem er Kehrt gemacht, um an meiner Seite weiterzureiten. In ſeinem Tone und ſeinen Mienen drückte ſich deutlich Eiferſucht aus. Das freute mich. „Iſt er bei meinem Anblicke ſo ausgeriſſen, oder geht ſein Pferd durch?“ „Ich habe ihn weggeſchickt, weil —“ „Gräfin Martha — daß ich Sie gerade mit Althaus treffen mußte! Wiſſen Sie, daß die Welt behauptet, er ſei in ſeine Couſine verliebt?“ „Das iſt wahr.“ „Und werbe um ihre Gunſt?“ „Das iſt auch wahr.“ „Und nicht hoffnungslos?“ „Nicht ganz hoffnungslos —“ Tilling ſchwieg. Ich ſchaute ihm glücklich lächelnd ins Geſicht. „Ihr Blick widerſpricht Ihren letzten Worten,“ ſagte er nach einer Pauſe; „denn Ihr Blick ſcheint mir zu ſagen: Althaus liebt mich hoffnungslos.“ „Er liebt mich überhaupt nicht. Der Gegenſtand ſeiner Werbung iſt meine Schweſter Lilli.“ „Sie wälzen mir einen Stein vom Herzen. Dieſer Menſch war mit ein Grund, warum ich Wien verlaſſen wollte. Ich hätte es nicht ertragen können, ſehen zu müſſen —“ „Und was hatten Sie noch für andere Gründe?“ unterbrach ich. „Die Angſt, daß meine Leidenſchaft zunehme, daß ich ſie nicht länger würde verhehlen können — daß ich mich lächerlich machte und unglücklich zugleich —“ „Sind Sie unglücklich heute?“ „O Martha!“ … Ich lebe ſeit geſtern in einem ſolchen Taumel der Gefühle, daß ich faſt bewußtlos bin. Aber nicht ohne Angſt — wie wenn man gar zu ſüß träumt — daß ich plötzlich wieder zu einer ſchmerzlichen Wirklichkeit erweckt werde. Im Grunde iſt ja meine Liebe doch ausſichtslos … Was kann ich Ihnen bieten? Heute lächelt mir Ihre Huld und erhebt mich in den ſiebenten Himmel … Morgen — oder etwas ſpäter — werden Sie mir die unverdiente Huld wieder entziehen und mich in einen Abgrund der Verzweiflung ſtürzen … Ich kenne mich ſelbſt nicht mehr: wie hyperboliſch ich da rede — der ich ſonſt ein ruhiger, beſonnener Menſch, ein Feind aller Übertreibungen bin … Aber Ihnen gegenüber kommt mir nichts mehr übertrieben vor: in Ihrer Macht liegt es, mich ſelig und elend zu machen“ … „Sprechen wir auch von {meinen} Zweifeln: die Prinzeſſin —“ „O, iſt dieſer Klatſch Ihnen auch zu Ohren gekommen? Nichts — nichts iſt daran.“ „Natürlich, Sie leugnen. Das iſt Ihre Pflicht —“ „Die betreffende Dame, deren Herz jetzt bekanntermaßen in der Burg gefeſſelt iſt — auf wie lang? denn dieſes Herz verſchenkt ſich häufig — die Dame würde auch den diskreteſten Menſchen nicht zu Grabesverſchwiegenheit verpflichten — alſo können Sie mir doppelt glauben. Und übrigens: hätte ich Wien verlaſſen wollen, wenn jenes Gerücht begründet wäre?“ „Eiferſucht kennt keine Vernunftſchlüſſe: hätte ich Sie hierher beſtellt, wenn ich gekommen wäre, um meinen Vetter Althaus zu treffen?“ „Es wird mir ſchwer, Martha, ſo ruhig neben Ihnen herzureiten … Ich wollte Ihnen zu Füßen fallen — wollte wenigſtens Ihre geliebte Hand an meine Lippen führen —“ „Lieber Friedrich,“ ſagte ich zärtlich, „ſolche Ergüſſe ſind nicht nötig — auch mit Worten kann man huldigen, wie mit einem Kniefall und liebkoſen, wie —“ „Mit einem Kuß,“ ergänzte er. Nach dieſem letzten Worte, das uns beide elektriſch durchzuckte, ſchauten wir uns eine Zeit lang in die Augen und erfuhren, daß man auch mit Blicken küſſen kann … Er ſprach zuerſt: „Seit wann?“ Ich verſtand die unvollendete Frage ganz gut. „Seit jenem Diner bei meinem Vater,“ antwortete ich. „Und Sie?“ „{Sie?} Dieſes Sie iſt eine Diſſonanz, Martha. Soll ich die Frage beantworten, ſo werde ſie anders formuliert.“ „Und — — Du?“ „Ich? Wohl auch ſeit demſelben Abend. Aber ſo recht klar wurde es mir erſt am Sterbebett meiner armen Mutter … Wie ſehnſüchtig meine Gedanken zu Dir flüchteten!“ „Das habe ich auch ſo verſtanden. Du hingegen haſt die Sprache der roten Roſe nicht verſtanden, die zwiſchen den weißen Totenblumen eingeflochten war, ſonſt hätteſt Du bei Deiner Ankunft mich nicht ſo gemieden. Ich begreife noch jetzt den Grund dieſes Fernhaltens nicht — und warum Du abreiſen wollteſt.“ „Weil ſich mein Gedanke nie bis zu der Hoffnung verſtieg, daß ich Dich erringen könnte. Erſt als Du mir bei dem Andenken meiner Mutter befahlſt, zu Dir zu kommen und zu bleiben befahlſt — da habe ich verſtanden, daß Du mir gewogen biſt — daß ich Dir mein Leben weihen dürfe.“ „Alſo, wenn ich mich nicht ſelber Dir ‚an den Hals geworfen‘ — Du hätteſt Dich nicht um mich bemüht?“ „Du haſt eine große Anzahl Bewerber — unter dieſen Haufen würde ich mich nicht gemiſcht haben.“ „Ach, die zählen ja nicht. Die meiſten haben es doch nur darauf abgeſehen, die reiche Witwe —“ „Siehſt Du — mit dieſem Wort iſt die Schranke bezeichnet, die mich von der Bewerbung abhielt: eine reiche Witwe — und ich — ganz ohne Vermögen. Lieber an unglücklicher Liebe zu Grunde gehen, als von der Welt und namentlich von der Frau, die ich anbete, deſſen verdächtigt zu werden, weſſen Du Deinen Bewerbertroß ſoeben beſchuldigt haſt.“ „O Du Stolzer, Edler, Teurer! Ich wäre übrigens nicht im ſtande, Dir einen niedrigen Gedanken zuzumuten“ … „Woher {dieſes} Vertrauen? Eigentlich kennſt Du mich ja ſo wenig.“ Und jetzt forſchten wir einander noch weiter aus. Auf dieſe Frage „ſeit wann“ wir uns liebten, folgten nun die Erörterungen „warum“? Was {mich} zuerſt angezogen, war die Art geweſen, wie er vom Kriege geſprochen hatte. Was ich im ſtillen gedacht und gefühlt — glaubend, es könne kein Soldat ein Gleiches denken und am allerwenigſten äußern — das hatte er mit größerer Klarheit gedacht, als ich, ſtärker gefühlt — und ganz freimütig ausgeſprochen. So ſah ich, wie ſein Herz die Intereſſen ſeines Standes und ſein Geiſt die Anſichten ſeiner Zeit überragten. Das war’s, was ſozuſagen die Grundlage meiner ihm geweihten Liebe bildete — daneben gab es für das aufgeſtellte „warum“ noch unzählige „weil“. Weil er eine ſo hübſche, vornehme Erſcheinung beſaß; — weil in ſeiner Stimme ein ſo ſanfter und doch feſter Ton vibrierte; — weil er ein ſo liebender Sohn geweſen; — weil — „Und Du? Warum liebſt Du {mich?}“ unterbrach ich meinen Rechenſchaftsbericht. „Aus tauſend Gründen und aus einem.“ „Laß hören. Zuerſt die tauſend.“ „Das große Herz — der kleine Fuß — die ſchönen Augen — der glänzende Geiſt — das ſanfte Lächeln — der ſcharfe Witz — die weiße Hand — die frauenhafte Würde — der wunderbare —“ „Halt ein! Das ſollte ſo bis tauſend fortgehen? Da ſag’ mir lieber den einen Grund.“ „Das iſt auch einfacher, denn der eine in ſeiner Kraft und Unwiderſtehlichkeit umfaßt die anderen alle. Ich lieb’ Dich, Martha, weil, — ich Dich liebe. Darum.“ 23. Zweites Buch. Friedenszeit. // 13. Abſchnitt Vom Prater aus fuhr ich geradeswegs zu meinem Vater. Die Mitteilung, die ich ihm zu machen hatte, würde zu unangenehmen Erörterungen Anlaß geben, das ſah ich voraus. Doch ich wollte dieſe unausbleibliche Unannehmlichkeit ſobald als möglich überſtanden haben, und ihr lieber noch unter dem erſten Eindruck meines eben erworbenen Glückes die Stirne bieten. Mein Vater, der ein Spätaufſteher war, ſaß noch bei ſeinem Frühſtück über den Morgenblättern, als ich in ſein Arbeitszimmer eindrang. Tante Marie war gleichfalls anweſend und gleichfalls mit Zeitungleſen beſchäftigt. Bei meinem etwas ungeſtümen Eintritt blickte mein Vater überraſcht von ſeiner „Preſſe“ auf, und Tante Marie legte ihr „Fremdenblatt“ aus der Hand. „Martha? So früh? Und im Reitkleid — was bedeutet das?“ Ich umarmte die beiden und ſagte dann, mich in einen Lehnſeſſel werfend: Das bedeutet, daß ich von einem Ritt im Prater komme, wo etwas vorgefallen iſt, das ich euch ohne Aufſchub mitteilen wollte. Ich nahm mir daher nicht einmal die Zeit, nach hauſe zu fahren und Toilette zu wechſeln —“ „Alſo gar ſo wichtig und eilig?“ fragte mein Vater, indem er ſich eine Cigarre anſteckte. „Erzähle, wir ſind geſpannt.“ Sollte ich weiter ausholen? Sollte ich Einleitungen und Vorbereitungen machen? Nein: lieber kopfüber mich hineinſtürzen, wie man vom Springbrett ſich ins Waſſer ſchwingt —: „Ich habe mich verlobt —“ Tante Marie ſchlug die Hände über dem Kopf zuſammen und mein Vater runzelte die Stirn: „Ich will doch nicht hoffen —“ begann er. Aber ich ließ ihn nicht ausreden: „Verlobt mit einem Manne, den ich von Herzen liebe und hochachte, von dem ich glaube, daß er mich vollſtändig glücklich machen kann — mit Baron Friedrich von Tilling.“ Mein Vater ſprang auf: „Da haben wir’s! Nach allem, was ich Dir geſtern geſagt —“ Tante Marie ſchüttelte den Kopf: „Ich hätte lieber einen anderen Namen gehört,“ ſagte ſie. „Erſtens iſt Baron Tilling keine Partie, er ſoll gar nichts haben; zweitens ſcheinen mir ſeine Grundſätze und Anſichten …“ „Seine Grundſätze und Anſichten ſtimmen mit den meinen überein, und eine ſogenannte ‚Partie‘ zu ſuchen — darauf bin ich nicht angewieſen … Vater — mein Herzensvater, ſchau’ nicht ſo bitter drein — verdirb mir das hohe Glück nicht, welches ich zu dieſer Stunde empfinde — mein guter, geliebter alter Papa!“ „Aber Kind,“ antwortete er in etwas beſänftigtem Tone, denn ein wenig Zärtlichkeit pflegte ihn gleich zu entwaffnen: „es iſt ja eben Dein Glück, was ich im Auge habe. Ich könnte mit keinem Soldaten glücklich werden, der nicht mit Leib und Seele Soldat iſt.“ „Du brauchſt ja Tilling nicht zu heiraten,“ bemerkte Tante Marie ganz zutreffend. „Das Soldatentum iſt das geringſte,“ fügte ſie hinzu; „aber ich könnte mit einem Manne nicht glücklich werden, der von dem Gott der Bibel in ſo wenig ehrerbietigem Tone redet, wie neulich —“ „Erlaube mir, Dich aufmerkſam zu machen, liebſte Tante, daß auch Du Friedrich Tilling nicht zu heiraten brauchſt.“ „Des Menſchen Wille iſt ſein Himmelreich,“ ſagte mein Vater mit einem Seufzer, indem er ſich wieder niederſetzte. „Natürlich wird Tilling quittieren?“ „Darüber haben wir noch nicht geſprochen. Lieber wäre es mir freilich — aber ich fürchte, er wird es nicht thun.“ „Wenn ich denke, daß Du einem Fürſten einen Korb gegeben haſt,“ ſeufzte Tante Marie, „und jetzt ſtatt Dich zu erheben, wirſt Du auf der geſellſchaftlichen Leiter hinabſteigen!“ „Wie unfreundlich Ihr beide ſeid — und Ihr behauptet doch, mich lieb zu haben. Da komme ich zu euch — das erſte Mal ſeit des armen Arno Tode — mit der Nachricht, daß ich mich vollkommen glücklich fühle, und anſtatt Euch deſſen zu freuen, ſucht Ihr allerlei Vergällungsgründe hervor — und was für welche: Militarismus, Jehovah, ſoziale Leiter!“ Nach einem halben Stündchen war es mir doch gelungen, die alten Leute einigermaßen umzuſtimmen. Ich hatte mir — nach der Tags zuvor gehaltenen Rede zu ſchließen — den Widerſtand meines Vaters viel heftiger gedacht. Vermutlich würde er auch, falls meinerſeits bloße Abſicht und Neigung vorgelegen hätte, energiſch verſucht haben, Abſicht und Neigung zu erſticken; aber dem „[fait accompli]“ gegenüber ſah er wohl ein, daß Widerſtand nichts mehr nützen konnte. Oder war es doch der Einfluß des überſtrömenden Glücksgefühls, welches in meinen Augen leuchten und in meiner Stimme leben mochte, das ſeinen Verdruß verſcheuchte, und woran er unwillkürlich freudigen Anteil nehmen mußte? — kurz, als ich zum Gehen aufſtand und ihm adieu ſagte, drückte er einen herzhaften Kuß auf meine Wange und verſprach, noch am ſelben Abend zu mir zu kommen, um daſelbſt ſeinen künftigen Schwiegerſohn als ſolchen zu begrüßen. Wie noch weiter jener Tag und der darauf folgende Abend verlief — ſchade, daß die roten Hefte es nicht verzeichnet haben. Die Einzelheiten ſind nach ſo langer Zeit meinem Gedächtnis entſchwunden — ich weiß nur noch, daß es herrliche Stunden waren. Zum Thee hatte ich den ganzen Familienkreis um mich verſammelt und ich ſtellte den Meinen Friedrich von Tilling als meinen Verlobten vor. Roſa und Lilli waren entzückt; Konrad Althaus rief: „Bravo, Martha! — und Du, Lilli, nimm Dir ein Beiſpiel daran!“ Mein Vater hatte ſeine frühere Antipathie entweder überwunden, oder es gelang ihm, dieſelbe mir zu liebe zu verbergen; und Tante Marie war weich und gerührt: „Die Ehen werden im Himmel geſchloſſen,“ ſagte ſie, „und jedem geſchieht nach ſeiner Beſtimmung. Mit Gottes Segen werdet ihr glücklich werden und den will ich unermüdlich auf euch herabflehen.“ Auch mein Sohn Rudolf wurde dem künftigen „neuen Papa“ vorgeſtellt, und es war mir ein eigenes Wohl- und Weihegefühl, als der geliebte Mann mein geliebtes Kind in ſeine Arme hob, es innig küßte und ſagte: „Aus Dir, kleiner Burſch’, werden wir einen ganzen Mann machen.“ Im Laufe des Abends brachte mein Vater ſeine Idee in Betreff des Quittierens zur Sprache: „Sie werden jetzt vermutlich Ihre Karrière aufgeben, Tilling? Da Sie ohnehin kein Freund des Krieges ſind —“ Friedrich warf mit überraſchter Miene den Kopf zurück: „Meine Karrière aufgeben? Ich habe ja keine andere …. Und man braucht doch kein Freund vom Kriege zu ſein, um den Militärdienſt zu leiſten, ebenſo wenig wie man —“ „Ja, ja,“ unterbrach mein Vater, „das ſagten Sie ſchon neulich: ebenſo wenig wie ein Feuerwehrmann ein Liebhaber von Feuersbrünſten zu ſein braucht —“ „Ich könnte noch mehr Beiſpiele anführen: ebenſowenig wie ein Arzt den Krebs und den Typhus lieben, oder ein Richter ein beſonderer Verehrer von Einbruchsdiebſtählen ſein muß. Aber meine Laufbahn aufgeben? Was hätte ich für eine Veranlaſſung dazu?“ „Veranlaſſung wäre,“ ſagte Tante Marie, „Ihrer Frau das Garniſonleben zu erſparen — und die Angſt zu erſparen, falls ein Krieg ausbricht …. Obgleich dieſe Angſt ein Unſinn iſt; denn wenn es einem beſtimmt iſt, alt zu werden, ſo lebt er lange, trotz aller Gefahren.“ „Die genannten Gründe wären freilich gewichtig. Meiner künftigen Gefährtin die Unannehmlichkeiten des Lebens ſo viel als möglich fernzuhalten, wird ja mein eifrigſtes Beſtreben ſein; aber die Unannehmlichkeit, einen Mann zu haben, der berufs- und beſchäftigungslos wäre, müßte doch noch größer ſein, als diejenige des Garniſonlebens. Und die Gefahr, daß mein Rücktritt von irgend jemand als Faulheit oder Feigheit ausgelegt werden könnte, wäre doch noch ſchlimmer, als die Gefahren eines Feldzuges. Mir iſt der Gedanke wirklich keinen Augenblick gekommen … Hoffentlich auch Ihnen nicht, Martha?“ (Vor Leuten hatten wir das „Du“ wieder eingeſtellt.) „Und wenn ich es als Bedingung ſtellte?“ „Das werden Sie nicht. Denn ſonſt müßte ich auf das höchſte Glück verzichten. Sie ſind reich — ich beſitze nichts als meine militäriſche Charge, als die Ausſicht auf künftige höhere Rangſtufen — und dieſen Beſitz gebe ich nicht her. Es wäre gegen alle Würde, gegen meine Begriffe von Ehre —“ „Brav, mein Sohn … jetzt bin ich ausgeſöhnt. Es wäre Sünd’ und Schand’ um Ihre Laufbahn. Sie haben gar nicht mehr weit zum Oberſten und bringen es ſicher zum General — können ſchließlich Feſtungskommandant, Gouverneur oder Kriegsminiſter werden. Das giebt auch der Frau eine angenehme Stellung.“ Ich ſchwieg ſtill. Um die Ausſicht, Frau Kommandantin zu werden, war es mir gar nicht zu thun. Am liebſten wäre es mir geweſen, mit dem Manne meiner Wahl das Leben in ländlicher Zurückgezogenheit zu verbringen; dennoch waren mir ſeine eben geäußerten Entſchlüſſe lieb. Denn ſie bewahrten ihn vor dem Makel des Verdachtes, welchen mein Vater gegen ihn gehegt, und der ihn ſicherlich auch in den Augen der Welt getroffen hätte. „Ja, ganz ausgeſöhnt“ — fuhr mein Vater fort. „Denn aufrichtig: ich glaubte, es ſei Ihnen hauptſächlich darum zu thun …. nun, nun — Sie brauchen nicht ſo wütend zu ſchauen — ich meine: {nebenbei} darum zu thun, ſich ins Privatleben zurückzuziehen, und da hätten Sie ſehr unrecht gethan. Auch meiner Martha gegenüber — die iſt nun ſchon einmal ein Soldatenkind, eine Soldatenwitwe — und ich glaube kaum, daß ſie einen in Civilkleidern auf die Dauer lieb haben könnte.“ Jetzt mußte Tilling lächeln. Er warf mir einen Blick zu, welcher deutlich ſagte: Ich kenne Dich beſſer, und antwortete laut: „Das glaube ich auch: ſie hat ſich eigentlich nur in meine Uniform verliebt.“ 24. Zweites Buch. Friedenszeit. // 14. Abſchnitt Im September desſelben Jahres fand unſere Trauung ſtatt. Mein Bräutigam hatte ſich für die Hochzeitsreiſe einen zweimonatlichen Urlaub erwirkt. Unſere erſte Etappe war Berlin. Ich hatte den Wunſch geäußert, einen Kranz auf das Grab von Friedrichs Mutter niederzulegen und unſere Reiſe mit dieſem Pilgergang zu eröffnen. In der preußiſchen Hauptſtadt hielten wir uns acht Tage auf. Friedrich machte mich mit ſeinen dort lebenden Verwandten bekannt, und alle erſchienen mir als die liebenswürdigſten Leute von der Welt. Freilich — wenn man eben die roſafarbenen Brillen trägt, durch die man während der Honigwochen die Außenwelt zu betrachten pflegt, da findet man alles lieb und ſchön. Zudem wird neuvermählten Paaren allſeitig mit heiterer und freundlicher Zuvorkommenheit begegnet: alles hält ſich für verpflichtet, auf ihre ohnedies ſo blühenden Pfade immer neue Roſen zu ſtreuen. Was mir an den Norddeutſchen beſonders wohlgefiel, war die Sprache. Nicht nur, weil dieſelbe den Accent meines Mannes aufwies — eine ſeiner Eigentümlichkeiten, in welche ich mich zuerſt verliebt hatte — ſondern weil ſie mir, im Vergleich zu der in Öſterreich üblichen Redeweiſe, ein höheres Bildungsniveau zu bekunden ſchien; oder vielmehr, nicht nur {ſchien}, ſondern in der That bekundete. Grammatikaliſche Verſtöße, wie ſolche die Umgangsſprache der beſſeren wiener Kreiſe verunſtalten, kommen in der guten berliner Geſellſchaft nicht vor. Die preußiſche Verwechſelung des Dativ und Accuſativ: „Gieb {mich} einen Federhut“ bleibt auf die unteren Klaſſen beſchränkt, während die in Wien üblichen Kaſus-Fehler: „Ohne {Dir}“ — „Mit {die} Kinder“ häufig genug in den erſten Salons gehört werden. „Gemütlich mögen wir immerhin unſere Sprache nennen und ſie von den Ausländern auch ſo befunden werden laſſen — eine Inferiorität ſtellt ſie jedenfalls vor. Wenn man Menſchenwert nach der Bildungsſtufe mißt — und welchen richtigeren Maßſtab gäb’ es wohl, als dieſen? — ſo iſt der Norddeutſche um ein Stückchen mehr Menſch, als der Süddeutſche — ein Ausſpruch, der im Munde eines Preußen ſehr „arrogant“ klänge, und aus der Feder einer Öſterreicherin ſehr „unpatriotiſch“ erſcheinen mag; — aber wie ſelten gibt es eine ausgeſprochene Wahrheit, die nicht irgendwo oder irgendwen verletzte … Unſer erſter Beſuch in Berlin — nachdem wir auf dem Friedhofe geweſen — galt der Schweſter der Verſtorbenen. Aus der Liebenswürdigkeit und geiſtigen Bedeutung dieſer Frau konnte ich ſchließen, wie liebenswürdig und bedeutend Friedrichs Mutter geweſen ſein mußte, wenn ſie Frau Kornelie von Teſſow glich. Dieſe war die Witwe eines preußiſchen Generals und beſaß einen einzigen Sohn, welcher damals eben Lieutenant geworden war. Einem ſchöneren Jüngling wie dieſem Gottfried von Teſſow bin ich in meinem ganzen Leben nicht begegnet. Rührend anzuſehen war es, wie Mutter und Sohn an einander hingen; auch darin ſchien Frau Kornelie Ähnlichkeit mit ihrer verſtorbenen Schweſter gehabt zu haben. Wenn ich den Stolz ſah, den ſie augenſcheinlich in Gottfried ſetzte und die Zärtlichkeit, womit er ſeine Mutter behandelte, ſo freute ich mich ſchon in Gedanken auf die Zeit, wo mein Sohn Rudolf erwachſen ſein würde. Nur eines konnte ich nicht begreifen, und ich äußerte dies auch zu meinem Manne: „Wie kann eine Mutter ihr einziges Kind, ihr Kleinod, einen ſo gefährlichen Beruf ergreifen laſſen, wie den militäriſchen?“ „Es gibt einfach Gedanken, liebes Herz,“ antwortete mir Friedrich, „die niemand denkt, naheliegende Erwägungen, die niemand anſtellt. Ein ſolcher Gedanke iſt die Gefährlichkeit des Soldatenberufes. Den läßt man nicht aufkommen: es liegt — ſo meint man — eine Art Unanſtändigkeit und Feigheit darin, dieſe Erwägung vorzuſtellen. Es wird als ſo ſelbſtverſtändlich und unvermeidlich angenommen, daß dieſe Gefahr beſtanden werden müſſe und eigentlich faſt immer glücklich beſtanden werde (die Prozente der Gefallenen verteilen ſich auf die {anderen}), daß man an die Todeschance gar nicht denkt. Sie iſt zwar da — aber das iſt ſie ja für jeden Geborenen, und keiner denkt an den Tod. In dem Verjagen läſtiger Begriffe vermag der Geiſt Großes zu leiſten. Und ſchließlich: was kann ein preußiſcher Edelmann wohl für eine angenehmere und angeſehenere Stellung haben als die eines preußiſchen Kavallerieoffiziers?“ Tante Kornelia ſchien auch an mir Gefallen zu finden. „Ach,“ ſeufzte ſie einmal —, „daß meine arme Schweſter die Freude nicht erleben ſollte, ſolch eine Schwiegertochter zu beſitzen und ihren Friedrich ſo glücklich zu ſehen, wie er es jetzt an Deiner Seite iſt. Es war immer ihr ſehnlichſter Wunſch, ihn verheiratet zu ſehen. Aber er ſtellte ſo hohe Anforderungen an die Ehe —“ „Es ſcheint nicht, Tantchen, da er mit mir vorlieb genommen …“ „[‚A trap for a compliment‘] nennen das die Engländer. — Ich wollte, mein Gottfried könnte auch einſt ſolchen Treffer machen. Ich bin jetzt ſchon ungeduldig, Großmutterfreuden zu erleben. Doch da werde ich wohl noch lange warten können: mein Sohn iſt erſt einundzwanzig Jahre alt.“ „Er mag viele Mädchenköpfe verdrehen,“ ſagte ich, „viele Herzen brechen —“ „Das ſieht ihm nicht gleich: einen braveren rechtſchaffeneren Jungen giebt’s nicht. Er wird einmal eine Frau ſehr glücklich machen —“ „So wie Friedrich die ſeine —“ „Noch kannſt Du das nicht wiſſen, liebes Herz; darüber müſſen wir nach zehn Jahren wieder reden. In den erſten Wochen ſind faſt alle Ehen glücklich. Damit will ich jedoch keinen Zweifel an meinem Neffen, noch an Dir ausgedrückt haben — ich glaube ſelber, daß Euer Glück ein dauerhaftes ſein wird.“ Von Berlin aus begaben wir uns nach den deutſchen Bädern. Meine kurze Reiſe nach Italien mit Arno — von der ich übrigens nur eine ganz traumhafte Erinnerung hatte — abgerechnet, war ich von Hauſe nie weggekommen. Dieſes Kennenlernen neuer Orte, neuer Menſchen und neuen Lebens verſetzte mich in gehobenſte Stimmung. Die Welt ſchien mir plötzlich ſo ſchön und noch einmal ſo intereſſant geworden. Wäre mein kleiner Rudolf nicht geweſen, den ich zurückgelaſſen hatte, ich würde Friedrich vorgeſchlagen haben: „Laß uns Jahrelang ſo herumreiſen, wie jetzt. Beſuchen wir ganz Europa und hernach die übrigen Weltteile; genießen wir dieſe Wanderexiſtenz, dieſes ungebundene Umherſtreifen; ſammeln wir die Reichtümer neuer Eindrücke und Erfahrungen! Überall, wohin wir kommen — und ſeien uns Land und Leute noch ſo fremd — bringen wir ja durch unſer Beiſammenſein ein genügendes Stück Heimſtätte mit.“ Was hätte mir Friedrich auf ſolchen Vorſchlag geantwortet? Wahrſcheinlich, daß man es ſich nicht zum Beruf machen kann, bis an ſein Lebensende „hochzeitzureiſen,“ daß ſein Urlaub nur zwei Monate dauert und dergleichen vernünftige Sachen mehr. Wir beſuchten Baden-Baden, Homburg und Wiesbaden. Überall dasſelbe fröhliche, elegante Treiben — überall ſo viele intereſſante Menſchen aus aller Herren Ländern. Im Umgang mit dieſen Fremden wurde ich erſt gewahr, daß Friedrich die franzöſiſche und engliſche Sprache vollkommen beherrſchte; dies ließ ihn in meiner Bewunderung noch um einen Grad ſteigen. Immer wieder entdeckte ich neue Eigenſchaften an ihm: Sanftmut, Heiterkeit, lebhafteſte Empfänglichkeit für alles Schöne. Eine Rheinfahrt ſetzte ihn in Entzücken, und im Theater oder Konzertſaal, wenn die Künſtler Hervorragendes leiſteten, leuchtete ihm der Genuß aus den Augen. Dadurch erſchien mir der Rhein mit ſeinen Burgen doppelt romantiſch, darum bewunderte ich die Vorträge berühmter Virtuoſen doppelt. Dieſe zwei Monate vergingen leider viel zu ſchnell. Friedrich kam um Verlängerung ſeines Urlaubs ein, wurde aber abſchlägig beſchieden. Das war mir ſeit unſerer Verheiratung der erſte Moment des Ärgers, als dieſes offizielle Papier anlangte, welches im trockenen Stile unſere Heimkehr befahl. „Und {das} nennen die Menſchen Freiheit!“ rief ich, das beleidigende Dokument auf den Tiſch ſchleudernd. Tilling lächelte. „O, ich bilde mir nicht im mindeſten ein, frei zu ſein, meine Herrin,“ erwiderte er. „Wenn ich Deine Herrin wäre, könnte ich Dir befehlen, dem Militärdienſt Valet zu ſagen und nur noch meinem Dienſte zu leben.“ „Über dieſe Frage waren wir ja einig geworden —“ „Freilich: ich habe mich fügen müſſen, doch das beweiſt, daß Du nicht mein Sklave biſt — und das iſt mir im Grund recht, mein lieber, ſtolzer Mann!“ 25. Zweites Buch. Friedenszeit. // 15. Abſchnitt Von unſerer Reiſe zurückgekehrt, rückten wir nach einer kleinen mähriſchen Stadt — der Feſtung Olmütz — ein, wo Friedrichs Regiment in Garniſon lag. Von geſelligem Verkehr war in dem Neſte keine Rede, und ſo lebten wir beide in völliger Zurückgezogenheit. Außer den Stunden, die wir dem Dienſt widmeten — er als Oberſtlieutenant bei ſeinen Dragonern, ich als Mutter bei meinem Rudolf — widmeten wir uns gegenſeitig nur einander. Mit den Damen des Regiments waren die nötigen Ceremonienbeſuche und Gegenbeſuche ausgetauſcht worden, aber auf näheren Umgang ließ ich mich nicht ein; es gelüſtete mich nicht im geringſten darnach, bei Nachmittag-Kaffeegeſellſchaften Dienſtbotengeſchichten und Stadtklatſch zu hören, und ebenſo fern hielt ſich Friedrich den Spielpartien des Oberſten und den Trinkgelagen der Offiziere. Da hatten wir Beſſeres zu thun. Die Welt, in der wir uns bewegten — wenn wir des Abends zuſammen beim brodelnden Theekeſſel ſaßen — die war von der Welt der Olmützer Geſelligkeitskreiſe ſternenweit entfernt, „Sternenweit“ mitunter im buchſtäblichen Sinne — denn einige unſerer liebſten geiſtigen Ausflüge waren nach dem Firmament gerichtet. Wir laſen nämlich miteinander wiſſenſchaftliche Werke und unterrichteten uns über die Wunder des Weltalls. Da durchſtreiften wir die Tiefen des Erdballs und die Höhen der Himmelsräume; da drangen wir in die Geheimniſſe der mikroſkopiſch unendlichen Kleinheiten und der teleſkopiſch unendlichen Fernen, und je größer die Welt vor unſeren Blicken ſich entfaltete, in deſto winzigere Dimenſionen ſchrumpfte der Olmützer Intereſſenkreis ein. Unſere Lektüre beſchränkte ſich nicht auf Naturkunde allein, ſondern umfaßte noch viele andere Zweige der Forſchung und des Gedankens. So nahm ich unter anderem zum drittenmal meinen geliebten Buckle vor, um Friedrich mit dieſem Autor bekannt zu machen, den er dann ebenſoſehr bewunderte, wie ich; dabei vernachläſſigten wir auch die Dichter und Romanſchriftſteller nicht, und ſo geſtalteten ſich unſere gemeinſchaftlichen Leſeabende zu wahren Feſten des Geiſtes — während unſere übrige Exiſtenz eigentlich ein ununterbrochenes Feſt des Herzens war. Täglich gewannen wir uns lieber; was die Leidenſchaft an Feuer einbüßte, das gewann die Zuneigung an Innigkeit, die Achtung an Feſtigkeit. Das Verhältnis zwiſchen Friedrich und Rudolf war der Gegenſtand meines Entzückens. Die beiden waren die beſten Kameraden der Welt, und ſie miteinander ſpielen zu ſehen, war köſtlich. Friedrich war dabei von den zweien beinah der kindiſchere. Natürlich miſchte ich mich ſofort auch in die Partie, und was da für Dummheiten getrieben und geredet wurden, das mögen uns die Weiſen und Gelehrten verzeihen, deren Werke wir laſen — wenn Rudolf zu Bett gebracht war. Zwar behauptete Friedrich, daß er von Hauſe aus kein beſonderer Kinderfreund ſei; aber einmal war der Kleine ſeiner Martha Sohn, und zweitens war er wirklich lieb und herzig und ſchmiegte ſich ſeinem Stiefvater gar ſo zärtlich an. Wir machten häufig Pläne für die Zukunft des Knaben. Soldat? … Nein. Dazu würde er nicht taugen, denn in {unſerem} Erziehungsplan würde die Drillung zur Kriegsruhmliebe keinen Platz finden. Diplomat! Vielleicht. Am wahrſcheinlichſten aber Landwirt. Als künftiger Erbe des Dotzkyſchen Majorats, welches ihm von dem nunmehr ſechsundſechzigjährigen Onkel Arnos einſt zufallen mußte, würde es ihm Berufs genug ſein, ſeine Beſitzungen rationell zu verwalten. Dann ſollte er ſeine kleine Braut Beatrix heimführen und ein glücklicher Menſch werden. Wir waren ſelber ſo glücklich, daß wir gern für die ganze Mitwelt, und für die künftigen Geſchlechter obendrein, Schätze von Lebensfreude hätten geſichert ſehen wollen … Dennoch verſchloß ſich unſere Einſicht dem Elend nicht, unter welchem der größte Teil der Menſchheit ſeufzt und wohl noch durch manche Generation wird ſeufzen müſſen: Armut, Unwiſſenheit, Unfreiheit — ſo vielen Gefahren und Übeln ausgeſetzt — unter dieſen Übeln das fürchterlichſte: der Krieg. „Ach, wenn man beitragen könnte, es abzuwälzen!“ Dieſer ſeufzende Wunſch entrang ſich oft unſeren Herzen, aber die Betrachtung der herrſchenden Zuſtände und Anſichten ſtellte ſolchen Wünſchen ein entmutigendes „Unmöglich“ entgegen. Leider — der ſchöne Traum, daß es allen „wohlergehe, und alle lange leben mögen auf Erden“, läßt ſich nicht erfüllen — wenigſtens nicht in der Gegenwart. Aber die peſſimiſtiſche Lehre, daß das Leben ein Übel ſei, daß es allen beſſer wäre, ſie wären nie geboren — die war uns durch unſer eigenes Daſein gründlich widerlegt. Zu Weihnachten unternahmen wir einen Abſtecher nach Wien, um die Feſttage im Kreiſe meiner Familie zuzubringen. Mein Vater war nunmehr mit Friedrich völlig ausgeſöhnt. Die Thatſache, daß dieſer den Militärdienſt nicht verlaſſen, hatte die anfänglichen Zweifel und Verdächtigungen verſcheucht. Daß ich eine „ſchlechte Partie“ gemacht, das blieb freilich ſowohl meines Vaters als auch Tante Mariens Überzeugung; anderſeits mußten ſie aber auch die Thatſache anerkennen, daß mich mein Mann ſehr glücklich machte, und das rechneten ſie ihm doch zu gute. Roſa und Lilli that es leid, daß ſie im kommenden Faſching nicht unter {meiner}, ſondern unter der weit ſtrengeren Aufſicht der Tante in „die Welt“ gehen ſollten. Konrad Althaus war nach wie vor ein eifriger Beſucher des Hauſes, und es wollte mir ſcheinen, als hätte er in der Gnade Lillis einige Fortſchritte gemacht. Der heilige Abend fiel ſehr heiter aus. Es ward ein großer Chriſtbaum angezündet, und von einem zum andern wurden allerlei Geſchenke getauſcht. Der König des Feſtes und der Meiſtbeſchenkte war natürlich mein Sohn Rudolf; aber auch alle übrigen wurden bedacht. So erhielt Friedrich von mir einen Gegenſtand, bei deſſen Anblick er einen Freudenſchrei nicht unterdrücken konnte. Es war ein ſilberner Briefbeſchwerer in Geſtalt eines Storches. Derſelbe hielt einen Zettel im Schnabel, auf welchem von meiner Schrift die Worte ſtanden: Im Sommer 1864 bringe ich etwas. Friedrich umarmte mich ſtürmiſch. Wären die andern nicht dabei geweſen, er hätte ſicherlich einen Rundtanz mit mir aufgeführt. 26. Zweites Buch. Friedenszeit. // 16. Abſchnitt Am erſten Feiertag verſammelte ſich die ganze Familie wieder bei meinem Vater zum Diner. Von Fremden war nur Excellenz „Allerdings“ und Doktor Breſſer anweſend. Als wir da in dem altbekannten Speiſezimmer bei Tiſche ſaßen, mußte ich lebhaft jenes Abends gedenken, wo uns beiden unſere Liebe zuerſt deutlich ins Bewußtſein getreten. Doktor Breſſer hatte denſelben Gedanken: „Erinnern Sie ſich noch der Piketpartie, die ich mit Ihrem Herrn Vater ſpielte, während Sie am Kamin mit Baron Tilling plauderten?“ fragte er mich. „Ich ſah aus, nicht wahr, als wäre ich ganz in mein Spiel vertieft, aber dennoch hatte ich mein Ohr in Ihrer Richtung geſpitzt und hörte aus dem Klang der Stimmen — die Worte konnte ich nicht vernehmen — ein gewiſſes Etwas heraus, welches in mir die Überzeugung weckte: Die zwei werden ein Paar. Und wenn ich Sie jetzt mit einander beobachte, ſo ſteigt mir eine neue Überzeugung auf, nämlich: Die zwei ſind und bleiben ein glückliches Paar.“ „Ich bewundere Ihren Scharfſinn, Doktor. Ja, wir {ſind} glücklich. Ob wir es bleiben? Das hängt leider nicht von uns ab, ſondern vom Schickſal … Über jedem Glück ſchwebt eine Gefahr, und je inniger das erſte, deſto grauſiger die letzte.“ „Was können Sie fürchten?“ „Den Tod.“ „Ah ſo. Der war mir gar nicht eingefallen. Ich habe zwar als Arzt öfters Gelegenheit, dem Geſellen zu begegnen — aber ich denke nicht daran. Der liegt ja bei geſunden und jungen Leuten, wie das in Rede ſtehende glückliche Paar, in ſo entrückter Ferne —“ „Was nützt dem Soldaten Jugend und Geſundheit?“ „Verſcheuchen Sie ſolche Ideen, liebſte Baronin. Es iſt ja kein Krieg in Sicht. Nicht wahr, Excellenz,“ wandte er ſich an den Miniſter, „gegenwärtig iſt am politiſchen Himmel der mehrfach erwähnte ſchwarze Punkt nicht zu ſehen?“ „Punkt iſt viel zu wenig geſagt,“ antwortete der Befragte. „Es iſt vielmehr eine ſchwarze, ſchwere Wolke.“ Ich erbebte bis ins Innerſte: „Was? wie? was meinen Sie?“ rief ich lebhaft. „Dänemark treibt es gar zu bunt“ … „Ah ſo, Dänemark,“ ſagte ich erleichtert. „Die Wolke droht alſo nicht uns? Es iſt mir zwar unter allen Umſtänden betrübend, wenn ich höre, daß man ſich irgendwo ſchlagen will — aber wenn es die Dänen ſind und nicht die Öſterreicher, dann flößt mir das wohl Beileid, aber keine Furcht ein.“ „Du brauchſt Dich auch nicht zu fürchten,“ fiel mein Vater lebhaft ein, „falls Öſterreich ſich beteiligt. Wenn wir die Rechte Schleswig-Holſteins gegen die Vergewaltigung Dänemarks verteidigen, ſo riskieren wir ja nichts dabei. Es handelt ſich da um kein öſterreichiſches Territorium, deſſen Verluſt ein unglücklicher Feldzug herbeiführen könnte —“ „Glaubſt Du denn, Vater, daß — wenn unſere Truppen ausmarſchieren müßten — ich an ſolche Dinge, wie öſterreichiſches Territorium, ſchleswig-holſteinſche Rechte und däniſche Vergewaltigung dächte? Ich ſähe blos eins: die Lebensgefahr unſerer Lieben. Und die bleibt gleich groß, ob nun aus dieſem oder jenem Grund Krieg geführt wird.“ „Die Schickſale der Einzelnen kommen nicht in Betracht, mein liebes Kind, wo es ſich um weltgeſchichtliche Ereigniſſe handelt. Bricht ein Krieg aus, ſo verſtummen die Fragen, ob der oder der dabei fällt, oder nicht, vor der einen gewaltigen Frage, was das eigene Land dabei gewinnen oder verlieren wird. Und wie geſagt: wenn wir uns mit den Dänen raufen, ſo iſt nichts zu verlieren dabei, wohl aber unſere Machtſtellung im deutſchen Bund zu erweitern. Ich träume immer, daß die Habsburger noch einmal die ihnen gebührende deutſche Kaiſerwürde zurückerlangen. Es wäre auch ganz in der Ordnung. Wir ſind der bedeutendſte Staat im Bunde! die Hegemonie iſt uns geſichert — aber das genügt nicht … Ich würde den Krieg mit Dänemark als eine ſehr günſtige Gelegenheit begrüßen, nicht nur die Scharte von 59 auszuwetzen, ſondern auch unſere Stellung im deutſchen Bunde ſo zu geſtalten, daß wir für den Verluſt der Lombardei reichen Erſatz finden und — wer weiß — ſo an Macht gewinnen, daß uns die Rückeroberung dieſer Provinz ein leichtes wäre.“ Ich blickte zu Friedrich hinüber. Er hatte ſich an dem Geſpräche nicht beteiligt, ſondern war in eine eifrige lachende Unterhaltung mit Lilli verwickelt. Ein ſtechender Schmerz ſchnitt mir durch die Seele: ein Schmerz, der in {ein} Bündel zwanzig verſchiedene Vorſtellungen vereinte: Krieg … und er, mein alles, mußte mit … verkrüppelt, erſchoſſen … das Kind unter meinem Herzen, deſſen angekündigtes Kommen er geſtern mit ſolchem Jubel begrüßt — es ſollte vaterlos zur Erde kommen? … Zerſtört, zerſtört — unſer kaum erblühtes, noch ſo reiche Frucht verheißendes Glück! … Dieſe Gefahr in der einen Wagſchale, und in der anderen? Öſterreichiſches Anſehen im deutſchen Bund, ſchleswig-holſteiniſche Befreiung — „friſche Lorbeerblätter im Ruhmeskranze des Heeres“ — das heißt ein paar Phraſen für Schulvorträge und Armeeproklamationen … und ſogar das nur zweifelhaft, denn ebenſo möglich wie der Sieg, iſt ja die Niederlage … Und nicht nur einem vereinzelten Leid, dem meinen, wird das vermeintliche vaterländiſche Wohl entgegengeſtellt, ſondern tauſend und abertauſend einzelne im eigenen und im Feindeslande müßten denſelben Schmerz einſetzen, der mich jetzt durchbebte … Ach, war denn dem nicht vorzubeugen — war’s nicht abzuwehren? Wenn ſich alle vereinten — alle Vernünftigen, Guten, Gerechten — um das drohende Übel zu verhüten — „Sagen Sie mir doch,“ wandte ich mich laut an den Miniſter, „ſtehen die Dinge wirklich ſchon ſo ſchlimm? Habt Ihr, Miniſter und Diplomaten, habt Ihr denn ſolche Konflikte nicht zu vermeiden gewußt, werdet Ihr deren Ausbruch nicht zu verhindern wiſſen?“ „Glauben Sie denn, Baronin, daß es unſeres Amtes iſt, den ewigen Frieden zu erhalten? Das wäre allerdings eine ſchöne Miſſion — aber unausführbar. Wir ſind nur da, über die Intereſſen unſerer reſpektiven Staaten und Dynaſtien zu wachen, jeder drohenden Verringerung ihrer Machtſtellung entgegenzuarbeiten und jede mögliche Suprematie zu erringen trachten, eiferſüchtig die Ehre des Landes hüten, uns angethanen Schimpf rächen —“ „Kurz,“ unterbrach ich, „nach dem kriegeriſchen Grundſatze handeln: dem Feind — das iſt nämlich jeder andere Staat — thunlichſt zu ſchaden und, wenn ein Streit entſteht, ſo lange hartnäckig behaupten, daß man im Recht iſt, — auch wenn man ſein Unrecht einſieht, nicht wahr?“ „Allerdings.“ „Bis beiden Streitenden die Geduld reißt und drauf losgehauen werden muß … es iſt abſcheulich!“ „Das iſt doch der einzige Ausweg. Wie anders ſoll denn ein Völkerſtreit geſchlichtet werden?“ „Wie werden denn Prozeſſe zwiſchen einzelnen geſitteten Menſchen geſchlichtet?“ „Durch das Tribunal. Die Völker unterſtehen aber keinem ſolchen.“ „Ebenſowenig wie die Wilden,“ kam mir Doktor Breſſer zu Hilfe. „[Ergo] ſind die Völker in ihrem Verkehr noch ungeſittet, und es dürfte wohl noch lange Zeit vergehen, bis ſie dazu gelangen, ein internationales Schiedsgericht einzuſetzen.“ „Dazu wird es nie kommen,“ ſagte mein Vater. „Es giebt Dinge, die nur ausgefochten und nicht ausprozeſſiert werden können. Selbſt wenn man verſuchen wollte, ein ſolches Schiedsgericht zu errichten — die ſtarken Regierungen würden ſich demſelben ebenſowenig beugen, wie zwei Edelleute, von denen der eine beleidigt worden, ihre Differenz zu Gericht tragen. — Die ſchicken einander einfach ihre Zeugen und ſchlagen ſich rechtſchaffen. „Das Duell iſt aber auch ein barbariſcher, unſittlicher Brauch —“ „Sie werden’s nicht ändern, Doktor.“ „Ich werde es aber wenigſtens nicht gutheißen, Excellenz.“ „Was ſagſt denn Du, Friedrich?“ wandte ſich nun mein Vater an den Schwiegerſohn. „Biſt Du etwa auch der Anſicht, daß man nach einer erhaltenen Ohrfeige zu Gericht gehen ſoll und um 5 fl. Schadenerſatz klagen?“ „Ich würde es nicht thun.“ „Du würdeſt den Beleidiger fordern?“ „Verſteht ſich.“ „Aha, Doktor — aha, Martha,“ triumphierte mein Vater, „hört Ihr? Auch Tilling, der doch kein Freund des Krieges iſt, giebt zu, ein Freund des Duells zu ſein.“ „Ein Freund? Das habe ich nie behauptet. Ich ſagte nur, daß ich gegebenen Falls ſelbſtverſtändlich zum Duell greifen würde — wie ich es übrigens auch ſchon ein und das andere Mal gethan; gerade ſo ſelbſtverſtändlich, wie ich ſchon mehreremale in den Krieg gezogen, und bei dem nächſten Anlaß wieder ziehen werde. Ich füge mich den Satzungen der Ehre. Damit will ich aber keineswegs geſagt haben, daß dieſe Satzungen, wie ſie unter uns beſtehen, meinem ſittlichen Ideal entſprechen. Nach und nach, wenn dieſes Ideal die Herrſchaft gewinnt, wird der Begriff der Ehre auch eine Wandlung erfahren: einmal wird eine erhaltene Injurie, wenn ſie unverdient iſt, nicht auf den Empfänger, ſondern auf den rohen Geber als Schmach zurückfallen; zweitens wird das Selbſträcheramt auch in Sachen der Ehre ebenſo außer Gebrauch kommen, wie in kultivierter Geſellſchaft die Selbſtjuſtiz in anderen Dingen thatſächlich ſchon verſchwunden iſt. Bis dahin —“ „Da können wir lange warten,“ unterbrach mein Vater. „So lange es überhaupt Edelleute gibt —“ „Das muß auch nicht immer ſein,“ meinte der Doktor. „Oho, Sie wollen gar den Adel abſchaffen, Sie Radikaler?“ rief mein Vater. „Den feudalen allerdings. ‚Edelleute‘ braucht die Zukunft keine.“ „Deſto mehr Edelmenſchen,“ bekräftigte Friedrich. „Und dieſe neue Gattung wird Ohrfeigen einſtecken?“ „Sie wird vor allem keine austeilen.“ „Und ſich nicht verteidigen, wenn der Nachbarſtaat einen kriegeriſchen Einfall macht?“ „Es wird keine einfallenden Nachbarſtaaten geben — ebenſowenig als jetzt unſere Landſitze von feindlichen Nachbarburgen umgeben ſind. Und wie der heutige Schloßherr keinen Troß bewaffneter Knappen mehr braucht —“ „So ſoll der Zukunftsſtaat des bewaffneten Heeres entraten können? Was wird denn aus Euch Oberſtlieutenants?“ „Was iſt aus den Knappen geworden?“ So hatte ſich der alte Streit wieder einmal entſponnen und derſelbe wurde noch eine Zeit lang fortgeſetzt. Ich hing mit Entzücken an Friedrichs Lippen; es that mir unſäglich wohl, die Sache erhöhter Geſittung von ihm ſo feſt und ſicher vertreten zu ſehen, und im Geiſte verlieh ich ihm ſelber den Titel, den er vorhin genannt hatte: „Edelmenſch“! 27. Drittes Buch. 1864. // 1. Abſchnitt Wir blieben noch vierzehn Tage in Wien. Es war aber keine fröhliche Urlaubszeit für mich. Dieſes fatale „Krieg in Sicht“, welches nunmehr alle Zeitungen und alle Geſpräche ausfüllte, benahm mir jede Lebensfreudigkeit. So oft mir etwas von den Dingen einfiel, aus welchen mein Glück zuſammengeſetzt war — vor allem der Beſitz des mir täglich teurer werdenden Gatten, — ſo oft mußte ich auch an die Unſicherheit denken, an die unmittelbare Gefahr, welche der in Ausſicht ſtehende Krieg über mein Glück verhängte. Ich konnte desſelben, wie man zu ſagen pflegt, „nicht froh werden.“ Der Zufälligkeiten von Krankheit und Tod, von Feuersbrunſt und Überſchwemmungen — kurz, der Natur- und Elementardrohungen giebt es genug; aber man hat ſich gewöhnt, nicht mehr daran zu denken, und lebt trotz dieſer Gefahren in einem gewiſſen Stabilitätsbewußtſein. Doch wozu haben die Menſchen ſich auch noch willkürlich ſelbſt verhängte Gefahren geſchaffen, und ſo den ohnehin vulkaniſchen Boden, auf den ihr Erdenglück gebaut iſt, noch eigenmächtig und mutwillig in künſtliches Schwanken verſetzt! Zwar haben ſich die Leute daran gewöhnt, auch den Krieg als Naturereignis zu betrachten und ihn als vertragsaufhebend in einer Linie mit Erdbeben und Waſſernot zu nennen — daher auch ſo wenig als möglich daran zu denken. Aber ich konnte mich in dieſe Auffaſſung nicht mehr finden. Jene Frage: „Muß es denn ſein?“ von welcher einſt Friedrich geſprochen, die hatte ich mir mit Bezug auf den Krieg oft mit „nein“ beantwortet; und ſtatt Reſignation empfand ich dann Schmerz und Groll — ich hätte ihnen allen zurufen wollen: „Thut es nicht! — thut es nicht!“ Dieſes Schleswig-Holſtein und die däniſche Verfaſſung — was ging denn das uns an? Ob der „Protokoll-Prinz“ die Grundgeſetze vom 13. November 1863 aufhob oder beſtätigte — was war denn das uns? Aber da waren alle Blätter und Geſpräche nur immer voll von Erörterungen über dieſe Frage, als wäre das das Wichtigſte, Entſcheidendſte, Weltumwälzendſte, was ſich denken läßt, ſodaß die Frage: „Sollen unſere Männer und Söhne totgeſchlagen werden oder nicht?“ daneben gar nicht aufkommen durfte. Nur einigermaßen verſöhnen, wenn mir nämlich der Begriff „Pflicht“ ſo recht vor die Seele trat. Nun ja: — wir gehörten zum deutſchen Bunde und mit den verbündeten deutſchen Brüdern im Verein mußten wir für die Rechte unterdrückter deutſcher Brüder kämpfen. Das Nationalitätsprinzip war vielleicht doch etwas, das mit elementarer Kraft Bethätigung erheiſchte — von dieſem Standpunkte aus alſo {mußte} es ſein … Beim Anklammern an dieſe Idee ließ der ſchmerzliche Groll in meiner Seele ein wenig nach. Hätte ich vorausſehen können, wie zwei Jahre ſpäter dieſe ganze deutſche Verbrüderung in bitterſte Feindſchaft ſich auflöſen ſollte; wie dann der Preußenhaß in Öſterreich noch viel wütender angefacht würde, als jetzt der Dänenhaß — ſo hätte ich damals ſchon erkannt, wie ich das ſeither erkennen gelernt, daß die Motive, die als Rechtfertigung der Feindſeligkeiten angeführt werden, nichts als Phraſen ſind, Phraſen und Vorwände. Den Sylveſterabend verbrachten wir wieder im Hauſe meines Vaters. Mit dem Schlage zwölf erhob dieſer ſein Punſchglas: „Möge der Feldzug, welcher uns in dem neugeborenen Jahre bevorſteht, ein für unſere Waffen glorreicher werden“ — ſprach er feierlich; — ich ſtellte mein ſchon erhobenes Glas auf den Tiſch zurück — „und mögen unſere Lieben uns erhalten bleiben!“ beſchloß er. Jetzt erſt that ich Beſcheid. „Warum haſt Du bei der erſten Hälfte meines Toaſtes nicht angeſtoßen, Martha?“ „Weil ich von einem Feldzug nichts anderes wünſchen kann, als daß er — unterbleibe.“ Als wir ins Hotel und in unſer Schlafzimmer zurückgekehrt waren, warf ich mich Friedrich um den Hals. „Mein Einziger! Friedrich! Friedrich!!“ Er drückte mich ſanft an ſich: „Was haſt Du, Martha? Du weinſt … heute in der Neujahrsnacht? Warum denn das junge 1864 mit Thränen einweihen, mein Liebling? Biſt Du denn nicht glücklich? Habe ich Dich irgendwie gekränkt?“ „Du? O nein, nein, — nur zu glücklich machſt Du mich, viel zu glücklich — und deshalb iſt mir bang.“ „Abergläubiſch, meine Martha? Stellſt Du Dir auch neidiſche Götter vor, welche zu ſchönes Menſchenglück zerſtören?“ „Nicht die Götter — die unſinnigen Menſchen ſelber beſchwören das Unglück auf ſich herab.“ „Du ſpielſt auf den möglichen Krieg an? Es iſt ja noch nichts entſchieden, wozu denn der frühzeitige Kummer? Wer weiß, ob es zum Kampfe kommt, wer weiß, ob ich mitgehen muß? … Komm her, mein Liebling, ſetzen wir uns“ — er zog mich neben ſich auf das Sofa — „verſchwende Deine Thränen nicht an eine bloße Möglichkeit.“ „Schon die Möglichkeit iſt mir ſchmerzlich. Wäre es Gewißheit, Friedrich, ich würde nicht ſanft und ſtill an Deiner Schulter weinen — ich müßte laut aufſchreien und aufjammern … Aber die Möglichkeit, die Wahrſcheinlichkeit, daß in dem anbrechenden Jahre Du mir durch Armeebefehl aus den Armen geriſſen würdeſt — die genügt ſchon, mich in Bangen und Trauer zu verſetzen.“ „Bedenke, Martha, Du gehſt ja auch ſelber einer Gefahr entgegen — wie mir dies Dein Weihnachtsgeſchenk ſo lieb verkündet hat — und doch denken wir beide nicht an die grauſe Möglichkeit, die jeder Frau im Wochenbette beinahe ebenſo häufig droht, wie jedem Manne auf dem Schlachtfelde … Freuen wir uns des Lebens und denken wir nicht an den über unſer aller Häupter ſchwebenden Tod.“ „Du ſprichſt ja wie Tante Marie, Liebſter — als ob unſer Loos nur von der „Beſtimmung“ abhinge und nicht von den Unvorſichtigkeiten, Grauſamkeiten, Wildheiten und Dummheiten unſerer eigenen Mitmenſchen. Wo liegt die unabwendbare Notwendigkeit dieſes Krieges mit Dänemark?“ „Noch iſt derſelbe nicht ausgebrochen, noch —“ „Ich weiß, ich weiß: — noch können Zufälligkeiten das Übel verhüten. Aber nicht der Zufall, nicht politiſche Ränke und Launen ſollten über eine ſolche Schickſalsfrage entſcheiden, ſondern der feſte, aufrichtige {Wille} der Menſchen. Doch was nützt mein „es ſollte nicht“ und „es ſollte“ — ich kann die Ordnung der Dinge nicht ändern, nur darüber klagen. Aber darin hilf mir, Friedrich — verſuche nicht, mit den landläufigen leeren Ausflüchten mich zu tröſten! Du glaubſt ſelber nicht daran — Du ſelbſt erbebſt vor edlem Widerwillen … Nur darin finde ich Genugthuung, wenn Du mit mir verdammſt und beklagſt, was mich und unzählige Andere ſo unglücklich machen ſoll.“ „Ja, mein Herz, wenn es hereinbricht, das Verhängnis, dann will ich Dir recht geben; dann will ich Dir den Schauder und den Haß nicht verhehlen, den mir der anbefohlene Völkermord einflößt … Aber heute laß uns noch des Lebens froh ſein … Wir haben einander ja — nichts trennt uns … nicht die geringſte Schranke zwiſchen unſeren Seelen! Laß uns dieſes Glück genießen — ſo lange es unſer iſt — mit Inbrunſt genießen … Denken wir nicht an die angedrohte Zerſtörung desſelben … Ewig kann ja keine Freude dauern. In hundert Jahren iſt’s doch einerlei, ob wir lang oder ob wir kurz gelebt. Auf die Zahl der ſchönen Tage kommt es ſchließlich nicht an, ſondern auf den Grad ihrer Schönheit. Die Zukunft bringe was ſie wolle, mein vielgeliebtes Weib — unſere Gegenwart iſt ſo ſchön, ſo ſchön, daß ich jetzt nichts fühlen mag, als ſeliges Entzücken.“ Während er ſo ſprach, ſchlang er ſeinen Arm um mich und küßte mein an ſeiner Bruſt ruhendes Haupt. Da ſchwand auch mir die drohende Zukunft aus dem Bewußtſein und auch ich verſenkte mich in den ſüßen Frieden des Augenblickes. 28. Drittes Buch. 1864. // 2. Abſchnitt Am 10. Januar kehrten wir nach Olmütz zurück. Niemand zweifelte mehr an dem Ausbruch des Krieges. In Wien hatte ich noch vereinzelte Stimmen vernommen, welche meinten, daß die däniſch-holſteiniſche Frage vielleicht doch noch auf diplomatiſchem Wege beigelegt werden könne; aber in den militäriſchen Kreiſen unſerer Feſtungsbeſatzung galt die Friedensmöglichkeit für ausgeſchloſſen. Unter den Offizieren und ihren Frauen herrſchte eine aufgeregte, aber zumeiſt freudig aufgeregte Stimmung: Gelegenheit zu Auszeichnung und Avancement in Sicht — zur Befriedigung des Thatendurſtes des einen, des Ehrgeizes des zweiten, des Gage-Erhöhungsbedürfniſſes des dritten. „Das iſt ein famoſer Krieg, der ſich da vorbereitet,“ ſagte der Oberſt, bei dem wir nebſt mehreren anderen Offizieren ſamt Gemahlinnen zu Tiſche geladen waren, „ein famoſer Krieg, der auch ungeheuer populär ſein wird. Keine Gefahr für unſer Territorium — auch der Landbevölkerung erwächſt kein Schaden, denn der Kriegsſchauplatz liegt auf fremdem Gebiet. Unter ſolchen Umſtänden iſt es wirklich eine doppelte Luſt ſich zu ſchlagen.“ „Was mich daran begeiſtert,“ ſagte ein junger Oberlieutenant, „iſt das edle Motiv: unterdrückte Rechte unſerer Brüder verteidigen. Daß die Preußen mit uns gehen, oder vielmehr wir mit ihnen, das ſichert erſtens den Sieg und zweitens wird es die nationalen Bande noch enger verknüpfen. Die Nationalitätsidee —“ „Reden Sie lieber nichts von der,“ unterbrach der Regimentschef etwas ſtrenge. „Für einen Öſterreicher ſchickt ſich dieſer Schwindel nicht wohl. Der war’s, der uns den 59er Krieg heraufbeſchworen hat, denn auf dieſem Steckenpferd, „ein italieniſches Italien“, iſt ja Louis Napoleon ſtets herumgeritten. Und überhaupt paßt dieſes ganze Prinzip nicht für Öſterreich; Böhmen, Ungarn, Deutſche, Kroaten — wo iſt da das Nationalitätsband? Wir kennen nur ein Prinzip, das uns vereint, das iſt die loyale Liebe zu unſerer Dynaſtie. Was uns alſo begeiſtern ſoll, wenn wir zu Felde ziehen, iſt nicht der Umſtand, daß wir für Deutſche und mit Deutſchen kämpfen, ſondern daß wir unſerem erhabenen und geliebten Kriegsherrn Heeresfolge leiſten dürfen. {Es lebe der Kaiſer!}“ Alle erhoben ſich und thaten ſtehend Beſcheid. Ein Funken Begeiſterung fiel auch mir ins Herz und erfüllte es — einen Augenblick aufflammend — mit wohlthuender Wärme. Eine und dieſelbe Sache, eine und dieſelbe Perſon lieben, wenn man Tauſend iſt, das gibt eine eigentümliche, vertauſendfachte Hingebungsluſt … Das iſt’s, was als Loyalität, als Patriotismus, als Korpsgeiſt die Herzen ſchwellt. Es iſt nichts anderes als Liebe, und die wirkt ſo mächtig, daß einem das in ihrem Namen gebotene Werk des Haſſes — das allerſcheußlichſte Werk des tödlichſten Haſſes, der Krieg — als erfüllte Liebespflicht erſcheint. Aber nur einen Augenblick hatte es in meinem Herzen ſo geglüht, denn eine ſtärkere Liebe als die zu allen erdenklichen Vaterländern und Landesvätern ruhte in deſſen Grunde — die Liebe zu meinem Mann. {Sein} Leben war mir doch das höchſte aller Güter, und wenn dieſes aufs Spiel geſetzt werden ſollte, konnte ich die Partie — gelte es nun Schleswig-Holſtein oder Japan — nur verwünſchen. Die jetzt folgende Zeit lebte ich in unerhörtem Bangen. Am 16. Januar ſtellten die Bundesmächte an Dänemark das Anſinnen, ein gewiſſes Geſetz, gegen welches die holſteiniſche Ständeverſammlung und Ritterſchaft den Schutz des Bundes anrief, aufzuheben, und zwar innerhalb vierundzwanzig Stunden. Dänemark verweigerte dies. Wer wird auch ſo ſich befehlen laſſen? Dieſe Weigerung war natürlich vorausgeſehen worden, denn ſchon ſtanden preußiſche und öſterreichiſche Truppen an den Grenzen poſtiert, und am 1. Februar überſchritten ſie die Eider. So waren denn die blutigen Würfel wieder gefallen — die Partie begann. Dies veranlaßte meinen Vater einen Gratulationsbrief an uns zu richten. „Freut Euch, Kinder,“ ſchrieb er. „Jetzt haben wir doch Gelegenheit, die erhaltenen Schläge von 59 wieder gut zu machen, indem wir den Dänen Schläge geben. Wenn wir von Norden ſiegreich heimkehren, ſo können wir uns auch wieder nach Süden wenden: die Preußen bleiben unſere Alliirten, und dann können uns die ſchäbigen Italiener ſamt ihrem intriganten Louis Napoleon nicht mehr aufkommen.“ Friedrichs Regiment, zur großen Enttäuſchung des Oberſten und des Offizierkorps, war nicht zur Grenze entſendet worden. Dies brachte uns ein väterliches Kondolenzſchreiben ein: „Ich bedaure aufrichtig, daß Tilling das Pech hat, gerade bei einem Regiment zu dienen, welches nicht berufen war, den ſo glorreich ſich anlaſſenden Feldzug zu eröffnen; übrigens beſteht ja immer noch die Möglichkeit, daß es zum Nachrücken beſtimmt werde, Martha wird der Sache freilich die gute Seite abgewinnen und ſich freuen, daß ihr die Angſt um den geliebten Mann erſpart bleibt, und auch Friedrich iſt eingeſtandenermaßen ſelber kein Freund des Krieges; aber ich denke, er iſt nur im Prinzip dagegen, das heißt: es wäre ihm aus ſogenannten ‚humanitären‘ Gründen lieber, wenn es zu keiner Schlacht käme; {iſt} es aber einmal dazu gekommen, ſo wollte er wohl auch lieber dabei ſein, da regt ſich wohl die männliche Kampfesluſt. Es ſollte wirklich immer die {ganze} Armee gegen den Feind geſchickt werden; in ſolchen Zeiten zu Hauſe bleiben zu müſſen, iſt für den Soldaten doch gar zu hart.“ „Trifft es Dich hart, mein Friedrich, bei mir zu bleiben?“ fragte ich, nachdem ich den Brief geleſen. Er drückte mich an ſein Herz. Dieſe ſtumme Antwort genügte mir. Aber was half’s? Um meine Ruhe war es doch geſchehen. Jeden Tag konnte der Marſchbefehl kommen. Würde der unſelige Krieg nur ſchnell zu Ende geführt! … Mit größtem Eifer las ich in den Zeitungen die Berichte vom Kriegsſchauplatz und wünſchte heiß, daß die Verbündeten raſche und entſcheidende Siege erföchten. Ich geſtehe es, der Wunſch war nicht vor allem ein patriotiſcher. Lieber war es mir immerhin, wenn der Sieg auf unſerer Seite blieb; aber was ich von dieſem erhoffte, war die Beendigung des Kampfes, ehe mein Alles in der Welt dahin entſendet werde, in zweiter Linie erſt der Triumph meiner Landsleute und in allerletzter Linie die Intereſſen des „meerumſchlungenen“ Stück Landes. Ob nun Schleswig zu Dänemark gehörte, oder nicht, was in aller Welt konnte mich das anfechten? Und ſchließlich — was focht es die Dänen und die Schleswig-Holſteiner ſelber an? Sahen denn die beiden Völker nicht ein, daß es nur ihre Lenker waren, welche um Land- und Machtbeſitz ſich ſtritten, daß es in dieſem Falle zum Beiſpiel nicht um ihr Wohl und Wehe, ſondern um die Gelüſte des Protokoll-Prinzen und des Auguſtenburgers ſich handelte? Wenn mehrere Hunde um ein paar Knochen ſich raufen, ſo zerfleiſchen einander doch nur die Hunde; in der Völkergeſchichte ſind es aber meiſt die dummen Knochen ſelber, welche auf einander losſchlagen und ſich gegenſeitig zertrümmern, um für die Rechte der ſie begehrenden Streiter zu kämpfen. „Mich will Azor haben“ — und „Auf mich hat Pluto Anſpruch“ — „Ich proteſtiere gegen Karo’s Fänge“ und „Ich rechne es mir zur Ehre, von Minka gefreſſen zu werden,“ ſagen die Knochen. „Dänemark bis zur Eider,“ riefen die däniſchen Patrioten. „Wir wollen Friedrich von Auguſtenburg zum Herzog,“ riefen die Loyalen von Holſtein. Unſere Zeitungsartikel und Geſpräche unſerer Kannegießer waren natürlich alle von dem Grundſatz durchdrungen, daß die Sache für welche „Wir“ eingetreten, die gerechtere, die einzig „hiſtoriſch entwickelte“, die einzig für Erhaltung des „europäiſchen Gleichgewichts“ erforderliche war. Natürlich wurde in den Leitartikeln und den politiſchen Unterhaltungen in Kopenhagen das gegenteilige Prinzip mit gleichem Nachdruck verfochten. Warum nicht gegenſeitig die Rechte abwägen, um ſich zu verſtändigen, und wenn dies nicht gelingt, eine dritte Macht zum Schiedsrichter machen? Warum nur immer beiderſeitig ſchreien. „Ich — {ich} bin im Rechte.“ So gar gegen die eigene Überzeugung ſchreien, ſo lange, bis man ſich heiſer geſchrien, und losſchlägt — die Entſcheidung der {Gewalt} überlaſſend? Iſt das nicht Wildheit? Und wenn nun eine dritte Macht ſich in den Streit miſcht, ſo thut auch ſie es nicht mit Rechtserwägung und Urteilsſpruch, ſondern gleichfalls mit Dreinſchlagen? … Und das nennen die Leute „äußere Politik?“ Äußere und innere Rohheit iſt es — ſtaatskluge Schildbürgerei — internationale Barbarei — — — 29. Drittes Buch. 1864. // 3. Abſchnitt Mit ſolcher Beſtimmtheit faßte ich wohl damals die Ereigniſſe noch nicht in dieſem Lichte auf. Nur momentan erwachten mir derlei Zweifel, und dann gab ich mir Mühe, dieſelben zu verſcheuchen. Ich verſuchte, mir einzureden, daß das geheimnisvolle Ding „Staatsraiſon“ genannt, ein über alle Privat- und namentlich über meine kleine Vernunft erhabenes, das Leben der Staaten bedingendes Prinzip ſei, und eifrig ſtudierte ich in der Geſchichte Schleswig-Holſteins nach, um einen Begriff von dem „hiſtoriſchen Recht“ zu erlangen, zu deſſen Wahrung der gegenwärtige Prozeß geführt ward. Da fand ich denn, daß der fragliche Landſtrich ſchon im Jahre 1027 an Dänemark abgetreten worden war. Alſo haben eigentlich die Dänen recht; ſie ſind die legitimen Könige des Landes … Nun aber, zweihundert Jahre ſpäter, wird das Land einer jüngeren Linie des Königshauſes zugeteilt und gilt nur noch als ein däniſches Fahnenlehen. 1326 wird Schleswig dem Grafen Gerhard von Holſtein überlaſſen und die „Waldemarſche Konſtitution“ verbrieft, daß „es nie wieder mit Dänemark ſo verbunden werden ſoll, daß ein Herr ſei.“ Ah ſo, dann iſt das Recht doch auf Seite der Verbündeten: wir kämpfen für die „Waldemarſche Konſtitution“. Das iſt wohl in der Ordnung, denn wozu wären denn verbriefte Zuſicherungen, wenn man ſie nicht aufrecht erhielte? Im Jahre 1448 wird die Waldemarſche Konſtitution nochmals durch König Chriſtian Ⅰ. beſtätigt. Alſo kein Zweifel; nie ſoll und darf wieder „Ein Herr ſein“. Was wollte da der Protokoll-Prinz? Zwölf Jahre ſpäter ſtirbt der Herrſcher von Schleswig kinderlos und die Landſtände verſammeln ſich zu Ripen (gut, daß man immer ſo genau weiß, wann und wo ſich Landſtände verſammelten: es war alſo 1460 zu Ripen) und proklamieren den däniſchen König zum Herzog von Schleswig, wogegen er ihnen verſpricht, daß die Lande „ewig zuſammenbleiben ſollen — ungeteilt“. Das macht mich wieder ein wenig konfus. Der einzige Anhaltspunkt iſt noch das „ewig zuſammenbleiben“. Aber die Verwirrung nimmt im weiteren Verlauf dieſes hiſtoriſchen Studiums fortwährend zu, denn jetzt beginnt, trotz der Formel: „ewig ungeteilt“ (das Wort „ewig“ ſpielt in politiſchen Verträgen überhaupt eine niedliche Rolle) ein ewiges Spalten und Teilen des Beſitzes zwiſchen den Söhnen des Königs und Wiedervereinen unter einem nächſten König und Gründen neuer Linien — Holſtein-Gottorp und Schleswig-Sonderburg — welche ſich unter gegenſeitigen Verſchiebungen und Abtretungen der Anteile abermals ſpalteten in die Linien Sonderburg-Auguſtenburg, Beck-Glücksburg, Sonderburg-Glücksburg, Holſtein-Glückſtadt, — kurz, ich kenne mich gar nicht mehr aus. Aber nur weiter. Vielleicht begründet ſich das hiſtoriſche Recht, um welches heute unſere Landesſöhne bluten müſſen, erſt ſpäter. Chriſtian Ⅳ. miſcht ſich in den dreißigjährigen Krieg und die Kaiſerlichen und Schweden fallen in die Herzogtümer ein. Jetzt wird wieder (zu Kopenhagen, 1658) ein Vertrag gemacht, worin dem Hauſe Holſtein-Gottorp die Oberherrſchaft über den ſchleswigſchen Anteil zugeſichert wird, und da iſt es endlich mit der däniſchen Lehenshoheit vorbei. Auf ewig vorbei. Gott ſei Dank. Jetzt finde ich mich doch wieder zurecht. Was geſchieht aber durch Patent vom 22. Auguſt 1721? Einfach dies: der gottorpſche Anteil von Schleswig wird der däniſchen Monarchie einverleibt. Und am 1. Juni 1773 wird auch Holſtein dem däniſchen Königshauſe überlaſſen — das Ganze gilt nun als däniſche Provinz. Das ändert die Sache: ich ſehe ſchon — die Dänen ſind im Recht. Aber doch nicht ſo ganz. Denn der wiener Kongreß von 1815 erklärt Holſtein für einen Teil des deutſchen Bundes. Dies aber wurmt die Dänen. Sie erfinden das Schlagwort: „Dänemark bis zur Eider“ und ſtreben nach der totalen Beſitznahme des von ihnen „Südjütland“ benannten Schleswig. Hier hingegen wird das „Erbrecht des Auguſtenburgers“ als Loſung gebraucht und zu deutſchnationalen Kundgebungen benutzt. Im Jahre 1846 ſchreibt der König Chriſtian einen offenen Brief, worin er die Integrität des Geſamtſtaates als Ziel hinſetzt, wogegen die „deutſchen Lande“ proteſtieren. Zwei Jahre ſpäter wird vom Throne aus die völlige Vereinigung nicht mehr als Ziel, ſondern als [fait accompli] verkündet, worauf in den „deutſchen Landen“ der Aufſtand ausbricht. Jetzt geht das Raufen los. Bald ſiegen die Dänen in dieſem Gefecht, bald die Schleswig-Holſteiner in einem anderen. Dann miſcht ſich der deutſche Bund hinein. Die Preußen „nehmen“ die Düppeler Höhen; aber das macht dem Streit kein Ende. Preußen und Dänemark ſchließen Frieden; Schleswig-Holſtein muß nun allein gegen die Dänen kämpfen und wird bei Idſtedt geſchlagen. Der Bund verlangt nun von den „Aufſtändiſchen“, daß ſie den Krieg einſtellen. Was ſie denn auch thun. Öſterreichiſche Truppen beſetzen Holſtein, und die zwei Herzogtümer werden {getrennt}. Wo iſt nun das verbriefte „ewig zuſammenbleiben“ hin? Aber noch immer iſt die Angelegenheit nicht feſtgeſetzt. Da finde ich ein Londoner Protokoll, vom 8. Mai 1852 (gut, daß man das immer ſo ganz genau weiß, unter welchem Datum die zerbrechlichen Verträge gemacht wurden), welches die Erbfolge Schleswigs dem Prinzen Chriſtian von Glücksburg ſichert. („Sichert“ iſt gut.) Jetzt weiß ich doch auch, woher die Benennung „Protokoll-Prinz“ ſtammt. Im Jahre 1854, nachdem jedes Herzogtum eine eigene Verfaſſung erhalten, werden ſie beide „daniſiert“. Aber 1858 muß die Daniſierung Holſteins wieder aufgehoben werden. Jetzt iſt dieſe geſchichtliche Darſtellung der Gegenwart ſchon ganz nahe gerückt, aber noch immer iſt mir nicht klar, wo die zwei „Lande“ rechtmäßig hingehören, und was eigentlich den Ausbruch des gegenwärtigen Krieges veranlaßt hat. Am 18. November 1858 wird das famoſe „Grundgeſetz für die gemeinſchaftlichen Angelegenheiten Dänemarks und Schleswigs“ vom Reichsrat genehmigt. Zwei Tage darauf ſtirbt der König. Mit ihm erliſcht wieder einmal eine Linie — nämlich die Linie Holſtein-Glückſtadt und als der Nachfolger des Monarchen das zwei Tage alte Geſetz beſtätigt, erſcheint Friedrich von Auguſtenburg (dieſe Linie hätte ich beinahe vergeſſen) auf dem Plan, erhebt ſeine Anſprüche und wendet ſich ſamt der Ritterſchaft um Beiſtand an den deutſchen Bund. Dieſer läßt ſofort durch Sachſen und Hannoveraner Holſtein beſetzen und proklamiert den Auguſtenburger zum Herzog. Warum? Damit ſind aber Preußen und Öſterreich nicht einverſtanden. Warum? Das verſtehe ich heute noch nicht. Es heißt, das Londoner Protokoll müſſe reſpektiert werden. Warum? Sind denn Protokolle über Dinge, die einem abſolut nichts angehen, gar ſo reſpektabel, daß man ſie mit dem Blut der eigenen Söhne verteidigen muß? Da ſteckt wohl wieder irgend eine verborgene „Staatsraiſon“ dahinter … Als Dogma muß man feſthalten: Was die Herren am grünen Diplomatentiſch entſcheiden, das iſt die höchſte Weisheit und bezweckt die größtmögliche Förderung der vaterländiſchen Machtſtellung. Das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852 mußte aufrecht erhalten, aber das Kopenhagener Grundgeſetz vom 13. Januar 1863 mußte aufgehoben werden, und zwar binnen vierundzwanzig Stunden. Daran hing Öſterreichs Ehre und Wohl. Das Dogma war ein bischen ſchwer zu glauben aber in politiſchen Dingen, beinahe noch williger als religiöſen, läßt ſich die Maſſe von dem Prinzip des [quia absurdum] lenken; auf das Verſtehen und Begreifen wird von vornherein verzichtet. Iſt das Schwert einmal gezogen, dann bedarf es nichts mehr, als des Rufes „Hurrah“ und des heißen Siegesdranges. Dazu ruft man nur noch den Segen des Himmels auf den Kampf herab. Denn ſoviel iſt gewiß: dem lieben Gott muß daran gelegen ſein, daß das Protokoll vom 8. Mai eingehalten und das Geſetz vom 13 Januar zurückgenommen werde; er muß es ſo lenken, daß genau ſo viele Menſchen verbluten und Dörfer verbrennen als er erforderlich iſt, damit die Linie von Glückſtadt oder die von Auguſtenburg über ein gewiſſes Stück Erde regiere … O du thörichte, grauſame gedankenloſe, gängelbandgeführte Welt! {Das} war das Ergebnis meiner Geſchichtsſtudien. 30. Drittes Buch. 1864. // 4. Abſchnitt Vom Kriegsſchauplatze her kamen gute Nachrichten. Die Verbündeten ſiegten Schlag auf Schlag. Nach den erſten Gefechten ſchon mußten die Dänen das ganze Danewerk räumen; Schleswig und Jütland bis Limfjord wurde von den Unſeren beſetzt und der Feind behauptete ſich nur noch in den Düppeler Schanzen und auf Alſen. Das wußte ich alles ſo genau, weil auf den Tiſchen wieder die ſtecknadelbeſpickten Landkarten auflagen, auf welchen die Bewegungen und Stellungen der Truppen, je nach den einlaufenden Berichten, markiert wurden. „Wenn wir jetzt auch noch die Düppeler Schanzen nehmen, oder wenn wir gar Alſen erobern,“ ſagten die Olmützer Bürger (denn niemand ſpricht ſo gern von den kriegeriſchen Thaten per „wir“ als diejenigen, welche niemals dabei waren), „dann ſind wir fertig … Jetzt zeigen doch wieder unſere Öſterreicher, was ſie können. Auch die braven Preußen ſchlagen ſich prächtig — die beiden miteinander ſind natürlich unüberwindlich. Das Ende wird ſein, daß ganz Dänemark erobert und dem deutſchen Bunde zugeteilt wird — ein glorreicher, glückbringender Krieg!“ Auch ich wünſchte jetzt nichts ſehnlicher, als die Erſtürmung von Düppel — je früher, je lieber — denn dieſe Aktion würde doch entſcheidend ſein und der Schlägerei ein Ende machen. Hoffentlich ein Ende machen, ehe Friedrichs Regiment Marſchbefehl erhielt. O dieſes Damoklesſchwert … Jeden Tag beim Erwachen fürchtete ich mich, daß die Nachricht gebracht werde: „Wir marſchieren ab!“ Friedrich war gefaßt darauf. Er wünſchte es nicht, aber er ſah es kommen. „Gewöhne Dich an den Gedanken, Kind,“ ſagte er mir. „Gegen die unerbittliche Notwendigkeit hilft kein Sträuben. Ich glaube nicht, ſelbſt wenn Düppel fällt, daß der Krieg darum zu Ende ſein wird. Die ausgeſandte Doppelarmee iſt viel zu klein, um den Dänen eine Entſcheidung aufzuzwingen; wir werden noch bedeutenden Nachſchub ſchicken müſſen — und da wird auch mein Regiment nicht verſchont bleiben.“ Schon dauerte dieſer Feldzug über zwei Monate, und noch kein Reſultat. Wenn ſich die grauſe Partie doch in einem Kampfe entſcheiden wollte, wie bei dem Duell. Aber nein: iſt eine Schlacht verloren, ſo wird eine zweite geliefert; muß eine Poſition aufgegeben werden, ſo wird eine andere behauptet, und ſo fort bis zur Vernichtung des einen oder des anderen Heeres, oder zur Erſchöpfung beider … Am 14. April endlich wurden die Düppeler Schanzen erſtürmt. Die Nachricht ward mit einem Jubel aufgenommen, als wäre hinter dieſen Schanzen das nunmehr eroberte Paradies gelegen. Man umarmte ſich auf den Straßen: „Sie wiſſen ſchon? Düppel! … O unſer tapferes Heer … Eine unerhörte Großthat! … Jetzt danket alle Gott.“ Und in ſämtlichen Kirchen Abſingung des Tedeums; unter den Militärkapellmeiſtern emſiges Komponieren von „Düppelerſchanzenmarſch“, „Sturm von Düppel-Galopp“ und ſo weiter. Die Kameraden meines Mannes und deren Frauen hatten zwar einen Tropfen Bitterkeit in ihrem Freudenbecher; nicht dabei geweſen zu ſein … bei einem ſolchen Triumph fehlen zu müſſen — ſolches „Pech“! Mir verurſachte dieſer Sieg eine große Freude; denn gleich darauf trat in London eine Friedenskonferenz zuſammen und vermittelte einen Waffenſtillſtand. Welches freie Aufatmen dieſes Wort „Waffenſtillſtand“ doch gewährt! … Wie müßte die Welt erſt aufatmen — dachte ich damals zum erſtenmal — wenn es allenthalben hieße: {die Waffen nieder} — auf immer nieder! Ich trug das Wort in die roten Hefte ein. Daneben aber ſchrieb ich verzagt, zwiſchen Klammern: „Utopia“. Daß der Londoner Kongreß dem ſchleswig-holſteinſchen Kriege ein Ende machen würde, daran zweifelte ich gar nicht. Die Verbündeten hatten geſiegt, die Düppeler Schanzen waren genommen — dieſe Schanzen hatten in letzter Zeit eine ſo große Rolle geſpielt, daß mir deren Einnahme als endgültig entſcheidend erſchien — wie wollte Dänemark jetzt noch weiter ſich behaupten? Die Verhandlungen zogen ſich unglaublich lange hin. Dies wäre mir eine Qual geweſen, wenn ich nicht von allem Anfang an die Überzeugung gehabt hätte, daß das Ergebnis ein befriedigendes ſein müſſe. Wenn die Vertreter mächtiger Staaten, dabei vernünftige wohlmeinende Leute, ſich zuſammenthun, um ein ſo wünſchenswertes Ziel zu erreichen, wie Friedensſchließung, wie könnte das mißlingen? Deſto entſetzlicher war meine Enttäuſchung, als nach zwei Monate lang geführten Debatten die Nachricht eintraf, daß der Kongreß unverrichteter Dinge wieder auseinandergehe. Und zwei Tage ſpäter kam für Friedrich — der Marſchbefehl! Zur Vorbereitung und zum Abſchied hatte er vierundzwanzig Stunden Zeit. Und ich war auf dem Punkte, niederzukommen. In der toddräuenden, ſchweren Stunde, wo eines Weibes einziger Troſt darin beſteht, den geliebten Mann neben ſich zu haben, würde ich allein bleiben müſſen — allein mit dem über alles bangen Bewußtſein, daß der geliebte Mann in den Krieg gegangen — wiſſend, daß es ihm ebenſo ſchmerzlich ſein mußte, in ſolcher Stunde ſeine arme Frau zu verlaſſen, als es mir ſchmerzlich ſein würde, ihn zu miſſen … Es war am Morgen des 20. Juni. Alle Einzelheiten dieſes denkwürdigen Tages ſind mir eingeprägt geblieben. Draußen herrſchte drückende Hitze und um dieſe auszuſchließen, waren die Rollvorhänge in meinem Zimmer herabgelaſſen. In leichte und loſe Gewänder gehüllt, lag ich ermattet auf der Chaiſelongue. Ich hatte die Nacht ziemlich ſchlaflos verbracht, und jetzt hatte mir ein traumhafter Halbſchlummer die Augen geſchloſſen. Neben mir, auf einem Tiſchchen, ſtand eine Vaſe mit ſtark duftenden Roſen. Durch das offene Fenſter drang der Ton entfernter Trompetenübungen herein. Das alles wirkte einſchläfernd, dennoch hatte mich das Bewußtſein nicht ganz verlaſſen. Nur die eine Hälfte davon — die Sorgenhälfte — war mir geſchwunden. Die Kriegsgefahr und die mir bevorſtehende Gefahr hatte ich vergeſſen: ich wußte nur, daß ich lebte, daß die Roſen — nach dem Rhythmus des Reveille-Signals — betäubend ſüße Düfte hauchten; daß mein geliebter Mann jede Minute hereinkommen konnte und, wenn er mich ſchlafen ſähe, nur ganz leiſe träte, um mich nicht zu wecken. Und richtig: im nächſten Augenblick öffnete ſich die mir gegenüberliegende Thüre. Ohne die Lider zu heben — nur durch eine linienbreite Spalte unter den Wimpern — konnte ich ſehen, daß es der Erwartete war. Ich machte keinen Verſuch, mich aus meinem Halbſchlummer herauszureißen — dadurch hätte ich möglicherweiſe das ganze Bild verſcheuchen können, denn vielleicht war die Erſcheinung an der Thür nur ein fortgeſetzter Traum, und vielleicht träumte ich nur, daß ich die Lider linienbreit geöffnet … Jetzt ſchloß ich dieſelben ganz und gab mir Mühe weiter zu träumen, daß der Teuere näher kommt — ſich herabbeugt und mir die Stirne küßt … So geſchah es auch. Dann kniete er neben mein Lager nieder und blieb eine Weile regungslos. Noch immer dufteten die Roſen und trarate das ferne Hornſignal … „Martha, ſchläfſt Du,“ hörte ich ihn leiſe fragen. Da ſchlug ich die Augen auf. „Um Gotteswillen, was iſt’s?“ rief ich, zu Tode erſchreckt — denn das Antlitz des an meiner Seite knienden Gatten war von ſo tiefer Trauer übergoſſen, daß ich mit einemmal erriet, es ſei ein Unglück hereingebrochen. Statt zu antworten, legte er ſein Haupt an meine Bruſt. Ich wußte alles: Er muß fort … Ich hatte den Arm um ſeinen Hals geſchlungen und ſo blieben wir beide eine Zeit lang ſtumm. „Wann?“ fragte ich endlich. „Morgen früh —“ „O mein Gott — mein Gott!!“ „Faſſe Dich, meine arme Martha —“ „Nein, nein, laß mich jammern … Mein Unglück iſt zu groß — und ich weiß — ich ſeh’ Dir’s an: das Deine auch. So viel Schmerz, wie ich vorhin in Deinen Zügen geleſen, habe ich noch in keines Menſchen Angeſicht geſehen.“ „Ja, mein Weib — ich {bin} unglücklich. Dich jetzt laſſen zu müſſen, in einer ſolchen Zeit —“ „Friedrich, Friedrich, wir ſehen uns nimmer — ich werde ſterben …“ 31. Drittes Buch. 1864. // 5. Abſchnitt Es war ein herzzerreißender Abſchied, der dieſe letzten vierundzwanzig Stunden füllte … Das war nun das zweite Mal im Leben, daß ich einen teuren Gatten zu Felde ziehen ſah. Doch unvergleichlich ſchwerer war dieſe zweite Losreißung, als die erſte. Damals war meine und beſonders Arnos Auffaſſung eine ganz andere, primitivere geweſen: ich hatte das Ausrücken als eine alle perſönlichen Gefühle überwiegende Naturnotwendigkeit — er ſogar als eine freudige Ruhmesexpedition betrachtet. Er ging mit Begeiſterung, ich blieb ohne Murren. Noch haftete etwas von der Kriegsbewunderung an mir, die ich in meiner Jugenderziehung eingeſogen; noch fühlte ich dem Hinausſtürmenden etwas von dem Stolze nach, welchen er Angeſichts der großen Unternehmung empfand. Aber jetzt wußte ich, daß der Scheidende eher mit Abſcheu, denn mit Jubel an die Mordarbeit ging; ich wußte, daß er das Leben liebte, welches er auf’s Spiel ſetzen mußte; daß ihm über alles — ja, {alles}, auch über die Rechtsanſprüche des Auguſtenburgers — ſein Weib teuer war, ſein Weib, das in wenigen Tagen Mutter werden ſollte. Während ich bei Arno die Überzeugung gehabt, daß er mit Gefühlen ſchied, um die er immerhin zu beneiden war, erkannte ich, daß bei dieſer zweiten Trennung wir beide gleiches Mitleid verdienten. Ja, wir litten in gleichem Maße und wir ſagten und klagten es einander. Keine Heucheleien, keine leeren Troſtphraſen, keine Prahlworte. Wir waren ja eins und keines ſuchte das andere zu betrügen. Es war noch unſer beſter Troſt, daß jedes ſeine Troſtloſigkeit vom andern voll verſtanden wußte. Die Größe des über uns hereingebrochenen Unglückes ſuchten wir durch keine konventionellen, patriotiſchen und heroiſchen Mäntelchen und Lärvchen zu verhüllen. Nein — die Ausſicht, auf Dänen ſchießen und hauen zu dürfen, war ihm keine, gar keine Wettmachung des Leides, mich verlaſſen zu müſſen; im Gegenteile — eher eine Verſchärfung: denn Töten und Zerſtören widert jeden „Edelmenſchen“ an. Und mir war es kein, gar kein Erſatz für {mein} Leid, daß der Vielgeliebte etwa um eine Rangſtufe vorrücken könnte. Und falls das Unglück der gefährlichen Trennung noch zum Unglück der ewigen Trennung ſich ſteigerte — ſollte Friedrich fallen — ſo war mir die Staatsraiſon, wegen welcher dieſer Krieg geführt werden mußte, nicht im entfernteſten erhaben und heilig dünkend genug, um ſolches Opfer aufzuwiegen. — Vaterlandsverteidiger: das iſt der ſchön klingende Titel, mit welchem der Soldat geſchmückt wird. Und in der That: was kann es für die Glieder des Gemeinweſens für eine edlere Pflicht geben, als die, die bedrohte Gemeinſchaft zu {verteidigen}? Warum aber bindet dann den Soldaten ſein Fahneneid zu hundert anderen Kriegspflichten, als die der Schutzwehr? Warum muß er angreifen gehen, warum muß er — wo dem Vaterlande nicht der mindeſte Einfall droht — wegen der bloßen Beſitz- und Ehrgeizſtreitigkeiten einzelner fremder Fürſten, dieſelben Güter — Leben und Herd — einſetzen, als ob es ſich, wie es doch zur Rechtfertigung des Krieges heißt, um die Verteidigung des gefährdeten Lebens und Herdes handelte? Warum mußte hier zum Beiſpiel das öſterreichiſche Heer ausziehen, um den Auguſtenburger auf das fremde Thrönchen zu ſetzen? Warum — warum? — das iſt ein Fragwort, welches an Kaiſer oder Papſt zu richten, an ſich ſchon hochverräteriſch und läſterlich iſt, welches dort als Irreligioſität und hier als Illoyalität gilt und welches nie beantwortet zu werden braucht … Um zehn Uhr morgens ſollte das Regiment ausrücken. Wir waren die ganze Nacht aufgeblieben. Nicht eine Minute des uns noch beſchiedenen Zuſammenſeins hatten wir verlieren wollen. Es war ſo viel, was wir uns noch zu ſagen hatten, und doch ſprachen wir nur wenig. Küſſe und Thränen waren es zumeiſt, welche beredter als alle Worte ſagten: Ich hab’ Dich lieb und muß Dich laſſen. Dazwiſchen fiel auch wieder ein hoffnungsvolles Wort: „Wenn Du wiederkommſt“ … Es war ja möglich … es kommen ja ſo viele heim. Doch ſonderbar! ich wiederholte: „Wenn Du wiederkommſt“ und bemühte mich, mir das Entzückende dieſer Eventualität vorzuſtellen, aber vergebens: meine Einbildungskraft vermochte kein anderes Bild zu ſchaffen, als des Gatten Leiche auf der Wahlſtatt oder mich ſelber auf der Bahre mit einem toten Kind im Arm … Friedrich war von ähnlichen trüben Vermutungen erfüllt; denn ſein „Wenn ich wiederkomme“ klang nicht aufrichtig, und häufiger ſprach er von dem, was geſchehen ſollte, „wenn ich bleibe“. „Heirate kein drittes Mal, Martha! Verwiſche nicht durch neue Liebeseindrücke die Erinnerungen dieſes herrlichen Jahres … nicht wahr, es iſt eine glückliche Zeit geweſen?“ Wir ließen nun hundert kleine Einzelheiten, welche von unſerer erſten Begegnung bis zu dieſer Stunde ſich uns eingeprägt hatten, an unſerem Gedächtnis vorüberziehen. „Und mein Kleines, mein armes Kleines, das ich wohl nie an mein Herz drücken werde — wie ſoll es getauft werden? „Friedrich oder Friederike.“ „Nein — Martha iſt ſchöner. Wenn es ein Mädchen iſt, ſo nenne ich es mit dem Namen, den ſein ſterbender Vater zuletzt —“ „Friedrich — warum ſprichſt Du immer vom Sterben? Wenn Du wiederkommſt …“ „{Wenn} …“ wiederholte er. Als der Tag zu grauen begann, fielen mir die thränenmüden Augen zu. Ein leichter Schlummer ſenkte ſich auf uns beide; mit verſchlungenen Armen lagen wir da, ohne das Bewußtſein zu verlieren, daß dies unſere Scheideſtunde war. Plötzlich fuhr ich auf und brach in lautes Stöhnen aus. Friedrich erhob ſich raſch. „Um Gotteswillen, Martha, was iſt Dir? … Doch nicht? … So ſprich … Etwa? …“ Ich nickte bejahend. War es ein Schrei, oder ein Fluch, oder ein Stoßgebet, das ſich ſeinen Lippen entrang? Er riß die Glocke und gab Alarm: „Augenblicklich zum Arzt, zur Wärterin!“ rief er der herbeigeeilten Dienerin zu. Dann warf er ſich an meine Seite knieend nieder und küßte meine herabhängende Hand: „Mein Weib, mein alles! … Und jetzt — {jetzt} muß ich fort!“ Ich konnte nicht ſprechen. Der heftigſte phyſiſche Schmerz, den man ſich vorſtellen kann, wand und krümmte meinen Leib und dabei war das Seelenweh doch noch entſetzlicher, daß er „jetzt, jetzt fort mußte“ und daß er darüber ſo unglücklich war … Bald kamen die Gerufenen herbei und machten ſich um mich zu ſchaffen. Zu gleicher Zeit mußte Friedrich die letzte Vorbereitung zum Abmarſch treffen. Nachdem er damit fertig geworden: „Doktor, Doktor,“ rief er, den Arzt bei beiden Händen faſſend, „nicht wahr — Sie verſprechen mir — Sie bringen ſie durch? Und Sie telegraphieren mir heute noch dort- und dahin? Er nannte die Stationen, welche er auf der Reiſe berühren ſollte. „Und wenn eine Gefahr wäre … Ach, was hilft’s? unterbrach er ſich ſelber — „wenn auch die Gefahr die äußerſte wäre, könnte ich denn zurück?“ „Es iſt hart, Herr Baron,“ beſtätigte der Arzt. „Aber ſeien Sie unbeſorgt — die Patientin iſt jung und kräftig … heut’ abend iſt alles überſtanden und Sie erhalten beruhigende Depeſchen.“ „Ja, Sie werden mir auf jeden Fall günſtig berichten, da ja das Gegenteil nichts nützen könnte … Ich {will} aber die Wahrheit! Hören Sie, Doktor, ich verlange Ihren heiligſten Ehreneid darauf: die {ganze} Wahrheit! Nur unter dieſer Vorausſetzung kann eine beruhigende Nachricht mich wirklich beruhigen — ſonſt halte ich alles für Lüge. Alſo ſchwören Sie.“ Der Arzt leiſtete das verlangte Verſprechen. „O, mein armer, armer Mann“ — ſchnitt es mir durch die Seele. — „Wie, wenn du heute noch die Nachricht erhältſt, deine Martha liege im Sterben und darfſt nicht umkehren, ihr die Augen zuzudrücken … Du haſt wichtigeres zu thun: es gilt des Auguſtenburgers Thronanſprüche. — Friedrich!“ rief ich laut. Er flog an meine Seite. Im ſelben Augenblick ſchlug die Uhr. Wir hatten nur noch ein paar Minuten Zeit. Aber auch um dieſe letzte Friſt wurden wir betrogen, denn wieder erfaßte mich ein Anfall, und ſtatt der Abſchiedsworte konnte ich nur Schmerzenslaute ausſtoßen. „Gehen Sie, Herr Baron, brechen Sie dieſen Auftritt ab,“ ſagte der Arzt. „Solche Erregung iſt für die Kranke gefährlich.“ Noch ein Kuß und er ſtürzte hinaus … mein Wimmern und des Doktors letztes nachklingendes Wort „gefährlich“ gaben ihm das Geleite. In welcher Stimmung mag er wohl geſchieden ſein? Darüber gab das Olmützer Lokalblättchen am nächſten Tage Beſcheid: Geſtern verließ das —te Regiment unter klingendem Spiel und mit flatternden Fahnen unſere Stadt, um ſich in den meerumſchlungenen Bruderlanden grüne Lorbeeren zu holen. Helle Begeiſterung erfüllte die Reihen, man ſah den Leuten die Kampfesfreude aus den Augen leuchten u.ſ.w., u.ſ.w. … 32. Drittes Buch. 1864. // 6. Abſchnitt Friedrich hatte vor ſeiner Abreiſe noch an Tante Marie telegraphiert, daß ich ihrer Pflege bedürfe, und ſie kam einige Stunden ſpäter bei mir an. Sie fand mich bewußtlos und in großer Gefahr. Mehrere Wochen ſchwebte ich zwiſchen Leben und Tod. Mein Kind war am Tage ſeiner Geburt geſtorben. Der moraliſche Schmerz, den mir der Abſchied von dem geliebten Manne verurſacht hatte — gerade in dem Zeitpunkt, wo ich aller Kräfte bedurft hätte, um den phyſiſchen Schmerz zu bewältigen — durch den war ich widerſtandsunfähig geworden, und es fehlte nicht viel, ſo wäre ich unterlegen. Meinem armen Manne mußte der Arzt, ſeinem eidlichen Verſprechen gemäß, den traurigen Bericht ſchicken, daß das Kind geſtorben und die Wöchnerin in Todesgefahr ſei. Was die Nachrichten betraf, die von ihm anlangten, ſo konnten mir dieſelben nicht mitgeteilt werden. Ich kannte niemand und delirierte Tag und Nacht. Ein ſonderbares Delirium. Ich habe davon eine ſchwache Erinnerung in das zurückgekehrte Bewußtſein mit hinübergenommen — aber dies mit vernünftigen Worten wiederzugeben, wäre mir unmöglich. In dem anormalen Wirbel des fiebernden Hirns bilden ſich eben Begriffe und Vorſtellungen, für welche die dem normalen Denken angepaßte Sprache keine Ausdrücke hat. Nur ſo viel kann ich andeuten — ich habe das phantaſtiſche Zeug in die roten Hefte einzuzeichnen verſucht —: daß ich die beiden Ereigniſſe, den Krieg und meine Niederkunft, miteinander verwechſelte; mir war, als wären Kanonen und blanke Waffen — ich fühlte deutlich die Bajonettſtiche — das Werkzeug der Geburt und als läge ich da, das Streitobjekt zwiſchen zwei aufeinander losſtürmende Armeen … Daß mein Gatte fortgezogen, wußte ich; doch ſah ich ihn in Geſtalt des toten Arno, während Friedrich an meiner Seite, als Krankenwärterin verkleidet, den ſilbernen Storch ſtreichelte. Jeden Augenblick erwartete ich die platzende Granate, welche uns alle drei — Arno, Friedrich und mich zerſplittern ſollte, damit das Kind zur Welt kommen könne, welches beſtimmt war, über Dänewig, Schlesſtein und Holmark zu regieren … Und das alles that ſo unſäglich weh und war ſo überflüſſig … Es mußte doch irgendwo jemand geben, der es hätte ändern und aufheben können, der dieſen Alp von meiner Bruſt und von der ganzen Menſchheit mittelſt eines Machtwortes hätte abwälzen können — und die Sehnſucht verzehrte mich, dieſem jemand mich zu Füßen zu werfen und zu flehen: Hilf ab — aus Barmherzigkeit, aus Gerechtigkeit hilf ab! — Die Waffen nieder — nieder!! Mit dieſem Ruf auf den Lippen erwachte ich eines Tages zum Bewußtſein. Mein Vater und Tante Marie ſtanden am Fuße des Bettes, und beſchwichtigend ſagte mir der erſtere: „Ja, ja, Kind, ſei ruhig, — alle Waffen nieder —“ Dieſes Wiedererlangen des Ichgefühls nach langer Geiſtesabweſenheit iſt doch ein eigentümlich Ding. Zuerſt die frohe erſtaunte Wahrnehmung, daß man lebt und dann die geſpannte, an ſich ſelber gerichtete Frage: wer man eigentlich ſei … Aber die plötzlich mit vollem Licht hereinbrechende Antwort auf dieſe Frage verwandelte mir die eben erwachte Daſeinsluſt in heftigen Schmerz. Ich war die kranke Martha Tilling, deren neugeborenes Kind geſtorben, deren Mann in den Krieg gezogen war … Seit wann? Das wußt’ ich nicht. „Lebt er? Sind Briefe da? Depeſchen?“ war meine erſte Frage. Ja, es hatte ſich ein ganzer kleiner Stoß von Briefen und Telegrammen angeſammelt, welche während meiner Krankheit eingelangt. Zumeiſt waren es nur Anfragen über {meinen} Zuſtand, Bitten um tägliche, um möglichſt ſtündliche Benachrichtigung. Dies natürlich nur, ſolange der Schreiber an Orten ſich befand, wo der Telegraph ihn erreichen konnte. Man wollte mir nicht gleich erlauben, die Briefe Friedrichs zu leſen; — es hätte mich zu ſehr aufregen und erſchüttern können, meinten ſie, und jetzt, da ich kaum aus dem Delirium erwacht, mußte ich vor allem Ruhe haben. So viel konnten ſie mir ſagen: Friedrich war bis jetzt unverſehrt. Er hatte ſchon mehrere glückliche Gefechte durchgemacht — der Krieg müßte bald zu Ende ſein; der Feind behauptete ſich nur noch auf Alſen; und war dies einmal genommen, ſo würden unſere Truppen — ruhmgekrönt — heimkehren. So ſprach mein Vater tröſtend auf mich ein. Und Tante Marie erzählte mir meine eigene Krankheitsgeſchichte. Es waren nun mehrere Wochen ſeit dem Tage ihrer Ankunft vergangen, welcher zugleich der Tag war, an welchem Friedrich ſchied und an welchem mein Kind geboren wurde und ſtarb … Daran war mir die Erinnerung geblieben, aber was dazwiſchen lag: des Vaters Ankunft, die laufenden Nachrichten von Friedrich, der Verlauf meiner Krankheit — von dem allen wußte ich nichts. Jetzt erſt erfuhr ich, mein Zuſtand ſei ein ſo ſchlimmer geweſen, daß die Ärzte mich bereits aufgegeben hatten und mein Vater gerufen worden war, um mich „ein letztes Mal“ zu ſehen. An Friedrich waren die böſen Nachrichten gewiſſenhaft geſchickt worden, aber auch die beſſeren Nachrichten — ſeit einigen Tagen nämlich gaben die Ärzte wieder Hoffnung — mußten zur Stunde ſchon in ſeinen Händen ſein. „Wenn er ſelbſt noch am Leben iſt“ — warf ich mit einem ſchweren Seufzer ein. „Verſündige Dich nicht, Martha,“ ermahnte die Tante; „der liebe Gott und ſeine Heiligen werden Dich nicht auf unſer Flehen hin gerettet haben, um Dich dann ſo heimzuſuchen. Auch Dein Mann wird Dir erhalten bleiben, für den ich, Du kannſt es mir glauben, ebenſo heiß gebetet habe, wie für Dich … ſogar ein Skapulier habe ich ihm nachgeſchickt … Ja, ja — zucke nur die Achſeln — aber ſchaden können ſie doch keinesfalls, nicht wahr? Und wie viele Beiſpiele hat man, daß ſie genützt haben … Du ſelber biſt mir auch wieder ein Beweis, was die Fürſprache der Heiligen vermag — denn Du warſt ſchon am Rande des Grabes, glaube mir — da habe ich mich an Deine Schutzpatronin, die heilige Martha, gewendet —“ „Und ich,“ unterbrach mein Vater, welcher in politiſcher Hinſicht zwar ſehr klerikal geſinnt war, in praktiſcher Hinſicht jedoch durchaus nicht mit ſeiner Schweſter ſympatiſierte, „ich habe aus Wien den Doktor Braun verſchrieben, und der hat Dich gerettet.“ Am nächſten Tage, auf mein dringendes Bitten, wurde mir geſtattet, ſämtliche von Friedrich eingelaufenen Sendungen durchzuleſen. Zumeiſt waren es nur zeilenlange Anfragen oder ebenſo lakoniſche Berichte: „Geſtern Gefecht — bin unverſehrt.“ — „Marſchieren heute weiter — Depeſchen zu adreſſieren nach *_*_*.“ Ein längerer Brief trug auf dem Umſchlag den Vermerk: „Nur zu übergeben, wenn jede Gefahr vorüber iſt.“ Dieſen las ich zuerſt: „Mein Alles! Ob Du dieſes jemals leſen wirſt? Die letzte Nachricht, die ich von Deinem Arzt erhalten, meldete: Patientin in heftigem Fieber: Zuſtand bedenklich. „Bedenklich“ — den Ausdruck hat der Mann vielleicht aus Schonung gebraucht, um nicht zu ſagen „hoffnungslos“ … {Wenn} Dir dieſes eingehändigt wird, ſo weißt Du ja, daß Du der Gefahr entronnen biſt; aber Du mögeſt denn nachträglich erfahren, wie mir zu Mute war, während ich — am Vorabend einer Schlacht — mir vorſtellte, daß mein angebetetes Weib im Sterben liegt. Daß ſie nach mir ruft — die Arme nach mir ausſtreckt … Wir hatten uns ja nicht einmal ordentlich Lebewohl geſagt … Und unſer Kind, auf das ich mich ſo gefreut — tot! Und ich ſelber morgen — ob mich eine Kugel trifft? Wenn ich vorher wüßte, daß Du nicht mehr biſt, ſo wäre mir die tödliche Kugel das liebſte — aber wenn Du gerettet werden ſollſt — nein; dann will ich vom Sterben noch nichts wiſſen. „Todesfreudigkeit“, dieſes widernatürliche von den Feldpredigern uns ſtets angeprieſene Ding, das kann ein glücklicher Menſch nicht empfinden — und wenn Du lebſt und ich heimkomme, ſo habe ich noch unberechenbare Schätze von Glück zu beheben. O, welche {Lebensfreudigkeit}, mit der wir beide noch die Zukunft genießen wollten, wenn uns eine ſolche beſchieden iſt! Heute trafen wir zum erſtenmal mit dem Feind zuſammen. Bisher ging unſer Weg durch eroberte Länderſtriche, aus welchen die Dänen ſich zurückgezogen. Rauchende Dorftrümmer, zertretene Saaten, herumliegende Waffen und Torniſter, durch Granaten aufgewirbelte Erde, Blutlachen, Pferdeleichen, Maſſengräber: — das ſind die Landſchaften und deren Staffage, durch welche wir hinter dem Sieger hergewandelt ſind, um womöglich neue Siege daran zu reihen, das heißt neue Dörfer anzuzünden und ſo weiter … Das haben wir nun heute auch gethan. Die Poſition iſt unſer. Hinter uns ſteht ein Dorf in Flammen. Die Einwohner hatten es zum Glück vorher verlaſſen. Aber in einem Stall war ein Pferd vergeſſen worden — ich hörte das verzweifelte Tier ſtampfen und ſchreien … Weißt Du, was ich that? das hat mir wahrlich keinen Orden eingetragen — denn ſtatt ein paar Dänen niederzumachen, ſprengte ich auf jenen Stall zu, um das arme Roß zu befreien. Unmöglich: ſchon brannte die Krippe, ſchon das Stroh unter ſeinen Hufen, ſchon ſeine Mähne … Da ſchoß ich ihm zwei Revolverkugeln durch den Kopf — es fiel getroffen nieder und war von dem qualvollen Flammentod gerettet. Dann zurück in den Kampf, in den Mordgeſtank des Pulvers, in den wüſten Lärm knatternder Schüſſe, ſtürzenden Gebälks, wütenden Kriegsgeſchreies. Die Meiſten um mich her, Freund und Feind, waren wohl vom Kriegstaumel erfaßt — ich aber blieb in unſeliger Nüchternheit. Zu Dänenhaß konnte ich mich nicht aufſchwingen — was thaten die Braven indem ſie über uns herfielen? weiter nichts als ihre Pflicht. — Meine Gedanken waren bei Dir Martha … Ich ſah Dich auf dem Paradebette liegen, und was ich mir wünſchte, war, daß mich eine Kugel treffe. Dazwiſchen blitzte doch wieder ein Sehnſuchts- und ein Hoffnungsſtrahl: „Wie, wenn ſie lebt? Wie, wenn ich heimkehrte?“ … Das Gemetzel dauerte über zwei Stunden und wir behaupteten, wie geſagt, das Feld. Der geſchlagene Feind entfloh. Wir verfolgten ihn nicht. Auf dem Platze blieb uns Arbeit genug zu verrichten. Von dem Dorfe einige hundert Schritte entfernt und vom Brande unverſehrt geblieben, ſteht ein großer Meierhof, mit zahlreichen leeren Wohnräumen und Ställen; hier werden wir die Nacht über ausruhen und hierher haben wir unſere Verwundeten gebracht. Das Begraben der Toten bleibt auf morgen früh. Dabei werden natürlich wieder einige Lebendige verſcharrt, denn der Starrkrampf nach Verwundungen iſt eine häufige Erſcheinung. Manche, die drüben geblieben, ob tot, oder verletzt, oder auch unverletzt, werden wir ganz zurücklaſſen müſſen; diejenigen nämlich, welche unter den Trümmern der eingeſtürzten Häuſer liegen. Die können dann hier, wenn ſie tot ſind, langſam vermodern; wenn verwundet — langſam verbluten, und wenn unverſehrt — langſam verhungern. Und wir — hurrah! — können weiterziehen, in unſeren friſchen, fröhlichen Krieg … Der nächſte Zuſammenſtoß wird wohl eine Feldſchlacht abgeben. Allem Anſchein nach werden ſich zwei große Armeekorps gegenüberſtehen. Dann kann die Zahl der Toten und Verwundeten leicht in die Zehntauſend gehen; denn wenn die Kanonen ihres vernichtungſpeienden Amtes walten, ſo werden beiderſeitig die vorderen Reihen ſchnell weggefegt. Das iſt ja eine wunderſchöne Einrichtung. Aber noch beſſer wird es ſein, wenn einſt die Schießtechnik ſo weit vorgeſchritten iſt, daß jede Armee ein Geſchoß abfeuern kann, welches die ganze feindliche Armee mit einem Schlag zertrümmert. Vielleicht würde ſo das Kriegsführen überhaupt unterbleiben. Der {Gewalt} könnte dann — wenn zwiſchen zwei Streitenden die Allgewalt eine gleich große wäre — nicht mehr die Rechtsentſcheidung überantwortet werden. Warum ſchreibe ich Dir dies alles? Warum breche ich nicht, wie es einem Kriegsmann ziemt, in begeiſterte Lobeshymnen auf das Kriegshandwerk aus? Warum? Weil ich nach Wahrheit — und nach rückhaltloſer Äußerung derſelben — dürſte; weil ich jederzeit die lügenhafte Phraſe haſſe, — in dieſem Augenblick aber — wo ich dem Tode ſo nahe bin; und wo ich zu Dir ſpreche, die Du vielleicht auch im Sterben liegſt — es mich doppelt drängt, zu ſprechen, wie es mir ums Herz iſt. Mögen tauſend Andere auch anders denken, oder doch anders zu ſprechen ſich verpflichtet dünken, ich will, ich {muß} es noch einmal geſagt haben, eh’ ich dem Krieg zum Opfer falle: ich haſſe den Krieg. Würde nur jeder, der das Gleiche fühlt, es laut zu verkünden wagen — welch ein dröhnender Proteſt ſchrie da zum Himmel auf! Alles jetzt erſchallende Hurrah ſamt dem begleitenden Kanonendonner würde dann durch den Schlachtruf der nach Menſchlichkeit lechzenden Menſchheit übertönt, durch das ſiegesgewiſſe: „Krieg dem Kriege!“ ½_4_Uhr früh. „Obiges ſchrieb ich geſtern nachts. Dann habe ich mich auf einen Strohſack gelegt und ein paar Stunden geſchlafen. In einer halben Stunde wird aufgebrochen, und dies kann ich noch der Feldpoſt übergeben. Alles iſt ſchon wach und rüſtet zum Abmarſch. Die armen Leute: wenig Ruhe haben ſie gefunden, nach der geſtern vollbrachten — wenig Kräftigung zu der heute zu vollbringenden Blutarbeit … Vorhin habe ich noch einen Rundgang durch unſer inproviſiertes Lazareth gemacht, welches hier zurückbleibt. Da ſah ich unter den Verwundeten und Sterbenden ein paar, denen ich es gern ſo gemacht hätte, wie dem brennenden Pferde: ihnen eine Gnadenkugel durch den Kopf gejagt. Da iſt einer, dem der ganze Unterkiefer weggeſchoſſen iſt; da iſt ein anderer, der — Genug … Ich kann nicht helfen — niemand kann da helfen, als der Tod. Leider iſt der oft ſo langſam … Wer ihn verzweifelt anruft, dem gegenüber ſtellt er ſich taub. Er iſt anderweitig viel zu ſehr beſchäftigt, diejenigen hinzuraffen, die inbrünſtig auf Geneſung hoffen, die ihn flehentlich anrufen: O verſchone mich! Mein Pferd iſt geſattelt — jetzt heißt es, dieſe Zeilen ſchließen. Leb wohl! Martha — {wenn} Du lebſt.“ 33. Drittes Buch. 1864. // 7. Abſchnitt Zum Glück befanden ſich in dem Briefpacket noch Nachrichten jüngeren Datums, als das eben angeführte Schreiben … Nach der in letzterem vorhergeſagten großen Schlacht hatte Friedrich berichten können: „Der Tag iſt unſer. Ich bin unverſehrt geblieben. Das ſind zwei gute Nachrichten — die erſte namentlich für Deinen Vater, die zweite für Dich. Daß für unzählige andere derſelbe Tag unzähligen Jammer gebracht hat, vermag ich nicht zu überſehen.“ In einem andern Brief erzählte Friedrich, daß er mit ſeinem Vetter Gottfried zuſammengetroffen: „Stelle Dir vor, welche Überraſchung: Wen ſehe ich an der Spitze eines Detachements an mir vorüber reiten? Tante Korneliens einzigen Sohn. Muß die Arme jetzt doch zittern … Der Junge ſelber iſt ganz begeiſtert und kampfesfroh. Ich ſah es ſeiner ſtolzen, leuchtenden Miene und er hat es mir auch beſtätigt. Am ſelben Abend waren wir zuſammen im Lager und ich ließ ihn in mein Zelt rufen. „Das iſt ja herrlich,“ rief er entzückt, „daß wir für dieſelbe Sache kämpfen, Vetter — und nebeneinander! Hab’ ich nicht Glück, daß gleich im erſten Jahre meiner Lieutnantsſchaft Krieg ausgebrochen? Ich werde mir ein Verdienſtkreuz holen.“ — „Und die Tante — wie hat ſie Dein Ausrücken aufgenommen?“ — „Wie das nun ſchon ’mal der Mütter Brauch: mit Thränen — die ſie übrigens zu verbergen ſuchte, um meine Luſt nicht zu dämpfen — mit Segenswünſchen, mit Kummer und mit Stolz.“ — „Und wie war’s Dir ſelber zu Mute, als Du zum erſtenmale ins Gemenge kamſt?“ — „O wonnig erhebend!“ — „Du brauchſt nicht zu lügen, mein Junge. Nicht der Stabsoffizier fragt nach Deinen pflichtſchuldigen Lieutenantsgefühlen, ſondern der Menſch und Freund.“ — „Ich kann nur wiederholen: wonnig und erhebend. Schauerlich — ja … aber: ſo großartig! Und das Bewußtſein, daß ich die höchſte Mannespflicht erfülle mit Gott für König und Vaterland! Und dann: daß ich den Tod, dieſes ſonſt ſo gefürchtete und gemiedene Geſpenſt, hier ſo nahe um mich herum walten ſehen, — ſeine Senſe auch über mir erhoben — das verſetzt mich in eine eigene, über die Gewöhnlichkeit ſo erhabene, epiſche Stimmung … Die Muſe der Geſchichte fühle ich uns zu Häupten ſchweben und unſerem Schwert die Siegeskraft verleihen. Ein edler Zorn durchglüht mich gegen den frechen Feind, der das Recht der deutſchen Lande niedertreten wollte, und es iſt mir ein Hochgefühl, dieſen Haß befriedigen zu dürfen … das iſt ein eigen, geheimnisvolles Ding, dieſes Umbringendürfen — nein, Umbringen {müſſen} — ohne ein Mörder zu ſein und mit unerſchrockener Preisgebung des eigenen Lebens“ … So faſelte der Knabe weiter. Ich ließ ihn reden. Habe ich doch Ähnliches empfunden, als mich die erſte Schlacht umtoſte. „Epiſch“ ja, da hat er das richtige Wort getroffen. Die Heldengedichte und Heldengeſchichten, mittelſt deren uns die Schule zu Kriegern aufzieht, die ſind es, welche dann durch den Donner der Geſchütze, durch das Blitzen der blanken Waffen und durch das Feldgeſchrei der Kämpfer in unſerem Hirn zum Vibrieren gebracht werden. Und die Außergewöhnlichkeit, die unverſtändliche Außergeſetzlichkeit, in der man plötzlich ſich befindet, die macht, als wäre man in eine andere Welt verſetzt … es iſt wie ein Ausblick von dem banalen Erdendaſein mit ſeiner friedlichen, bürgerlichen Ruhe, in ein titaniſches Gewühl von Höllengeiſtern … Aber mir war dieſer Taumel bald verflogen und nur mühſam kann ich mich in die Empfindungen zurückdenken, wie ſie mir der junge Teſſow geſchildert. Ich habe es zu früh erkannt, daß der Schlachteneifer nichts Übermenſchliches, ſondern — Untermenſchliches iſt; keine myſtiſche Offenbarung aus dem Reiche Luzifers, ſondern eine Reminiscenz aus dem Reiche der Tierheit — ein Wiedererwachen der Beſtialität. Nur wer ſich bis zur wilden Mord{luſt} berauſchen kann, wer — wie ich das bei Manchen unter uns geſehen — mit weit ausgeholtem Hiebe den Schädel eines entwaffneten Feindes ſpaltet; wer zum Berſerker — tiefer noch — zum blutdurſtigen Tiger herabgeſunken, der hat für Augenblicke „des Kampfes Wolluſt“ genoſſen. Ich nie — mein Weib — glaube es mir, ich nie. Gottfried iſt entzückt, daß wir Öſterreicher für dieſelbe „gerechte Sache“ (was weiß denn er? Als ob nicht {jede} Sache im Armeebefehl als die „gerechte“ hingeſtellt würde) wie die Preußen eingetreten ſind. „Ja, wir Deutſche ſind doch alle ein einig Volk von Brüdern.“ — „Das hat ſich ſchon im dreißigjährigen Krieg — und auch im ſiebenjährigen Krieg gezeigt,“ ſchaltete ich halblaut ein. Gottfried überhörte mich und fuhr fort: „Füreinander, miteinander beſiegen wir jeden Feind.“ — „Wie dann, mein Junge, wenn heute oder morgen die Preußen mit den Öſterreichern kämpfen und wir zwei als Feinde {gegen} einander geſtellt werden?“ — „Nicht denkbar. Jetzt, nachdem unſer beider Blut für eine Sache gefloſſen, jetzt kann doch nie mehr …“ — „Nie mehr? Ich warne Dich vor den Ausdrücken „nie“ und „ewig“ in politiſchen Dingen. Was die Eintagsfliegen im Reiche der Lebeweſen, das ſind die Völkerfeindſchaften und Freundſchaften im Reiche der geſchichtlichen Erſcheinungen.“ Ich ſchreibe das alles nieder, Martha, nicht weil ich glaube, daß es Dich — arme Kranke — intereſſieren könne; noch, weil ich Dir gegenüber Betrachtungen anſtellen will: aber ich habe eine Idee, daß ich bleiben werde und da will ich nicht, daß meine Gefühle unausgeſprochen mit mir ins Grab verſinken. Mein Brief kann — auch noch von anderen als Dir — gefunden und geleſen werden. Es ſoll nicht ewig verſchwiegen und vertuſcht bleiben, was ſich im Geiſte unbefangen denkender und menſchlich fühlender Soldaten regt. „Ich hab’s gewagt“, war Ulrich von Huttens Wahlſpruch. „Ich hab’s geſagt —: mit dieſer Gewiſſensberuhigung will ich aus dem Leben geſchieden ſein.“ Die jüngſte der vorhandenen Nachrichten war vor fünf Tagen abgeſendet worden und vor zwei Tagen angekommen. Was kann in fünf Tagen — fünf Kriegstagen — nicht alles geſchehen ſein? Sorge und Bangen ergriff mich. Warum war geſtern, warum heute kein Zeichen angelangt? O dieſe Sehnſucht nach einem Briefe — lieber noch Telegramme —: ich glaube kein von Fieberdurſt Gequälter kann ſo nach Waſſer lechzen, wie ich damals nach einer Nachricht lechzte. Ich war gerettet; ihm ſollte die große Freude werden, mich lebend zu finden, wenn — — immer dieſes „wenn“ — dieſes jede Zukunftshoffnung in der Knoſpe erſtickende „wenn“! Mein Vater mußte wieder abreiſen. Nunmehr konnte er mich beruhigt verlaſſen — die Gefahr war vorüber und er hatte ſchon dringend in Grumitz zu thun. Ich ſollte, ſobald ich hierzu die nötigen Kräfte zurückerlangt, ihm dorthin mit meinem kleinen Rudolf folgen. Der Aufenthalt in der friſchen Landluft würde mich erſt vollſtändig herſtellen können, und auch dem Kleinen förderlich ſein. Tante Marie blieb zurück; ſie wollte mich weiter pflegen und dann mit mir zugleich nach Grumitz fahren, wohin uns Roſa und Lilli ſchon vorangegangen waren. Ich ließ ſie reden und für mich Pläne machen. Im Stillen nahm ich mir vor — ſobald ich nur halbwegs dazu fähig ein würde — nach Schleswig-Holſtein abzureiſen. Wo Friedrichs Regiment in dieſem Augenblicke ſich befand, wußten wir nicht. Es war unmöglich, ihm eine Depeſche zukommen zu laſſen, und am liebſten hätte ich jede Stunde telegraphiert, um zu fragen: „Lebſt Du?“ „Du mußt Dich nicht ſo aufregen,“ predigte mein Vater, als er von mir Abſchied nahm, „ſonſt bekommſt Du gar noch einen Rückfall. Zwei Tage ohne Nachricht: was iſt das? Doch wahrlich kein Grund zur Beſorgnis. Im Felde findet man nicht überall Briefkaſten und Telegraphenſtationen — abgeſehen davon, daß man während des Marſches und des Schlagens gar nicht im ſtande iſt, zu ſchreiben. Die Feldpoſt funktioniert nicht immer regelmäßig; da kann man leicht vierzehn Tage nachrichtslos bleiben, ohne daß dies Schlimmes bedeutet. Zu meiner Zeit habe ich oft noch länger nicht nach Hauſe geſchrieben und man war darum nicht beſorgt um mich.“ „Wie weißt Du das, Papa? Ich bin überzeugt, die Deinen haben für Dich ebenſo gezittert, wie ich für Friedrich zittere. Nicht wahr, Tante?“ „Wir waren gottvertrauender als Du,“ antwortete dieſe; „wir wußten, daß, wenn die gütige Vorſehung es ſo lenken wollte, daß — ob wir nun Nachrichten erhielten oder keine — Dein Vater zu uns zurückkehren würde.“ „Und wäre ich nicht zurückgekehrt, alle Kuckuck, ſo waret ihr auch vaterlandsliebend genug, um einzuſehen, daß eine ſo geringe Sache, wie eines einzelnen Soldaten Leben in der großen Sache, für die er es gelaſſen hat, gänzlich verſchwindet. Du, meine Tochter, biſt lange nicht patriotiſch genug geſinnt. Aber ich will jetzt mit Dir nicht zanken … Die Hauptſache iſt, daß Du wieder geſund wirſt, und Dich für Deinen Rudi erhältſt, um einen tüchtigen Mann und Vaterlandsverteidiger aus ihm heranzubilden. 34. Drittes Buch. 1864. // 8. Abſchnitt Ich genas nicht ſo ſchnell, als man anfangs gehofft. Die fortdauernde Nachrichtsloſigkeit verſetzte mich in ſolche bange Aufregung, daß ich aus dem fieberhaften Zuſtand eigentlich gar nicht herauskam. Die Nächte waren mit ſchauerlichen Phantaſien gefüllt und die Tage vergingen in harrender Sehnſucht oder trübem Hinbrüten; dabei war es ſchwer, wieder zu Kräften zu gelangen. Einmal, nach einer Nacht, da ich beſonders ſchauderhafte Geſichte gehabt — Friedrich — lebend unter einem Haufen von Menſchen und Pferdeleichen verſchüttet — ſtellte ſich ſogar ein Rückfall ein, der mein Leben neuerdings in Gefahr brachte. Die arme Tante Marie hatte ein ſchweres Amt. Sie hielt es für ihre Pflicht, mir unabläſſig Troſt und Ergebung zuzuſprechen und ihre Gründe — namentlich die immer wiederkehrende „Beſtimmung“ hatten die Wirkung, mich aufs höchſte aufzubringen; und ſtatt ſie ruhig predigen zu laſſen, ließ ich mich zu leidenſchaftlichem Widerſprechen, zu auflehnenden Klagen gegen das Geſchick, zu unumwundenem Verſichern hinreißen, daß mir ihre „Beſtimmung“ als ein Unſinn erſchiene. Das Alles klang natürlich läſterlich, und die gute Tante fühlte ſich nicht allein perſönlich verletzt, ſondern zitterte auch für meine rebelliſche, jetzt vielleicht ſo bald vor den ewigen Richterſtuhl gerufene Seele … Nur ein Mittel gab es, mich für einige Momente zu beruhigen. Das war, wenn man mir den kleinen Rudolf ins Zimmer brachte. „Du mein geliebtes Kind — Du mein Troſt, meine Stütze, meine Zukunft!“ … ſo rief ich den Kleinen in meinem Innern an, wenn ich ihn erblickte. Er blieb aber nicht gern in dem traurigen, verhängten Krankenzimmer. Es war ihm wohl unheimlich, ſeine ſonſt ſo luſtige Mama jetzt unaufhörlich im Bette liegen zu ſehen, verweint und blaß. Er wurde ſelber ganz niedergeſchlagen, und ſo behielt ich ihn immer nur für kurze Augenblicke bei mir. Von meinem Vater kamen häufig Anfragen und Nachrichten. Er hatte an Friedrichs Oberſten und noch an mehrere Andere geſchrieben, doch „noch keine Antwort erhalten“. Wenn eine Verluſtliſte eintraf, ſchickte er eine Depeſche an mich: „Friedrich nicht dabei.“ „Ob ihr mich nicht vielleicht betrügt?“ fragte ich einmal die Tante. „Ob nicht ſchon längſt die Todesnachricht da iſt — und ihr ſie mir verhehlet?“ „Ich ſchwöre Dir …“ „Bei Deinem Glauben? bei Deiner Seele?“ … „Bei meiner Seele.“ Solche Verſicherung that mir unſäglich wohl, denn mit aller Macht klammerte ich mich an meine Hoffnung … Stündlich erwartete ich das Eintreffen eines Briefes, einer Depeſche. Bei jedem Lärm im Nebenzimmer ſtellte ich mir vor, daß es der Bote ſei; faſt beſtändig waren meine Blicke zur Thür gerichtet, mit der beharrlichen Vorſtellung, daß einer da eintreten müſſe, die beglückende Botſchaft in der Hand … Wenn ich auf jene Tage zurückſchaue, ſo liegen ſie wie ein langes, qualgefülltes Jahr in meiner Erinnerung. Der nächſte Lichtblick war mir die Nachricht, daß abermals ein Waffenſtillſtand geſchloſſen worden ſei — das bedeutete diesmal wohl den Frieden. An dem Tage nach dem Eintreffen dieſer Neuigkeit ſtand ich zum erſtenmale ein wenig auf. Der Friede! Welch ein ſüßer, wohliger Gedanke … Vielleicht zu ſpät für mich! … Gleichviel: ich fühlte mich doch unſäglich beruhigt: wenigſtens brauchte ich mir nicht mehr täglich, ſtündlich den toſenden Kampf vorzuſtellen, von welchem Friedrich vielleicht gerade umgeben war … „Gott ſei Dank, jetzt wirſt Du bald geſund werden,“ ſagte die Tante eines Tages, nachdem ſie mir geholfen, mich auf einen Ruheſeſſel niederzulaſſen, den man mir zum offenen Fenſter geſchoben hatte. „Und da können wir nach Grumitz …“ „Sobald ich die Kraft habe, reiſe ich nach — Alſen!“ „Nach Alſen? Aber Kind, was fällt Dir ein?“ „Ich will dort die Stelle finden, wo Friedrich entweder verwundet oder —“ ich konnte nicht weiterſprechen. „Soll ich den kleinen Rudolf holen?“ fragte die Tante nach einer Weile. Sie wußte, daß dies das beſte Mittel ſei, um meine trüben Gedanken für eine Zeit zu verſcheuchen. „Nein, jetzt nicht — ich möchte ganz ruhig und allein bleiben … Auch Du thäteſt mir einen Gefallen, Tante, wenn Du in das Nebenzimmer gingeſt … vielleicht werde ich ein wenig ſchlafen. Ich fühle mich ſo matt …“ „Gut, mein Kind, ich will Dich in Ruhe laſſen … Hier auf dem Tiſchchen neben Dir ſteht eine Glocke. Wenn Du etwas brauchſt, wird gleich Jemand zur Hand ſein.“ „War der Briefträger ſchon da?“ „Nein — es iſt noch nicht Poſtzeit.“ „Wenn er kommt, ſo wecke mich.“ Ich lehnte mich zurück und ſchloß die Augen. Leiſen Schrittes ging die Tante hinaus. Dieſes unhörbare Auftreten hatten ſich in letzter Zeit alle Hausgenoſſen angewöhnt. Nicht ſchlafen wollte ich, ſondern nur mit meinen Gedanken allein bleiben … Ich befand mich in demſelben Zimmer, auf demſelben Ruheſeſſel wie an jenem Vormittage, wo Friedrich gekommen war, mir mitzuteilen: „Wir haben Marſchbefehl“. Es war auch eben ſo ſchwül, wie an jenem Tage, und wieder dufteten Roſen in einer Vaſe neben mir, wieder tönten von der Kaſerne Trompetenübungen her. Ich konnte mich ganz in die Stimmung von damals zurückverſetzen … Ich wollte, ich hätte wieder ſo einſchlummern können und träumen, wie ich damals zu träumen wähnte: daß die Thür leiſe aufging und der geliebte Mann hereintrat … Die Roſen dufteten immer ſchwerer und durch das offene Fenſter hallten die fernen Tra — ra — — — allmählich ſchwand mir das Bewußtſein der Gegenwart, immer mehr und mehr fühlte ich mich in jene Stunde zurückverſetzt — vergeſſen war alles, was ſeither vorgefallen, nur die eine fixe Idee ward immer intenſiver, daß jetzt und jetzt die Thür ſich öffnen müſſe, um dem Teuren Einlaß zu gewähren. Zu dieſem Zwecke mußte ich aber träumen, daß ich die Augen halb offen hielt. Es war mir eine Anſtrengung dies zu erzwingen, aber es gelang — linienbreit hob ich die Lider und — — … Und da war es, das erſehnte, das beglückende Bild: Friedrich, mein geliebter Friedrich auf der Schwelle … Laut aufſchluchzend und das Geſicht mit beiden Händen bedeckend, fuhr ich aus meinem traumhaften Zuſtand auf. Mit einem Schlag war es mir klar geworden, daß dies nur eine Hallucination geweſen, und das himmelshelle Glückslicht, welches von dieſem Wahnbild ausgefloſſen, ließ mir die höllenfinſtere Nacht meines Unglücks nun deſto ſchwärzer erſcheinen. „O mein Friedrich — mein Verlorener!“ ſtöhnte ich. „Martha, Weib —!“ Was war das? Eine wirkliche Stimme — die ſeine — und wirkliche Arme, die mich ſtürmiſch umfingen … Es war {kein} Traum: ich lag an meines Mannes Herzen. 35. Drittes Buch. 1864. // 9. Abſchnitt Wie in der letzten Abſchiedsſtunde unſer Schmerz ſich mehr in Thränen und Küſſen, denn in Worten geäußert hatte — ſo auch unſer Glück in dieſer Wiederſehensſtunde. Daß man vor Freude wahnſinnig werden kann, ich fühlte es deutlich, als ich den Verlorengeglaubten wieder feſt hielt, als ich ſchluchzend und lachend und erregungszitternd immer wieder den teuren Kopf mit beiden Händen faßte, um ihm Stirn und Augen und Mund zu küſſen, unverſtändliche Worte ſtammelnd … Auf meinen erſten Jubelſchrei war Tante Marie aus dem Nebenzimmer herbeigeeilt. Auch ſie hatte von Friedrichs Rückkunft keine Ahnung gehabt und bei ſeinem Anblick ließ ſie ſich mit einem lauten „Jeſus, Maria und Joſeph!“ auf den nächſten Seſſel fallen. Es dauerte lange, bis der erſte Freudentaumel ſich genug gelegt hatte, um gegenſeitigen Fragen und Gegenfragen, Mitteilungen und Berichten Raum zu laſſen. Dann erfuhren wir, daß Friedrich in einem Bauernhauſe liegen geblieben war, während ſein Regiment weiter gezogen. Die Wunde war keine ſchwere geweſen, dennoch hatte er mehrere Tage bewußtlos im Fieber gelegen. Briefe waren ihm in letzter Zeit keine zugekommen, und es war auch nicht möglich geweſen, ſolche abzuſchicken. Als er geneſen, da war der Waffenſtillſtand bereits erklärt und eigentlich der Krieg zu Ende. Nichts hinderte ihn, nach Hauſe zu eilen. Jetzt ſchrieb und telegraphierte er nicht mehr und reiſte Tag und Nacht, um ſo ſchnell als möglich anzukommen. Ob ich noch am Leben, ob ich außer Gefahr war — das wußte er nicht. Er wollte ſich auch gar nicht darum erkundigen — nur hin, nur hin, ohne eine Stunde zu verlieren und ohne ſeiner Heimfahrt etwa die Hoffnung abzuſchneiden, daß er ſein Liebſtes wiederfindet … Und dieſe Hoffnung ward nicht getäuſcht: jetzt hatte er ſein Liebſtes wiedergefunden: gerettet und ſelig — über die Maßen ſelig … Bald überſiedelten wir alle nach meines Vaters Landſitz. Friedrich hatte zur Herſtellung ſeiner Geſundheit einen längeren Urlaub erhalten und die ihm vom Arzt verordneten Mittel: Ruhe und gute Luft, konnte er am beſten bei uns in Grumitz finden. Das war ein glücklicher Nachſommer … Ich erinnere mich keines Zeitabſchnittes in meinem Leben, der ſchöner geweſen wäre. Die endliche Vereinigung mit einem lang erſehnten Geliebten mag wohl unendlich ſein; aber faſt noch ſüßer will mir die Wiedervereinigung mit einem ſchon halb Verlorengegebenen ſcheinen. Wenn ich mich für einen Moment in das Angſtgefühl zurück verſetzte, welches mich vor Friedrichs Rückkunft erfüllte, oder mir die Bilder herauf beſchwor, welche meine Fiebernächte gequält hatten — Friedrich, allerlei Todesqual erleidend — und mich dann an ſeinem Anblick weidete, ſo jubelte mir das Herz. Ich hatte ihn jetzt noch lieber, noch hundertmal lieber, den wiedererlangten Gatten, und ich empfand ſeinen Beſitz als einen immer anwachſenden Reichtum. Schon hatte ich mich für eine Bettlerin gehalten — und jetzt: — die Freudenmillion war mein! Die ganze Familie war in Grumitz verſammelt. Auch Otto, mein Bruder, brachte ſeine Ferien bei uns zu. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt und ſollte noch drei Jahre in der Wiener-Neuſtädter Militärakademie zubringen. Ein herziges Bürſchchen, mein Bruder, und des Vaters Liebling und Stolz. Er ſowohl, als Lilli und Roſa füllten das Haus mit ihrer Luſtigkeit. Das war ein ewiges Lachen und Springen und Ball- und Raquette-Spiel und allerlei tolles Streiche-machen. Vetter Konrad, deſſen Regiment unweit von Grumitz in Garniſon lag, kam ſo häufig als möglich herübergeritten und hielt bei den Ausgelaſſenheiten der Jungen wacker mit. Eine zweite Partei bildeten die Alten — nämlich Tante Marie, mein Vater und einige als Gäſte bei uns weilende Kameraden des Letzteren. Unter dieſen wurde fleißig Karten geſpielt, gemäßigte Parkpromenaden gemacht, den Tafelfreuden gehuldigt und unabſehbar viel „kannegegoſſen“. Die eben ſtattgehabten kriegeriſchen Ereigniſſe und die durch letztere durchaus nicht zum Abſchluß gebrachte ſchleswig-holſteinſche Frage boten ein ergiebiges Feld hierzu. Friedrich und ich lebten von den anderen eigentlich ſo ziemlich abgeſchieden — nur zu den Mahlzeiten trafen wir mit ihnen zuſammen — und auch das nicht immer. Man ließ uns gewähren. Es galt als ausgemacht, daß wir in einer zweiten Auflage des Honigmondes uns befanden und uns Einſamkeit gebühre. Und wir waren auch am liebſten allein. Nicht etwa, um, wie die anderen vermutlich glaubten, in Honigmondesart zu ſchäkern und zu koſen — dazu waren wir doch nicht „neuvermählt“ genug; aber weil wir im gegenſeitigen Umgang die meiſte Befriedigung fanden. Nach den kürzlich durchgemachten ſchweren Sorgen konnten wir die naive Munterkeit der Jugendpartei nicht teilen und noch weniger ſympathiſierten wir mit den Intereſſen und Unterhaltungen der Würdensperſonen, und ſo zogen wir es vor — unter dem uns ſtillſchweigend zuerkannten Privilegium eines verliebten Paares — uns ein gutes Stück Abgeſchiedenheit zu wahren. Wir unternahmen zuſammen lange Spaziergänge, mitunter Ausflüge in die Umgebung, wobei wir den ganzen Tag abweſend blieben; viele Stunden verbrachten wir zu zweien im Bibliothekzimmer, und abends, wenn die verſchiedenen Spielkarten in Angriff genommen wurden, zogen wir uns in unſere Gemächer zurück, wo wir bei Thee und Cigarre unſere vertraulichen Plaudereien wieder aufnahmen. Wir fanden immer unendlich viel uns zu ſagen. Am liebſten erzählten wir einander von den Trauer- und Schreckgefühlen, die wir während unſerer Trennungszeit empfunden, dies weckte die Freude unſeres Wiederfindens immer aufs neue. Wir kamen überein, daß Todesahnungen und dergleichen nichts als Aberglaube ſeien, denn beide waren wir ſeit der Stunde unſeres Abſchiedes von der Vorausſicht erfüllt geweſen, daß eins oder das andere ſterben müſſe — und jetzt hatten wir uns wieder! Friedrich mußte mir genau alle die Gefahren und Leiden erzählen, die er eben durchgemacht, und die Greuelbilder des Schlachtfeldes und des Lazareths beſchreiben, welche er neuerdings in ſeine ſchaudernde Seele aufgenommen. Ich liebte den Ton des Unwillens und des Schmerzes, der bei ſolchen Berichten in ſeiner Stimme zitterte. Aus der Art, wie er von den Grauſamkeiten ſprach, deren Zeuge er im Kriegsgetümmel geweſen war, hörte ich die Verheißung der Edelmenſchlichkeit heraus, welche berufen iſt, erſt bei Einzelnen, ſpäter bei Vielen, endlich bei — Allen die alte Barbarei zu überwinden. Auch mein Vater und Otto forderten Friedrich häufig auf, Epiſoden aus dem ſtattgehabten Feldzuge zum beſten zu geben. Freilich geſchah dies in ganz anderem Geiſte, als wenn ich um eine ſolche Erzählung bat, und in anderem Geiſte war denn auch Friedrichs Vortrag gehalten. Er begnügte ſich damit, die taktiſchen Bewegungen der Truppen, die Ergebniſſe der Gefechte, die Namen der genommenen und der verteidigten Ortſchaften zu berichten, einzelne Lagerſcenen zu beſchreiben, Worte zu wiederholen, welche von den Heerführern geſprochen wurden, und was dergleichen Kriegsmiscellen mehr ſind. Sein Auditorium war entzückt davon; mein Vater lauſchte mit Genugthuung, Otto mit Bewunderung, die Generäle mit ſachverſtändiger Wichtigkeit. Nur ich konnte an dieſer trockenen Erzählungsweiſe keinen Geſchmack finden; ich wußte, daß dieſelbe eine ganze Welt von Gefühlen und Gedanken verſchwieg, welche die berichteten Dinge in des Erzählers Seelengrund geweckt hatten. Als ich ihm einſt unter vier Augen darüber einen Vorwurf machte, entgegnete er: „Falſchheit? Unaufrichtigkeit? Mangel an Meinungsmut? Nein, liebes Kind, Du irrſt — bloße Anſtändigkeit iſt es. Erinnerſt Du Dich unſerer Hochzeitsreiſe, — unſerer Abfahrt von Wien, das erſte Alleinſein im Waggon — die Nacht im prager Hotel? Haſt Du die Einzelheiten jener Stunden jemals hier erzählt — und jemals Deinen Freunden und Verwandten die Gefühle und Regungen dieſer Roſenzeit geſchildert?“ „Nein, gewiß nicht … von ſolchen Dingen ſchweigt wohl jede Frau …“ „Nun ſiehſt Du, es gibt auch Dinge, von welchen jeder Mann zu ſchweigen pflegt. Ihr dürft von Euren Liebesfreuden nichts berichten; wir nichts von unſeren Kriegsleiden. Erſteres könnte {Eure} Haupttugend — die Keuſchheit — bloßſtellen; letzteres die unſere — den Mut. Die Wonnen der Flitterwochen und die Schrecken des Schlachtfeldes: davon kann doch in geſitteter Geſellſchaft kein ‚weibliches‘ Weib, kein ‚männlicher‘ Mann etwas erzählen. Wie? Du hätteſt in der Verzückung der Liebe ſüße Thränen vergoſſen — wie? — ich hätte unter dem Hieb der Todesſenſe aufgeſchrieen — wie könnteſt Du Dich zu ſolcher Sinnlichkeit, wie dürfte ich zu ſolcher Feigheit mich bekennen?“ „Und {haſt} Du geſchrieen — haſt Du gezittert, Friedrich? Mir kannſt Du es ſagen. Ich verſchweige Dir auch die Geheimniſſe meiner Liebesfreuden nicht, ſo magſt Du —“ „Dir das Todesbangen eingeſtehen, das uns Soldaten auf der Wahlſtatt erfaßt? Wie wäre es denn anders möglich? Die Phraſe und die Dichtung lügt darüber hinweg — die durch Phraſe und Dichtung künſtlich angefachte Begeiſterung vermag ſogar den Naturtrieb der Selbſterhaltung {momentan} zu überwinden — aber nur momentan … Bei den Rohen kann auch mitunter Mord- und Zerſtörungsluſt die Angſt um das eigene Leben verſcheuchen; bei den Ehrenfeſten wird der Stolz vermögen, die äußere Kundgebung dieſer Angſt zu unterdrücken … Aber wie viele habe ich ſtöhnen und wimmern gehört, von den armen jungen Burſchen — welche verzweifelnde Blicke, welch todesfurcht-verzerrte Geſichter hab’ ich geſehen — welche wilde Klagen und Flüche und flehendes Bitten vernommen!“ „Und das hat Dir weh gethan, Du mein Guter, Milder?“ „Oft zum Aufſchreien weh, Martha. Und doch weniger, als es meiner Mitleidsfähigkeit eigentlich entſpräche … Man ſollte glauben, wenn man beim Anblick eines vereinzelten Leidens von Mitgefühl ergriffen iſt, daß vertauſendfachtes Leid auch tauſendmal ſtärkeres Mitgefühl wecken mußte. Aber das Gegenteil tritt ein: die Maſſenhaftigkeit ſtumpft ab. Man kann den einen nicht ſo heftig bedauern, wenn man um ihn herum 999 ebenſo Unglückliche ſieht. Aber wenn man auch die Fähigkeit nicht hat, über einen gewiſſen Grad von Mitſchmerz hinaus zu {fühlen} — zu denken und zu berechnen vermag man es doch, daß die unfaßbare Jammerquantität vorhanden iſt —“ „Das vermagſt Du und ein paar andere — doch die meiſten denken und berechnen nicht.“ „Denken nicht“, wiederholte er. „Gott ſei’s geklagt, das iſt an allen Übeln ſchuld: die meiſten denken nicht.“ — — 36. Drittes Buch. 1864. // 10. Abſchnitt Es war mir gelungen, Friedrich zu dem Entſchluſſe zu bewegen, den Dienſt zu verlaſſen. Der Umſtand, daß er — nach ſeiner Verheiratung — noch über ein Jahr gedient und mit Auszeichnung einen Feldzug mitgemacht, ſchützte ihn vor dem, meinem Vater in der Brautzeit aufgeſtiegenen Verdacht, daß die ganze Heirat nur den Zweck hatte, ſeine Laufbahn aufgeben zu können. Jetzt, wenn der Friede, deſſen Präliminarien im Gange waren, geſchloſſen ſein würde, und da vorausſichtlich lange Jahre des Friedens bevorſtanden — jetzt hatte ein Austritt aus dem Militärverband nichts Ehrverletzendes an ſich. Zwar wiederſtrebte es noch einigermaßen Friedrichs Stolz, auf Stellung und Einkommen zu verzichten, um, wie er ſagte, „nichts zu thun, nichts zu ſein und nichts zu haben“; aber ſeine Liebe zu mir war doch ein mächtigeres Gefühl, als ſein Stolz, und er konnte meinen Bitten nicht widerſtehen. Ich erklärte, ein zweites Mal könne ich die Seelenangſt nicht durchmachen, die mir die letzte Trennung verurſacht — und er mochte wohl ſelber ſolchen Schmerz nicht wieder auf uns Beide herabbeſchwören. Das Zartgefühl, welches vor ſeiner Verheiratung mit mir ihn vor der Idee zurückſchrecken ließ, von dem Vermögen der reichen Frau zu leben, das war jetzt nicht mehr im Spiele, denn wir waren ſo ſehr {eins} geworden, daß zwiſchen „mein“ und „dein“ kein fühlbarer Unterſchied mehr waltete, und verſtanden einander ſo gut, daß er eine Mißbeurteilung ſeines Charakters von meiner Seite nicht mehr befürchten durfte. Der letzte Feldzug hatte zudem ſeine Abneigung gegen die Mordpflichten des Krieges noch ſo ſehr vergrößert und das rückhaltloſe Ausſprechen dieſer Abneigung hatte dieſelbe ſo gefeſtigt, daß ihm das Quittieren nicht nur als eine unſerem häuslichen Glücke gemachte Konzeſſion, ſondern zugleich als eine Bethätigung ſeiner Geſinnung, als einen Überzeugungstribut erſcheinen ließ, und ſo verſprach er mir, im kommenden Herbſte — bis dahin mußten die Friedensverhandlungen doch beendet ſein — ſeinen Abſchied zu nehmen. Wir planten, mit meinem, gegenwärtig im Bankhauſe Schmitt & Söhne liegenden Vermögen ein Gut zu kaufen, an deſſen Bewirtſchaftung Friedrich Beſchäftigung finden würde. Damit ſollte der erſte Teil ſeiner Sorge „nichts zu thun, nichts zu ſein und nichts zu haben“, ſchon beſeitigt werden. Für das Sein und Haben würde auch Abhilfe geſchaffen: „Sein: k._k. Oberſt a._D. und ein glücklicher Menſch — iſt das nicht genug?“ fragte ich. Und haben: Du haſt uns — mich und Rudi und — — die Kommenden … iſt das nicht auch genug?“ Er ſchloß mich lachend in die Arme. Meinem Vater und den Anderen wollten wir von unſeren Plänen vorläufig noch nichts mitteilen. Jedenfalls würden jene Einwände erheben, Ratſchläge erteilen, Rügen ausſprechen — und das war jetzt noch überflüſſig. Später würden wir uns über derlei hinauszuſetzen wiſſen; denn wenn ſich zwei alles in allem ſind, prallt jede fremde Meinung wirkungslos von ihnen ab. Dieſe gewonnene Sicherheit für die Zukunft erhöhte noch den Genuß der Gegenwart, welche ſich ohnehin von der Folie der durchgemachten ſchweren Vergangenheit ſo vorteilhaft abhob … ich kann es nur wiederholen: es war eine ſchöne Zeit. Mein Sohn Rudolf, nunmehr ein ſiebenjähriger kleiner Mann, fing jetzt an leſen und ſchreiben zu lernen, und ſeine Lehrerin — war ich. Ich hätte keiner „Bonne“ die Freude gegönnt — was ihr übrigens vermutlich gar keine geweſen wäre — dieſe kleine Seele langſam ſich entfalten zu ſehen und derſelben die erſten Überraſchungen des Wiſſens beizubringen. Oftmals war der Kleine unſer Begleiter auf unſeren Spaziergängen und wir wurden nicht müde, die Fragen, welche ſeine erwachende Wißbegier an uns ſtellte, zu beantworten. Zu beantworten ſo gut und ſo weit wir konnten. Auf Lügen ließen wir uns nicht ein. Wir ſcheuten uns nicht, ſolche Fragen, auf die wir keinen Beſcheid wußten — auf die kein Menſch Beſcheid weiß — mit einem aufrichtigen „das weiß man nicht, Rudi“ zu beantworten. Anfänglich geſchah es, daß Rudolf, mit ſolcher Antwort nicht zufrieden, ſeine Frage nochmals bei Tante Marie, bei ſeinem Großvater oder bei — der Kinderfrau vorbrachte, und da wurden ihm ſtets unzweifelhafte Aufſchlüſſe zu teil. Triumphierend kam er dann zu uns: „Ihr wißt nicht, wie alt der Mond iſt? Ich weiß es jetzt: ſechs tauſend Jahre — merkt euch das.“ Friedrich und ich wechſelten einen ſtummen Blick. Ein ganzes Buch voll pädagogiſcher Klagen und Bedenken lag in dieſem Blick und dieſem Schweigen. Beſonders unliebſam war mir die Soldatenſpielerei, welche ſowohl mein Vater wie mein Bruder mit dem Kleinen trieben. Die Begriffe von „Feind“ und von „Dreinhauen“ wurden ihm beigebracht, ich weiß gar nicht wie. Eines Tages kamen wir dazu, Friedrich und ich, wie Rudolf mit einer Reitgerte unbarmherzig auf zwei wimmernde junge Hunde einhieb. „Das iſt ein falſcher Italiener,“ ſagte er, auf das eine der armen Tierchen ausholend, „und das“ — auf das andere — „ein frecher Däne“. Friedrich riß dem Nationenzüchter die Gerte aus der Hand: „Und das iſt ein herzloſer Öſterreicher,“ ſagte er, indem er ein paar tüchtige Schläge auf Rudolfs Schultern fallen ließ. Italiener und Däne liefen vergnügt davon, und das Wimmern wurde jetzt von unſerem kleinen Landsmann beſorgt. „Biſt Du mir böſe, Martha, daß ich Deinen Sohn geſchlagen? Ich bin ſonſt wahrlich nicht für die Prügelſtrafe eingenommen, aber Grauſamkeit gegen Tiere kann mich entrüſten —“ „Du haſt recht gethan,“ unterbrach ich. „Alſo nur gegen Menſchen … darf man … grauſam ſein?“ fragte der Kleine mitten in ſeinem Schluchzen. „Auch nicht — noch weniger —“ „Du haſt doch ſelber auf Italiener und Dänen gehaut?“ „Das waren Feinde —“ „Die alſo darf man haſſen?“ „Und heute oder morgen“ — wandte ſich Friedrich leiſe an mich — „wird ihm der Pfarrer ſagen, daß man ſeine Feinde lieben ſolle — o Logik!“ Dann laut zu Rudolf: „Nicht, weil wir ſie haſſen, dürfen wir unſere Feinde ſchlagen, ſondern weil ſie uns ſchlagen wollen.“ „Und warum wollen ſie uns ſchlagen?“ „Weil wir {ſie} — nein, nein,“ unterbrach er ſich, „aus dieſem Cirkel find’ ich keinen Ausweg. Geh ſpielen, Rudi — wir verzeihen Dir — aber thu’s nicht wieder.“ Vetter Konrad machte, wie mir ſchien, einige Fortſchritte in Lillis Gnade. Es geht doch nichts über Ausdauer. Ich hätte dieſe Verbindung ſehr gern geſehen, und beobachtete mit Vergnügen, wie die Blicke meiner Schweſter froh aufleuchteten, wenn von weitem der Hufſchlag von Konrads Pferde ſich vernehmen ließ, und wie ſie ſeufzte, wenn er wieder davonritt. Er machte ihr nicht mehr den Hof, das heißt er ſprach nichts von ſeiner Liebe, brachte ſeine Werbung nicht von neuem vor — dennoch war ſein Benehmen eine regelrechte Belagerung. „Wie es verſchiedene Arten gibt, eine Feſtung zu nehmen,“ ſo erklärte er mir eines Tages, — durch Sturm, — durch Hunger — ſo gibt es auch mehrfache Mittel, ein Frauenherz zur Kapitulation zu bringen. Darunter eins der wirkſamſten: die Gewohnheit — die Rührung … Es muß ſie doch rühren, daß ich ſo beharrlich liebe, dabei ſo beharrlich ſchweige und immer wiederkomme. Wenn ich ausbliebe, riſſe das eine gewaltige Lücke in ihre Exiſtenz; und wenn ich noch eine Zeit lang ſo fortfahre, ſo wird ſie ohne mich es gar nicht mehr aushalten.“ „Und wieviel mal ſieben Jahre gedenkſt Du ſo um Deine Erkorene zu dienen?“ „Das habe ich nicht berechnet … ſo lange, bis ſie mich nimmt.“ „Ich bewundere Dich. Gibt es denn gar keine anderen Mädchen auf der Welt?“ „Für mich nicht. Ich habe mir die Lilli in den Kopf geſetzt. Sie hat ein gewiſſes Etwas um die Mundwinkel, im Gang, in der Art zu ſprechen, das mir keine Andere erſetzen kann … Du, Martha, biſt zum Beiſpiel zehnmal hübſcher und hundertmal geſcheiter —“ „Danke —“ „Aber ich wollte Dich nicht zur Frau.“ „Danke.“ „Eben weil Du zu geſcheit biſt — Du würdeſt mich ſo gewiß von oben herab anſehen. Mein Kreuzchen am Kragen, mein Säbel, die Sporen imponieren Dir nicht. Lilli hat doch Reſpekt vor einem ſtreitbaren Mann — ich weiß, ſie betet das Militär an, während Du —“ „Ich habe doch zweimal Militärs geheiratet,“ erwiderte ich lächelnd. 37. Drittes Buch. 1864. // 11. Abſchnitt Während der Mahlzeiten, an dem oberen Ende der Tafel, wo mein Vater und ſeine alten Freunde den Ton angaben und wo auch ich und Friedrich ſaßen — die Jugend war am anderen Ende und unterhielt ſich untereinander — wurde zumeiſt „politiſiert;“ das war ſo der alten Herren Lieblingsgeſprächsſtoff. Die ſchwebenden Friedensverhandlungen boten genügenden Anlaß zu dieſer Weisheitsentfaltung; denn daß politiſche Erörterungen die gediegenſte und ernſter Männer würdigſte Unterhaltung ſei, das ſteht bei den meiſten Leuten feſt. Aus Galanterie und in freundlicher Rückſicht auf meine weibliche Verſtandesſchwäche, ſagte wohl mitunter einer der Generäle: „Dieſe Dinge können unſere junge Baronin Martha kaum intereſſieren — wir ſollten darüber nur ſprechen, wenn wir unter uns ſind, nicht wahr, ſchönes Frauchen?“ Aber dagegen verwahrte ich mich und bat ernſtlich, das Geſpräch fortzuſetzen. Ich nahm an den Vorgängen in der militäriſchen und diplomatiſchen Welt wirklichen und geſpannten Anteil. Nicht vom ſelben Standpunkt, wie dieſe Herren; doch war mir daran gelegen, die „däniſche Frage“, deren Urſprung und Verlauf ich anläßlich des Krieges ſo aufmerkſam ſtudiert hatte, bis zu ihrem endgültigen Abſchluß zu verfolgen. Jetzt, nach dieſen Kämpfen und Siegen, hätte es wohl entſchieden ſein ſollen, was mit den fraglichen Herzogtümern zu geſchehen habe — aber immer noch ſchwebten die Fragen und die Zweifel. Der Auguſtenburger — der famoſe Auguſtenburger, wegen deſſen altbegründeten Rechten der ganze Streit entbrannt war — war er denn jetzt eingeſetzt? Durchaus nicht. Sogar ein ganz neuer Prätendent erſchien auf dem Plan. Mit Glücksburg und Gottorp und wie alle die Linien und Nebenlinien hießen, deren Namen ich mir mühſam angeeignet hatte, war’s noch nicht genug. Jetzt trat Rußland auf und ſchob dem Auguſtenburger einen — {Oldenburger} vor. Das Reſultat des Krieges aber war bisher, daß weder einem Glücks-, noch Auguſten-, noch Olden-, noch ſonſt einem -burger die Herzogtümer gehören ſollten, ſondern den verbündeten Siegern. Folgendes, ſo erfuhr ich, waren die Artikel der eben im Gang befindlichen Friedensunterhandlungen: 1) „Dänemark tritt die Herzogtümer an Öſterreich und Preußen ab.“ Damit war ich zufrieden. Die Verbündeten würden ſich nun natürlich beeilen, das nicht für ſich, ſondern für einen anderen eroberte Land dieſem anderen zu übergeben. 2) „Die Grenze wird genau reguliert.“ Das wäre auch ganz hübſch; wenn nur dieſe Regulierungen ein bischen mehr Verharrungskraft hätten; aber es iſt ja erbärmlich, welche ewige Verſchiebungen ſolche blaue und grüne Striche auf den Landkarten unaufhörlich zu erleiden haben. 3) „Die Staatsſchulden werden nach dem Maß der Bevölkerung verteilt.“ Das verſtand ich nicht. Bis zu volkswirtſchaftlichen und finanziellen Fragen hatte ich mich in meinen Studien nicht aufgeſchwungen; ich nahm an der Politik nur ſofern Anteil, als ſie auf Krieg und Frieden Bezug hatte, denn dies war mir — als Menſch und Gattin — Herzensfrage. 4) „Die Kriegskoſten tragen die Herzogtümer.“ Das war mir wieder einigermaßen klar. Das Land war verwüſtet worden, die Saaten zertreten, deſſen Söhne getötet: einiger Erſatz gebührte ihm doch — nun denn: es durfte die Kriegskoſten tragen. „Und was gibt es heute Neues mit Schleswig-Holſtein?“ fragte ich ſelber, wenn das Geſpräch noch nicht auf das politiſche Gebiet gelenkt worden war. „Das neueſte iſt,“ berichtete am 13. Auguſt mein Vater, „daß Herr von Beuſt an den Bundestag die Frage geſtellt hat, mit welchem Rechte die Verbündeten ſich die Herzogtümer von einem Könige {abtreten} ließen, den der Bund gar nicht als rechtmäßigen Beſitzer anerkannt hatte.“ „Das iſt eigentlich ein ganz vernünftiger Einwand,“ bemerkte ich; „denn es hieß ja doch, der Protokoll-Prinz ſei nicht der legitime Herr der deutſchen Lande, und nun laßt Ihr Euch feierlich von Chriſtian Ⅸ. —“ „Das verſtehſt Du nicht, Kind“ — unterbrach mein Vater. „Eine Frechheit, eine Chicane iſt es von dieſem Herrn von Beuſt, weiter nichts. Die Herzogtümer gehören ohnehin ſchon uns, da wir ſie erobert haben.“ „Aber doch nicht für Euch erobert? — es hieß: für den Auguſtenburger.“ „Das verſtehſt Du wieder nicht. Die Gründe, welche vor Ausbruch eines Krieges von den Kabinetten als Veranlaſſung desſelben angegeben werden, die treten in den Hintergrund, ſobald die Schlachten einmal geſchlagen worden. Da bringen die Siege und Niederlagen ganz neue Kombinationen hervor; dann vermindern und vermehren und bilden ſich die Reiche in vorher ungeahnten Verhältniſſen.“ „Alſo ſind die Gründe eigentlich keine Gründe, ſondern Vorwände geweſen?“ fragte ich. „Vorwände? nein“ — kam einer der Generäle meinem Vater zu Hilfe. — „Anläſſe vielmehr, Anſtöße zu den Ereigniſſen, welche ſich dann ſelbſtändig nach Maßſtab der Erfolge geſtalten.“ „Hätte ich zu ſprechen,“ ſagte mein Vater, „ſo würde ich nach Düppel und Alſen wahrlich zu keinen Friedensverhandlungen mich hergegeben haben — ganz Dänemark hätte man erobern können.“ „Und was damit?“ „Dem deutſchen Bunde einverleiben.“ „Du biſt doch ſonſt nur ſpezifiſch öſterreichiſcher Patriot, lieber Vater — was liegt Dir an der Vergrößerung Deutſchlands?“ „Haſt Du vergeſſen, daß die Habsburger deutſche Kaiſer waren und es wieder werden können?“ „Das würde Dich freuen?“ „Welchen Öſterreicher ſollte dies nicht mit Freude und Stolz erfüllen?“ „Wie aber“, meinte Friedrich, „wenn die andere deutſche Großmacht gleiche Träume nährte?“ Mein Vater lachte laut auf: „Die Krone des heiligen römiſch-deutſchen Reiches auf dem Haupte eines proteſtantiſchen Königleins? Biſt Du bei Troſt?“ „Wenn jetzt nur nicht“, bemerkte Dr. Breſſer, „zwiſchen den beiden Mächten über das Objekt, für welches ſie vereint gefochten haben, ein Streit entſteht. Die Elbprovinzen erobern — das war eine Kleinigkeit — aber was nun damit anfangen? Das kann noch zu allerlei Verwickelungen Anlaß geben. Jeder Krieg — was immer deſſen Ausgang ſei — enthält unweigerlich den Keim eines folgenden Krieges in ſich. Ganz natürlich: ein Gewaltakt verletzt immer irgend ein Recht. Dieſes erhebt über kurz oder lang ſeine Anſprüche und der neue Konflikt bricht aus — wird dann von neuem durch unrechtsſchwangere Gewalt zum Austrag gebracht — und ſo ins Unendliche.“ Einige Tage ſpäter gab es wieder eine Neuigkeit. König Wilhelm von Preußen ſtattete unſerem Kaiſer in Schönbrunn einen Beſuch ab. Äußerſt herzlicher Empfang, Umarmung. Aufgehißte preußiſche Adler. Von allen Militärkapellen vorgetragene preußiſche Volkshymne. Jubelnde Hochrufe. Mir waren dieſe Berichte wohlthuend, denn durch ſie wurde die ſchlimme Prophezeiung Doktor Breſſers zu Schanden gemacht, daß die beiden Mächte über das gemeinſchaftlich befreite Ländchen miteinander in Streit geraten würden. Dieſer beruhigten Zuverſicht gaben auch allenthalben die Zeitungen Ausdruck. Mein Vater freute ſich gleichfalls über die freundſchaftlichen Kundgebungen in Schönbrunn. Aber nicht vom friedlichen, ſondern vom kriegeriſchen Standpunkte aus. „Ich bin froh,“ ſagte er, „daß wir nun einen neuen Alliierten haben. Mit Preußen im Bunde werden wir — ebenſo leicht, wie wir die Elbherzogtümer erobert haben — uns die Lombardei zurückholen können.“ „Das wird Napoleon Ⅲ. nicht zugeben, und mit dem wird ſich der Preuße auch nicht brouillieren wollen“, meinte einer der Generäle. „Es iſt ohnehin ein ſchlechtes Zeichen, daß Benedetti, Öſterreichs ärgſter Feind, jetzt Geſandter in Berlin iſt.“ „Aber ſagt mir doch, Ihr Herren“, rief ich, die Hände faltend, warum ſchließen denn nicht die ſämtlichen geſitteten Mächte Europas einen Bund? das wäre doch das einfachſte.“ … Die Herren zuckten die Achſeln, lächelten überlegen und gaben mir keine Antwort. Ich hatte offenbar wieder eine jener Dummheiten ausgeſprochen, wie ſie „die Damen“ zu ſagen pflegen, wenn ſie ſich in das ihnen unzugängliche Gebiet der höheren Politik wagen. 38. Drittes Buch. 1864. // 12. Abſchnitt Der Herbſt war gekommen. Am 30. Oktober wurde zu Wien der Friede unterzeichnet und ſomit war der Zeitpunkt da, wo mein Lieblingswunſch — Friedrichs Quittierung — erfüllt werden ſollte. Aber der Menſch denkt und die Umſtände lenken. Es traf ein Ereignis ein — ein ſchwerer Schlag für mich — das unſere ſo froh gehegten Pläne ſcheitern machte. Einfach dies: das Haus Schmitt & Söhne brach zuſammen und mein geſamtes Privatvermögen war hin. Auch eine Folge des Krieges, dieſes Falliſſement. Nicht nur die Mauern, auf welche ſie gezielt ſind, ſchießen die Kartätſchen und Bomben zuſammen —: durch dieſe Erſchütterung fallen auch in weitem Umkreis Bankhäuſer und Kreditgebäude in Trümmer … Ich war darum nicht — wie ſo manche andere — an den Bettelſtab gebracht; denn mein Vater würde es mir an nichts fehlen laſſen. Aber mit dem Quittierungsplane war es jetzt vorbei. Wir waren keine unabhängigen Leute mehr; jetzt war Friedrichs Gehalt unſere einzige ſelbſtändige Hilfsquelle. Wenn mir mein Vater auch eine genügende Zulage gewähren würde — unter ſolchen Umſtänden war es ausgeſchloſſen, daß Friedrich den Dienſt verlaſſe. Ich ſelber konnte es ihm nicht zumuten: welche Rolle hätte er da meinem Vater gegenüber geſpielt? Es war nichts zu machen — wir mußten uns fügen. „Beſtimmung“ hätte Tante Marie geſagt. Von der Kränkung, die ich über dieſen bedeutenden pekuniären Verluſt empfand — es handelte ſich um mehrere Hunderttauſend — weiß ich nicht viel zu berichten. Es finden ſich nämlich in meinem Tagebuch keine weitläufigen Eintragungen darüber, und auch mein Gedächtnis — das ſeither ſo viel tiefer ſchmerzende Eindrücke aufgenommen hat — weiſt von dieſen Vorfällen keine ſehr lebhaften Spuren mehr auf. Ich weiß nur, daß mir hauptſächlich um das ſchöne Luftſchloß leid war, welches wir uns da gebaut hatten: Quittierung, Gutsankauf, unabhängige, von der ſogenannten „Welt“ abgeſchiedene Exiſtenz; im übrigen traf mich der Verluſt nicht gar ſo ſchwer. Denn, wie geſagt: mein Vater würde mir bei ſeinen Lebzeiten nichts abgehen laſſen und hernach mir ein genügendes Erbe hinterlaſſen; auch meinem Sohn Rudolf ſtand in Zukunft ſicherer Reichtum bevor. Eins tröſtete mich: es war ja nicht der mindeſte Krieg in Sicht; man konnte gut auf zehn bis zwanzig Friedensjahre hoffen. — Bis dahin! … Schleswig-Holſtein und Lauenburg waren im Vertrag vom 30. Oktober endgültig an Preußen und Öſterreich zu freier Verfügung abgetreten. Dieſe beiden, nunmehr die beſten Freunde, würden ſich dieſes Erfolges freuen, die hieraus erwachſenden Vorteile brüderlich teilen und keinen Grund finden zu ſtreiten. Nirgends — am ganzen politiſchen Horizont — der berüchtigte „ſchwarze Punkt“. Die Scharte der in Italien erlittenen Niederlage war durch den in Schleswig-Holſtein geholten Waffenruhm genügend ausgewetzt, es lag alſo auch für den militäriſchen Ehrgeiz keine Veranlaſſung mehr vor, neue Feldzüge heraufzubeſchwören. In dieſer Hinſicht alſo war ich beruhigt. Daß der Krieg vor ſo kurzer Zeit {geweſen}, faßte ich als Bürgſchaft auf, daß derſelbe ſich nicht ſo bald wiederholen würde. Auf Regen folgt Sonnenſchein und im Sonnenſchein vergißt man den Regen. Auch nach Erdbeben und Vulkanausbrüchen bauen die Menſchen auf der Schuttſtätte wieder neue Wohnungen auf und denken nicht an die Gefahr, daß die überſtandene Kataſtrophe ſich wiederhole. Ein Hauptbeſtandteil unſerer Lebensenergie ſcheint in der Vergeßlichkeit zu liegen. Wir nahmen Winterquartier in Wien. Friedrich hatte nunmehr Beſchäftigung im Kriegsminiſterium, eine Thätigkeit, die er dem Kaſernendienſt jedenfalls vorzog. Dieſes Jahr waren meine Schweſtern mit Tante Marie den Faſching über nach {Prag} gezogen. Daß Konrads Regiment gegenwärtig in der böhmiſchen Hauptſtadt lag, war doch nur eine Zufälligkeit? Oder ſollte dieſer Umſtand einigermaßen auf die Wahl des Winteraufenthaltes Einfluß gehabt haben? Als ich letztere Vermutung meiner Schweſter Lilli gegenüber fallen ließ, errötete ſie tief und antwortete achſelzuckend: „Du weißt doch, daß ich ihn nicht mag.“ Mein Vater bezog ſeine alte Wohnung in der Herrengaſſe. Er trug uns an, wir möchten uns bei ihm niederlaſſen, da er genügend Raum dazu hätte; wir zogen es aber vor, allein zu leben, und mieteten am Franz-Joſeph-Quai ein kleines Mezzanin. Meines Mannes Gehalt und das mir von meinem Vater ausgeſtellte Monatsgeld genügten für unſeren beſcheidenen Haushalt reichlich. Auf abonnierte Logen, Hofbälle — überhaupt auf „in die Welt gehen“ mußte freilich verzichtet werden. Aber wie leicht verzichteten wir da! Es war uns ſogar angenehm, daß meine pekuniären Verluſte dieſes Zurückziehen rechtfertigten — denn wir liebten die Zurückgezogenheit. Einem kleinen Kreiſe von Verwandten und Freunden blieb unſer Haus immerhin offen. Beſonders meine Jugendfreundin Lori Griesbach beſuchte uns oft, öfter beinahe als mir lieb war. Ihre Geſpräche, die mir ſchon früher ſtark oberflächlich erſchienen waren, fand ich jetzt gar ermüdend ſchal, und ihr Intereſſenhorizont, deſſen Enge ich immer erkannt hatte, machte mir den Eindruck, jetzt noch zuſammengeſchrumpfter zu ſein. Aber hübſch war ſie und lebhaft und kokett. Ich begriff, daß ſie in der Geſellſchaft ſo manchen den Kopf verdrehte — und es hieß, daß ſie ſich nicht ungern den Hof machen ließ. Was mir nicht ganz angenehm war, war die Wahrnehmung, daß ihr Friedrich ſehr wohl gefiel, und daß ſie manche Blickpfeile auf ihn abſchoß, welche offenbar die Beſtimmung hatten, in ſeinem Herzen ſitzen zu bleiben. Loris Mann, eine Zierde des Jockeyclubs, des Rennplatzes und der Theatercouliſſen, war bekanntermaßen ſo wenig treu, daß eine kleine Rachenahme ihrerſeits nicht allzuſtreng zu verdammen geweſen wäre; aber daß Friedrich als Revanchemittel dienen ſollte — dagegen hätte ich doch einiges einzuwenden gehabt … Eiferſüchtig — ich? … Ich wurde rot, als ich mich bei dieſer Erregung ertappte. Ich war ja ſeines Herzens ſo ſicher … Keine, keine auf der Welt konnte er ſo lieben wie mich. Nun ja: lieben — aber eine kleine Verliebtſeinsflamme — die hätte immerhin neben der mir geweihten, ſanften Glut aufflackern können … Lori verhehlte mir gar nicht, wie ſehr ſie an Friedrich Gefallen fand: „Hörſt Du, Martha — Du biſt wirklich zu beneiden um dieſen charmanten Mann.“ Oder: „Bewache ihn nur ordentlich, Deinen Friedrich, denn dem ſetzen gewiß alle Frauenzimmer nach.“ „Ich bin ſeiner Treue ſicher,“ antwortete ich darauf. „Laß Dich nicht auslachen — als ob „treu“ und „Ehemann“ nebeneinander genannt werden könnten, das gibt’s nicht. Du weißt, wie zum Beiſpiel mein Mann —“ „Mein Gott, vielleicht biſt Du da auch falſch berichtet. Dann ſind ja nicht alle gleich —“ „Alle, alle — glaube mir. Ich kenne keinen von unſeren Herren, der nicht … Unter denen, die mir den Hof machen, ſind mehrere verheiratet — was wollen die nun? Offenbar nicht mich und nicht ſich in ehelicher Treue üben.“ „Sie wiſſen vermutlich, daß Du ſie nicht erhören wirſt … Und gehört Friedrich auch zu dieſer Phalanx?“ fragte ich lachend. „Das werde ich Dir doch nicht ſagen, Gänſchen. Es iſt ohnehin ſehr ſchön von mir, Dich aufmerkſam zu machen, wie gut er mir gefällt. Jetzt heißt es nur, ein wachſames Auge öffnen.“ „Ich habe es ſchon weit offen, dieſes Auge Lori, und dasſelbe hat bereits mit Mißbehagen verſchiedene Koketterie-Angriffe Deinerſeits wahrgenommen.“ „Da haben wir’s! So werde ich mich in Zukunft beſſer verſtellen müſſen“ … Wir lachten beide; dennoch fühlte ich, daß — ſo wie hinter meiner ſcherzhaft vorgebrachten Eiferſucht eine wirkliche Regung dieſer Leidenſchaft ſich verbarg — ſo auch unter ihrer vermeintlich neckenden Rede ein Kern von Wahrheit lag. Loris Mann hatte den Schleswig-Holſteiner Feldzug nicht mitgemacht und das verdroß ihn ſehr. Auch Lori ärgerte ſich ob dieſes „Pechs“. „So ein ſchöner, ſiegreicher Krieg!“ klagte ſie. „Jetzt wäre Griesbach gewiß um eine Stufe im Rang vorgerückt. Nun, das Tröſtliche iſt, daß bei einer nächſten Campagne —“ „Was fällt Dir ein?“ unterbrach ich. „Dazu iſt nicht die mindeſte Ausſicht. Oder weißt Du einen Anlaß? Wofür ſollte denn jetzt ein Krieg geführt werden?“ „Wofür? Darum kümmere ich mich wahrlich nicht. Die Kriege kommen und ſind da. Alle fünf oder ſechs Jahre bricht immer wieder etwas aus — das iſt ſo der Gang der Geſchichte.“ „Es müſſen aber doch Gründe vorliegen?“ „Vielleicht … doch wer kennt ſie? Ich gewiß nicht, und mein Mann auch nicht. „Warum ſchlägt man ſich denn eigentlich dort droben,“ fragte ich ihn während des letzten Krieges. „Das weiß ich nicht — iſt mir auch ganz egal,“ antwortete er achſelzuckend. Ärgerlich iſt nur, daß ich nicht mit dabei bin,“ fügte er hinzu. O, Griesbach iſt ein echter Soldat. — Das ‚warum‘ und das ‚wozu‘ der Kriege, das geht den Soldaten nichts an. Das machen die Diplomaten untereinander ab. Ich habe mir nie den Kopf zerbrochen über alle die politiſchen Streitigkeiten. Uns Frauen geht es ſchon gar nichts an — wir würden doch nichts davon verſtehen. Iſt das Gewitter einmal losgebrochen, ſo heißt es beten —“ „Daß es beim Nachbar einſchlage und nicht bei uns, das iſt freilich das einfachſte.“ 39. Drittes Buch. 1864. // 13. Abſchnitt Gnädige Frau! Ein Freund — vielleicht auch ein Feind gleichviel — ein Wiſſender, der ſich nicht nennen will, benachrichtigt Sie hierdurch, daß Sie betrogen werden. Auf die verräteriſchſte Weiſe betrogen. Ihr ſcheinheiliger Mann und Ihre unſchuldigthuende Freundin lachen Sie aus ob Ihres gutmütigen Vertrauens, Sie arme, verblendete Frau. Ich habe meine Gründe, den Beiden die Maske vom Geſicht zu reißen. Nicht aus Wohlwollen für Sie handle ich da, denn ich kann mir denken, daß dieſe Entlarvung zweier geliebter Weſen Ihnen eher Schmerz als Gewinn bringen wird — aber ich bin Ihnen nicht wohlwollend geſinnt. Vielleicht bin ich ſogar ein verſtoßener Anbeter, der ſich rächt … Was liegt am Motiv? Die Thatſache iſt da, und wenn Sie Beweiſe wollen, ſo kann ich Ihnen dieſelben liefern. Ohne Beweiſe würden Sie einem anonymen Brief ohnehin keinen Glauben ſchenken. Beifolgendes Billet hat Gräfin Gr*** verloren.“ Dieſe überraſchende Epiſtel lag eines ſchönen Frühlingsmorgen auf unſerem Frühſtückstiſch. Friedrich ſaß mir gegenüber, mit ſeiner Poſt beſchäftigt, während ich Obiges las und zehnmal wiederlas. Das dem verräteriſchen Schreiben beigelegte Billet war in einen Extra-Umſchlag verſchloſſen und ich zögerte, denſelben aufzureißen. Ich ſchaute zu Friedrich auf. Er war in ein Morgenblatt vertieft, doch mußte er meinen auf ihn gerichteten Blick gefühlt haben, denn er ließ die Zeitung ſinken und mit ſeinem gewohnten lieben, lächelnden Ausdruck wandte er den Kopf zu mir: „Nun, was gibt’s, Martha? Warum ſtarrſt Du mich ſo an?“ „Ich möchte wiſſen, ob Du mich noch lieb haſt?“ „Schon lange nicht mehr,“ ſcherzte er. „Eigentlich habe ich Dich nie recht leiden können.“ „Das glaube ich nicht.“ „Aber jetzt ſehe ich erſt — Du biſt ja ganz blaß! Haſt Du eine böſe Nachricht erhalten?“ Ich ſchwankte. Sollte ich ihm den Brief zeigen? Sollte ich vorher das Beweisſtück beſehen, welches ich noch immer unerbrochen in der Hand hielt? Die Gedanken ſchwirrten mir im Kopfe … Mein Friedrich, mein alles, mein Freund und Gatte, mein Vertrauter und Geliebter — könnte er mir verloren ſein? Untreu — er? Ach, ein momentaner Sinnentaumel, weiter nichts … War da in meinem Herzen nicht Nachſicht genug, um das zu verzeihen, zu vergeſſen, als nicht geſchehen zu betrachten? … Aber die Falſchheit! Wie, wenn auch ſein Herz ſich von mir abwendete, wie, wenn er die verführeriſche Lori lieber hatte als mich? … „So ſprich doch — Du biſt ja ganz verſtummt … Zeige mir den Brief, der Dich ſo erſchreckt hat.“ Er ſtreckte die Hand darnach aus. „Da haſt Du.“ Ich überließ ihm das ſchon geleſene Blatt; die Einlage behielt ich zurück. Er überflog die angeberiſchen Zeilen. Mit einem zornigen Fluche zerknitterte er das Blatt und ſprang von ſeinem Sitze auf. „Eine Infamie!“ rief er. „Und wo iſt das vermeintliche Beweisſtück?“ „Hier — noch uneröffnet. Friedrich, ſag’ nur ein Wort und ich werfe das Ding ins Feuer. — Ich {will} keine Beweiſe, daß Du mich betrogen haſt.“ „O Du meine Einzige!“ … Er war jetzt an meiner Seite und umſchlang mich ſtürmiſch — „mein Kleinod! Sieh mir in die Augen — zweifelſt Du an mir? Beweis, oder kein Beweis — genügt Dir mein Wort?“ „Ja,“ ſagte ich und warf das Papier in den Kamin. „Es fiel aber nicht in die Flammen, ſondern blieb neben dem Roſte liegen. Friedrich hatte ſich darauf hingeſtürzt und hob es auf. „Nein, nein, das dürfen wir nicht vernichten — ich bin zu neugierig … wir wollen es zuſammen anſehen. Ich erinnere mich nicht, je Deiner Freundin etwas geſchrieben zu haben, was auf ein Verhältnis ſchließen ließe — welches nie beſtanden hat.“ „Aber Du gefällſt ihr, Friedrich … Du brauchſt nur Dein Taſchentuch hinzuwerfen —“ „Glaubſt Du? … Komm, laß uns dieſes Dokument beſichtigen. — Richtig: meine Schrift! Ah, ſieh her, es ſind ja die zwei Zeilen, die Du mir ſelber vor einigen Wochen diktiert hatteſt, als Deine rechte Hand verwundet war: „Meine Lori, komm, ich erwarte Dich mit Sehnſucht heute um 5_Uhr Nachmittag. Martha (noch immer Krüppel).“ „Die Bedeutung der Klammer nach der Unterſchrift hat der Finder des Billets nicht verſtanden … Das iſt wirklich ein komiſches Quiproquo. Gottlob, daß dieſes prächtige Beweismaterial nicht verbrannt iſt — jetzt iſt meine Unſchuld am Tage. Oder haſt Du noch immer Verdacht?“ „Schon ſeitdem Du mir ins Auge geſehen haſt — nicht mehr. — Weißt Du, Friedrich, daß ich ſehr unglücklich geweſen wäre — Dir aber doch verziehen hätte. Lori iſt kokett, ſehr hübſch … Sag’ — hat ſie Dir nicht Avancen gemacht? — Du ſchüttelſt den Kopf … Nun freilich: hierin hätteſt Du ein Recht ja beinah’ die Pflicht, ſogar {mich} anzulügen — ein Mann darf weder angenommene noch verſchmähte Frauengunſt verraten.“ „Du würdeſt mir alſo eine Verirrung verzeihen? Biſt Du nicht eiferſüchtig?“ „Doch — auf herzquäleriſche Weiſe … Wenn ich Dich mir vorſtelle, einer Anderen zu Füßen, von den Lippen einer anderen Seligkeit nippend … gegen mich erkaltet — jedes Begehren erſtorben — das iſt mir ſchrecklich. Dennoch — das Erſterben Deiner Liebe fürchte ich nicht — Dein Herz wird unter keinen Umſtänden mehr gegen mich erkalten, deſſen fühle ich mich ſicher — unſere Seelen ſind ja ſo verſchlungen, aber —“ „Ich verſtehe. Du brauchſt mir aber durchaus nicht zuzumuten, daß ich für Dich fühle wie ein Ehemann nach der ſilbernen Hochzeit. Dazu ſind wir doch noch zu jung verheiratet — ſo weit das Feuer der Jugend (ich bin freilich ſchon vierzig Jahre alt) noch in mir lodert, brennt es für Dich. Du biſt mir das einzige Weib auf Erden. Und ſollte in der That noch einmal eine andere Verſuchung an mich herankommen — ich habe den feſten Willen, ſie von mir abzuwehren. Das Glück, welches in dem Bewußtſein liegt, den Treueſchwur bewahrt zu haben; die ſtolze Gewiſſensruhe, mit der man ſich ſagen kann, daß man den feſtgeſchlungenen Lebensbund in jeder Beziehung heilig gehalten — das alles finde ich zu ſchön, um es durch einen vorübergehenden Sinnentaumel vernichten zu laſſen. Du haſt überhaupt einen ſo vollſtändig glücklichen Menſchen aus mir gemacht, meine Martha daß ich über alles, was Berauſchung, was Luſt, was Vergnügen iſt, ſo erhaben bin, wie der Beſitzer von Goldbarren über den Gewinn von Kupfermünzen.“ Wie wonnig mir ſolche Worte ins Herz fielen. Ich war dem anonymen Briefſchreiber förmlich dankbar, daß er mir zu dieſem ſüßen Auftritt verholfen. Auch habe ich jedes Wort in die roten Hefte geſetzt. Hier kann ich die Eintragung noch nachleſen, unter dem Datum 1/4. 1865. Ach wie weit — wie weit liegt das alles zurück! Friedrich hingegen war gegen den Verleumder höchlichſt aufgebracht. Er ſchwor, herauszubringen, wer das Machwerk verfaßt, um den Thäter gehörig zu ſtrafen. Ich erfuhr noch am ſelben Tage, was Urſprung und Zweck des Schriftſtücks geweſen; den {Erfolg} desſelben — nämlich, daß Friedrich und ich uns nunmehr noch ein wenig näher gekommen — hatte der Urheber ſchwerlich vorausgeſehen. Am Nachmittage ging ich zu meiner Freundin Lori, um ihr den Brief zu zeigen. Ich wollte ſie aufmerkſam machen, daß ſie einen Feind habe, von welchem ſie fälſchlich verdächtigt wurde, und wollte mit ihr über den Fall lachen, daß mein diktiertes Billet ſo mißdeutet worden. Sie lachte mehr als ich geglaubt. „Alſo biſt Du über den Brief erſchrocken?“ „Ja, tödlich. Und doch hätte ich beinahe das inliegende Billet ungeleſen verbrannt.“ „Da wäre ja der ganze Spaß mißlungen —“ „Welcher Spaß?“ „Du hätteſt am Ende noch geglaubt, daß ich Dich wirklich betrüge. Laß mich bei dieſer Gelegenheit Dir beichten, daß ich in einer verrückten Stunde — es war nach dem Diner bei Deinem Vater, wo ich neben Tilling ſaß, und weil ich zu viel Champagner getrunken hatte — daß ich da wirklich mein Herz ſo zu ſagen auf einem Präſentierteller ihm antrug —“ „Und er?“ „Und er mir noch rechtzeitig ſagte, daß er Dich über alles liebe und feſt entſchloſſen ſei, Dir bis zum Tode treu zu bleiben. Damit Du nun dieſes Phänomen deſto beſſer ſchätzen lernen mögeſt, iſt der ganze Spaß gemacht worden.“ „Von welchem Spaß redeſt Du nur immer?“ „Du weißt doch: nachdem der Brief ſamt Einlage von mir kommt —“ „Von Dir? … Ich weiß nichts.“ „Haſt Du denn das Begleitſchreiben nicht umgewendet? Sieh her: hier ſteht ja auf der Kehrſeite der Name und das Datum: {Erſter April}. 40. Drittes Buch. 1864. // 14. Abſchnitt Näher gebracht — immer näher! Ich habe es erfahren, daß die Annäherungsfähigkeit liebender Herzen zu jenen Dingen gehört, die keine Grenzen haben — wie zum Beiſpiel die Teilbarkeit. Man ſollte glauben, ein Partikelchen ſei ſchon ſo klein, daß es nicht kleiner gedacht werden könne, und doch: es läßt ſich noch in zwei Hälften ſpalten; und man ſollte glauben, zwei Herzen ſeien ſchon ſo ineinander verſchmolzen, daß ein innigeres Einswerden nicht mehr möglich wäre, und doch: eine äußere Einwirkung und noch feſter und näher — immer näher — umſchlingen und durchdringen ſich die Herzensatome. So hatte Loris ziemlich geſchmackloſer Aprilſcherz auf uns gewirkt, und ſo wirkte noch ein äußeres Ereignis, welches kurz darauf eintrat. Ein heftiges Nervenfieber nämlich, das mich ſechs Wochen auf das Krankenlager warf. Ein an ſich zwar trübes Ereignis — und doch wie fruchtbar an glücklichen Erinnerungen für mich und wie einflußreich auf den oben geſchilderten Vorgang: das „Noch-näher-bringen“ von zwei ſo allernaheſten Herzen. War es die Furcht, mich zu verlieren, die mich dem Gatten noch teurer machte, oder war mir ſeine Liebe nur noch offenbarer geworden durch ſein Krankenwärter-Benehmen — kurz, während dieſes Nervenfiebers und nach demſelben fühlte ich mich noch viel mehr und noch viel ſicherer geliebt als zuvor. Vor dem Sterben hatte ich mich auch wohl gefürchtet. Einmal, weil es mir ſchrecklich leid gethan hätte, ein Leben zu verlieren, das mir ſo reich an Schönheit und Glück ſchien, und meine Lieben — Friedrich, mit dem ich ſo gern alt geworden wäre, Rudolf, den ich ſo gern zum Manne auferzogen hätte, zu verlaſſen; zweitens auch — nicht in Selbſtſucht, ſondern im Hinblick auf Friedrich — war mir der Gedanke an den Tod entſetzlich, denn ich wußte, ſo gewiß als man nur wiſſen kann, daß der Schmerz, mich zu begraben, den Beraubten ſchier unerträglich wäre … Nein, nein: glückliche Menſchen und von teuern Weſen geliebte Menſchen {können} nicht Todesverachtung empfinden. Zu dieſer gehört vor allem Lebensverachtung. Ich konnte auf meinem Lager, wo die Krankheit mit ihrer tödlichen Gewalt mich umſchwirrte, wie der Krieger auf dem Schlachtfeld von Kugeln umſchwirrt wird, mich ſo recht in die Empfindung ſolcher Soldaten hineindenken, welche das Leben lieben, und welche wiſſen, daß ihr Tod geliebte Weſen in Verzweiflung ſtürzen würde. „Nur das eine hat der Soldat vor dem Fieberkranken voraus: das Bewußtſein erfüllter Pflicht,“ antwortete mir Friedrich, als ich ihm dieſe Gedanken mitteilte. „Doch darin gebe ich Dir recht: gleichgültig ſterben, {freudig} ſterben, — was uns allenthalben zugemutet wird — das kann kein glücklicher Menſch. Das konnten nur die aller Lebensnot Preisgegebenen in alter Zeit, die an der Friedensexiſtenz gar nichts zu verlieren hatten, oder ſolche, die ſich und ihre Brüder nur durch den Tod von Schmach und unerträglichem Joch befreien können.“ Als die Gefahr überſtanden war, wie genoß ich da meine Geneſung, meine Wiedergeburt! Das war ein Feſt — für uns beide. Ähnlich dem Glücke bei der Wiedervereinigung nach dem Schleswig-Holſteiner Kriege, aber doch anders. Dort kam die Freude mit einem Schlag und hier nach und nach — und zudem, wir waren uns ja ſeither wieder näher, immer näher. Mein Vater hatte mich während meiner Krankheit täglich beſucht und viel Beſorgnis gezeigt; dennoch, ich wußte, daß er ſich meinen Tod nicht übertrieben zu Herzen genommen hätte. Seine beiden jüngeren Töchter hatte er viel lieber als mich, und der Liebſte von Allen war ihm Otto. Ich war ihm durch meine zwei Heiraten, namentlich durch die zweite, und vielleicht auch durch meine ganz verſchiedene Denkungsart, einigermaßen entfremdet. Als ich vollſtändig hergeſtellt war — es war Mitte Juni —, überſiedelte er nach Grumitz und forderte mich lebhaft auf, ſamt meinem kleinen Rudolf mitzukommen. Ich aber zog es vor, da Friedrich dienſteshalber die Stadt nicht verlaſſen durfte, meinen Landaufenthalt ganz in der Nähe von Wien zu nehmen, wo mein Mann mich täglich beſuchen konnte, und ſo mietete ich eine Sommerwohnung in Hietzing. Meine Schweſtern, immer unter Tante Mariens Schutz — reiſten nach Marienbad. In ihrem letzten Brief aus Prag ſchrieb mir Lilli unter Anderem: „Ich muß Dir geſtehen, daß Vetter Konrad anfängt, mir — gar nicht zuwider zu werden. Während ſo manchen Cotillons war ich in der Laune, wenn er nur die betreffende Frage geſtellt hätte, „ja“ zu ſagen. Er unterließ es aber, den entſcheidenden Schritt im {rechten} Moment zu thun. Als es hieß, daß wir abreiſen ſollten, hat er zwar wieder einen neuen Antrag gemacht, aber da hatte ich einen neuen Anfall von Korbgeben. Das habe ich mir dem armen Konrad gegenüber ſchon ſo angewöhnt, daß, wenn er das bekannte: „Willſt Du nicht doch meine Frau werden, Lilli?“ vorbringt, meine Zunge ganz von ſelber antwortet: „Fällt mir gar nicht ein.“ Diesmal aber habe ich hinzugefügt: „Frage in ſechs Monaten nochmals an.“ Ich werde nämlich den Sommer über mein Herz prüfen. Sehne ich mich nach dem Abweſenden, verläßt mich der Gedanke an ihn — der mich jetzt ſo ziemlich unabläſſig im Wachen und Träumen verfolgt — auch in Marienbad nicht; gelingt es dort und auch in folgender Jagdſaiſon keinem Anderen, Eindruck auf mich zu machen — dann hat des eigenſinnigen Vetters Ausdauer geſiegt.“ Um dieſelbe Zeit ſchrieb mir Tante Marie; (Es iſt zufällig der einzige Brief von ihr, den ich aufbewahrt habe.) „Mein liebes Kind! Das war eine ermüdende Winter-Campagne: Ich werde nicht wenig froh ſein, wenn Roſa und Lilli Partien gefunden haben werden. {Gefunden} hätten ſie deren zwar genug, denn wie Du weißt, haben ſie hier im Laufe des Faſchings jede ein Vierteldutzend Körbe ausgeteilt — den perennierenden Konrad gar nicht mitgerechnet. Jetzt wird die Plackerei in Marienbad wieder anheben. Ich wäre für mein Leben gern nach Grumitz gegangen, oder zu Dir — und muß ſtatt deſſen die mühſame und undankbare Chaperon-Rolle bei den vergnügungsſüchtigen Mädchen weiterſpielen. Ich freue mich ſehr, zu hören, daß Du wieder ganz geſund biſt. Jetzt, da die Gefahr vorüber, kann ich Dir ſagen, daß wir ſehr beſorgt waren — Dein Mann ſchrieb uns eine Zeit lang ſo verzweifelte Briefe: jeden Augenblick fürchtete er, Dich ſterben zu ſehen. Nun das war Dir, Gott ſei Dank, nicht beſtimmt. Die Novene, welche ich für Deine Geneſung bei den Urſulinerinnen abgehalten, hat vielleicht auch zu Deiner Rettung beigetragen. Der liebe Gott wird Dich für Deinen Rudi erhalten. Grüße mir den lieben Kleinen, und er ſoll nur immer recht brav lernen. Ich ſchicke ihm gleichzeitig ein paar Bücher: „Das fromme Kind und ſein Schutzengel“ — eine wunderſchöne Geſchichte — und „Vaterländiſche Helden“ — eine Sammlung von Kriegsbildern für Knaben. Man kann den Kleinen nicht früh genug Sinn für derlei beibringen. Dein Bruder Otto z._B. war noch nicht fünf Jahre alt, als ich ihm ſchon vom großen Alexander, von Cäſar und anderen berühmten Eroberern erzählte — und wie iſt er jetzt für alles Heroiſche begeiſtert — es iſt ein Vergnügen! Ich habe vernommen, daß Du den Sommer in der Nähe von Wien bleiben willſt, ſtatt nach Grumitz zu gehen. Daran thuſt Du ſehr unrecht. Die Luft in Grumitz würde Dir viel beſſer bekommen, als die des ſtaubigen Hietzing — und der arme Papa wird ſich langweilen, ſo allein. Vermutlich willſt Du Deines Mannes wegen nicht fort; aber mir will ſcheinen, daß die Tochterpflichten doch auch nicht ganz vernachläſſigt werden ſollten. Tilling könnte ja doch bisweilen auch einen Tag nach Grumitz kommen. Gar ſo viel beieinander ſein iſt für Eheleute nicht einmal gut — glaube meiner Lebenserfahrung. Ich habe bemerkt, daß die beſten Ehen diejenigen ſind, wo die Gatten ſich nicht immer gegenſeitig auf dem Halſe ſitzen, ſondern einander eine gewiſſe Freiheit laſſen. Jetzt leb’ wohl, ſchone Dich, damit Du keinen Rückfall bekommſt, und überlege Dir das noch mit Hietzing. Der Himmel ſchütze Dich und Deinen Rudi! — Dies das aufrichtige Gebet Deiner Dich liebenden Tante Marie. [P. S.] Dein Mann hat ja Verwandte in Preußen (zum Glück iſt er nicht ſo arrogant wie ſeine Landsleute), frage ihn doch, was man dort im allgemeinen ſpricht über die politiſche Lage. Dieſelbe iſt doch ſehr bedenklich.“ 41. Drittes Buch. 1864. // 15. Abſchnitt Dieſer Brief meiner Tante brachte mir erſt wieder ins Gedächtnis, daß es eine „politiſche Lage“ gebe. Die ganze Zeit über hatte ich mich nicht um derlei gekümmert. Vor und nach meiner Krankheit hatte ich zwar, wie immer, viel geleſen: Tag- und Wochenblätter, Revüen und Bücher, aber die Leitartikel der Zeitungen waren unbeachtet geblieben; ſeitdem ich nicht mehr die bange Frage aufſtellte: „Krieg oder nicht Krieg“, beſaß der inner- und außerpolitiſche Klatſch kein Intereſſe für mich. Erſt anläßlich der Nachſchrift des oben angeführten Briefes fiel mir ein, das Vernachläſſigte einzuholen und mich nach den gegenwärtigen Verhältniſſen zu erkundigen. „Was will denn Tante Marie mit dieſem ‚bedrohlich‘ ſagen, Du minder arroganter Preuße?“ frug ich meinen Mann, ihm den Brief zu leſen gebend. „Gibt es denn überhaupt jetzt eine politiſche Lage?“ „Die gibt es — gerade ſo wie irgend ein Wetter — leider immer. Und dabei ebenſo veränderlich und trügeriſch —“ „Nun, ſo erzähle mir … Spricht man etwa noch immer von den verwickelten Elbherzogtümern? Sind die nicht abgemacht?“ „Mehr als je ſpricht man davon. Nicht im geringſten abgemacht. Die Schleswig-Holſteiner haben jetzt große Luſt, die Preußen — die ‚arroganten‘, denn das ſind wir, dem neueſten Schlagwort gemäß — wieder ganz los zu werden. ‚Eher däniſch als preußiſch‘, wiederholen ſie eine ihnen von den Mittelſtaaten gegebene Loſung. Und weißt Du, wie das abgedroſchene ‚Meerumſchlungen‘-Lied jetzt zur Abwechſelung geſungen wird: „Schleswig-Holſtein ſtammverwandt // Schmeißt die Preußen aus dem Land.“ „Und was iſt’s mit dem Auguſtenburger? Den haben ſie doch? O ſag’ mir nicht, Friedrich, daß ſie ihn nicht haben … Wegen dieſes einzig berechtigten Thronerben, nach welchem die armen dänengedrückten Lande ſich ſo geſehnt, mußte der ganze Krieg, der mich Dich — {Dich!} — hätte koſten können, geführt werden! Laß mir alſo wenigſtens den Troſt, daß der nötige Auguſtenburg in ſeine Rechte eingeſetzt worden und über die ungeteilten Herzogtümer regiert. Auf dieſem ‚ungeteilt‘ beſtehe ich: das iſt ein altes hiſtoriſches Recht, das jenem ſeit mehreren hundert Jahren verbürgt iſt und deſſen Begründung ich mir mühſam genug erforſcht habe.“ „Schlecht ſteht’s um Deine hiſtoriſchen Rechtsanſprüche, meine arme Martha“, lachte Friedrich. „Vom Auguſtenburger iſt — außer in ſeinen eigenen Proteſten und Manifeſten — gar nicht mehr die Rede!“ Von nun an fing ich wieder an, mich um die politiſchen Verwicklungen zu bekümmern und erfuhr folgendes: Feſtgeſetzt und anerkannt war — trotz des beim wiener Frieden gezeichneten Protokolls — eigentlich noch gar nichts. Die ſchleswig-holſteiniſche Frage war ſeither in allerlei Stadien gebracht worden, „ſchwebte“ aber mehr als je. Der Auguſtenburger und der Oldenburger hatten ſich beeilt — nach der von ſeiten des Glücksburgers erfolgten Abtretung —, beim Bundestag zu reklamieren. Und Lauenburg verlangte ſtürmiſch, dem Königreich Preußen einverleibt zu werden. Niemand wußte, was die Verbündeten nun eigentlich mit den eroberten Provinzen anfangen würden. Von dieſen beiden Mächten ſelber mutete jede der anderen zu, daß jede die andere übervorteilen wolle. „Was will nur dieſes Preußen?“ Das iſt nunmehr die von Öſterreich, von den Mittelſtaaten und den Herzogtümern ſtets aufgeworfene, Böſes ahnende Frage. Napoleon Ⅲ. rät Preußen, es ſolle die Herzogtümer — bis auf das däniſch redende Nordſchleswig annektieren. Aber daran denkt Preußen vorläufig nicht. Am 22. Februar 1865 formuliert es endlich ſeine Anſprüche dahin: Preußiſche Truppen bleiben in den Landen; die letzteren haben ihre Wehrkraft zu Waſſer und zu Land mit Ausnahme eines Bundeskontingents Preußen zur Verfügung zu ſtellen. Der Kieler Hafen wird in Beſitz genommen: Poſt und Telegraphen ſollen preußiſch werden und die Herzogtümer müſſen ſich dem Zollverein anſchließen. Über dieſe Forderungen ärgert ſich — ich weiß nicht warum — unſer Miniſter Mensdorf-Ponilly. Und noch mehr — ich weiß ſchon gar nicht warum — vermutlich aus Neid, dieſem Grundzug in Behandlung der „äußeren Angelegenheiten“ — ärgern ſich die Mittelſtaaten. Dieſelben verlangen ungeſtüm, der Auguſtenburger möge eiligſt, ſofort, in die Verwaltung der Herzogtümer eingeſetzt werden. Öſterreich hat aber auch etwas zu ſagen und ſagt — indem es den Auguſtenburger als Luft behandelt — daß es den Beſitz des Kieler Hafens gern zugeſtehe, aber gegen die Rekrutierung und Matroſenpreſſe ſich verwahre. So wird unabläſſig fortgeſtritten. Preußen erklärt, daß ſeine Forderungen nur im Intereſſe Deutſchlands gemacht werden, daß es Annektierung gar nicht verlange — Auguſtenburg möge, unter Gewährung der geſtellten Forderungen, ſein Erbrecht antreten; wenn aber dieſe notwendigen und billigen Anſprüche nicht befriedigt werden, dann — mit drohend erhobener Stimme — dann werde es vielleicht gezwungen ſein, mehr zu fordern. — Gegen dieſe drohenden erheben ſich ſofort höhniſche, hämiſche, hetzende Stimmen. In den Mittelſtaaten und in Öſterreich wird die öffentliche Meinung gegen Preußen und namentlich gegen Bismarck immer mehr verbittert. Am 27. Juni tragen die Mittelſtaaten darauf an, von den Großmächten Auskunft zu verlangen, aber (Auskunftgeben iſt auch nicht diplomatiſcher Brauch, nur alles ſchön geheim) die Großmächte unterhandeln unter ſich. König Wilhelm reiſt nach Gaſtein, Kaiſer Franz Joſeph nach Iſchl. Graf Blome fliegt zwiſchen beiden hin und her und man einigt ſich über verſchiedene Punkte: die Beſatzung ſoll halb öſterreichiſch und halb preußiſch werden. Lauenburg wird — wie es ja ſelber wünſchte — Preußen einverleibt. Dafür erhält Öſterreich eine Entſchädigung von zweieinhalb Millionen Thaler. Dieſes letztere Ergebnis iſt durchaus nicht im ſtande, mir patriotiſche Freude einzuflößen. Was ſoll den ſechsunddreißig Millionen Öſterreichern — ſelbſt wenn ſie unter ihnen verteilt würde, was nicht geſchieht — dieſe unbedeutende Summe nützen? Würde ſie die Hunderttauſende erſetzen, die zum Beiſpiel ich bei Schmitt & Söhne durch den Krieg verloren? Oder gar die Verluſte derjenigen, die ihre gefallenen Lieben beweinen? … Was mich freut, iſt ein am 14. Auguſt zu Gaſtein unterzeichneter Vertrag. — „Vertrag“, das Wort klingt ſo friedensverheißend. Erſt ſpäter habe ich die Erfahrung gemacht, daß die internationalen Verträge ſehr oft dazu da ſind, um durch gelegentliche Verletzungen dasjenige herbeizuſchaffen, was man einen „[casus belli]“ nennt. Da braucht denn nur einer den anderen des „Vertragsbruches“ anzuklagen und ſofort ſpringen — mit allem Anſchein der Verteidigung verbriefter Rechte — die Schwerter aus der Scheide. Mir jedoch gewährte der Gaſteiner Vertrag Beruhigung. Der Streit ſchien beigelegt, General Gablenz — der ſchöne Gablenz, für welchen wir Frauen alle leiſe ſchwärmten — ward Statthalter in Holſtein; — Manteuffel in Schleswig. Auf meine im Jahre 1460 erhaltene Lieblingszuſicherung, daß die Lande ewig zuſammen bleiben, „ungeteilt“, mußte ich jetzt doch endgültig verzichten. Und was meinen Auguſtenburger betraf, für deſſen Rechte ich mich ſo mühſam erwärmt hatte, ſo geſchah, daß der Prinz einmal ins Land kam und ſich von ſeinen Getreuen anjubeln ließ, worauf ihm Manteuffel bedeutete, daß, wenn er noch einmal ſich unterſtände, ohne Erlaubnis in die Gegend zu kommen, er ihn unweigerlich verhaften laſſen müßte. Wer {das} keinen guten Witz der Muſe Klio findet, der hat kein Verſtändnis für die „Fliegenden Blätter“ der Geſchichte. 42. Drittes Buch. 1864. // 16. Abſchnitt Trotz des Gaſteiner Vertrages wollte die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommen, und da ich nun — durch Tante Mariens Brief und die darauf erhaltenen Auskünfte aufgeſchreckt — nunmehr wieder regelmäßig die politiſchen Leitartikel las und mich allſeitig über die herrſchenden Meinungen erkundigte, ſo konnte ich die Phaſen des ſchwebenden Streites wieder genau verfolgen. Daß derſelbe zu einem Krieg führen würde, fürchtete ich nicht. Solche Prozeßſachen mußten doch auf dem Wege der Prozeſſe — nämlich durch Abwägung der Rechtsanſprüche und durch hiernach zu fällenden Rechtsſpruch — zum Austrag zu bringen ſein. Alle dieſe beratenden Miniſter- und Bundesverſammlungen, dieſe unterhandelnden Staatsmänner und freundſchaftlich verkehrenden Monarchen, würden doch mit dieſen — im Grunde ſo unwichtigen — Streitfragen fertig werden. Mehr mit Neugierde, als mit Beſorgnis folgte ich dem Gang dieſer Angelegenheit, deren verſchiedene Stadien ich in den roten Heften notiert finde: 1. Oktober 1865. In Frankfurt Abgeordnetentag, folgende Beſchlüſſe gefaßt: 1) Selbſtbeſtimmungsrecht des ſchleswig-holſteiniſchen Volkes bleibt in Kraft. Der Gaſteiner Vertrag wird als Rechtsbruch von der Nation verworfen. 2) Alle Volksvertreter ſollen den Regierungen, welche die bisherige Politik der Vergewaltigung fordern, alle Steuern und Anlehen verweigern. 15. Oktober. Preußiſcher Kronſyndikus gibt ſein Gutachten über die Erbrechte des Prinzen Auguſtenburg ab. Der Vater desſelben habe für ſich und ſeine Nachkommen, gegen eine Summe von anderthalb Millionen Spezieſthaler auf die Thronanwartſchaft verzichtet. Im wiener Frieden ſeien die Herzogtümer abgetreten — ſomit habe der Auguſtenburger gar nichts mehr zu beanſpruchen. Eine Frechheit, eine Anmaßung — wird die in Berlin geführte Sprache genannt, und die „preußiſche Arroganz“ wird zum Schlagwort. „Gegen die muß man ſich ſchützen“: das wird allenthalben als Dogma aufgeſtellt. König Wilhelm ſcheint ſich auf den deutſchen Viktor Emanuel aufſpielen zu wollen.“ — „Öſterreich hat die ſtille Abſicht, Schleſien zurück zu erobern.“ „Preußen buhlt mit Frankreich.“ „Öſterreich buhlt mit Frankreich“ … [et patati et patatà], wie die Franzoſen ſagen … Tritſchtratſch heißt es auf deutſch und pflegt in den Kaffeekränzchen der Kleinſtädter nicht eifriger betrieben zu werden, als zwiſchen den Kabinetten der Großmächte. Der Winter brachte unſere ganze Familie wieder nach Wien zurück. Roſa und Lilli hatten ſich in den böhmiſchen Bädern ſehr gut unterhalten, aber verlobt hatte ſich keine. Konrads Aktien ſtanden vortrefflich. In der Jagdſaiſon war er nach Grumitz gekommen, und obwohl bei dieſer Gelegenheit das entſcheidende Wort noch immer nicht geſprochen wurde, waren jetzt doch beide in ihrem Innern überzeugt, daß ſie als ein Paar enden würden. Auch zu dieſen Herbſtjagden war ich, trotz meines Vaters dringenden Zuredens, nicht erſchienen. Friedrich hatte keinen Urlaub erhalten, und mich von ihm zu trennen, war ein Leidweſen, das ich mir ohne Notwendigkeit nicht auferlegen mochte. Ein zweiter Grund, mich nicht auf längere Zeit zu meinem Vater zu begeben, war der, daß ich meinen kleinen Rudolf nicht gern dem großväterlichen Einfluß überließ, denn dieſer war dazu angethan, dem Kinde militäriſche Neigungen einzuflößen. Die Luſt zu dieſem Berufe, zu welchem ich meinen Sohn durchaus nicht beſtimmen wollte, war ohnehin ſchon in ihm geweckt. Vermutlich lag’s im Blute. Der Sproß einer langen Reihe von Kriegern muß naturgemäß kriegeriſche Anlagen zur Welt bringen. In den naturwiſſenſchaftlichen Werken, deren Studium wir jetzt eifriger denn je betrieben, hatte ich von der Macht der Vererbung gelernt, von dem Weſen der ſogenannten „angeborenen Anlagen“, welche weiter nichts ſind, als der Drang, die von den Ahnen angenommenen Gewohnheiten zu bethätigen. Zu des Kleinen Geburtstag brachte ihm ſein Großvater diesmal richtig wieder einen Säbel. „Du weißt doch, Vater,“ ſagte ich ärgerlich, „daß mein Rudolf durchaus nicht Soldat werden ſoll; ich muß Dich ſchon ernſtlich bitten —“ „Alſo ein Mutterſöhnchen willſt Du aus ihm machen? Das wird Dir hoffentlich nicht gelingen. Gutes Soldatenblut lügt nicht: … Iſt der Burſch einmal erwachſen, ſo wird er ſeinen Beruf ſchon ſelber wählen — und einen ſchöneren gibt es nicht, als den, welchen Du ihm verbieten willſt.“ „Martha fürchtet ſich, den einzigen Sohn der Gefahr auszuſetzen“, bemerkte Tante Marie, welche dieſem Geſpräche beiwohnte; „ſie vergißt aber, daß, wenn es einem beſtimmt iſt, zu ſterben, ihn dieſes Los ebenſogut im Bett als im Krieg ereilt.“ „Alſo, wenn in einem Kriege hunderttauſend Menſchen zu grunde gegangen ſind, ſo wären dieſelben auch im Frieden verunglückt?“ Tante Marie war um eine Antwort nicht verlegen. „Dieſe Hunderttauſend waren dann eben beſtimmt, im Krieg zu ſterben.“ „Wenn aber die Menſchen ſo geſcheit wären, keinen ſolchen mehr zu beginnen?“ warf ich ein. „Das iſt aber eine Unmöglichkeit“, rief mein Vater, und damit war das Geſpräch wieder auf eine Kontroverſe gebracht, welche er und ich des öfteren — und zwar ſtets in denſelben Geleiſen — zu führen pflegten. Auf der einen Seite die gleichen Behauptungen und Gründe, auf der anderen die gleichen Gegenbehauptungen und Gegengründe. Es gibt nichts, worauf die Fabel der Hydra ſo gut paßt, wie auf das Ungetüm: ſtehende Meinung. Kaum hat man ihm ſo einen Argumentenkopf abgeſchlagen und macht ſich daran, den zweiten folgen zu laſſen, ſo iſt der erſte ſchon wieder nachgewachſen. Da hatte mein Vater ſo ein paar Lieblingsbeweiſe zu Gunſten des Krieges, die nicht umzubringen waren. 1. Kriege ſind von Gott — dem Herrn der Heerſcharen — ſelber eingeſetzt, ſiehe die heilige Schrift. 2. Es hat immer welche gegeben, folglich wird es auch immer welche geben. 3. Die Menſchheit würde ſich ohne dieſe gelegentliche Dezimierung zu ſtark vermehren. 4. Der dauernde Friede erſchlafft, verweichlicht, hat — wie ſtehendes Sumpfwaſſer — Fäulnis, nämlich den Verfall der Sitten zur Folge. 5. Zur Bethätigung der Selbſtaufopferung, des Heldenmuts, kurz zur Charakterſtählung ſind Kriege das beſte Mittel. 6. Die Menſchen werden immer ſtreiten, volle Übereinſtimmung in allen Anſprüchen iſt unmöglich — verſchiedene Intereſſen müſſen ſtets aneinanderſtoßen, folglich ewiger Friede ein Widerſinn. Keiner dieſer Sätze, namentlich keins der darin enthaltenen „folglich“ läßt ſich ſtichhaltig behaupten, wenn man ihm zu Leibe rückt. Aber jeder dient dem Verteidiger als Verſchanzung, wenn er die anderen fallen laſſen mußte. Und während die neue Verſchanzung fällt, hat ſich die alte wieder aufgerichtet. Zum Beiſpiel wenn der Kriegskämpe, in die Enge getrieben, nicht mehr im ſtande iſt, Nr. 4 aufrecht zu erhalten und zugeben muß, daß der Friedenszuſtand menſchenwürdiger, beglückender, kulturfördernder ſei als der Krieg, ſo ſagt er: Nun ja, ein Übel iſt der Krieg ſchon, aber unvermeidlich, denn: Nr. 1 und 2. Zeigt man nun, {daß} er vermieden werden könnte, durch Staatenbund, Schiedsgerichte u._ſ._w., ſo heißt es: Nun ja, man könnte wohl, aber {ſoll} nicht, denn: Nr. 5. Jetzt wirft der Friedensanwalt dieſen Einwand um und beweiſt, daß im Gegenteile, der Krieg den Menſchen verroht und entmenſchlicht — Nun ja, das ſchon, aber — Nr. 3. Dieſes Argument, wenn von den Verherrlichern des Krieges angeführt, iſt ſchon das allerunaufrichtigſte. Eher dient es jenen, die den Krieg verabſcheuen und die für die grauſige Erſcheinung doch einen {Grund}, ein die Natur ſozuſagen entſchuldigendes Moment auffinden wollen; aber wer im Innern den Krieg liebt und ihn erhalten hilft, der thut es ſicher nicht im Hinblick auf das Wohlbefinden entfernter Geſchlechter. Die gewaltthätige Dezimierung der gegenwärtigen Menſchheit durch Totſchlag, künſtliche Seuchenbildung und Verarmung wird gewiß nicht veranſtaltet, um von der künftigen die Gefahr etwaigen Mangelleidens abzulenken; wenn menſchliches Eingreifen nötig wäre, um zum allgemeinen Wohle Übervölkerung zu verhüten, ſo gäbe es wohl direktere Mittel hierzu als Kriegführung. Das Argument iſt alſo nur eine Finte, welche aber meiſt mit Erfolg angewendet wird, weil ſie verblüfft. Das Ding klingt ſo gelehrt und eigentlich ſehr menſchenfreundlich — man denke nur: unſere lieben in einigen tauſend Jahren lebenden Nachkommen, denen müſſen wir doch genügenden Ellbogenraum ſchaffen! — Dieſes Nr. 3 bringt viele Friedensverteidiger in Verlegenheit. Über ſolche naturwiſſenſchaftliche und ſozialökonomiſche Fragen ſind die wenigſten Leute unterrichtet; die wenigſten wiſſen wohl, daß das Gleichgewicht von Sterblichkeit und Fruchtbarkeit von ſelber ſich herſtellt; daß die Natur über ihre Lebeweſen nicht die vernichtenden Gefahren bringt, um deren Überzahl zu verhüten, ſondern umgekehrt: daß ſie die Fruchtbarkeit derer erhöht, die großen Gefahren ausgeſetzt ſind. {Nach} einem Kriege z._B. ſteigt die Zahl der Geburten und ſo wird der Verluſt wieder erſetzt; nach langem Frieden und bei Wohlſtande fällt dieſe Zahl — und ſo tritt die Übervölkerung — dieſes Wahngeſpenſt — überhaupt nicht ein. Das alles aber hat man nicht klar vor Augen; man fühlt nur inſtinktiv, daß das berühmte Nr. 3 nicht richtig ſein kann und keinesfalls vom anderen ehrlich gemeint iſt. Da begnügt man ſich, das alte Sprichwort anzuführen: „Es iſt ſchon dafür geſorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachſen“ und dann — nicht jenes Reſultat haben die Machthaber im Auge … — Zugegeben — aber Nr. 1. Und ſo nimmt der Streit kein Ende. Der Kriegeriſche behält immer recht; ſein Räſonnement bewegt ſich in einem Kreiſe, wo man ihm ſtets nachlaufen, ihn aber nie erreichen kann. Der Krieg iſt ein ſchreckliches Übel, aber er muß ſein. — Er muß zwar nicht ſein, aber er iſt ein hohes Gut. Dieſen Mangel an Folgerichtigkeit, an logiſcher Ehrlichkeit, laſſen ſich alle jene zu ſchulden kommen, welche aus {uneingeſtandenen} Gründen — oder auch ohne Gründe, bloß inſtinktiv — eine Sache vertreten und hier {alle} ihnen je zu Ohren gekommenen Phraſen und Gemeinplätze benutzen, welche zur Verteidigung der betreffenden Sache in Umlauf geſetzt worden ſind. Daß dieſe Argumente von den verſchiedenſten Standpunkten ausgehen, daß ſie daher einander nicht nur nicht unterſtützen, ſondern mitunter geradezu aufheben, das iſt jenen einerlei. Nicht weil dieſe oder jene Schlüſſe dem eigenen Nachdenken entſprungen und der eigenen Überzeugung gemäß ſind, ſind ſie zu ihrer aufgeſtellten Behauptung gelangt, ſondern nur um dieſe letztere zu ſtützen, gebrauchen ſie auswahllos die von anderen Leuten durchdachten Folgerungen. Das alles konnte ich mir zwar damals, wenn ich mit meinem Vater über das Thema Krieg und Frieden ſtritt, nicht ſo ganz klar machen; erſt ſpäter habe ich mir angewöhnt, den Verrichtungen des Geiſtes im eigenen und im Kopfe anderer beobachtend nachzuſpüren. Ich erinnere mich nur, daß ich immer höchſt ermüdet und abgeſpannt aus dieſen Diskuſſionen hervorging, und jetzt weiß ich, daß dieſe Ermüdung von dem „Im-Kreiſe-nachlaufen“ kam, zu welchem mich meines Vaters Streitweiſe zwang. Der Schluß war dann doch jedesmal ein ſeinerſeits mit mitleidigem Achſelzucken geſprochenes „Das verſtehſt Du nicht“, welches — da es ſich um militäriſche Dinge handelte — im Munde eines alten Generals, einer jungen Frau gegenüber, gewiß ſehr gerechtfertigt klang. 43. Drittes Buch. 1864. // 17. Abſchnitt Neujahr 1866. Wieder ſaßen wir alle — bei Punſch und Faſchingkrapfen — um meines Vaters Tiſch verſammelt, als die erſte Stunde dieſes verhängnisvollen Jahres ſchlug. Es war ein heiteres Feſt. Zugleich mit Sylveſter feierten wir eine Verlobung: Konrad und Lilli. Als der Zeiger auf Zwölf wies und auf der Straße einige Freudenſchüſſe losgingen, umſchlang mein unternehmender Vetter das neben ihm ſitzende Mädchen, preßte — zu unſer aller Staunen — einen Kuß auf ihre Lippen und fragte dann: „Willſt Du mich in 66?“ „Ja — ich will,“ antwortete ſie; „ja — ich hab’ Dich lieb, Konrad.“ Das war nun von allen Seiten ein Gläſer-erklingen-laſſen und umarmen und Händeſchütteln, und Glück- und Segenwünſchen ohne Ende: „Das Brautpaar ſoll leben“ — „Konrad und Lilli — hoch!“ — „Gott ſegne eueren Bund, Kinder“ — „Gratuliere herzlichſt, Vetter“ — „Sei glücklich, Schweſter“ und ſo weiter und ſo weiter. Eine freudige und gerührte Stimmung bemächtigte ſich unſer aller. Vielleicht nicht bei allen ganz neidlos; denn ſo wie der Tod das traurigſte und bedauernswerteſte Ereignis abgibt, ſo iſt die Liebe — die zum lebenſchaffenden Bunde ſanktionierte Liebe — das fröhlichſte und beneidenswerteſte. Ich konnte zwar von Neid nichts ſpüren, denn mir war das der neuen Braut erſt verheißene Glück ſchon zum wirklichen und feſten Beſitz geworden; es beſchlich mich eher ein Gefühl des Zweifels: „So ein vollkommenes Glück, wie es mir von Friedrich bereitet wird, kann wohl der armen Lilli kaum zu teil werden … Konrad iſt zwar ein allerliebſter Menſch, aber — es gibt {nur einen} Friedrich!“ Mein Vater machte dem Gratulationstumult ein Ende, indem er mit dem an ſeinem kleinen Finger befindlichen Siegelring an das Glas klopfte und ſich zum ſprechen erhob: „Meine lieben Kinder und Freunde“ — ſagte er ungefähr — „das Jahr ſechsundſechzig fängt gut an. Mir bringt es ſchon in der erſten Stunde die Erfüllung eines Lieblingswunſches — denn auf den Konrad als Schwiegerſohn hatte ich es lange abgeſehen. Hoffen wir, daß dieſes freundliche Jahr auch unſere Roſa unter die Haube und euch — Martha und Tilling — einen Storchbeſuch bringt … Ihnen, Doktor Breſſer, ſoll es zahlreiche Patienten verſchaffen — was zwar mit den vielen Geſundheitswünſchen, die heute ausgetauſcht werden, nicht recht klappt … und Dir, liebe Marie, beſcheere es — vorausgeſetzt, daß es Dir beſtimmt ſei, ich kenne und ehre Deinen Fatalismus — einen Haupttreffer, oder einen vollſtändigen Ablaß, oder was Du Dir ſonſt wünſchen magſt; … Dich, mein Otto, beſchenke es mit zahlreicher „Eminenz“ zu Deiner Schlußprüfung und mit allen möglichen ſoldatiſchen Tugenden und Kenntniſſen, damit Du einſt eine Zierde der Armee und der Stolz Deines alten Vaters werdeſt … Letzterem muß ich doch auch einiges Gute zukommen laſſen, und da dieſer keine höheren Wünſche kennt, als das Wohl und den Ruhm Öſterreichs, ſo möge das kommende Jahr dem Lande einen großen Gewinn bringen — die Lombardei oder — was weiß ich? — die Provinz Schleſien … Man kann nicht wiſſen, was ſich da alles vorbereitet — es iſt gar nicht unmöglich, daß wir dieſes, der großen Maria Thereſia entwendete Land den frechen Preußen wieder abnehmen“ … Ich erinnere mich, daß der Schluß von meines Vaters Trinkrede „eine Kälte“ verbreitete. Die Lombardei und Schleſien — wahrlich, nach dieſen fühlte niemand unter uns ein dringendes Bedürfnis. Und der darunter verſteckte Wunſch: „Krieg“ — alſo neuer Jammer, neue Todesqual — der ſtimmte ſchon gar nicht zu der weichen Fröhlichkeit, welche dieſe, durch einen neuen Liebesbund geweihte Stunde, in unſeren Herzen wachgerufen. Ich erlaubte mir ſogar eine Entgegnung: „Nein, lieber Vater — für die Italiener und für die Preußen iſt heute auch Neujahr … da wollen wir ihnen kein Verderben wünſchen. Mögen im Jahre 66 und in den folgenden alle Menſchen beſſer, {einträchtiger} und glücklicher werden!“ Mein Vater zuckte die Achſeln! „O, Du Schwärmerin,“ ſagte er mitleidig. „Durchaus nicht,“ nahm mich Friedrich in Schutz. „Der von Martha ausgedrückte Wunſch beruht nicht auf Schwärmerei — denn ſeine Erfüllung iſt uns wiſſenſchaftlich verbürgt. Beſſer und einträchtiger und glücklicher werden die Menſchen beſtändig — ſeit den Uranfängen bis auf heute. Aber ſo unmerklich langſam, daß eine kleine Spanne Zeit, wie ein Jahr, kein ſichtbares Vorwärtsſchreiten aufweiſen kann.“ „Wenn Ihr ſo feſt an den ewigen Fortſchritt glaubt,“ warf mein Vater ein. „warum dann euer häufiges Klagen über Reaktion, über Rückfall in die Barbarei?“ … „Weil“ — Friedrich zog einen Bleiſtift aus der Taſche und zeichnete auf ein Blatt Papier eine Spirale — „weil der Gang der Civiliſation ſo beſchaffen iſt wie dieſes … Bewegt ſich dieſe Linie, trotz ihrer gelegentlichen Rückwärtskrümmungen, nicht ſicher voran? Das beginnende Jahr kann freilich eine der Krümmungen vorſtellen, beſonders wenn, wie es den Anſchein hat, wieder ein Krieg geführt werden ſollte. So etwas ſchleudert die Kultur — in jeder, in materieller wie in moraliſcher Beziehung — immer wieder um ein gutes Stück zurück.“ „Du ſprichſt nicht wie ein Soldat, mein lieber Tilling.“ „Ich ſpreche von einer allgemeinen Sache, mein lieber Schwiegervater. Darüber kann meine Anſicht eine richtige oder falſche ſein, — ob ſie nun eine ſoldatiſche ſei oder nicht, iſt eine andere Frage. Wahrheit gibt es doch überall nur eine … Wenn ein Ding rot iſt — ſoll es einer grundſätzlich blau nennen, wenn er eine blaue Uniform, und ſchwarz, wenn er eine ſchwarze Kutte trägt?“ „Eine — was?“ Mein Vater pflegte, wenn ihm eine Diskuſſion nicht recht genehm war, etwas Schwerhörigkeit hervorzukehren. Auf ſolches „was“ die ganze Rede zu wiederholen — dazu hatten die wenigſten Leute die Geduld und man gab den Streit lieber auf. Noch in der ſelben Nacht, nachdem wir nach Hauſe gekommen, nahm ich meinen Mann ins Verhör: „Was haſt Du meinem Vater geſagt? … Daß es allen Anſchein habe, man würde ſich in dieſem Jahre wieder ſchlagen? Ich will Dich in keinen Krieg mehr ziehen laſſen, ich {will} nicht“ … „Was hilft dieſes leidenſchaftliche „ich will“, meine Martha? Du wäreſt doch die erſte, die es angeſichts der Umſtände wieder zurückzöge. Je wahrſcheinlicher ein Krieg vor der Thür ſteht, deſto unmöglicher wär es mir, um Entlaſſung einzukommen. Unmittelbar nach Schleswig-Holſtein wäre es thunlich geweſen —“ „Ach, dieſe elenden Schmitt & Söhne!“ … „Doch jetzt, wo ſich neue Wolken ballen —“ „Du glaubſt alſo wirklich, daß —“ „Ich glaube, dieſe Wolken werden ſich wieder verziehen — die beiden Großmächte werden ſich doch jener Nordländchen wegen nicht zerfleiſchen. Aber weil es nun einmal drohend ausſieht, würde ein Zurückziehen feige erſcheinen. Das leuchtet Dir wohl ein?“ Dieſen Gründen mußte ich mich fügen. Aber ich klammerte mich feſt an das Hoffnungswort „Die Wolken werden ſich verziehen.“ Mit Spannung folgte ich nunmehr der Entwickelung der politiſchen Ereigniſſe und den darüber in Zeitungen und Geſprächen kurſierenden Meinungen und Vorherſagungen. „Rüſten,“ „rüſten“ war jetzt die Loſung. Preußen rüſtet im Stillen. Öſterreich rüſtet im Stillen. Die Preußen behaupten, daß wir rüſten, und es iſt nicht wahr — {ſie} rüſten. Sie leugnen — nein, es iſt nicht wahr: wir rüſten. Wenn jene rüſten, müſſen wir auch rüſten. Wenn wir abrüſten, wer weiß, ob jene abrüſten? So ſchlug die Rüſterei in allen möglichen Varianten an mein Ohr. — Aber wozu denn dieſes Waffengeklirre, wenn man nicht angreifen will? fragte ich, worauf mein Vater den alten Spruch vorbrachte: [Sie vis pacem, para bellum]: Wir rüſten ja doch nur aus Vorſicht. — Und die Andern? — In der Abſicht, uns zu überfallen. — Jene ſagen aber auch, daß ſie ſich nur gegen unſeren Überfall vorſehen. — Das iſt Heimtücke. — Und ſie ſagen, daß wir heimtückiſch ſeien. — Das ſagen ſie nur als Vorwand, um beſſer rüſten zu können. Wieder ſo ein endloſer Cirkel, eine ſich in den Schwanz beißende Schlange, deren oberes und unteres Ende zweifache Unaufrichtigkeit iſt … Nur um einem Feinde zu imponieren, der den Krieg {will}, kann die rüſtende Schreckmethode etwa des Friedens willen am Platze ſein; aber zwei Gleichgeſinnte, Frieden Wollende, können unmöglich nach dieſem Syſtem handeln, ohne daß Jeder feſt überzeugt ſei, daß der Andere mit leeren Phraſen lügt. Und dieſe Überzeugung wird nur ſo feſt, wenn man ſelber hinter den gleichen Phraſen dieſelben Abſichten verſteckt, deren man den Gegner beſchuldigt. Nicht nur die Auguren — auch die Diplomaten wiſſen voneinander genau, was jeder hinter den öffentlichen Ceremonien und Redeweiſen im Sinne führt … Das beiderſeitige In-Kriegsbereitſchaft-ſetzen dauerte die erſten Monate des Jahres fort. Am 12. März kam mein Vater freudeſtrahlend in mein Zimmer geſtürzt. „Hurrah!“ rief er. „Gute Nachrichten —“ „Abgerüſtet?“ fragte ich freudig. „Warum nicht gar! Im Gegenteil, die gute Nachricht iſt die: Geſtern wurde großer Kriegsrat gehalten … Es iſt wirklich glänzend, über welche Streitmacht wir verfügen … da kann ſich der arrogante Preuße verſtecken. — Mit 800_000 Mann ſind wir ſtündlich bereit, auszurücken. Und Benedek, unſer tüchtigſter Stratege, wird Oberfeldherr mit unbeſchränkter Vollmacht … Ich ſag’ Dir’s im Vertrauen, Kind: Schleſien iſt unſer, wenn wir nur wollen“ … „O Gott, o Gott“, — ſtöhnte ich — „ſoll denn wieder dieſe Geißel über uns kommen! Wer — {wer} kann denn nur ſo gewiſſenlos ſein — aus Ehrgeiz, aus Ländergier —“ „Beruhige Dich. {Wir} ſind nicht ſo ehrgeizig — noch ſind wir ländergierig. Wir wollen — (das heißt {ich} gerade nicht, mir wäre die Wiedergewinnung unſeres Schleſiens ſchon recht) aber die Regierung will Frieden halten — das hat ſie oft genug verſichert. Und der ungeheuere Stand unſerer aktiven Armee, wie derſelbe aus den im geſtrigen Kriegsrat dem Kaiſer vorgelegten Mitteilungen ſich ergibt, wird allen anderen Mächten gehörigen Reſpekt einflößen … Preußen wird wohl zu allererſt klein beilegen und aufhören, das große Wort führen zu wollen … Wir haben, Gott ſei Dank, in Schleswig-Holſtein auch noch mitzureden — und werden ſicher nie dulden, daß ſich der andere Großſtaat durch allzuſtarke Machtausdehnung eine überwiegende Stellung in Deutſchland erringe … Da handelt es ſich um unſere Ehre, um unſer „[prestige]“ — vielleicht um unſere Exiſtenz — das verſtehſt Du nicht … Das Ganze iſt ja doch nur ein Hegemonieſtreit — um das miſerable Schleswig handelt es ſich am wenigſten — aber der prächtige Kriegsrat hat deutlich gezeigt, {wer} den erſten Rang einnimmt und {wer} den Anderen Bedingungen vorſchreiben darf; die Nachkommen der kleinen brandenburger Kurfürſten oder diejenigen der langen römiſch-deutſchen Kaiſer-Reihe! Ich halte den Frieden für geſichert. Sollten aber die anderen dennoch fortfahren, ſich unverſchämt und arrogant zu geberden und dadurch einen Krieg unvermeidlich machen, ſo iſt uns der Sieg verbürgt und mit demſelben ganz unberechenbare Gewinne … Es wäre zu wünſchen, daß es losginge —“ „Nun ja, das wünſcheſt Du auch, Vater — und mit Dir wahrſcheinlich der ganze Kriegsrat! So iſt’s mir lieber, wenn das aufrichtig geſagt wird … Nur nicht dieſe Falſchheit, dem Volke und den Friedliebenden zu verſichern, daß all die Waffenanſchaffungen und Heerverſtärkungen und Militärkreditforderungen nur um des lieben Friedens willen geſchehen. Wenn ihr ſchon die Zähne zeigt und die Fäuſte ballt, ſo flüſtert keine ſanften Worte dazu — wenn ihr ſchon vor Ungeduld zittert, das Schwert zu ſchwingen, ſo macht doch nicht, als legtet ihr aus bloßer Vorſicht die Hand an den Knauf“ … So redete ich eine Weile mit bebender Stimme und ſteigendem Affekte fort — ohne daß mein verblüffter Vater ein Wort erwiderte — und brach ſchließlich in Thränen aus. 44. Drittes Buch. 1864. // 18. Abſchnitt Jetzt folgte eine Zeit der ſchwankenden Hoffnungen und Befürchtungen. Heute hieß es „der Friede geſichert“, morgen — „der Krieg unvermeidlich“. Die meiſten Leute waren letzterer Anſicht. Nicht ſo ſehr, weil die Verhältniſſe auf die Notwendigkeit eines blutigen Austrages wieſen, als deshalb, weil, wenn das Wort „Krieg“ einmal gefallen, wohl noch ſehr lange hin und her debattiert werden kann, aber erfahrungsgemäß das Ende jedesmal Krieg iſt. Das kleine, unſcheinbare Ei, welches den „[Casus belli]“ enthält, wird da ſo lange ausgebrütet, bis das Ungetüm hervorkriecht. Täglich zeichnete ich in die roten Hefte die Phaſen des ſchwebenden Streites auf und ſo wußte ich damals, und weiß noch heute, wie der verhängnisvolle „66er Krieg“ ſich vorbereitet hat und wie er ausgebrochen iſt. Ohne dieſe Eintragungen wäre ich wohl über das betreffende Stück Geſchichte in derſelben Unkenntnis, in welcher die meiſten, inmitten der Geſchichtsabſpielung lebenden Menſchen ſich befinden. Gewöhnlich weiß die große Mehrzahl der Bevölkerung nicht, warum und wie ein Krieg entſteht — man ſieht ihn nur eine Zeit lang kommen — dann iſt er da. Und wenn er da iſt, ſo frägt man ſchon gar nicht mehr nach den kleinen Intereſſen und Meinungsverſchiedenheiten, die ihn herbeigeführt, ſondern iſt nur noch mit den gewaltigen Ereigniſſen beſchäftigt, die ſein Fortgang mit ſich bringt. Und iſt er einmal vorüber, ſo erinnert man ſich höchſtens der dabei perſönlich erlebten Schrecken und Verluſte — beziehungsweiſe Gewinne und Triumphe — aber an die politiſchen Entſtehungsgründe wird nicht mehr gedacht. In den verſchiedenen Geſchichtswerken, welche nach jedem Feldzuge unter Titeln wie „Der Krieg vom Jahre — hiſtoriſch und ſtrategiſch dargeſtellt —“ und dergleichen erſcheinen, werden alle vergangenen Streitmotive und alle taktiſchen Bewegungen des betreffenden Feldzuges aufgezählt, und wer dafür Intereſſe hat, kann in der einſchlägigen Litteratur ſich Aufſchluß holen; — aber im {Gedächtnis} des Volkes lebt dieſe Geſchichte gewiß nicht fort. Auch von den Gefühlen des Haſſes und der Begeiſterung, der Erbitterung und Siegeshoffnung, mit welchen die ganze Bevölkerung den Anfang des Krieges begrüßt — Gefühle, welche ſich in dem Schlagwort äußern: „dieſer Krieg iſt ſehr populär“, auch davon iſt nach ein paar Jahren alles verwiſcht. Am 24. März erläßt Preußen ein Rundſchreiben, worin es ſich über die bedrohlichen öſterreichiſchen Rüſtungen beklagt. — Warum rüſten wir denn nicht ab, wenn wir nicht bedrohen wollen? — Wie ſollen wir? Es wird ja am 28. März preußiſcherſeits verfügt, daß die Feſtungen in Schleſien und zwei Armeekorps in Bereitſchaft geſetzt werden ſollen … 31. März. Gott ſei Dank! Öſterreich erklärt, daß ſämtliche umlaufende Gerüchte über geheimes Rüſten falſch ſeien; es falle ihm gar nicht ein, Preußen anzugreifen. Er ſtellt daher die Forderung, daß Preußen ſeine Kriegsbereitſchafts-Maßnahmen einſtelle. Preußen erwidert: Es denke gar nicht im entfernteſten daran, Öſterreich anzugreifen, aber durch des letzteren Rüſtungen iſt es gezwungen, ſich auf Angriff gefaßt zu machen. So wird der zweiſtimmige Wechſelgeſang unausgeſetzt fortgeführt: Meine Rüſtung iſt die defenſive, // Deine Rüſtung iſt die offenſive, // Ich muß rüſten, weil du rüſteſt, // Weil du rüſteſt, rüſte ich, // Alſo rüſten wir, // Rüſten wir nur immer zu. Die Zeitungen geben die Orcheſterbegleitung zu dieſem Duo ab. Die Leitartikler ſchwelgen in ſogenannter Konjekturalpolitik. Es wird geſchürt, gehetzt, geprahlt, verleumdet. Geſchichtswerke über den ſiebenjährigen Krieg werden veröffentlicht, mit der ausgeſprochenen Tendenz, die einſtige Feindſchaft aufzufriſchen. Indeſſen, der Notenwechſel dauert fort. Unterm 7. April leugnet Öſterreich nochmals offiziell ſeine Rüſtungen, ſpielt aber auf eine mündliche Äußerung an, welche Bismarck gegen Károlyi gemacht hätte, „daß man ſich über den Gaſteiner Vertrag leicht hinwegſetzen werde.“ — Alſo {davon} ſollen die Völkerſchickſale abhängen, was zwei Herren Diplomaten in mehr oder minder guter Laune über Verträge ſprechen? Und was ſind das überhaupt für Verträge, deren Einhalten von dem guten Willen der Kontrahenten abhängig bleibt und durch keine höhere ſchiedsrichterliche Gewalt geſichert wird? Auf dieſe Note antwortet Preußen unterm 15. April, daß die Anſchuldigung unwahr ſei; es müſſe aber dabei beharren, daß Öſterreich wirklich an den Grenzen gerüſtet habe; dadurch ſei die eigene Gegenrüſtung gerechtfertigt. Iſt es Öſterreich mit dem Nichtangreifen Ernſt, ſo ſolle es zuerſt abrüſten. Hierauf das wiener Kabinett: Wir wollen am 23. dss. abrüſten, wenn Preußen verſpricht, am folgenden Tage dasſelbe zu thun. Preußen erklärt ſich bereit. Welch ein Aufatmen! So wird denn trotz aller drohenden Anzeichen der Friede erhalten bleiben! Dieſe Wendung verzeichnete ich freudig in die roten Hefte. Aber zu früh. Neue Verwickelungen ſtellen ſich ein. Öſterreich erklärt, es könne nur im Norden, nicht aber zugleich im Süden abrüſten, denn dort ſei es von Italien bedroht. Darauf Preußen: Wenn Öſterreich nicht {ganz} abrüſtet, ſo wollen wir auch gerüſtet bleiben. Jetzt läßt ſich Italien vernehmen: Es wäre ihm nicht im entfernteſten eingefallen, Öſterreich anzugreifen, aber nach deſſen letzter Erklärung werde es allerdings Gegenrüſtungen machen. Und ſo wird das hübſche Defenſivlied nunmehr dreiſtimmig geſungen. Ich laſſe mich von dieſer Melodie wieder einigermaßen in Ruhe lullen. Nach ſolchen lauten und wiederholten Verſicherungen {kann} doch keiner angreifen, und ohne daß einer angreife, gibt es keinen Krieg. Das Prinzip, daß nur noch Verteidigungskriege gerecht ſeien, hat ſich ſchon ſo ſehr des öffentlichen Bewußtſeins bemächtigt, daß doch keine Regierung mehr einen Einfall in das Nachbarland unternehmen darf; und wenn ſich nur lauter {Verteidiger} gegenüberſtehen, ſo können dieſelben, ſo drohend ſie auch bewaffnet, ſo feſt ſie auch entſchloſſen ſeien, ſich bis aufs Meſſer zu wehren — doch thatſächlich den Frieden nicht brechen. Welche Täuſchung! Neben „Offenſive“ gibt es ja noch verſchiedene andere Arten, Feindſeligkeiten zu eröffnen. Da ſind die irgend ein drittes Ländchen betreffenden Forderungen und Einmengungen, die als ungerecht abgewehrt werden können; da ſind die alten Verträge, die man für verletzt erklärt, und für deren Aufrechterhaltung zu den Waffen gegriffen werden muß; da iſt endlich das „europäiſche Gleichgewicht“, welches durch die Machterweiterung des einen oder des anderen Staates gefährdet werden könnte und daher gegen ſolche Machterweiterung energiſches Einſchreiten erheiſcht. Uneingeſtandenermaßen, aber am heftigſten zum Kampfe treibend, wirkt der lang geſchürte Haß, welcher ſchließlich ebenſo ſehnſüchtig und naturgewaltig nach todbringendem Handgemenge drängt, wie lang genährte Liebe nach lebenſchöpfender Umarmung. Von nun an überſtürzen ſich die Ereigniſſe, Öſterreich tritt ſo entſchieden für den Auguſtenburger ein, daß Preußen dies für einen Bruch des Gaſteiner Vertrags erklärt und darin eine deutliche feindliche Abſicht erkennt, was zur Folge hat, daß beiderſeits aufs äußerſte gerüſtet wird und nun auch Sachſen damit beginnt. Die Aufregung iſt eine allgemeine und wird täglich heftiger. „Krieg in Sicht, Krieg in Sicht!“ verkünden alle Blätter und alle Geſpräche. Mir iſt zu Mute, als wäre ich auf dem Meere und der Sturm im Anzug … Der gehaßteſte und geſchmähteſte Mann in Europa heißt jetzt Bismarck. Am 7. Mai wird auf denſelben ein Mordverſuch gemacht. Hat Blind, der Thäter, jenen Sturm dadurch abwenden wollen? Und {hätte} er ihn abgewendet? Ich erhalte aus Preußen Briefe von Tante Kornelie, aus welchen hervorgeht, daß dort zu Lande der Krieg nichts weniger als gewünſcht wird. Während bei uns allgemeine Begeiſterung für die Idee eines Krieges mit Preußen herrſcht, und mit Stolz auf unſere „Million auserleſener Soldaten“ geblickt wird, herrſcht drüben innere Zerfahrenheit. Bismarck wird im eigenen Lande nicht viel weniger geſchmäht und verleumdet, als bei uns; das Gerücht geht, daß die Landwehr ſich weigern werde, in den „Bruderkrieg“ zu ziehen, und man erzählt, daß die Königin Auguſta ſich ihrem Gemahl zu Füßen geworfen, um für den Frieden zu flehen. O, wie gern hätte ich an ihrer Seite gekniet und alle meine Schweſtern — alle — zu gleicher That hinreißen wollen. Das, das allein ſollte aller Frauen Beſtreben ſein: „Friede, Friede — die Waffen nieder!“ Hätte doch unſere ſchöne Kaiſerin ſich auch zu Füßen ihres Gemahls geworfen und weinend, mit erhobenen Händen, um Entwaffnung gefleht! Wer weiß? Vielleicht hat ſie es gethan — vielleicht hätte der Kaiſer ſelber auch gewünſcht, den Frieden zu erhalten, aber der Druck, der von den Räten, von den Sprechern, Schreiern und Schreibern kommt, dem kann ein einzelner Menſch, — ſelbſt auf dem Thron nicht widerſtehen. 45. Drittes Buch. 1864. // 19. Abſchnitt Am 1. Juni erklärt Preußen dem Bundestage, es werde ſofort abrüſten, wenn Oſterreich und Sachſen das Beiſpiel geben. Dagegen erfolgt von Wien geradeheraus die Anſchuldigung, daß Preußen ſchon lange mit Italien einen Angriff auf Öſterreich geplant habe, weshalb Letzteres ſich nunmehr ganz dem deutſchen Bund in die Arme werfen wolle, um dieſen aufzufordern, die Entſcheidung in Sachen der Elbherzogtümer zu übernehmen. Gleichzeitig wolle es die holſteiniſchen Stände einberufen. Gegen dieſe Erklärung legte Preußen Proteſt ein, weil dieſelbe gegen den Gaſteiner Vertrag verſtoße. Damit ſei zum wiener Vertrag zurückgekehrt, nämlich zum gemeinſchaftlichen Condominat; folglich habe Preußen auch das Recht, Holſtein zu beſetzen, wie es ſeinerſeits den Öſterreichern den Beſitz Schleswigs nicht verwehre. Und zugleich rücken die Preußen in Holſtein ein. Gablenz weicht ohne Schwertſtreich, aber unter Proteſt zurück. Vorher hat Bismarck in einem Rundſchreiben geſagt: Von Wien hatten wir gar kein Entgegenkommen gefunden. Im Gegenteil: es waren dem Könige von authentiſcher Quelle Auslaſſungen von öſterreichiſchen Staatsmännern und Ratgebern des Kaiſers zu Ohren gekommen (Tritſchtratſch), welche beweiſen, daß die Miniſter den Krieg um jeden Preis wünſchen (Völkermord {wünſchen}: welche furchtbare Verbrechensanklage!), teils auf Erfolg im Felde hoffend, teils, um über innere Schwierigkeiten hinwegzukommen und um den eigenen zerrütteten Finanzen durch preußiſche Kontribution aufzuhelfen. (Staatsklugheit.) Unterm 9. Juni erklärt Preußen dem Bundestag, derſelbe habe kein Recht zur alleinigen Entſcheidung in der ſchleswig-holſteiniſchen Frage. Ein neuer Bundesreformplan wird vorgelegt, nach welchem die Niederlande und Öſterreich ausgeſchloſſen bleiben ſollen. Die Preſſe iſt nunmehr ganz kriegeriſch und zwar, wie dies patriotiſche Sitte iſt, ſiegesgewiß. Die Möglichkeit einer Niederlage muß für den loyalen Unterthan, den ſein Fürſt zum Kampfe ruft, völlig ausgeſchloſſen ſein. Verſchiedene Leitartikel malen den bevorſtehenden Einzug Benedeks in Berlin aus, ſowie die Plünderung dieſer Stadt durch die Kroaten. Einige empfehlen auch, Preußens Hauptſtadt dem Erdboden gleich zu machen. „Plünderung“, „Erdboden gleich machen“, „über die Klinge ſpringen laſſen“ — dieſe Worte entſprechen zwar nicht mehr dem neuzeitlichen Völkerrechtsbewußtſein, ſie ſind aber, von den Schulſtudien der alten Kriegsgeſchichte her, an den Leuten hängen geblieben; derlei ward in den auswendig gelernten Schlachtberichten ſo oft hergeſagt, in den deutſchen Aufſätzen ſo oft niedergeſchrieben, daß, wenn nun über das Thema Krieg Zeitungsartikel verfaßt werden ſollen, ſolche Worte von ſelber in die Feder fließen. Die Verachtung des Feindes kann nicht draſtiſch genug ausgedrückt werden; für die preußiſchen Truppen haben die wiener Zeitungen keine andere Bezeichnung mehr, als „die Schneidergeſellen“. General-Adjutant Graf Grünne hat geäußert: „Dieſe Preußen werden wir mit naſſen Fetzen verjagen“. Mit derlei macht man einen Krieg eben „populär“. So etwas kräftigt das nationale Selbſtgefühl. 11. Juni. Öſterreich beantragt, der Bund ſolle gegen die preußiſche Selbſthilfe in Holſtein einſchreiten und das ganze Bundesheer mobil machen. Am 14. Juni wird über dieſen Antrag abgeſtimmt und mit neun gegen ſechs Stimmen — angenommen. O, dieſe drei Stimmen! Wie viel Jammer- und Wehgeheul hat dieſen drei Stimmen als Echo nachgedröhnt! Es iſt geſchehen. Die Geſandten erhalten ihre Päſſe. Am 16. fordert der Bund Öſterreich und Bayern auf, den Hannoveranern und Sachſen, welche bereits von Preußen angegriffen ſeien, zu Hilfe zu kommen. Am 18. ergeht das preußiſche Kriegsmanifeſt. Zu gleicher Zeit das Manifeſt des Kaiſers von Öſterreich an ſein Volk und die Proklamation Benedeks an ſeine Truppen. Am 22. erläßt Prinz Friedrich Karl einen Armeebefehl und eröffnet damit den Krieg. Ich habe die vier Urkunden zur Zeit abgeſchrieben; hier ſind ſie: König Wilhelm ſagt: „Öſterreich will nicht vergeſſen, daß ſeine Fürſten einſt Deutſchland beherrſchten, will im jungen Preußen keinen Bundesgenoſſen, ſondern nur einen feindlichen Nebenbuhler erkennen. Preußen, meint es, ſei in allen ſeinen Beſtrebungen zu bekämpfen, weil, was Preußen frommt, Öſterreich ſchade. Alte, unſelige Eiferſucht iſt in hellen Flammen wieder aufgelodert; Preußen ſoll geſchwächt, vernichtet, entehrt werden. Ihm gegenüber gelten keine Verträge mehr. Wohin wir in Deutſchland ſchauen, ſind wir von Feinden umgeben und deren Kampfgeſchrei iſt Erniedrigung Preußens. Bis zum letzten Augenblick habe ich die Wege zu gütigem Ausgleich geſucht und offen gehalten — Öſterreich wollte nicht.“ Dagegen läßt ſich Kaiſer Franz Joſeph alſo vernehmen: „Die neueſten Ereigniſſe erweiſen es unwiderleglich, daß Preußen nun offen Gewalt an Stelle des Rechtes ſetzt. So iſt der unheilvollſte Krieg — ein Krieg Deutſcher gegen Deutſche — unvermeidlich geworden! Zur Verantwortung all des Unglücks, das er über einzelne, Familien, Gegenden und Länder bringen wird, rufe ich diejenigen, welche ihn herbeigeführt, vor den Richterſtuhl der Geſchichte und des ewigen allmächtigen Gottes.“ Immer der „Andere“ iſt der Kriegwünſchende. Immer dem „Anderen“ wird vorgeworfen, daß er Gewalt an Stelle des Rechtes ſetzen will. Warum iſt es denn überhaupt noch völkerrechtlich möglich, daß dies geſchehe? Ein „unheilvoller Krieg“, weil „Deutſche gegen Deutſche“. Ganz richtig: es iſt ſchon ein höherer Standpunkt, der über „Preußen“ und „Öſterreich“ den weiteren Begriff „Deutſchland“ erhebt — aber nur noch einen Schritt: und es wäre jene noch höhere Einheit erreicht, in deren Licht {jeder} Krieg — Menſchen gegen Menſchen, namentlich civiliſierte gegen civiliſierte — als unheilvoller Bruderkrieg erſcheinen müßte. Und vor den „Richterſtuhl der Geſchichte“ rufen — was nützt das? Die Geſchichte, wie ſie bisher geſchrieben wurde, hat noch niemals anders gerichtet, als daß ſie dem {Erfolge} huldigte. Derjenige, der aus dem Kriege als Sieger hervorgeht, vor dem fällt die hiſtorienſkribbelnde Gilde in den Staub und preiſt ihn als den Erfüller einer „Kulturmiſſion“. Und „vor dem Richterſtuhl Gottes, des Allmächtigen“? Ja, iſt es denn dieſer ſelber nicht, der ſtets als der Lenker der Schlachten hingeſtellt wird — geſchieht denn mit dem Ausbruch ſowohl als mit dem Ausgang jedes Krieges nicht eben dieſes Allmächtigen unverrückbarer Wille? O Widerſpruch über Widerſpruch! Ein ſolcher muß ſich eben überall einſtellen, wo unter Phraſen die Wahrheit verſteckt werden ſoll, wo man zwei einander aufhebende Prinzipien — wie Krieg und Gerechtigkeit, wie Völkerhaß und Menſchlichkeit, wie Gott der Liebe und Gott der Schlachten — nebeneinander gleich heilig halten will. Und Benedek ſagt: „Wir ſtehen einer Streitmacht gegenüber, die aus zwei Hälften zuſammengeſetzt iſt: Linie und Landwehr. Erſtere bilden lauter junge Leute, die, weder an Strapazen und Entbehrungen gewöhnt, niemals eine bedeutende Campagne mitgemacht haben. Letztere beſteht aus jetzt unzuverläſſigen, mißvergnügten Elementen, die lieber die eigene mißliebige Regierung ſtürzen, als gegen uns kämpfen möchten. Der Feind hat infolge langer Friedensjahre auch nicht einen einzigen General, der Gelegenheit gehabt hätte, ſich auf den Schlachtfeldern heranzubilden. Veteranen von Mincio und Paleſtro, ich denke, ihr werdet unter euren alten bewährten Führern es euch zur beſonderen Ehre rechnen, einem ſolchen Gegner auch nicht den leiſeſten Vorteil zu geſtatten. Der Feind prahlt ſeit langer Zeit mit ſeinem ſchnellen Kleingewehrfeuer — aber, Leute, ich denke, das ſoll ihm wenig Nutzen bringen. Wir werden ihm wahrſcheinlich keine Zeit dazu laſſen, ſondern ungeſäumt ihm mit Bajonett und Kolben auf den Leib gehen. Sobald mit Gottes Hilfe der Gegner geſchlagen und zum Rückzug gezwungen ſein wird, werden wir ihm auf dem Fuße verfolgen und ihr werdet in Feindesland euch ausraſten und diejenigen Erholungen im reichlichſten Maße in Anſpruch nehmen, die ſich eine ſiegreiche Armee mit vollſtem Rechte verdient haben wird.“ Prinz Friedrich Karl endlich ſpricht: Soldaten! Das treuloſe und bundesbrüchige Öſterreich hat ohne Kriegserklärung ſchon ſeit einiger Zeit die preußiſchen Grenzen in Oberſchleſien nicht reſpektiert. Ich hätte alſo ebenfalls ohne Kriegserklärung die böhmiſche Grenze überſchreiten dürfen. Ich habe es nicht gethan. Heute habe ich eine betreffende Kundgebung überreichen laſſen und heute betreten wir das feindliche Gebiet, um unſer eigenes Land zu ſchonen. Unſer Anfang ſei mit Gott. (Iſt das derſelbe Gott, mit deſſen Hilfe Benedek verſprochen hat, den Feind mittels Bajonett und Kolben zurückzuſchlagen? …) Auf ihn laßt uns unſere Sache ſtellen, der die Herzen der Menſchen lenkt, der die Schickſale der Völker und den Ausgang der Schlachten entſcheidet. Wie in der heiligen Schrift geſchrieben ſteht: Laßt eure Herzen zu Gott ſchlagen und eure Fäuſte auf den Feind. In dieſem Kriege handelt es ſich — ihr wißt es — um Preußens heiligſte Güter und um das Fortbeſtehen unſeres teuren Preußens. Der Feind will es ausgeſprochenermaßen zerſtückeln und erniedrigen. Die Ströme von Blut, welche eure und meine Väter unter Friedrich dem Großen und wir jüngſt bei Düppel und auf Alſen vergoſſen haben, ſollten ſie umſonſt vergoſſen ſein? Nimmermehr! Wir wollen Preußen erhalten wie es iſt, und durch Siege kräftiger und mächtiger machen. Wir werden uns unſerer Väter würdig zeigen. Wir bauen auf den Gott unſerer Väter, der uns gnädig ſein und Preußens Waffen ſegnen möge. Und nun vorwärts mit unſerem alten Schlachtruf: Mit Gott für König und Vaterland. Es lebe der König! Ende des erſten Bandes. 46. Viertes Buch. 1866. // 1. Abſchnitt Und ſo war es denn wieder da — dieſes größte alles denkbaren Unglücks — und wurde von der Bevölkerung mit dem gewohnten Jubel begrüßt. Die Regimenter marſchierten aus (wie würden ſie wiederkehren?) und Sieges- und Segenswünſche und ſchreiende Gaſſenjungen gaben ihnen das Geleite. Friedrich war ſchon vor einiger Zeit nach Böhmen beordert worden — noch ehe der Krieg erklärt war, und gerade als die Dinge ſo ſtanden, daß ich zuverſichtlich hoffen konnte, der unſelige, ſo geringfügige Herzogtümerſtreit werde ſich gütlich beilegen. Diesmal alſo war mir das herzzerreißende Abſchiednehmen erſpart geblieben, welches dem direkten „In den Krieg ziehen“ des Geliebten vorangeht. Als mir mein Vater triumphierend die Nachricht brachte: „Jetzt geht’s los“, war ich ſchon ſeit vierzehn Tagen allein. Und ſeit letzter Zeit war ich auf dieſe Nachricht ſchon gefaßt geweſen — wie ein Verbrecher in ſeiner Zelle auf Verleſung des Todesurteils gefaßt iſt. Ich beugte den Kopf und ſagte nichts. „Sei guten Mut’s, Kind. Der Krieg wird nicht lang dauern — über heut’ und morgen ſind wir in Berlin … Und ſo wie er aus Schleswig-Holſtein zurückgekommen, ſo wird Dein Mann auch aus dieſem Feldzug heimkehren, aber mit viel grünerem Lorbeer bedeckt. Unangenehm mag es ihm zwar ſein, da er ſelbſt preußiſchen Urſprungs iſt, gegen Preußen zu ziehen — aber ſeit er in öſterreichiſchen Dienſten ſteht, iſt er ja doch mit Leib und Seel’ einer von den unſern … Dieſe Preußen! Aus dem Bund wollen ſie uns hinauswerfen, die arroganten Windbeutel — das werden ſie ſchön bereuen, wenn Schleſien wieder unſer iſt, und wenn die Habsburger —“ Ich ſtreckte die Hände aus: „Vater — eine Bitte: laß mich jetzt allein.“ Er mochte glauben, daß ich das Bedürfnis fühlte, mich auszuweinen, und da er ein Feind aller Rührſcenen war, ſo willfahrte er bereitwilligſt meinem Wunſch und ging. Ich aber weinte nicht. Es war mir, als wäre ein betäubender Schlag auf meinen Kopf gefallen. Schwer atmend, ſtarr blickend ſaß ich eine Zeit regungslos da. Dann ging ich zu meinem Schreibtiſch, ſchlug die roten Hefte auf und trug ein: „Das Todesurteil iſt geſprochen. Hunderttauſend Menſchen ſollen hingerichtet werden. Ob Friedrich auch dabei iſt? … Folglich auch ich … Wer bin {ich}, um nicht auch zu grunde zu gehen, wie die anderen Hunderttauſend? — ich wollt’ ich wär ſchon tot.“ Von Friedrich erhielt ich am ſelben Tag einige flüchtig geſchriebene Zeilen: „Mein Weib! Sei mutig — hoch das Herz! Wir waren glücklich, das kann uns niemand nehmen, ſelbſt wenn heute, wie für ſo viele andere, auch für uns das Dekret gefallen wäre: {Es iſt vorbei.} (Derſelbe Gedanke, wie ich in meinen roten Heften: die vielen anderen Verurteilten.) Heute geht’s dem „Feind“ entgegen. Vielleicht erkenne ich drüben ein paar Kampfgenoſſen von Düppel und Alſen — vielleicht meinen kleinen Vetter Gottfried … Wir marſchieren nach Liebenau mit der Avantgarde des Grafen Clam-Gallas. Von nun an gibt’s zum Schreiben keine Zeit mehr. Erwarte Dir keine Briefe. Höchſtens, wenn ſich die Gelegenheit bietet, eine Zeile, zum Zeichen, daß ich lebe. Vorher möchte ich noch ein einziges Wort finden, das meine ganze Liebe in ſich faßte, um es Dir — falls es das letzte wäre — hier niederzuſchreiben. Ich finde nur dieſes: „Martha!“ Du weißt, was mir das bedeutet.“ Konrad Althaus mußte auch ausrücken. Er war voll Feuer und Kampfesluſt und von genügendem Preußenhaß beſeelt, um gern hinauszuziehen: dennoch fiel ihm der Abſchied ſchwer. Die Heiratsbewilligung war erſt zwei Tage vor dem Marſchbefehl eingetroffen. „O, Lilli, Lilli,“ ſprach er ſchmerzlich, als er ſeiner Braut Lebewohl ſagte, „warum haſt Du ſo lang gezögert, mich zu nehmen? Wer weiß nun, ob ich wiederkomme!“ Meine arme Schweſter war ſelbſt von Reue erfüllt. Jetzt erſt erwachte leidenſchaftliche Liebe für den Langverſchmähten. Als er fort war, ſank ſie weinend in meine Arme. „O warum habe ich nicht längſt „ja“ geſagt! Jetzt wäre ich ſein Weib“ … „Da wäre Dir der Abſchied nur deſto ſchmerzlicher geworden, meine arme Lilli.“ Sie ſchüttelte den Kopf. Ich verſtand wohl, was in ihrem Innern vorging — vielleicht klarer, als ſie es ſelber verſtand: ſich trennen müſſen bei noch ungeſtilltem — vielleicht ewig ungeſtillt bleiben ſollendem Liebesſehnen; — den Becher von den Lippen weggeriſſen und möglicherweiſe zerſchellt ſehen, ehe man noch einen einzigen Trunk gethan — das mag wohl doppelt quälend ſein. Mein Vater, die Schweſtern und Tante Marie überſiedelten jetzt nach Grumitz. Ich ließ mich leicht bereden, ſamt meinem Söhnchen mitzukommen. So lange Friedrich fort war, ſchien mir der eigene Herd erſtorben — ich hätte es da nicht ausgehalten. Es iſt ſonderbar: ich fühlte mich ſo verwitwet, als wäre die Nachricht von dem ausgebrochenen Kriege zugleich die Nachricht von Friedrichs Tod geweſen. Manchmal, mitten in meine dumpfe Trauer, fiel ein lichter Gedanke: „Er lebt und kann ja wiederkommen“ — daneben aber ſtieg wieder die ſchreckliche Idee auf: er krümmt und windet ſich in unerträglichen Schmerzen … er verſchmachtet in einem Graben — ſchwere Wagen fahren über ſeine zerſchoſſenen Glieder weg — Mücken und Ameiſen wimmeln auf ſeinen offenen Wunden; — die Leute, welche das Schlachtfeld räumen, halten den erſtarrt Daliegenden für tot und ſcharren ihn lebendig mit anderen Toten in die ſeichte Grube — hier kommt er zu ſich und — — — Mit einem lauten Schrei fuhr ich aus ſolchen Vorſtellungen empor: „Was haſt Du nun wieder, Martha?“ ſchalt mein Vater. „Du wirſt noch verrückt werden, wenn Du ſo brüteſt und aufſchreiſt. Beſchwörſt Du Dir wieder ſo dumme Bilder vor die Einbildung? Das iſt ſündhaft.“ … Ich hatte nämlich öfters dieſe meine Ideen laut werden laſſen, was meinen Vater höchlichſt entrüſtete. „Sündhaft,“ fuhr er fort, „und unanſtändig und unſinnig. Solche Fälle, wie ſie Deine überſpannte Phantaſie ausmalt, die kommen mitunter — unter tauſend Fällen einmal — bei der Mannſchaft — vor, aber einen Stabsoffizier, wie Deinen Mann, laſſen die Anderen nicht liegen. Überhaupt, an ſolche Grauendinge ſoll man nicht denken. Es liegt eine Art Frevel, eine Entheiligung des Krieges darin, wenn man ſtatt der Größe des Ganzen die elenden Einzelheiten ins Auge faßt … an die denkt man nicht.“ „Ja, ja, nicht daran denken,“ antwortete ich, „das iſt von jeher Menſchenbrauch allem Menſchenelend gegenüber … „Nicht denken“: darauf iſt ohnehin alle Barbarei geſtützt.“ Unſer Hausarzt, Doktor Breſſer, war diesmal nicht in Grumitz; er hatte ſich freiwillig dem Sanitätskorps zur Verfügung geſtellt und war nach dem Kriegsſchauplatz abgegangen. Auch mir war der Gedanke gekommen: ſollte ich nicht als Krankenpflegerin mitziehen? … Ja, wenn ich gewußt hätte, daß ich in die Nähe Friedrichs käme, daß ich bei der Hand wäre, falls er verwundet würde, da hätte ich nicht gezögert; aber für Andere? Nein, da gebrach es mir an Kraft, da fehlte der Opfermut. Sterben ſehen, röcheln hören — hundert Hilfeflehenden helfen wollen und nicht helfen können, — den Schmerz, den Ekel, den Jammer auf mich laden, ohne dabei Friedrich beizuſtehen — im Gegenteil, dadurch die Chancen, daß wir uns wiederfinden, vermindern, denn die Pflegenden begeben ſich auch in vielfache Todesgefahr … nein, ich that es nicht. Zudem belehrte mich mein Vater, daß eine Privatperſon, wie ich, zur Krankenpflege in den Feldhoſpitälern gar nicht zugelaſſen würde — daß dieſes Amt nur von Sanitätsſoldaten oder höchſtens von barmherzigen Schweſtern ausgeübt werden dürfe. „Charpie zupfen,“ ſagte er, „und Verbandzeug für die patriotiſchen Hilfsvereine herrichten, das iſt das einzige, was ihr für die Verwundeten leiſten könnt, und das ſollen denn meine Töchter auch fleißig thun — dazu geb’ ich meinen Segen.“ Und dieſe Beſchäftigung war es nun auch, welcher meine Schweſtern und ich viele Stunden des Tages widmeten. Roſa und Lilli verrichteten ihre Arbeit mit ſanft gerührten und dabei faſt freudigen Mienen. Wenn die feinen Fädchen ſich unter unſeren Fingern zu weichen Maſſen häuften, wenn wir die Leinwandſtreifen ſchön ordentlich übereinander gefaltet, ſo brachte dies den beiden Mädchen etwas von den Empfindungen des barmherzigen Pflegeamtes: es war ihnen, als linderten ſie brennende Schmerzen und verhüteten ſie das Verbluten der Wunden; als hörten ſie die erleichterten Seufzer und ſähen die dankbaren Blicke der Gewarteten. Es war beinah ein freundliches Bild, welches ihnen da von dem Zuſtand des „Verwundetſeins“ vorſchwebte. Die beneidenswerten Soldaten, welche, den Gefahren des tobenden Kampfes entronnen, jetzt auf weichen, reinen Betten hingeſtreckt, da gepflegt und gehätſchelt werden, bis zu ihrer Heilung, größtenteils in halb bewußtloſen, köſtlich-müden Halbſchlummer gelullt, zeitweiſe wieder zu dem angenehmen Bewußtſein erwachend, daß ihr Leben gerettet, daß ſie zu den Ihren heimkehren und noch in fernen Zeiten erzählen können, wie ſie in der Schlacht von X ehrenvoll bleſſiert worden ſeien. In dieſer naiven Auffaſſung beſtärkte ſie denn auch unſer Vater: „Brav, brav, Mädels — heute ſeid ihr wieder fleißig … da habt ihr wieder vielen unſrer tapferen Verteidiger eine Freude gemacht! Wie das wohl thut, ſo ein Päckchen Charpie auf der blutenden Wunde — ich weiß was davon zu erzählen: … Damals, als ich bei Paleſtro den Schuß ins Bein bekam — u._ſ._w., u._ſ._w. Ich aber ſeufzte und ſagte nichts. Ich hatte andere Geſchichten von Verwundungen vernommen, als die, wie ſie mein Vater zu erzählen beliebte; — Geſchichten, welche ſich zu den gebräuchlichen Veteranenanekdoten verhalten ungefähr wie die Wirklichkeit elenden Hirtenlebens zu den Schäferbildchen von Watteau. Das rote Kreuz … ich wußte, durch welches auf das ſchmerzlichſte erſchütterte Völkermitleid dieſe Inſtitution ins Leben gerufen ward. Seiner Zeit hatte ich den darüber in Genf geführten Verhandlungen gefolgt und die Schrift Dunants, welche den Anſtoß zu dem Ganzen gegeben, hatte ich geleſen. Ein herzzerreißender Jammerruf, dieſe Schrift! Der edle Genfer Patrizier war auf das Schlachtfeld von Solferino geeilt, um zu helfen, was er konnte; und das, was er dort gefunden, hat er der Welt erzählt. Zahlloſe Verwundete, welche fünf, ſechs Tage liegen geblieben — ohne Hilfe … Alle hätte er retten mögen, doch was konnte er, der Einzelne, was konnten die Anderen, Wenigen dieſem Maſſenelend gegenüber thun? Er ſah ſolche, welchen durch einen Tropfen Waſſer, durch einen Biſſen Brot das Leben hätte erhalten werden können; er ſah ſolche, die noch atmend, in fürchterlicher Eile begraben wurden … Dann ſprach er aus, was ſchon oft erkannt worden, was aber jetzt erſt Nachhall fand: daß die Verpflegs- und Rettungsmittel der Heeresverwaltung den Anforderungen einer Schlacht nicht mehr gewachſen ſeien. Und das „rote Kreuz“ ward geſchaffen. Öſterreich hatte ſich der Genfer Convention damals noch nicht angeſchloſſen. Warum? … Warum wird allem Neuen, wenn es noch ſo ſegensreich und einfach iſt, Widerſtand entgegengeſetzt? — Das Geſetz der Trägheit — die Gewalt des heiligen Schlendrians … „Die Idee iſt recht ſchön, aber unausführbar“, hieß es da — auch meinen Vater hörte ich öfters jene, während der Konferenz von 1863 von verſchiedenen Delegierten vorgebrachten Zweifelargumente wiederholen, — „unausführbar, und ſelbſt, wenn ausführbar, ſo doch in mancher Hinſicht ſehr unzukömmlich. Die Militärbehörden könnten Privatmitwirkung auf dem Schlachtfelde nicht angemeſſen finden. Im Kriege müſſen die taktiſchen Zwecke der Menſchenfreundlichkeit vorangehen — und wie könnte dieſe Privatmitwirkung mit genügenden Bürgſchaften gegen das Spionenweſen umgeben werden? Und die Auslagen! Koſtet der Krieg nicht ohnehin ſchon genug! Die freiwilligen Krankenwärter würden durch ihre eigenen ſtofflichen Bedürfniſſe dem Proviantamt läſtig fallen; oder, wenn ſie ſich in dem beſetzten Lande auch ſelber verproviantieren, entſteht da nicht eine bedauerliche Konkurrenz für die Heeresverwaltung durch den Ankauf von für die Verwaltung notwendigen Gegenſtänden und die unmittelbare Erhöhung ihres Preiſes?“ O dieſe Behördenweisheit! — So trocken, ſo gelehrt, ſo ſachlich, ſo klugheitstriefend und ſo — bodenlos dumm. 47. Viertes Buch. 1866. // 2. Abſchnitt Der erſte Zuſammenſtoß unſerer in Böhmen befindlichen Truppen mit dem Feinde fand am 25. Juni in Liebenau ſtatt. Dieſe Nachricht brachte uns mein Vater mit ſeiner gewohnten triumphierenden Miene: „Das iſt ein prächtiger Anfang!“ ſagte er. „Man ſieht es: der Himmel iſt mit uns. Es hat was zu bedeuten, daß die erſten, mit welchen dieſe Windbeutel zu thun bekommen, die Leute unſerer berühmten ‚eiſernen Brigade‘ waren … ihr wißt doch: die Brigade Poſchacher, welche den Königsberg in Schleſien ſo tapfer verteidigt hat. Die wird’s ihnen gehörig geben! (Die nächſten Nachrichten vom Kriegsſchauplatze aber ergaben, daß nach fünfſtündigem Gefecht dieſe in der Avantgarde Clam-Gallas befindliche Brigade ſich nach Podol zurückzog. Daß Friedrich dabei war — ich wußte es nicht, und daß in derſelben Nacht das verbarrikadierte Podol vom General Horn angegriffen und dort bei hellem Mondſchein der Kampf fortgeführt ward — das hab’ ich auch erſt ſpäter erfahren.) „Aber herrlicher noch als im Norden“, fuhr mein Vater fort, „geſtaltet ſich der Anfang im Süden. Bei Cuſtozza iſt ein Sieg errungen worden, Kinder — ſo glänzend wie nur einer … Ich habe es immer geſagt: die Lombardei muß unſer werden! … Freut ihr euch denn nicht? Ich betrachte den Krieg als ſchon entſchieden; denn wenn man mit den Italienern fertig geworden, welche doch ein regelmäßiges und geſchultes Heer uns gegenüberſtellen, da wird es uns mit den ‚Schneidergeſellen‘ weiter nicht ſchwer fallen. Dieſe Landwehr — es iſt eine wahre Frechheit — und es gehört nur die ganze preußiſche Selbſtüberhebung dazu, um {damit} gegen richtige Armeen ausziehen zu wollen. Da werden die Leute von der Werkſtatt, vom Schreibtiſch hinweggerufen — ſind an keinerlei Strapazen gewöhnt, können alſo unmöglich als blut- und eiſenfeſte Soldaten im Felde ſtehen. Da ſeht einmal her, was die wiener Zeitung in einer Originalkorreſpondenz unterm 24. Juni ſchreibt. Das ſind doch gute Nachrichten: „In preußiſch Schleſien iſt die Rinderpeſt ausgebrochen und wie man vernimmt in äußerſt bedrohlicher Art —“ „Rinderpeſt“ — „bedrohliche Art“ — „erfreuliche Nachrichten“ ſagte ich mit leiſem Kopfſchütteln. „Hübſche Dinge, über welche man zu Kriegszeiten Vergnügen haben ſoll … Es iſt nur gut, daß ſchwarzgelbe Schlagbäume an der Grenze ſtehen — da kann die Peſt nicht herüber“ … Aber mein Vater hörte nicht und las das erfreuliche weiter: „Unter den preußiſchen Truppen aus Neiße herrſcht das Fieber. Das ungeſunde Sumpfland, die ſchlechte Verpflegung und die miſerable Unterkunft der in den umliegenden Ortſchaften aufgehäuften Truppen mußten ſolche Erſcheinungen zur Folge haben. Von der Verpflegung der preußiſchen Soldaten macht ſich der Öſterreicher keinen Begriff. Die Junker glauben dem „Volk“ eben Alles bieten zu können. Sechs Lot Schweinefleiſch für den Mann, der an die forcierten Märſche und ſonſtigen Strapazen nicht gewöhnt worden, der Alles, nur kein abgehärteter Soldat iſt.“ „Die Blätter ſind überhaupt voll prächtiger Nachrichten. — Vor Allem die Berichte vom glorreichen Cuſtozza-Tage — Du ſollteſt Dir dieſe Zeitungen aufheben, Martha.“ Und ich {habe} ſie aufgehoben. Das ſollte man immer thun; und wenn ein neuer Völkerzwiſt heranzieht, dann leſe man nicht die neueſten Zeitungen, ſondern die, welche von vorigem Kriege datieren, und man wird ſehen, was all den Prophezeiungen und Prahlereien und auch den Berichten und Nachrichten für Wahrheitswert beizumeſſen iſt. {Das} iſt lehrreich. Vom nördlichen Kriegsſchauplatz. Aus dem Hauptquartier der Nord-Armee wird unterm 25 Juni über den Feldzugsplan (!) der Preußen geſchrieben: „Nach den neueſten Nachrichten hat die preußiſche Armee ihr Hauptquartier nach dem öſtlichen Schleſien verlegt. (Folgt in dem gewöhnlichen taktiſchen Stile eine längere Aufzählung der von dem Feinde projektierten Bewegungen und Stellungnahmen, von welchen der Herr Berichterſtatter gewiß ein klareres Bild vor Augen hatte, als Moltke und Roon). Es ſcheint demnach in der Abſicht der Preußen zu liegen, hierdurch dem Vormarſch unſerer Armee gegen Berlin durch den eigenen zuvorzukommen, was ihnen jedoch bei den getroffenen Vorkehrungen (welche „unſer Spezial-Korreſpondent“ ebenfalls genauer kennt, als Benedek) ſchwerlich gelingen dürfte. Mit vollſtem Vertrauen kann man günſtigen Berichten von der Nord-Armee entgegen ſehen, die, wenn ſie auch nicht ſo ſchnell, als die Sehnſucht des Volkes ſie erwartet, einlaufen, dafür aber um ſo bedeutender und inhaltsreicher ſein werden.“ „… Einen hübſchen Zwiſchenfall bei dem Durchmarſch öſterreichiſcher Truppen italieniſcher Nationalität durch München, erzählt die Neue Frankfurter Zeitung wie folgt: Unter den durch München gekommenen Truppen befinden ſich Linienbataillone, ſie wurden wie die übrigen durch die bayeriſche Hauptſtadt gekommenen Truppen, in einem dem Bahnhof nahegelegenen Wirtſchaftsgarten bewirtet. Jedermann konnte ſich überzeugen, daß dieſe Venezianer unter Jubel ihre Kampfesluſt gegen die Feinde Öſterreichs kundgaben. (Vielleicht hätte auch „Jedermann“ denken können, daß betrunkene Soldaten ſich willig für das begeiſtern, was ihnen zur Begeiſterung angeboten wird.) In Würzburg war der Bahnhof angefüllt mit der Mannſchaft eines öſterreichiſchen Linien-Infanterieregiments. So viel wahrnehmbar, beſtand die ganze Mannſchaft aus Venezianern. Gleichfalls freundlich aufgenommen (das heißt gleichfalls betrunken), konnten die Leute nicht Ausdruck finden, ihre Freude und ihre Abſicht, gegen die Friedensbrecher (von zwei kriegführenden Parteien iſt die friedensbrechende ſtets die {andere}) zu kämpfen, aufs lebhafteſte kund zu geben. Die Evivas nahmen kein Ende.“ (Sollte der auf den Bahnhöfen ſich herumtreibende, von Soldatengeſchrei ſo erbaute „Herr von Jedermann“ nicht wiſſen, daß es nichts Anſteckenderes gibt als Vivat-Rufen; — daß tauſend miteinander brüllende Stimmen nicht den Ausdruck von tauſend einmütigen Geſinnungen, ſondern einfach die Bethätigung des natürlichen Nachahmungstriebes bedeuten?) In {Böhmiſch-Trübau} hat der Feldzeugmeiſter Ritter von Benedek die drei Bulletins über den Sieg der Süd-Armee der Nord-Armee bekannt gegeben und daran nachſtehenden Tagesbefehl geknüpft: „Im Namen der Nord-Armee habe ich folgendes Telegramm an das Kommando der Süd-Armee abgeſendet: „Feldzeugmeiſter Benedek und die geſamte Nord-Armee dem glorreichen durchlauchtigſten Kommandanten der tapferen Süd-Armee mit freudiger Bewunderung herzlichſte Glückwünſche zum neuen ruhmvollen Tage von Cuſtozza. Mit einem neuen glorreichen Siege unſerer Waffen iſt der Feldzug im Süden eröffnet. Das glorreiche Cuſtozza prangt auf dem Ehrenſchild des kaiſerlichen Heeres.“ Soldaten der Nord-Armee! Mit Jubel werdet ihr die Nachricht begrüßen, mit erhöhter Begeiſterung in den Kampf ziehen, daß auch wir ſehr bald ruhmvolle Schlachtennamen auf jenes Schild verzeichnen und dem Kaiſer auch aus dem Norden einen Sieg melden, nach dem eure Kampfbegierde brennt, den eure Tapferkeit und Hingebung erringen wird, mit dem Rufe: Es lebe der Kaiſer! Benedek.“ Auf obiges Telegramm iſt folgende Antwort aus Verona telegraphiſch in Böhmiſch-Trübau angelangt: „Der Süd-Armee und ihres Kommandanten gerührten Dank ihrem geliebten frühern Feldherrn und ſeiner braven Armee. Ueberzeugt, daß auch wir bald zu ſolchen Siegen werden Glück wünſchen können.“ ‚Überzeugt‘ — ‚überzeugt‘ … „Lacht euch nicht das Herz im Leibe, Kinder, wenn ihr derlei Sachen leſet?“ rief mein Vater entzückt. „Könnt ihr euch nicht zu genügendem patriotiſchen Hochgefühle aufſchwingen, um angeſichts ſolcher Triumphe eure eigenen Angelegenheiten in den Hintergrund zu drängen — um zu vergeſſen, Du, Martha, daß Dein Friedrich, Du, Lilli, daß Dein Konrad einigen Gefahren ausgeſetzt ſind? Gefahren, welchen ſie wahrſcheinlich heil entkommen und denen ſelbſt zu unterliegen — ein Los, das ſie mit den beſten Söhnen des Vaterlandes teilen — ihnen nur zu Ruhm und Ehre gereicht. Es gibt keinen Soldaten, der mit dem Rufe ‚Für das Vaterland!‘ nicht gern ſtürbe.“ „Wenn einer nach verlorener Schlacht mit zerſchmetterten Gliedern auf dem Felde liegen bleibt“ — entgegnete ich — „und da ungefunden durch vier oder fünf Tage und Nächte an Durſt, Hunger, unter unſäglichen Schmerzen, lebendig verfaulend, zu Grunde geht — dabei wiſſend, daß durch ſeinen Tod dem beſagten Vaterlande nichts geholfen, ſeinen Lieben aber Verzweiflung gebracht worden — ich möchte wiſſen, ob der die ganze Zeit über mit jenem Rufe gern ſtirbt.“ „Du frevelſt … Du ſprichſt zudem in ſo grellen Worten — für eine Frau ganz unanſtändig.“ „Ja, ja, das wahre Wort — die aufgedeckte Wirklichkeit iſt frevelhaft, iſt ſchamlos … Nur die Phraſe, die durch tauſendfältige Wiederholung ſanktionierte Phraſe, ‚anſtändig‘. Ich aber verſichere Dich, Vater — dieſes naturwidrige ‚Gern-ſterben‘, welches da allen Männern zugemutet wird, ſo heldenhaft es dem Ausſprechenden auch dünken mag — mir klingt es wie {geſprochener Totſchlag.}“ 48. Viertes Buch. 1866. // 3. Abſchnitt Unter Friedrichs Papieren — viele Tage ſpäter — habe ich einen Brief gefunden, den ich ihm in jenen Tagen nach dem Kriegsſchauplatz ſchickte. Dieſer Brief zeigt am deutlichſten, von welchen Gefühlen ich damals erfüllt war. Grumitz, 28. Juni 1866. „Teurer: Ich lebe nicht … Stelle Dir vor, daß in einem Nebenzimmer die Leute beraten, ob ich in den nächſten Tagen gehenkt werden ſoll, oder nicht, während ich draußen auf dieſe Entſcheidung warten muß. In dieſer Wartezeit atme ich wohl — aber kann ich das {leben} nennen? Das Nebenzimmer, in welchem die Frage entſchieden werden ſoll, heißt Böhmen … Doch nicht, Geliebter, das Bild iſt noch nicht ganz zutreffend. Denn wenn es ſich nur um {mein} Leben oder Sterben handelte, ſo wäre das Bangen nicht ſo groß. Denn mein Bangen gilt einem viel teureren Leben, als dem eigenen … Und ſogar noch ärgerem als Deinem Tode gilt meine Angſt — ſie gilt Deiner möglichen {Todesqual} … O, wäre es doch nur ſchon vorüber, vorüber! Kämen doch unſere Siege in raſcher Folge — nicht der Siege, ſondern des Endes halber! Ob Dich dieſe Zeilen erreichen? Und wo und wie? Ob nach einem heißen Schlachttage, ob im Lager, ob vielleicht im Lazareth … auf jeden Fall thut es Dir wohl, Kunde von Deiner Martha zu erhalten. Wenn ich auch nur Trauriges ſchreiben kann — was anders als Trauriges kann in einer Zeit empfunden werden, wo die Sonne durch das große ſchwarze Sargdeckeltuch verfinſtert wird, welches „für das Vaterland“ aufgehißt worden, damit es auf die Kinder des Landes herabfalle — dennoch bringen Dir meine Zeilen Labung … denn Du haſt mich lieb, Friedrich — ich weiß es, wie lieb, und mein geſchriebenes Wort freut und bewegt Dich, wie ein ſanftes Streicheln meiner Hand. — — Ich bin bei Dir, Friedrich, wiſſe das: mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzug, bei Tag und Nacht … Hier in meinem Kreiſe bewege ich mich und handle und ſpreche mechaniſch; mein eigenſtes Ich — das ja Dir gehört — das verläßt Dich keinen Augenblick … Nur mein Bub’ erinnert mich, daß die Welt mir doch noch etwas enthält, was nicht „Du“ heißt … Der gute Kleine — wenn Du wüßteſt, wie er nach Dir fragt und ſorgt! Wir zwei ſprechen miteinander eigentlich von gar nichts Anderem, als von „Papa“. Er weiß es wohl, der feinfühlige Knabe, daß dies der Gegenſtand iſt, von dem mein Herz voll iſt, und ſo klein er iſt — Du weißt es ja — iſt er ſchon eine Art {Freund} ſeiner Mutter. Ich fange auch ſchon an, mit ihm zu reden, wie mit einem Vernünftigen, und dafür iſt er mir dankbar. Ich meinerſeits bin ihm dankbar für die Liebe, die er Dir weiht. Es iſt ſo ſelten, daß Kinder ihre Stiefeltern gut leiden mögen, freilich iſt an Dir auch nichts Stiefväterliches — Du könnteſt mit einem eigenen Jungen nicht zärtlicher, nicht gütiger ſein, Du mein Zärtlicher, Gütiger! Ja die Güte — die große, weiche, milde — die iſt Deines Weſens Grundlage und — wie ſagt der Dichter? — ſo wie der Himmel aus einem einzigen großen Saphir ſich wölbt, ſo formt ſich eines edlen Menſchen Charaktergröße nur aus einer Tugend — der {Güte}. Mit anderen Worten: ich lieb’ Dich, Friedrich! Das iſt ja doch immer der Refrain Alles deſſen, was ich von Dir und Deinen Eigenſchaften denke. So vertrauensvoll, ſo zuverſichtlich lieb’ ich Dich — ich {ruhe} in Dir, Friedrich, warm und ſanft … Wenn ich Dich habe — verſteht ſich. Jetzt, da Du mir wieder entriſſen biſt, iſt’s mit meiner Ruhe natürlich aus. Ach, wäre der Sturm nur ſchon vorbei, vorbei — wäret ihr doch in Berlin, um dem König Wilhelm die Friedensbedingungen zu diktieren! Mein Vater iſt nämlich feſt überzeugt, daß dies des Feldzugs Ende ſein wird, und nach Allem, was man hört und lieſt, muß ich es wohl auch glauben. „Sobald, mit Gottes Hilfe, der Feind geſchlagen iſt“ — ſo lautete ja Benedeks Aufruf — „werden wir ihn auf dem Fuße verfolgen und ihr werdet in Feindesland euch ausraſten und diejenigen Erholungen“ und ſo weiter. Was ſind denn das für Erholungen? Heutzutage darf kein Anführer mehr laut und unumwunden ſagen: „Ihr dürft plündern, brennen, morden, ſchänden,“ wie dies im Mittelalter Brauch war, um die Horden anzufeuern; — jetzt könnte man ihnen als Lohn höchſtens eine freigebige Verteilung von Erbswurſt in Ausſicht ſtellen; das wäre aber etwas matt, alſo heißt es verblümt: „diejenigen Erholungen“ und ſo weiter. Dabei kann ſich jeder denken, was er will. Das Prinzip des in „Feindesland“ zu findenden Kriegslohnes lebt im Soldatenſtil noch fort … Und wie wird Dir in „Feindesland“ zu Mute ſein, welches ja eigentlich Dein Stammland iſt, wo Deine Freunde und Deine Vettern leben? Wirſt Du Dich dadurch „erholen“, daß Du Tante Korneliens hübſche Villa dem Erdboden gleich machſt? „Feindesland“ — das iſt eigentlich auch ſo ein foſſiler Begriff aus jenen Zeiten, wo der Krieg noch unverhohlen das war, was ſeine [raison d’être] vorſtellt; ein Raubzug; — und wo das Feindesland dem Streiter als lohnverheißendes Beuteland winkte … Ich ſpreche da mit Dir, wie in den ſchönen Stunden, da Du an meiner Seite warſt und wir, nach beendeter Lektüre irgend eines fortſchrittlichen Buches, miteinander über die Widerſprüche unſerer Zeitzuſtände philoſophierten, ſo einig, ſo einander verſtehend und ergänzend. In meiner Umgebung iſt Niemand, Niemand, mit dem ich über derlei Dinge reden könnte. Doktor Breſſer war noch der Einzige, mit welchem ſich kriegsverdammende Ideen austauſchen ließen, und der iſt jetzt auch fort — ſelber in den verurteilten Krieg gezogen — aber um Wunden zu heilen, nicht um ſie zu ſchlagen. Eigentlich auch ein Widerſinn, die „Humanität“ im Kriege — ein innerer Widerſpruch. Das iſt ungefähr ſo, wie die „Aufklärung“ im Glauben. Entweder, oder — aber Menſchenliebe {und} Krieg, Vernunft {und} Dogma: das geht nicht. Der aufrichtige, lodernde Feindeshaß, gepaart mit gänzlicher Verachtung des menſchlichen Lebens — das iſt des Krieges Lebensnerv, gerade ſo wie die fragloſe Unterdrückung der Vernunft des Glaubens Grundbedingung iſt. Aber wir leben in einer Zeit der Vermittlung. Die alten Inſtitutionen und die neuen Ideen wirken gleich mächtig. Da verſuchen denn die Leute, welche mit dem Alten nicht ganz brechen wollen, welche das Neue nicht ganz erfaſſen können, Beides miteinander zu verſchmelzen und daraus entſteht dieſes verlogene, unkonſequente, widerſpruchskämpfende, halbhafte Getriebe, unter welchem die wahrheits-, gradheits- und ganzheitsdurſtenden Seelen ſo ſtöhnen und leiden … Ach, was ich da Alles zuſammenſchreibe! Du wirſt jetzt kaum — wie in unſeren friedlichen Plauderſtunden — zu ſolch allgemeinen Betrachtungen aufgelegt ſein: Du biſt von einer grauſigen Wirklichkeit umtoſt, mit der es ſich abfinden heißt. Wie viel beſſer wäre es da, wenn Du ſie hinnehmen könnteſt mit der naiven Auffaſſung alter Zeiten, da dem Soldaten das Kriegsleben eitel Luſt und Wonne war. Und beſſer wäre es, ich könnte Dir ſchreiben, wie andere Frauen auch, Briefe von Segenswünſchen und zuverſichtlichen Siegesverheißungen und Mutanſpornungen … Die Mädchen werden ja gleichfalls zum Patriotismus erzogen, damit ſie zu rechter Stunde den Männern zurufen: „Gehet hin und ſterbet für euer Vaterland — das iſt der ſchönſte Tod.“ Oder: „Kehret ſiegend heim, dann wollen wir euch mit unſerer Liebe lohnen. Inzwiſchen werden wir für euch beten. Der Gott der Schlachten, der unſere Heere beſchützt, der wird unſere Gebete erhören. Tag und Nacht ſteigt unſer Flehen zum Himmel auf und — gewiß — wir erſtürmen uns ſeine Huld: Ihr kommt wieder — ruhmgekrönt! Wir zittern nicht einmal, denn wir ſind eurer Tapferkeit würdige Genoſſinnen … Nein, nein! — die Mütter eurer Söhne dürfen nicht feige ſein, wenn ſie ein neues Geſchlecht von Helden heranziehen wollen; und müſſen wir auch unſer Teuerſtes hingeben: für Fürſt und Vaterland iſt kein Opfer zu groß!“ Das wäre ſo der richtige Soldatenfrauen-Brief, nicht wahr? Aber nicht ein Brief, wie Du ihn von {Deiner} Frau zu leſen wünſchteſt — von der Genoſſin Deines Denkens, von derjenigen, die den Groll gegen alten, blinden Menſchenwahn mit Dir teilt … O, ein Groll, ſo bitter, ſo ſchmerzlich — ich kann Dir’s gar nicht ſagen! Wenn ich ſie mir vorſtelle, dieſe beiden Heere, — zuſammengeſetzt aus einzelnen vernünftigen und zumeiſt guten und ſanften Menſchen, — wie ſie auf einander losſtürmen, um ſich gegenſeitig zu vernichten, dabei das unglückliche Land verheerend, wo ſie als Spielkarten ihrer Mordpartie die „genommenen“ Dörfer hinſchleudern … wenn ich mir das vorſtelle, da wollte ich aufſchreien: So beſinnt euch doch! … ſo haltet doch ein!! Und von hunderttauſend würden auch neunzigtauſend Einzelne ſicher gerne einhalten; aber die Maſſe, die muß weiter wüten. Doch genug. Du wirſt es vorziehen, Nachrichten und Neuigkeiten von Hauſe zu hören. Nun denn — geſund ſind wir Alle. Der Vater iſt unausgeſetzt in höchſter Aufregung über die gegenwärtigen Ereigniſſe. Der Sieg von Cuſtozza erfüllt ihn mit ſtrahlendem Stolz. Es iſt, als ob er denſelben errungen hätte. Jedenfalls betrachtet er den Glanz dieſes Tages als ſo hell, daß der auf ihn — als Öſterreicher und als General — fallende Abglanz ihn ganz glücklich macht. Auch Lori, deren Mann, wie Du weißt, bei der Süd-Armee iſt, ſchrieb mir einen Triumphbrief über dasſelbe Cuſtozza. — Friedrich, erinnerſt Du Dich, wie eiferſüchtig ich während einer Viertelſtunde auf die gute Lori war? Und wie ich aus dieſem Anfall mit verſtärkter Liebe und verſtärktem Vertrauen hervorging? … O hätteſt Du mich nur damals betrogen — hätteſt Du mich doch mitunter ein wenig mißhandelt … da könnte ich Deine jetzige Abweſenheit wohl leichter ertragen — aber einen {ſolchen} Gatten im Kugelregen zu wiſſen! … Nun weiter mit den Nachrichten: Lori hat mir in Ausſicht geſtellt, daß ſie mit ihrer kleinen Beatrix den Reſt ihrer Strohwitwenſchaft in Grumitz zubringen werde. Ich konnte nicht nein ſagen — doch aufrichtig: mir iſt gegenwärtig jede Geſellſchaft läſtig. Allein, allein will ich ſein, mit meiner Sehnſucht nach Dir, deren Umfang ja doch Niemand Anderer ermeſſen kann … Nächſte Woche ſoll Otto ſeine Ferien antreten. Er jammert in jedem Briefe, daß der Krieg noch vor und nicht erſt nach ſeiner Offiziersernennung begonnen hat. Er hofft zu Gott, daß der Friede nicht noch vor ſeinem Austritt aus der Akademie — ausbreche. Das Wort „ausbrechen“ wird er vielleicht nicht gebraucht haben, aber jedenfalls entſpricht es ſeiner Auffaſſung, denn der Frieden erſcheint ihm jetzt als eine drohende Kalamität. Nun freilich: ſo werden ſie ja groß gezogen. So lange es Kriege gibt, muß man kriegliebende Soldaten heranziehen; und ſo lange es kriegliebende Soldaten gibt, muß es auch Kriege geben … Iſt das ein ewiger, ausgangsloſer Cirkel? Nein, Gott ſei Dank! Denn jene Liebe, trotz aller Schuldrillung, nimmt beſtändig ab. Wir haben in Henry Thomas Buckle den Nachweis dieſer Abnahme gefunden, erinnerſt Du Dich? Aber ich brauche keine gedruckten Nachweiſe — ein Blick in Dein Herz, Dein edelmenſchliches Herz, Friedrich, genügt mir zu dieſer Beweisführung … Weiter mit den Nachrichten: Von unſeren in Böhmen begüterten Verwandten und Bekannten erhalten wir allſeitig Jammerepiſteln. Der Durchmarſch der Truppen — auch wenn ſie zum Siege gehen — verwüſtet ſchon das Land und ſaugt es aus; wie wenn erſt noch der Feind vordringen ſollte, wenn ſich der Kampf in ihrer Gegend dort, wo ſie ihre Schlöſſer, ihre Felder beſitzen, abſpielen ſollte? Alles iſt fluchtbereit — die Habſeligkeiten gepackt, die Schätze vergraben. Adieu den fröhlichen Reiſen in die böhmiſchen Bäder; adieu dem friedlichen Aufenthalt auf den Landſitzen; adieu den glänzenden Herbſtjagden und jedenfalls adieu den gewohnten Einkünften von Pachtung und Induſtrien. Die Ernten werden zertreten, die Fabriken, wenn nicht in Brand geſchoſſen, ſo doch der Arbeiter beraubt. „Es iſt doch ein wahres Unglück,“ ſchreiben ſie, „daß wir juſt im Grenzland leben — und ein zweites Unglück, daß Benedek nicht ſchon früher und heftiger die Offenſive übernahm, um den Krieg in Preußen auszukämpfen.“ Vielleicht könnte man es auch ein Unglück nennen, daß die ganze politiſche Zänkerei nicht von einem Schiedsgericht geſchlichtet worden ſei, ſondern dem Mordgewühle auf böhmiſchem oder ſchleſiſchem Boden (in Schleſien ſoll es, glaubwürdigen Reiſeberichten zufolge, nämlich auch Menſchen und Felder und Fechſungen geben) anheimgeſtellt wird. Aber das fällt Niemandem ein! Mein kleiner Rudolf ſitzt zu meinen Füßen, während ich Dir ſchreibe. Er läßt Dich umarmen und unſern lieben Puxl grüßen. Das geht uns Beiden recht ſehr ab, das gute luſtige Pintſchel — aber andererſeits, es hätte ſeinen Herrn ſo ſchwer vermißt und Dir wird es eine Zerſtreuung, eine Geſellſchaft ſein. Grüße ihn von uns Beiden, den Puxel — ich ſchüttle ſeine ehrliche Pfote und Rudi küßt ſeine gute ſchwarze Schnauze. Und jetzt, für heute leb’ wohl, Du mein Alles!“ 49. Viertes Buch. 1866. // 4. Abſchnitt „Es iſt unerhört! … Niederlage auf Niederlage! Zuerſt das von Clam-Gallas verbarrikadierte Dorf Podol erſtürmt — bei Nacht, bei Mond- und Flammenſchein genommen — dann Gitſchin erobert … Das Zündnadelgewehr — das verdammte Zündnadelgewehr mähte die unſeren reihenweiſe nieder. Die beiden großen feindlichen Armeekorps — das vom Kronprinzen und das vom Prinzen Friedrich Karl befehligte — haben ſich vereinigt und dringen gegen Münchengrätz vor“ … So klangen die Schreckensnachrichten, welche mein Vater ebenſo heftig jammernd vortrug, wie er jubelnd die Siegesnachrichten von Cuſtozza berichtet hatte. Aber noch ſchwankte ſeine Zuverſicht nicht: „Sie ſollen nur kommen, Alle — Alle in unſer Böhmen und dort vernichtet werden, bis auf den letzten Mann … Einen Ausweg, einen Rückzug giebt es dann nicht mehr für ſie, wir ſchließen ſie ein, wir umzingeln ſie … Und das entrüſtete Landvolk ſelber wird ihnen den Garaus machen … Es iſt nicht gar ſo vorteilhaft, als man glauben mag, in Feindesland zu operieren, denn da hat man nicht nur das Heer, ſondern die ganze Bevölkerung gegen ſich … Aus den Häuſern von Trautenau goſſen die Leute aus den Fenſtern ſiedendes Waſſer und Öl auf die Menſchen —“ Ich ſtieß einen dumpfen Laut des Ekels aus. „Was willſt Du?“ ſagte mein Vater achſelzuckend, „es iſt freilich grauenhaft — aber das iſt der Krieg.“ „Dann behaupte wenigſtens nie, daß der Krieg die Menſchen veredle! — Geſtehe, daß er ſie entmenſcht, vertigert, verteufelt: … Siedendes Öl! … Ach! … „Gebotene Selbſtverteidigung und gerechte Rache, liebe Martha. Glaubſt Du etwa, ihre Zündnadelgeſchoſſe thun den unſeren wohl? … Wie das wehrloſe Schlachtvieh müſſen unſere Tapferen dieſer mörderiſchen Waffe unterliegen. Aber wir ſind zu zahlreich, zu diszipliniert, zu kampftüchtig, um nicht doch noch über die „Schneidergeſellen“ zu ſiegen. Zu Anfang ſind gleich ein paar Fehler begangen worden. Das gebe ich zu. Benedek hätte gleich die preußiſche Grenze überſchreiten ſollen … Es ſteigen mir Zweifel auf ob dieſe Feldherrnwahl eine ganz glückliche war … Hätte man lieber den Erzherzog Albrecht hinauf geſchickt und dem Benedek die Süd-Armee übergeben … Aber ich will nicht zu früh verzagen — bis jetzt haben ja eigentlich doch nur vorbereitende Gefechte ſtattgefunden, welche von den Preußen zu großen Siegen aufgebauſcht werden — die Entſcheidungsſchlachten kommen erſt. Jetzt konzentrieren wir uns bei Königgrätz; dort — über hunderttauſend Mann ſtark — erwarten wir den Feind … dort wird unſer nördliches Cuſtozza geſchlagen!“ Dort würde auch Friedrich mitkämpfen. Sein letztes, am ſelben Morgen angelangtes Briefchen trug die Nachricht: „Wir begeben uns nach Königgrätz.“ Ich hatte bisher regelmäßig Kunde erhalten. Obwohl er in ſeinem erſten Briefe mich darauf vorbereitet hatte, daß er nur wenig werde ſchreiben können, ſo hat Friedrich doch jede Gelegenheit benützt, ein paar Worte an mich zu richten. Mit Bleiſtift, zu Pferd, im Zelt — in flüchtiger, nur mir leſerlicher Schrift, ſo ſchrieb er die aus ſeinem Notizbüchelchen herausgeriſſenen, für mich beſtimmten Blätter voll. Manche hatte er Gelegenheit abzuſchicken, manche gelangten erſt ſpäter, erſt nach dem Feldzug in meine Hände. Bis zur Stunde habe ich dieſe Andenken aufbewahrt. Das ſind keine ſorgfältig ſtiliſierten Kriegsberichte, wie ſie Zeitungskorreſpondenten ihren Redaktionen, oder Kriegsſchriftſteller ihren Verlegern bieten, keine mit Aufwand ſtrategiſcher Fachkenntniſſe entworfene Gefechtsskizzen, und keine mit rhetoriſchem Schwung ausgeführte Schlachtgemälde, in welchen der Erzähler immer bedacht iſt, ſeine eigene Unerſchrockenheit, Heldenhaftigkeit und patriotiſche Begeiſterung durchleuchten zu laſſen. Alles dies ſind Friedrichs Aufzeichnungen nicht, das weiß ich; was ſie aber {ſind}, das vermag ich nicht zu beſtimmen. Hier folgen einige: * * * Im Bivouak. „Ohne Zelte … Es iſt ja eine ſo laue, herrliche Sommernacht — der Himmel, der große gleichgültige, voll flimmernder Sterne … Die Leute liegen auf dem Boden, erſchöpft von den langen, ermüdenden Märſchen. Nur für uns Stabsoffiziere wurden ein paar Zelte aufgeſchlagen. In dem meinen ſtehen drei Feldbetten. Die beiden Kameraden ſchlafen. Ich ſitze an dem Tiſch, worauf die geleerten Groggläſer und eine brennende Kerze ſtehen. Beim ſchwachen flackernden Schein der letzteren (es weht von dem offenen Eingang ein Luftzug herein) ſchreibe ich Dir, mein geliebtes Weib. Auf mein Lager habe ich den Puxl hingelegt … {war} der müd’, der arme Kerl! Ich bereue faſt, ihn mitgenommen zu haben; der iſt auch, was die unſeren immer von der preußiſchen Landwehr behaupten: „an die Strapazen und Entbehrungen eines Feldzugs nicht gewöhnt“. Jetzt ſchnauft er wohlig und ſüß — ich glaube er träumt, wahrſcheinlich von ſeinem Freund und Gönner Rudolf Grafen Dotzky. Und ich träum’ von Dir, Martha … Zwar bin ich wach; aber täuſchend, wie ein Traumbild, ſehe ich Deine liebe Geſtalt in jener halbdunklen Zeltecke, auf einem Feldſtuhl ſitzen … Welche Sehnſucht ergreift mich, dort hinzugehen und mein Haupt in Deinen Schooß zu legen. Ich thu’ es aber nicht, weil ich weiß, daß dann das Bild zerflattern würde … Ich trat einen Augenblick hinaus. Die Sterne flimmern gleichgültiger als je. Auf dem Boden huſchen verſchiedene Schatten: es ſind Nachzügler. Viele, Viele, blieben unterwegs zurück; jetzt haben ſie ſich, vom Wachtfeuer angezogen, hierher geſchleppt. Aber nicht Alle — Manche liegen noch in einem entfernten Graben oder Kornfeld. Das war aber auch eine Hitze, während dieſes forcierten Marſches! Die Sonne brannte, als wollte ſie uns das Hirn zum Sieden bringen; dazu der ſchwere Torniſter, das ſchwerere Gewehr auf den wundgewetzten Schultern … und doch, es hat Keiner gemurrt. Aber hingefallen ſind ein paar, und konnten nicht wieder aufſtehen. Zwei oder drei erlagen dem Sonnenſtich und blieben gleich tot. Ihre Leichen wurden auf einen Ambulanzkarren geladen. Die Juninacht, ſo mond- und ſterndurchleuchtet, ſo warm ſie auch iſt, iſt doch entzaubert. Man hört keine Nachtigallen und keine zirpenden Grillen; man atmet keine Roſen- und Jasmingerüche. Die ſüßen Laute werden durch die ſcharrenden und wiehernden Pferde, durch die Stimmen der Leute und das Geräuſch der Patrouillenſchritte unterdrückt; die ſüßen Gerüche durch Juchten-Sattelzeug- und ſonſtige Kaſernenausdünſtungen überduftet. Aber das iſt noch Alles nichts: noch hört man nicht feſtende Raben krächzen, noch riecht man nicht Pulver, Blut und Verweſung. Das Alles kommt erſt — [ad majorem patriae gloriam]. Merkwürdig, wie blind die Menſchen ſind! Anläßlich der einſt „zur größeren Ehre Gottes“ entflammten Scheiterhaufen brechen ſie in Verwünſchungen über blinden und grauſamen, ſinnloſen Fanatismus aus, und für die leichenbeſäeten Schlachtfelder der Gegenwart ſind ſie voll Bewunderung. Die Folterkammern des finſteren Mittelalters flößen ihnen Abſcheu ein — auf ihre Arſenale aber ſind ſie ſtolz … Das Licht brennt herab, die Geſtalt in jener Ecke hat ſich verflüchtigt — ich will mich auch zur Ruhe legen, neben unſeren guten Puxl.“ * * * Auf einem Hügel oben, in einer Gruppe von Generälen und hohen Offizieren, mit einem Feldſtecher am Auge: das iſt die an äſthetiſchen Eindrücken ergiebigſte Situation in einem Kriege. Das wiſſen auch die Herren Schlachtenmaler und Zeitungsilluſtratoren: bewaffneten Auges rundſchauende Feldherren auf einer Anhöhe werden immer wieder gezeichnet — ebenſo oft, wie die an der Spitze ihrer Truppen auf einem möglichſt weißen, hochtrabenden Pferde voranſtürmenden Führer, welche, den Arm nach einem rauchenden Punkt des Hintergrundes ausgeſtreckt, den Kopf zu den Nachſprengenden umgewendet, offenbar rufen: „Mir nach, Kinder!“ Von der Hügelſtation herab ſieht man wahrlich ein Stück Kriegspoeſie. Das Bild iſt großartig und genügend entfernt, um wie ein richtiges Gemälde zu wirken, ohne die Schrecken- und Ekelhaftigkeiten der Wirklichkeit: kein fließendes Blut, kein Sterberöcheln — nichts als erhaben prächtige Linien- und Farbeneffekte. Dieſe auf der langgeſtreckten Straße ſich fortſchlängelnde Heerſäule, dieſer unabſehbare Zug von Fußvolkregimentern, von Kavallerieabteilungen und Batterien; dann der Munitionstrain, requirierte Bauernwagen, Packpferde und hinterher noch der Troß. Noch gewaltiger geſtaltet ſich das Bild, wenn auf der unter dem Hügel ausgebreiteten Landſchaft nicht nur die Fortbewegung {eines}, ſondern der Zuſammenſtoß zweier Heere zu ſehen iſt. Wie da die blitzenden Klingen, die flatternden Fahnen, die Uniformen aller Art, die ſich bäumenden Roſſe gleich wildempörten Fluten durcheinander wogen; darüber Dampfwolken, die an manchen Stellen zu dichten, das Bild verhüllenden Schleiern ſich ballen, und wenn ſie reißen, kämpfende Gruppen enthüllen … Dazu als Begleitung der durch die Berge rollende Lärm der Geſchütze, von welchem jeder Schlag das Wort Tod — Tod — Tod — durch die Lüfte donnert … Ja, ſo etwas mag zu Kriegsliedern begeiſtern! Auch zu der Verfaſſung jener zeithiſtoriſchen Berichte, welche nach dem Feldzug veröffentlicht werden müſſen, bietet die Hügelpoſition günſtige Gelegenheit. Da läßt ſich allenfalls mit einiger Richtigkeit erzählen: die Diviſion X ſtößt bei N. auf den Feind; — drängt ihn zurück; — erreicht das Gros der Armee; — ſtarke feindliche Abteilungen zeigen ſich an der linken Flanke des Korps u._ſ._w. u._ſ._w. Aber wer nicht auf dem Hügel durch den Feldſtecher ſchaut, wer ſelber an der „Aktion“ teilnimmt, der kann nie — {nie} etwas Glaubwürdiges über den Fortgang einer Schlacht erzählen. Er ſieht, denkt und fühlt nur das Nächſte; was er nachher berichtet, iſt Konjektur zu deren Veranſchaulichung er ſich der alten Clichés bedient. „He, Tilling,“ ſagte mir heute einer der Generäle, neben denen ich auf dem Hügel ſtand — „Iſt das nicht impoſant? Ein Prachtheer, wie? Woran denken Sie eben?“ Woran ich dachte? Das konnte ich dem Vorgeſetzten nicht gut ſagen; ich antwortete alſo allergehorſamſt etwas Unwahres. Allergehorſamlichkeit und Wahrheit haben ohnedies nichts miteinander zu ſchaffen. Letztere iſt ein gar ſtolzes Weſen: von allem Knechtiſchen wendet ſie ſich verächtlich ab. * * * „Das Dorf iſt unſer — nein, es iſt des Feindes — und wieder unſer — und abermals des Feindes, aber ein Dorf iſt’s nicht mehr, ſondern ein rauchender Trümmerhaufen. Die Bewohner (war es nicht eigentlich {ihr} Dorf?) hatten es ſchon früher verlaſſen und waren geflohen. Zum Glück — denn der Kampf in einem bewohnten Orte iſt gar etwas Fürchterliches, denn da fallen die Kugeln von Feind und Freund mitten in die Stuben hinein und töten Weiber und Kinder. — Eine Familie war dennoch in dem Orte zurückgeblieben, den wir geſtern genommen, verloren, wieder genommen und wieder verloren haben, nämlich ein altes Ehepaar und deſſen Tochter — dieſe im Kindbett. Der Gatte dient in unſerem Regiment. Er ſagte mir’s, als wir uns dem Dorf näherten: „Dort, Herr Oberſtlieutenant in dem Hauſe mit dem roten Dach, lebt mein Weib mit ihren alten Eltern … Sie haben nicht fliehen können, die Armen … mein Weib muß jede Stunde niederkommen und die Alten ſind halb gelähmt — um Gotteswillen, Herr Oberſtlieutenant, kommandieren Sie mich dorthin.“ — Der arme Teufel! er kam gerade zurecht, um die Wöchnerin und das Kind ſterben zu ſehen; eine Bombe war neben dem Bette geplatzt … Was mit den Alten geſchehen — ich weiß es nicht. Vermutlich unter den Trümmern begraben; das Haus war eins der erſten, welches in Brand geſchoſſen wurde. Der Kampf auf offenem Felde iſt ſchaurig genug, aber der Kampf inzwiſchen menſchlicher Wohnſtätten iſt noch zehnmal grauſiger. Stürzendes Gebälk, aufſchlagende Flammen, erſtickender Rauch — vor Angſt tollgewordenes Vieh — jede Mauer Feſtung oder Barrikade, jedes Fenſter Schießſcharte … Eine Bruſtwehr habe ich da geſehen, die war aus Leichen gebildet. Da hatten die Verteidiger alle in der Nähe liegenden Gefallenen aufeinandergeſchichtet, um, ſo geſchützt, darüber auf den Angreifer hinwegzuſchießen. Dieſe Mauer vergeſſe ich wohl im Leben nicht: … Einer, der als Ziegel diente — zwiſchen den anderen Leichenziegeln eingepfercht — der lebte noch, bewegte die Arme. — — — „Lebte noch“: das iſt ein Zuſtand — im Krieg in tauſend Varianten vorkommend — der die maßloſeſten Leiden in ſich birgt. Gäb’ es irgend einen Engel der Barmherzigkeit, der über den Schlachtfeldern ſchwebte, er hätte vollauf zu thun, den armen Wichten — Menſch und Tier — die „noch lebten“, den Gnadenſtoß zu geben.“ * * * „Heute hatten wir ein kleines Kavalleriegefecht auf offenem Felde. Da kam ein preußiſches Dragonerregiment im Trab einher, deployierte in Linie und, die Pferde feſt im Zügel, den Säbel über dem Kopf, ritten ſie in kurzem Galopp gerade auf uns zu. Wir warteten den Angriff nicht ab, ſondern ſprengten dem Feind entgegen. Kein Schuß wurde gewechſelt. Wenige Schritte von einander brachen beide Reihen in ein donnerndes Hurra aus (Schreien berauſcht: das wiſſen die Indianer und Zulus noch beſſer als wir), und ſo ſtürzten wir aufeinander, Pferd an Pferd und Knie an Knie; die Säbel ſauſten in die Höhe und kamen auf die Köpfe nieder. Bald waren Alle zu dicht ineinander geraten, um die Waffen zu gebrauchen; da wurde Bruſt an Bruſt gerungen, wobei die ſcheu und wild gewordenen Pferde ſchnaufend ſtürzten, ſich bäumten und um ſich ſchlugen. Ich war auch einmal zu Boden und ſah — das iſt kein angenehmer Anblick — ſchlagende Pferdehufe eine Linie weit von meiner Schläfe entfernt.“ * * * „Wieder ein Marſchtag mit ein oder zwei Gefechten. Ich habe einen großen Kummer erlebt. Es verfolgt mich ein ſo trauriges Bild … Unter den vielen Trauerbildern, die mich rings umgeben, ſollte dies nicht auffallen, ſollte mir nicht ſo weh thun. Aber ich kann nichts dafür: es geht mir nahe und ich kann es nicht loswerden … Puxl — unſer armes, lebensfrohes, gutes Pintſchel — ach, hätte ich ihn doch zu Hauſe gelaſſen, bei ſeinem kleinen Herrn, Rudolf: Er lief uns nach, wie gewöhnlich. Plötzlich ſtößt er ein jammervolles Geſchrei aus … ein Granatſplitter hat ihm die Vorderbeinchen abgeriſſen … Er kann nicht nach — verlaſſen bleibt er zurück und „lebt noch“; vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden vergehen und er lebt noch. — Mein Herrl — mein gutes Herrl, ruft er mir klagend nach, laß den armen Puxl nicht da! und ſein kleines Herz bricht … Was beſonders an mir nagt, iſt der Gedanke, daß das ſterbende treue Geſchöpf mich verkennen muß. Er hat es geſehen, daß ich mich umgewendet — daß ich ſeinen Hilferuf vernommen haben mußte, und doch ſo kalt und hart ihn liegen ließ. Er weiß es ja nicht, der arme Puxl, daß einem zur Attacke vorſtürmenden Regiment, aus deſſen Reihen die Kameraden fallen und am Wege bleiben, nicht eines gefallenen Hündchens wegen „Halt“ kommandiert werden kann. Von einer höheren Pflicht, der ich gehorchte, hat er keinen Begriff, und das arme, ſo treue Hundeherz klagt mich der Unbarmherzigkeit an … Daß man inmitten der „großen Ereigniſſe“ und der Rieſenunglücksfälle, welche die Gegenwart erfüllen, über ſolche Kleinigkeiten ſich betrüben kann! würden Viele — nicht Du, Martha — achſelzuckend ſagen. Nicht Du — ich weiß, Dir tritt jetzt auch eine Thräne ins Auge um unſeren armen Puxl.“ * * * „Was geſchieht da? Das Exekutions-Peloton wird aufgeſtellt. Ward ein Spion gefangen? Einer? … Diesmal ſiebzehn. Dort kommen ſie ſchon. In vier Reihen, je zu vier Mann, von einem Carré Soldaten umgeben, ſchreiten die Verurteilten, geſenkten Kopfes, daher. Dahinter einen Wagen, worin eine Leiche liegt und darauf ſitzend, an die Leiche gebunden, der Sohn des Toten, ein zwölfjähriger Knabe — auch verurteilt … Ich mag die Hinrichtung nicht ſehen und entferne mich. Aber die Schüſſe habe ich vernommen … Hinter der Mauer ſteigt eine Rauchwolke auf — alle hin, auch der Knabe.“ — — — * * * „Endlich ein bequemes Nachtquartier in einem kleinen Städtchen! Das arme Neſt! … Vorräte, die den Leuten auf Monate hinaus genügen würden, haben wir ihnen durch eine Requiſition fortgenommen. „Requiſition“ … es iſt nur gut, wenn man für ein Ding einen hübſchen, ſanktionierten Namen hat. Ich war aber doch froh, das gute Nachtlager und das gute Nachteſſen gefunden zu haben. Und — laß Dir erzählen: Schon wollte ich mich zu Bett legen, als mir meine Ordonnanz meldet: ein Mann von unſerem Regiment ſei da und verlange dringend, eingelaſſen zu werden, er bringe mir etwas. „So ſoll er kommen.“ Der Mann trat ein. — Und als er wieder ging, da hatte ich ihn reich beſchenkt und ihm beide Hände geſchüttelt und ihm verſprochen, für ſein Weib und Kind zu ſorgen, falls ihm etwas geſchähe. Denn was er mir gebracht hat, der Brave — das hat mir eine große Freude gemacht und mich von einer Pein befreit, unter der ich ſeit ſechsunddreißig Stunden litt — was er mir gebracht hat: das war mein Puxl. Verwundet zwar — ehrenvoll bleſſiert — aber noch lebend und ſo {ſelig}, wieder bei ſeinem Herrn zu ſein, an deſſen Benehmen er wohl erkannt haben mußte, daß er ihm mit dem Vorwurf der Liebloſigkeit unrecht gethan … Ja, war das eine Wiederſehensſcene! Vor allem ein Trunk Waſſer. Wie das ſchmeckte … das heißt, zehnmal unterbrach er das gierige Trinken, um mir ſeine Freude vorzubellen. Hierauf habe ich ihm ſeine Beinſtummel verbunden, ihm ein ſchmackhaftes Souper von Fleiſch und Käſe vorgeſetzt und ihn auf mein Lager gebettet. Wir haben Beide gut geſchlafen. Des Morgens, als ich erwachte, leckte er mir nochmals dankend die Hand — dann ſtreckte er ſeine Gliederchen, ſchnaufte tief auf und — hatte aufgehört zu ſein. Armer Puxl — es iſt beſſer ſo!“ * * * „Was habe ich heute Alles geſehen? Wenn ich die Augen ſchließe, tritt mir das Geſchaute mit furchtbarer Klarheit vor das Gedächtnis. „Nichts als Schmerz und Schreckbilder!“ wirſt Du ſagen. Warum bringen denn Andere vom Kriege ſo friſche, fröhliche Eindrücke mit. Je nun, dieſe Anderen verſchließen ſich gegen den Schmerz und den Schreck — {verſchweigen} ſie. Wenn ſie ſchreiben, wenn ſie erzählen, ſo geben ſie ſich überhaupt keine Mühe, die Erlebniſſe nach der Natur zu ſchildern, ſondern ſie befleißigen ſich, einſt geleſene Schilderungen ſchablonenhaft nachzubilden und diejenigen Empfindungen hervorzukehren, welche als heldenhaft gelten. Wenn ſie mitunter auch von Vernichtungsſcenen berichten, welche den ärgſten Schmerz und den ärgſten Schreck in ſich bergen in ihrem Tone darf von Beiden nichts enthalten ſein. Im Gegenteil: je ſchauerlicher, deſto gleichgültiger — je abſcheulicher, deſto unbefangener. Mißbilligung, Entrüſtung, Empörung? Davon ſchon gar nichts — da noch eher ein leiſer Anhauch ſentimentalen Mitleids, ein paar gerührte Seufzer. — Aber ſchnell wieder den Kopf in die Höhe, „das Herz zu Gott und die Fauſt auf den Feind“. Hurrah und Trara! „Da ſiehſt Du nun zwei Bilder, die ſich mir eingeprägt: Steile, felſige Anhöhen — katzenbehend hinaufkletternde Jäger; es gilt, die Anhöhe zu „nehmen“; — von oben ſchießt der Feind herab. Was ich ſehe, ſind die Geſtalten der emporſtrebenden Angreifer und Einige darunter, die, von feindlichen Geſchoſſen getroffen, plötzlich beide Arme ausſtrecken, das Gewehr fallen laſſen und, mit dem Kopf nach rückwärts ſich überſchlagend, die Anhöhe hinabſtürzen — ſtufenweiſe — von Felsvorſprung zu Felsvorſprung — ſich die Glieder zerſchmetternd. — — — Ich ſehe einen Reiter in einiger Entfernung ſchief hinter mir, neben welchem eine Granate platzt. Sein Pferd wirft ſich zur Seite und drängt ſich an das Hinterteil des meinen — dann ſchießt es an mir vorbei. Der Mann ſitzt noch im Sattel, aber ein Granatſplitter hat ihm den Unterleib auf- und alle Eingeweide herausgeriſſen. Sein Oberkörper hält mit dem Unterkörper nur noch durch das Rückgrat zuſammen — von den Rippen zu den Schenkeln ein einziges großes, blutiges Loch … Eine kleine Strecke weiter fällt er herab, bleibt mit dem Fuß im Bügel hängen und das fortraſende Pferd ſchleift ihn auf dem ſteinigen Boden nach.“ — — — * * * „Auf einem regendurchſchwemmten und ſteilen Stück Weg ſtaut ſich eine Abteilung Artillerie. Bis über die Räder verſinken die Geſchütze in den Schlamm. Nur mit äußerſter Anſtrengung, ſchweißtriefend und von den erbarmungsloſeſten Schlägen angefeuert, kommen die Pferde von der Stelle. Aber eins, ſchon todmüde, kann nicht mehr. Das Hauen hilft nichts: es wollte ja — es kann nicht, es {kann} nicht. Sieht denn das der Mann nicht ein, deſſen Hiebe auf den Kopf des armen Tieres hageln? Wäre der rohe Wicht der Fuhrmann eines zu irgendwelchem Bau dienenden Steinwagens geweſen, jeder Poliziſt — ich ſelber — hätte ihn arretiert. Dieſer Kanonier jedoch, der das todbeladene Fuhrwerk vorwärts bringen ſollte, der waltete nur ſeines Amtes. Das konnte aber das Pferd nicht wiſſen; das geplagte, gutmütige, edle Geſchöpf, das ſich bis zu ſeiner äußerſten Lebenskraft angeſtrengt — wie mußte das über ſolche Härte und über ſolchen Unverſtand in ſeinem Inneren denken? Denken, ſo wie Tiere denken, nämlich nicht mit Worten und Begriffen, ſondern mit Empfindungen, deſto heftigere Empfindungen, als ſie äußerungsunfähig ſind. Nur {eine} Äußerung gibt es dafür: den Schmerzensſchrei. Und es hat geſchrien, jenes arme Roß, als es endlich zuſammenſank — einen Schrei, ſo langgedehnt und klagend, daß er mir noch im Ohre gellt — daß er mich die folgende Nacht im Traume verfolgt hat. Ein abſcheulicher Traum übrigens … Mir war, als ſei ich — — wie ſoll ich das nur erzählen? — Träume ſind ſo ſinnlos, daß die dem Sinn angepaßte Sprache ſich ſchwer zu ihrer Wiedergabe eignet — als ſei ich das Kummerbewußtſein eines ſolchen Artilleriepferdes — nein! nicht eines, ſondern von 100000 — denn raſch hatte ich im Traum die Summe der in einem Feldzug zu grunde gehenden Pferde berechnet — und da ſteigerte ſich dieſer Kummer ſofort ins hunderttauſendfache … Die Menſchen, die {wiſſen} doch, warum ihr Leben der Gefahr ausgeſetzt iſt, ſie kennen das Wohin? das Wozu? — und wir Unglücklichen wiſſen nichts, um uns iſt alles Nacht und Grauen. Die Menſchen gehen doch {mit} Freunden gegen einen Feind, wir aber ſind rings von Feinden umgeben … unſere eigenen Herren, die wir ſo treu lieben wollten, denen zu dienen wir unſere letzte Kraft aufbieten, die hauen auf uns nieder — die laſſen uns hilflos liegen … Und was wir nebſtbei leiden müſſen: Furcht, daß uns der Angſtſchweiß vom ganzen Körper rinnt; — Durſt — denn auch wir haben Fieber — o dieſer Durſt, dieſer Durſt von uns armen, blutenden, mißhandelten hunderttauſend Pferden! … Hier erwachte ich und griff nach der Waſſerflaſche: — ich hatte ſelber brennenden Fieberdurſt.“ * * * „Wieder einen Straßenkampf — in dem Städtchen Saar. Zu dem Lärm des Kampfgeſchreies und der Geſchütze geſellt ſich das Krachen der Balken, das Stürzen der Mauern. Es ſchlägt eine Granate in ein Haus und der durch das Platzen derſelben verurſachte Luftdruck iſt ſo gewaltig, daß mehrere Soldaten von den in die Luft geſchleuderten Trümmern des Hauſes verwundet werden. Über meinen Kopf weg fliegt ein Fenſter — noch mit dem Fenſterflügel dran. Die Schornſteine ſtürzen herunter. Gypsbewurf löſt ſich in Staub und füllt die Luft mit einer erſtickenden, augenätzenden Wolke. Aus einer Gaſſe in die andere (wie die Hufe auf dem ſpitzen Pflaſter klappern!) wälzt ſich der Kampf und langt auf dem Marktplatz an. In der Mitte des Platzes ſteht eine hohe, ſteinerne Marienſäule. Die Mutter Gottes hält ihr Kind in einem Arm, den anderen ſtreckt ſie ſegnend aus. Hier wird weiter gerungen. Mann an Mann. Sie hauen auf mich drein — ich haue um mich herum … Ob ich Einen oder Mehrere getroffen, ich weiß es nicht: in ſolchen Augenblicken bleibt einem nicht viel Beſinnung. Dennoch haben ſich mir wieder zwei Fälle in die Seele photographiert, und ich fürchte, der Marktplatz von Saar wird mir ewig unvergeßlich bleiben: Ein preußiſcher Dragoner, ſtark wie Goliath, reißt einen unſerer Offiziere (einen ſchmucken, ſchmächtigen Lieutenant — wie viel Mädchen ſchwärmten wohl für ihn?) aus dem Sattel und zerſchmettert ihm den Schädel am Fuß der Madonnenſäule. Die milde Heilige ſchaut unbeweglich zu. Ein Anderer von den feindlichen Dragonern, ebenſo goliathſtark, knapp vor mir, faßt meinen Nebenmann an und biegt ihn ſo kräftig im Sattel nach rückwärts, daß ihm — ich habe es krachen gehört — das Rückgrat bricht … Auch dazu gab die Madonna ihren ſteinernen Segen.“ 50. Viertes Buch. 1866. // 5. Abſchnitt „Von einer Anhöhe aus bot ſich den bewaffneten Augen der Stabsoffiziere heute wieder manch abwechſelungsreiches Schauſpiel. Da war zum Beiſpiel der Einſturz einer Brücke, während über dieſelbe ein Train von Wagen ſich bewegte. Waren in den letzteren Verwundete? — ich weiß es nicht — das konnte ich nicht erkennen. — Ich ſah nur, daß Alles — Wagen, Pferde und Menſchen — in die an jener Stelle tiefen und reißenden Fluten ſank und dort verſchwand. Das Ereignis war ein {günſtiges} — ſintemalen der Wagentrain den „Schwarzen“ gehörte. Ich denke mir nämlich in der eben geſpielten Partie „uns“ als die weißen Figuren. Die Brücke war nicht zufällig eingeſtürzt; die Weißen hatten, wiſſend, daß der Gegner darüber kommen ſollte, die Pfeiler abgeſägt — ein feiner Zug alſo. Ein zweiter Anblick hingegen, den man von derſelben Anhöhe aus beobachten konnte, bedeutete einen Schnitzer der Weißen: Unſer Regiment Khevenhüller wird in einen Sumpf dirigiert, wo es nicht herauskann und bis auf Wenige niedergeſchoſſen wird. Die Getroffenen fallen hin in den Sumpf … Hier verſinken, erſticken müſſen — in Mund und Naſe und Augen Schlamm — nicht einmal ſchreien können! … Nun ja, zugeſtanden: es war ein Fehler desjenigen, der die Leute dorthin kommandiert hatte; aber — „irren iſt menſchlich“ und der Verluſt iſt kein großer — ſtellt ungefähr einen geſchlagenen Bauer vor; ein nächſter genialer Zug mit Turm oder Königin, und Alles iſt wieder gut gemacht. Der Schlamm bleibt zwar in Mund und Augen der Gefallenen, aber das iſt ja nebenſächlich — das Tadelnswerte dabei iſt der taktiſche Fehler; der muß durch eine ſpätere glückliche Kombination ausgemerzt werden, und dem betreffenden Führer können dann immerhin noch ſchöne Orden und Beförderungen blühen. Daß neulich unſer 18. Jägerbataillon während eines Nachtkampfes durch mehrere Stunden auf unſer Regiment König von Preußen ſchoß, und man erſt bei Tagesanbruch den Irrtum bemerkte; daß ein Teil des Regiments Gyulai in einen Teich geführt wurde: das ſind auch ſo kleine Verſehen, wie ſie eben in der Hitze der Partei auch dem beſten Spieler paſſieren können.“ * * * „Es iſt beſchloſſen; wenn ich aus dieſem Feldzug zurückkehre, ſo verlaſſe ich den Dienſt. Alles Andere hintangeſetzt — wenn man einmal eine Sache mit einem ſolchen Abſcheu zu erfaſſen gelernt hat, wie der Krieg mir nunmehr einflößt, ſo wäre es unausgeſetzte Lüge, im Dienſt dieſer Sache zu verharren. Ehedem bin ich, wie Du weißt, auch ſchon mit Widerwillen und mit verdammendem Urteil in die Schlacht gezogen, aber erſt jetzt hat ſich dieſer Widerwille ſo geſteigert, dieſe Verurteilung ſo verſchärft, daß alle Gründe, welche mich früher beſtimmten bei meinem Berufe auszuharren, aufgehört haben, zu wirken. Die Geſinnungen, welche aus dem Jugendunterricht, vielleicht auch teilweiſe angeerbt — in meinem Innern noch zu Gunſten des Soldatentums ſprachen, ſind mir jetzt, während der zuletzt erlebten Greuel ganz verloren gegangen. Ich weiß nicht, ſind es die mit Dir gemeinſchaftlich gemachten Lektüren, aus welchen hervorging, daß meine Kriegsverachtung nicht vereinzelt iſt, ſondern von den beſten Geiſtern der Zeit geteilt wird; ſind es die mit Dir geführten Geſpräche, in welchen ich mich durch Ausſprache meiner Anſichten und durch Deine Zuſtimmung in denſelben geſtärkt habe; — kurz, mein früheres dumpfes, halbunterdrücktes Gefühl hat ſich in eine klare Überzeugung verwandelt — eine Überzeugung, die es mir fortan {unmöglich} macht, dem Kriegsgott zu fröhnen. Das iſt ſo eine Wandlung, wie ſie bei vielen Leuten in Glaubenſachen eintritt. Zuerſt ſind ſie etwas zweifleriſch und gleichgültig, ſie können aber noch mit einer gewiſſen Ehrfurcht den Tempelhandlungen beiwohnen. Wenn aber einmal aller Myſtizismus abgeſtreift iſt, wenn ſie zu der Einſicht gelangen, daß die Ceremonie, der ſie da beiwohnen, auf Thorheit — auch mitunter grauſame Thorheit, wie bei den religiöſen Opferſchlachtungen — beruht, dann wollen ſie nicht mehr neben den anderen Bethörten knieen, nicht mehr ſich und die Welt betrügen, indem ſie den nunmehr entgötterten Tempel betreten. So iſt es mir mit dem grauſamen Marsdienſt ergangen. Das geheimnisvolle, überirdiſche, Andachtsſchauer-erweckende, welches das Erſcheinen dieſer Gottheit auf die Menſchen hervorzubringen pflegt, welches auch in früherer Zeit noch meinen Sinn umdunkelte, das iſt mir jetzt vollſtändig abhanden gekommen. Die Armeebefehl-Liturgie und die rituellen Heldenphraſen erſcheinen mir nicht mehr als inſpirierter Urtext; der gewaltige Orgelton der Kanonen, der Weihrauchdampf des Pulvers vermag nicht mehr mich zu verzücken: ganz glaubens- und ehrfurchtslos wohne ich der fürchterlichen Kultushandlung bei und kann dabei nichts Anderes mehr ſehen, als die Qualen des Opfers, nichts hören, als deſſen jammervollen Todesſchrei. Und daher kommt es, daß dieſe Blätter, die ich mit meinen Kriegseindrücken fülle, nichts Anderes enthalten, als ſchmerzlich geſchauten Schmerz.“ 51. Viertes Buch. 1866. // 6. Abſchnitt Die Schlacht von Königgrätz war geſchlagen. Wieder eine Niederlage! Diesmal, wie es ſcheint, eine entſcheidende … Mein Vater berichtete uns dieſe Nachricht in einem Tone, als hätte er den Weltuntergang verkündet. Und kein Brief, keine Depeſche von Friedrich! War er verwundet — tot? — Konrad gab ſeiner Braut Nachricht: er war unverſehrt. Die Verluſtliſten waren noch nicht angekommen; es hieß nur, bei Königgrätz gab es vierzigtauſend Tote und Verwundete. Und die letzte Nachricht, die ich erhalten hatte, lautete: „Wir begeben uns heute nach Königgrätz.“ Am dritten Tage noch immer kein Zeichen. Ich weine und weine ſtundenlang. Eben weil mein Kummer noch nicht ganz hoffnungslos iſt, {kann} ich weinen; wenn ich wüßte, daß Alles vorbei iſt, ſo gäbe es für die Wucht meines Schmerzes keine Thränen mehr. Auch mein Vater iſt tiefgedrückt. Und Otto, mein Bruder, tobt vor Rachſucht. Es heißt, daß jetzt in Wien Freiwilligen-Korps errichtet werden — dieſen will er ſich anſchließen. Ferner heißt es, Benedek ſolle ſeiner Stelle entſetzt und ſtatt ſeiner der ſiegreiche Erzherzog Albrecht nach dem Norden berufen werden, dann gäbe es vielleicht doch noch ein Aufraffen, ein Zurückſchlagen des übermütigen Feindes, der jetzt uns ganz vernichten wolle, der im Vormarſch auf Wien begriffen ſei … Angſt, Wut, Schmerz erfüllt alle Gemüter; der Name „die Preußen“ drückt Alles aus, was es Haſſenswertes gibt. {Mein} einziger Gedanke iſt Friedrich — und keine, keine Nachricht! Nach einigen Tagen langte ein Brief Doktor Breſſers an. Er war in der Umgebung des Schlachtfeldes thätig, um zu helfen, was er helfen konnte. Die Not ſei grenzenlos, ſchrieb er, jeder Einbildungskraft ſpottend. Er hatte ſich einem ſächſiſchen Arzte, Doktor Brauer, angeſchloſſen, der von ſeiner Regierung ausgeſandt worden war, um nach dem Augenſchein über die Lage zu berichten. In zwei Tagen ſollte auch eine ſächſiſche Dame ankommen — Frau Simon, eine neue Miß Nightingale — welche ſeit Ausbruch des Krieges in Dresdener Hoſpitälern thätig geweſen, und welche ſich erboten hatte, die Reiſe nach den böhmiſchen Schlachtfeldern anzutreten, um in den umliegenden Hoſpitälern ihre Hilfe zu leiſten. Doktor Brauer und mit ihm Doktor Breſſer wollten ſich an dem beſtimmten Datum, ſieben Uhr abends, nach Königinhof, der letzten Station vor Königgrätz, bis wohin die Eiſenbahn noch verkehrte, begeben und die mutige Frau daſelbſt erwarten. Breſſer bat uns, womöglich eine Sendung von Verbandzeug und dergleichen nach jener Station zu ſchicken, damit er ſie dort in Empfang nehmen könne. Kaum hatte ich dieſen Brief geleſen, war mein Entſchluß gefaßt: — die Kiſte mit Verbandzeug würde ich ſelber bringen. In einem jener Spitäler, welche Frau Simon beſuchen wollte, lag möglicherweiſe Friedrich … Ich würde mich ihr anſchließen und den teuren Kranken finden, pflegen, retten … Die Idee erfaßte mich mit zwingender Gewalt, ſo zwingend, daß ich ſie für eine magnetiſche Fernwirkung des ſehnenden Wunſches auffaßte, mit dem der Geliebte nach mir rief. Ohne Jemandem aus meiner Familie meinen Vorſatz mitzuteilen — denn ich wäre nur auf allſeitigen Widerſpruch geſtoßen — machte ich mich ein paar Stunden nach Erhalt des Breſſerſchen Briefes auf den Weg. Ich hatte vorgegeben, daß ich die von dem Doktor verlangten Dinge in Wien ſelber beſorgen und expedieren wolle, und ſo konnte ich ohne Schwierigkeit von Grumitz fortkommen. Von Wien aus würde ich dann meinem Vater ſchreiben: „Bin nach dem Kriegsſchauplatze abgereiſt.“ Wohl ſtiegen mir Zweifel auf meine Unfähigkeit und Unerfahrenheit, mein Abſcheu vor Wunden, Blut und Tod; aber dieſe Zweifel verjagte ich: was ich that, ich {mußte} es thun. Des Gatten Blick, flehend und gebietend, war auf mich gerichtet, von ſeinem Schmerzenslager ſtreckte er die Arme nach mir aus und: „Ich komme, ich komme.“ war das Einzige, was ich zu denken vermochte. Ich fand die Stadt Wien in unſäglicher Aufregung und Beſtürzung. Verſtörte Geſichter ringsumher. Mein Wagen kreuzte ſich mit mehreren Wagen, welche mit Verwundeten gefüllt waren. Immer ſpähete ich, ob nicht etwa Friedrich darunter ſei … Aber nein: ſein Sehnſuchtsruf, der an meinen Fibern zerrte, drang von weiter her — von Böhmen. Hätte man ihn zurücktransportiert, ſo wäre die Nachricht davon gleichzeitig zu uns gelangt. Ich ließ mich in einen Gaſthof führen. Von dort aus beſorgte ich meine Einkäufe, expedierte den für Grumitz beſtimmten Brief, warf mich in einen möglichſt einfachen, ſtrapazenfähigen Reiſeanzug und fuhr nach dem Nordbahnhof. Ich wollte den nächſtabgehenden Zug benutzen, um rechtzeitig an meine Beſtimmung zu gelangen. Es war wie eine fixe Idee, unter deren Herrſchaft ich meine Handlungen ausführte. Auf dem Bahnhof herrſchte reges — Leben — oder ſoll ich „reges Sterben“ ſagen? Die Halle, die Säle, der Perron; Alles voll Verwundeter, Viele davon in den letzten Zügen. Und ein maſſenhaftes Menſchengewirre: Krankenpfleger, Sanitätsſoldaten, barmherzige Schweſtern, Ärzte; Männer und Frauen aus allen Geſellſchaftsklaſſen, die da kamen, um nachzuſehen, ob der letzte Transport nicht einen von den Ihren gebracht; oder auch, um unter die Verwundeten Geſchenke, Wein, Cigarren u._ſ._w. zu verteilen. Das Beamten- und das Dienſtperſonal überall bemüht, das vordringende Publikum zurückzudrängen. Auch mich wollte man wieder fortſchicken: „Was wollen Sie? … Platz da! … Das Überreichen von Eß- und Trinkwaren iſt verboten … wenden Sie ſich an das Komitee … dort werden die Geſchenke in Empfang genommen“ … „Nein, nein“, ſagte ich, „ich will abreiſen. Wann fährt der nächſte Zug?“ Auf dieſe Frage konnte ich lange keine Auskunft erhalten. Die meiſten Abfahrtszüge ſeien eingeſtellt, erfuhr ich endlich, da die Linie für ankommende Züge, die eine Ladung Verwundeter nach der anderen brachte, offen bleiben mußte. Paſſagierzüge gingen heute überhaupt keine mehr ab. Nur einer mit nachgeſchickten Reſervetruppen, und ein anderer zur ausſchließlichen Benutzung des patriotiſchen Hilfsvereins, der mehrere Ärzte und barmherzige Schweſtern und eine Ladung nötigen Materials nach der Umgebung von Königgrätz abführen ſollte. „Und da könnte ich nicht mitfahren?“ „Unmöglich!“ Immer deutlicher und flehender vernahm ich Friedrichs Hilferuf — und nicht kommen können: es war zum verzweifeln! Da erblickte ich am Eingang der Halle Baron S., den Vize-Vorſteher des patriotiſchen Hilfsvereins, denſelben, den ich ſchon vom Kriegsjahre 59 her kannte. Ich eilte auf ihn zu: „Um Gotteswillen, Baron S., helfen Sie mir! Sie erkennen mich doch?“ „Baronin Tilling, Tochter des General Grafen Althaus — gewiß habe ich die Ehre … Womit kann ich Ihnen dienen?“ „Sie expedieren einen Zug nach Böhmen … laſſen Sie mich mitfahren! Mein ſterbender Mann verlangt nach mir … Wenn Sie ein Herz haben — und Sie beweiſen ja durch Ihre Thätigkeit, wie ſchön und edel Ihr Herz iſt — ſo ſchlagen Sie mir meine Bitte nicht ab!“ Es gab noch allerlei Zweifel und Bedenken, aber ſchließlich wurde meinem Wunſche willfahrt. Baron S. rief einen der vom Hilfsverein entſendeten Ärzte herbei und empfahl mich, als Mitreiſende, ſeinem Schutz. Bis zur Abfahrt war noch eine Stunde. Ich wollte den Warteſaal aufſuchen, aber jeder verfügbare Raum war in ein Hoſpital verwandelt. Wo man hinblickte, überall kauernde, liegende, verbundene, bleiche Geſtalten. Ich mochte nicht hinſchauen. Das bischen Energie, das ich beſaß, das mußte ich mir auf meine Fahrt, und auf deren Ziel aufſparen. Von aller Kraft, allem Mitgefühl, aller Hilfsleiſtungsfähigkeit, die mir zu Gebote ſtand, durfte ich hier nichts ausgeben; das gehörte nur ihm — ihm, der mich rief. Es war indes kein Winkel zu finden, wo mir der Jammeranblick erſpart geblieben wäre. Ich hatte mich auf den Perron geflüchtet und dort mußte ich gerade das Ärgſte mit anſehen: die Ankunft eines langen Zuges, deſſen ſämtliche Waggons mit Verwundeten gefüllt waren, und die Abladung der Letzteren. Die leichter Bleſſierten ſtiegen ſelber aus und ſchleppten ſich vorwärts, die Meiſten mußten aber unterſtützt, oder gar getragen werden. Die verfügbaren Tragbahren waren gleich beſetzt und die überzähligen Patienten mußten bis zur Rückkunft der Träger einſtweilen auf den Boden gelagert werden. Vor meine Füße, auf dem Platze, wo ich auf einer Kiſte ſaß, legten ſie Einen hin, der unausgeſetzt ein gurgelndes Röcheln ausſtieß. Ich beugte mich herab, um ihm ein teilnehmendes Wort zu ſagen, aber entſetzt fuhr ich wieder zurück und verbarg mein Geſicht in beide Hände — der Eindruck war zu fürchterlich geweſen. Das war kein menſchliches Angeſicht mehr — der Unterkiefer weggeſchoſſen, ein Auge herausquellend … dazu ein erſtickender Qualm von Blut- und Unratgeruch … Ich hätte aufſpringen und fliehen mögen, doch ward mir totenübel und mein Kopf fiel an die hinter mir liegende Mauer zurück. „O ich feiges, kraftloſes Geſchöpf!“ — ſchalt ich mich — „was ſuche ich hier in dieſen Jammerſtätten, wo ich nichts — nichts helfen kann … wo ich ſolchem Ekel unterliege“ … Nur der Gedanke an Friedrich raffte mich wieder empor. Ja, für ihn, auch wenn er in ſolchem Zuſtande wäre, wie der Elende zu meinen Füßen, könnte ich Alles ertragen — ich würde ihn noch umfangen und küſſen, und aller Ekel, alles Grauen verſänke in das eine allbeſiegende Gefühl — in {Liebe} — „Friedrich — mein Friedrich, ich komme!“ wiederholte ich halblaut dieſen einen fixen Gedanken, der mich ſeit der Ankunft des Breſſerſchen Briefes erfaßt und nicht mehr losgelaſſen hatte. Eine furchtbare Idee durchflog mein Hirn: Wie wenn dieſer — Friedrich wäre? Ich ſammelte meine Kräfte und blickte noch einmal hin: Nein, er war es nicht. 52. Viertes Buch. 1866. // 7. Abſchnitt Die bange Warteſtunde war doch auch vorübergegangen. Den Röchelnden hatten ſie fortgetragen. „Legt ihn dort auf die Bank,“ hörte ich den Regimentsarzt befehlen, „den da kann man nicht mehr ins Spital bringen — er iſt ſchon dreiviertel tot.“ Und doch — dieſe Worte mußte er noch verſtanden haben, der Dreiviertel-Tote, denn mit einer verzweiflungsvollen Gebärde hob er beide Arme zum Himmel. Jetzt ſaß ich im Waggon mit den beiden Ärzten und vier barmherzigen Schweſtern. Es war erſtickend heiß und der Raum war mit einem Duft von Hoſpital und Sakriſtei — Karbol und Weihrauch — erfüllt. Mir war unſäglich übel. Ich lehnte mich in meine Ecke zurück und ſchloß die Augen. Der Zug ſetzte ſich in Bewegung. Das iſt ſo der Augenblick, wo jeder Reiſende ſich das Ziel vergegenwärtigt, dem er entgegengetragen wird. Öfters ſchon war ich auf dieſer Strecke gefahren und da winkte mir die Ankunft in einem gäſtegefüllten Schloſſe, in einem fröhlichen Badeorte — auch meine Hochzeitsreiſe — ſeliges Andenken — hatte ich auf dieſem Weg gemacht, einem glänzenden und liebevollen Empfang in der Hauptſtadt „Preußens“ (wie hatte letzteres Wort doch ſeither einen anderen Klang bekommen!) entgegen. — — Und heute? Was war heute unſer Ziel? Ein Schlachtfeld und umliegende Lazarethe — die Stätten des Todes und der Leiden. Mir ſchauderte. „Gnädige Frau“, ſagte einer der Ärzte — „ich glaube, Sie ſind ſelber krank … Sie ſehen ſo bleich und leidend aus.“ Ich blickte auf. Der Sprecher war eine ſympathiſche, jugendliche Erſcheinung. Vermutlich war dies die erſte praktiſche Thätigkeit des kaum promovierten Mediziners. Schön von ihm, daß er ſeine erſten Dienſte dieſem gefahr- und beſchwerdevollen Amte widmete! Ich fühlte mich dieſen Menſchen, die da neben mir im Waggon ſaßen, dankbar für die Linderung, welche ſie den Leidenden zu bringen im Begriffe ſtanden. Auch den opfermutigen, wirklich „barmherzigen“ Schweſtern zollte ich im Herzen Bewunderung und Dank. Doch was brachte jeder dieſer guten Menſchen mit? {Ein Lot} Hilfe für tauſend Zentner Not. Die tapferen Nonnen mußten wohl für {alle} Menſchen jene überwindungskräftige Liebe im Herzen tragen, wie ſie mich für meinen Mann erfüllte; ſo wie ich vorhin empfunden, daß, wenn der furchtbar entſtellte und ekelerregende Soldat, der vor meinen Füßen röchelte, mein Gatte geweſen, aller Widerwille entſchwunden wäre — ſo empfanden Jene wohl jedem Menſchenbruder gegenüber, und zwar durch die Kraft einer höheren Liebe — diejenige zu ihrem erwählten Bräutigam Chriſtus. Aber ach — auch davon brachten die Edeln nur ein Lot! Ein Lot Liebe dorthin, wo tauſend Centner Haß gewütet … „Nein, Herr Doktor,“ antwortete ich auf die teilnehmende Anfrage des jungen Arztes, „ich bin nicht krank, nur ein wenig angegriffen.“ „Ihr Herr Gemahl, ſo ſagte mir Baron S., ſei bei Königgrätz verwundet worden und Sie reiſen dahin, ihn zu pflegen,“ miſchte ſich der Stabsarzt in das Geſpräch; „wiſſen Sie, in welcher der umgebenden Ortſchaften er liegt?“ Das wußte ich nicht. „Mein Ziel iſt Königinhof,“ antwortete ich; „dort erwartet mich mein befreundeter Arzt, Doktor Breſſer —“ „Den kenne ich … er war an meiner Seite, als wir vor drei Tagen das Schlachtfeld abſuchten.“ „Das Schlachtfeld abſuchten“ … wiederholte ich ſchaudernd — „erzählen Sie —“ „Ja, ja, Herr Doktor, erzählen Sie!“ bat eine der Nonnen, „unſer Dienſt kann uns auch in die Lage bringen, bei ſolchem Suchen mitzuhelfen.“ Und der Regimentsarzt erzählte. Den Wortlaut ſeiner Schilderungen kann ich natürlich nicht mehr wiedergeben; auch ſprach er nicht in einem Fluſſe, ſondern mit häufigen Unterbrechungen, und gleichſam widerſtrebend, nur durch die hartnäckigen Fragen, mit welchen die wißbegierigen Nonnen und ich ihn beſtürmten, zum Sprechen gezwungen. Die abgeriſſenen Erzählungen riefen jedoch eine geſchloſſene Reihe von Bildern vor mein inneres Auge, die ſich dem Gedächtnis ſo lebhaft eingeprägt haben, daß ich dieſelben noch heute an mir vorüberziehen laſſen kann. Unter anderen Umſtänden hätte ich des Doktors Schilderungen nicht ſo deutlich erfaßt und behalten — man vergißt ja Gehörtes und Geleſenes ſo leicht — aber das Erzählte machte mir damals faſt den Eindruck von Miterlebtem. Ich war in einem Zuſtand hochgradiger Nervenanſpannung und Erregtheit; der fixe Gedanke an Friedrich, der ſich meiner bemächtigt hatte, bewirkte, daß ich bei jeder der geſchilderten Scenen mir Friedrich als beteiligte Perſon vorſtellte, und ſo ſind ſie mir wie ſelber durchgemachte ſchmerzliche Erfahrungen im Geiſte haften geblieben. In der Folge habe ich die von dem Regimentsarzt mitgeteilten Ereigniſſe in die roten Hefte eingetragen — ſo, als hätten ſie ſich vor meinen eigenen Augen abgeſpielt. * * * Die Ambulance iſt hinter einem ſchützenden Hügelrücken aufgerichtet worden. Drüben tobt die Schlacht. Der Boden zittert und es zittert die glühende Luft; Dampfwolken ſteigen auf, die Geſchütze brüllen … Jetzt heißt es, Patrouillen ausſchicken, welche ſich auf die Kampfplätze begeben, um die Schwerverwundeten aufzuleſen und hierherzubringen. Gibt es etwas heldenhafteres, als ſolchen Gang mitten in den ſummenden Kugelregen hinein, an allen Schrecken des Kampfes vorüber, allen Gefahren des Kampfes ausgeſetzt — ohne ſelber deſſen wildem Rauſche ſich hingeben zu dürfen? Rühmlich iſt dieſes Amt — nach Kriegsbegriffen — nicht. „Bei der Sanität“ — da dient doch kein feſcher, ſtrammer, ſchneidiger Junge — da verdreht doch Keiner die Köpfe der Mädchen. Und „Feldſcheer“ — wenn der auch heute nicht mehr ſo — ſondern „Regimentsarzt“ heißt, der kann ſich doch mit keinem Kavallerielieutenant meſſen?“ … Der Sanitätskorporal kommandiert ſeine Leute nach einer Niederung, gegen welche eine Batterie ihr Feuer eröffnet hat. Sie gehen durch den grauen Schleier des Pulverdampfes, und Staub und Erde, da, wo eine Kugel zu ihren Füßen einſchlägt, wirbelt vor ihnen auf. Sie ſind nur wenige Schritte gegangen, ſo begegnen ſie ſchon Verwundeten — leichter Verwundeten, die ſich entweder einzeln oder paarweiſe, einander gegenſeitig unterſtützend, zur Ambulance ſchleppen. Einer fällt zuſammen. Es iſt aber nicht ſeine Wunde, die ihm die Kraft gebrochen — es iſt Erſchöpfung. „Wir haben zwei Tage nichts gegeſſen — machten einen forcierten Marſch von zwölf Stunden … kamen ins Bivouak … zwei Stunden darauf Alarm und die Schlacht“ … Die Patrouille geht weiter. Dieſe Leute finden ſelber ihren Weg und können den zuſammengebrochenen Kameraden mitnehmen. Die Hilfe muß Anderen, noch Hilfsbedürftigeren aufgeſpart werden. Auf dem Steingerölle eines Hügelabhanges liegt ein blutiger Knäuel. Es ſind ein Dutzend Soldaten. Der Sanitätsunteroffizier bleibt ſtehen und legt ein paar Verbände an. Aber mitgenommen werden dieſe Verwundeten nicht; erſt müſſen die geholt werden, die mitten auf dem Gefechtsfelde fielen — vielleicht kann man dieſe hier beim Rückgang aufleſen … Und wieder geht die Patrouille weiter, dem Kampfplatz näher. In immer dichteren Scharen wanken Verwundete heran, ſich ſelber oder einander mühſam fortſchleppend. Das ſind ſolche, die doch noch gehen können. Unter ſie wird der Inhalt der Feldflaſchen verteilt, man legt ihnen eine Binde auf quellende Wunden und weiſt ihnen den Weg nach der Ambulance. Und wieder geht es weiter. An Toten vorüber — an Hügeln von Leichen … Vieler dieſer Toten zeigen die Spuren entſetzlichſter Agonie. Unnatürlich weit aufgeriſſene Augen — die Hände in die Erde gebohrt — die Haare des Bartes aufgerichtet — zuſammengepreßte Zähne unter krampfhaft geöffneten Lippen — die Beine ſtarr ausgeſtreckt, ſo liegen ſie da. Jetzt durch einen Hohlweg. Hier liegen ſie aufgeſchichtet. Tote und Verwundete untereinander. Letztere begrüßen die Sanitätspatrouille wie rettende Engel und flehen und ſchreien um Hilfe. Mit gebrochenen Stimmen, weinend, wimmernd, rufen ſie nach Rettung, nach einem Schluck Waſſer … Aber ach — die Vorräte ſind faſt erſchöpft, und was können die wenigen Menſchen thun? Ein Jeder müßte hundert Arme haben, um da retten zu können … doch Jeder thut, was er kann. Da erſchallt der langgezogene Ton des Sanitätsrufes. Die Leute ſtutzen und halten in ihren Handreichungen inne. „Verlaßt uns nicht, verlaßt uns nicht!“ flehen die Unglücklichen; doch wieder und wieder ruft das Hornſignal, welches, von allem andern Getöſe unterſcheidbar, deutlich in die Weite dringt. Da kommt auch noch ein Adjutant herangeſprengt: „Mannſchaft von der Sanität?“ „Zu Befehl!“ erwidert der Korporal. „Mir nach.“ Offenbar ein verwundeter General … Da heißt es gehorchen und die Anderen verlaſſen … „Mut und Geduld, Kameraden, wir kommen wieder.“ Die es ſagen und die es hören, ſie wiſſen, daß das nicht wahr iſt. Und wieder geht es weiter. Dem Adjutanten — der, voranſprengend, die Richtung weiſt — im Eilſchritt nach. Da gibt es unterwegs kein Aufhalten, ob auch von rechts und links die Weh- und Hilferufe ertönen, ob auch auf die Eilenden ſelber manche Kugel fällt und Einen oder den Anderen hinſtreckt — nur weiter, nur vorüber. Vorüber an unter dem Schmerz ihrer Wunden ſich krümmenden Menſchen, welche von über ſie hinjagenden Roſſen zertreten, oder von über ihre Glieder fahrenden Geſchützen zermalmt wurden und welche, die Rettungsmannſchaft erblickend, in ihrer Verſtümmelung ſich ein letztesmal emporbäumen: vorüber, vorüber! 53. Viertes Buch. 1866. // 8. Abſchnitt Das geht in den roten Heften noch ſeitenlang ſo fort. Was der Regimentsarzt von dem Gang einer Sanitätspatrouille über das Schlachtfeld erzählte, das enthält noch viele ähnliche und ärgere Dinge. So die Schilderung jener Augenblicke, da mitten in die Pflegearbeit Kugeln und Granaten fallen, neue Wunden reißend; oder wenn die Zufälligkeiten der Schlacht den Kampf und die Verbandplätze ſelber, knapp an die Ambulancen bringen und das ganze Sanitätsperſonal, ſammt den Ärzten und ſammt den Kranken, mitten in das Gewühl der ringenden oder fliehenden oder verfolgenden Truppen gerät; wenn ſcheue, ledige Roſſe des Weges geraſt kommen und die Tragbahre umſtürzen, auf welche man eben einen Schwerverwundeten gebettet, der jetzt zerſchmettert zu Boden geſchleudert wird … Oder dieſes — das grauenhafteſte Bild von allen —: Ein Gehöft, in welchem man hundert Verwundete untergebracht, verbunden und gelabt hat. — Die armen Teufel froh und dankbar, daß ihnen Rettung geworden — und eine Granate, die das Ganze in Brand ſchießt — Eine Minute und das Lazareth ſteht in Flammen — das Schreien, vielmehr das Geheul, welches aus dieſer Stätte der Verzweiflung gellt und welches in ſeinem wilden Weh alles übrige Getöſe übertönt, das wird wohl Jenen, die es hörten, ewig unvergeßlich bleiben … Weh mir! Auch mir, obgleich ich es nicht gehört, bleibt es unvergeßlich — denn während der Regimentsarzt erzählte, war mir wieder, als wäre mein Friedrich dabei, als hörte ich ſeinen Schrei aus dem brennenden Marterorte heraus … „Ihnen wird übel, gnädige Frau,“ unterbrach ſich der Erzähler — „ich habe da Ihren Nerven wirklich zu viel zugemutet.“ — Aber ich hatte noch nicht genug. Ich verſicherte, daß meine vorübergehende Schwäche nur die Folge der Hitze und einer ſchlechten Nacht ſei und wurde nicht müde, den Andern auszuforſchen. Es war mir immer noch, als hätte ich nicht genug gehört, als wären von dieſen geſchilderten Höllenkreiſen die letzten und hölliſchſten noch nicht geſchildert worden. Und wenn einmal der Durſt nach Gräßlichem erregt iſt, ſo ruht man nicht, bis er nicht mit dem Gräßlichſten gelöſcht worden. Und richtig: es gibt noch Schauerlicheres, als ein Schlachtfeld {während} — das iſt ein ſolches {nach} der Schlacht. Kein Geſchützdonner, kein Fanfarengeſchmetter, keine Trommelwirbel mehr, nur leiſes ſchmerzliches Stöhnen und Sterberöcheln. Im zertretenen Erdboden rötlich ſchimmernde Pfützen, Blutlachen; — alle Feldfrucht zerſtört, nur hie und da ein unberührt gebliebenes, halmenbedecktes Ackerſtück; die ſonſt lachenden Dörfer in Trümmer und Schutt verwandelt. Die Bäume der Wälder verkohlt und geknickt; die Hecken von Kartätſchen zerriſſen … Und auf dieſer Wahlſtatt Tauſende und Tauſende von Toten und Sterbenden — hilflos Sterbenden! Keine Blüten noch Blumen ſind auf den Wegen und Wieſen zu ſehen, ſondern Säbel, Bajonette, Torniſter, Mäntel, umgeſtürzte Munitionswagen, in die Luft geflogene Pulverkarren, Geſchütze mit gebrochenen Laffetten … Neben den Kanonen, deren Schlünde von Rauch geſchwärzt ſind, iſt der Boden am blutigſten; dort liegen die meiſten und verſtümmelſten Toten und Halbtoten — von Kugeln buchſtäblich zerriſſen. Und die toten und halbtoten Pferde — ſolche, die auf den Füßen, welche ihnen geblieben ſind, ſich aufrichten, um wieder hinzuſinken, wieder ſich aufſtellen und wieder hinfallen, bis ſie die Köpfe heben, um ihren ſchmerzbeladenen Sterberuf hinauszuſchreien … Ein Hohlweg iſt mit in den Kot der Straße getretenen Körpern ganz angefüllt. Die Unglücklichen hatten ſich wohl hierher geflüchtet, um geborgen zu ſein — aber eine Batterie iſt über ſie hinweggefahren — von Pferdehufen und Rädern ſind ſie zermalmt … Viele darunter leben noch — eine breiige, blutige Maſſe, aber „leben noch“. Und noch gibt es Hölliſcheres als Alles dies: es iſt das Erſcheinen des niederträchtigſten Abſchaums der kriegführenden Menſchheit — der {Schlachtfeld-Hyäne}. „Das ſchleicht herbei, das die Leichenbeute witternde Ungetüm, beugt ſich über Tote und noch Lebende herab und reißt ihnen die Kleider vom Leibe. Erbarmungslos. Die Stiefeln werden vom blutenden Bein, die Ringe von der verwundeten Hand gezogen — oder um den Ring zu haben, wird der Finger einfach abgeſchnitten; und wenn ſich das Opfer wehren will, dann wird es von der Hyäne gemordet oder — um nicht einſt wieder erkannt zu werden — ſticht ſie ihm die Augen aus …“ Ich ſchrie laut auf. Bei des Doktors letzten Worten hatte ich die ganze Scene wieder mitangeſehen, und die Augen, in welche die Hyäne ihr Meſſer gebohrt, das waren Friedrichs blaue, ſanfte, geliebte Augen … „Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, aber Sie haben es gewollt …“ „Ja, ja — ich will Alles hören. Was Sie da beſchrieben haben, war die Nacht, welche auf die Schlacht folgt — dieſe Scenen haben ſich bei Sternenſchein abgeſpielt —“ „Und bei Fackelſchein. Die vom Sieger zum Durchſuchen des Schlachtfeldes ausgeſchickten Patrouillen tragen Fackeln und Laternen. Und rote Laternen ragen an Signalſtangen empor, um die Orte zu bezeichnen, an welchen fliegende Hoſpitäler errichtet worden ſind.“ „Und der nächſte Morgen — wie zeigt der die Wahlſtatt?“ „Beinah noch fürchterlicher. Der Gegenſatz von dem helllächelnden Tagesgeſtirn zu der grauſigen Menſchenarbeit, die es beleuchtet, wirkt doppelt ſchmerzlich. Des Nachts hatte das ganze Schreckbild etwas geſpenſterhaft-phantaſtiſches, bei Tag iſt es einfach — troſtlos. Jetzt erſt ſieht man die Maſſenhaftigkeit der umherliegenden Leichen: auf den Straßen, zwiſchen den Feldern, in den Gräben, hinter Mauertrümmern; überall, überall Tote. Geplündert, mitunter nackt. Eben ſo die Verwundeten. Dieſe, welche trotz der nächtlichen Arbeit der Sanitätsmannſchaften noch immer in großer Zahl umherliegen, ſehen fahl und zerſtört aus, grün und gelb, mit ſtierem, ſtumpfſinnigem Blick; oder aber unter wütenden Schmerzen ſich krümmend, flehen ſie Jeden an, der in die Nähe kommt, daß er ſie töte. Schwärme von Aaskrähen laſſen ſich auf die Wipfel der Bäume nieder und verkünden mit lautem Gekrächz das lockende Feſtmahl … Hungrige Hunde aus den Dörfern kommen herbeigerannt und lecken das Blut der Wunden. Noch ſieht man einige Hyänen, welche noch immer haſtig weiter arbeiten … Und jetzt kommt das große Begraben —“ „Wer thut das? — Die Sanität?“ „Wie könnte die zu ſolcher Maſſenarbeit ausreichen? Die hat bei den Verwundeten vollauf zu thun.“ „Alſo kommandierte Truppen?“ „Nein: herbeigeſchafftes oder auch freiwillig heranlaufendes Geſindel: Landſtreicher, Leute vom Troß, welche ſich bei den Marketenderbuden, bei den Bagagewagen aufhielten, und welche jetzt neben den Bewohnern der Armenhäuſer und der Hütten von den Militärgewalten herbeigetrieben werden, um Gräber zu graben — recht große, das heißt — weite Gräber, denn tief werden ſie nicht gemacht. Dazu wäre keine Zeit. Dahinein wirft man die toten Körper — kopfüber, kopfunter, wie es gerade kommt. Oder man macht es ſo: über einen aus Leichen gebildeten Haufen wirft man ein bis zwei Fuß hohe Erde hinauf; das ſieht dann auch aus wie ein Tumulus. Ein paar Tage darauf kommt ein Regen und ſpült die Hülle von den verweſenden Leichnamen weg — aber was liegt daran? Die flinken und luſtigen Totengräber denken nicht ſo weit. Luſtige und flotte Arbeiter ſind ſie, das muß man ihnen laſſen. Es werden da Lieder gepfiffen und allerlei zweideutige Witze gemacht — ja mitunter tanzt eine Hyänenrunde um das offene Grab. Ob in manchen Körpern, die da hinabgeſchleudert oder mit Erde verſchüttet werden, noch Leben ſich regt — darum kümmern ſie ſich auch nicht. Der Fall iſt unvermeidlich, denn Starrkrampf tritt bei Verwundungen häufig auf. Manch zufällig Errettete haben von der Gefahr des Lebendig-begraben-werdens, der ſie entronnen, erzählt. Aber wie Viele giebt es derer, die nichts erzählen konnten? Wenn man einmal ein paar Fuß Erde über dem Mund liegen hat, ſo muß man den Mund wohl halten.“ … O mein Friedrich, mein Friedrich! ſtöhnte es in meiner Seele. „Das iſt das Bild des nächſten Morgens,“ ſchloß der Regimentsarzt. „Soll ich noch weiter erzählen, was den nächſten Abend geſchieht? Da wird —“ „Das will ich Ihnen ſagen, Herr Doktor,“ unterbrach ich. „In eine von den beiden Hauptſtädten der beteiligten Reiche iſt die telegraphiſche Nachricht des glorreichen Sieges angelangt. Da wurde vormittags — während des Hyänentanzes um die Gruben — in den Kirchen „Nun danket Alle Gott“ geſungen und abends — da ſtellt die Mutter, oder das Weib eines lebendig Begrabenen ein paar brennende Kerzen auf den Fenſterſims, denn die Stadt wird beleuchtet.“ „Ja, gnädige Frau, dieſe Komödie wird zu Hauſe aufgeführt. Indeſſen, auf dem Schlachtfeld ſelber iſt mit dem zweiten Sonnenuntergang die Tragödie noch lange nicht abgeſpielt. Außer Denjenigen, welche in die Lazarethe und in die Gräber untergebracht worden, gibt es noch die {Ungefundenen}. Hinter dichtem Gebüſch, in hohen Ährenfeldern, oder zwiſchen Bautrümmern verborgen, ſind ſie den Blicken der Krankenträger und Totengräber entgangen. Für jene Unglücklichen beginnt nun das Martyrium einer mehrere Tage und mehrere Nächte langen Agonie: in der ſengenden Hitze des Mittags, in den ſchwarzen Schauern der Mitternacht, gebettet auf Steinen und Diſteln, im ſcharfen Verweſungsgeruch der naheliegenden Leichen und der eigenen faulenden Wunden, den feſtenden Geiern zur noch zuckenden Beute …“ 54. Viertes Buch. 1866. // 9. Abſchnitt Das war eine Reiſe! — Der Regimentsarzt hatte ſchon lange aufgehört zu ſprechen, aber die Auftritte, welche er geſchildert, fuhren unausgeſetzt fort, vor meinem inneren Auge ſich abzuſpielen. Um dieſem mich verfolgenden Gedankenreigen zu entgehen, ſchaute ich zum Wagenfenſter hinaus und verſuchte, im Anblick der Landſchaft Zerſtreuung zu finden. Aber auch hier boten ſich dem Blicke Bilder des Kriegsjammers. Zwar hatte in dieſer Gegend keine gewaltſame Verwüſtung ſtattgefunden: es rauchte da kein zerſchoſſenes Dorf, hier hatte „der Feind“ noch nicht gehauſt; aber was hier nun wütete, iſt vielleicht noch ſchlimmer: nämlich die {Furcht vor dem Feinde}. „Die Preußen kommen! die Preußen kommen!“ war die Schreckensloſung auf der ganzen Strecke; und wenn auch im Vorbeifahren dieſe Worte nicht zu hören waren, ihre Wirkung konnte man vom Wagenfenſter aus deutlich erſchauen. Überall auf allen Straßen und Wegen fliehende, mit Sack und Pack ihr Heim verlaſſende Menſchen. Ganze Wagenzüge bewegten ſich landeinwärts — gefüllt mit Bettzeug, Hausgerät und Vorräten. Alles ſichtlich in größter Eile aufgeladen. Auf demſelben Karren kleine Schweine, das jüngſte Kind und ein paar Kartoffelſäcke, nebenher, zu Fuß, Mann und Weib und die größeren Kinder: — ſo ſah ich eine auswandernde Familie auf einer nahen Straße ſich fortbewegen. Wohin gingen die Armen? Das wußten ſie wohl ſelber kaum — nur fort, fort von den „Preußen“. So flieht man das praſſelnde Feuer oder die ſteigende Flut. Öfters brauſte auf den Nebengeleiſen ein Zug an uns vorüber: — Verwundete, immer wieder Verwundete; immer wieder die aſchfahlen Geſichter, die verbundenen Köpfe, die in der Binde getragenen Arme. Auf den Halteſtellen beſonders konnte man an dieſem Anblick in allen Varianten ſich ſattſam erlaben. Sämtliche große und kleine Perrons, auf welchen man ſonſt das wartende Völklein der Reiſenden fröhlich umherſtehen und -gehen ſieht, waren jetzt mit liegenden und kauernden Geſtalten gefüllt. Das ſind die aus den umgebenden Feld- und Privatlazarethen herbeigeſchafften kranken Soldaten, welche den nächſten Eiſenbahnzug abwarten, der einen neuen Verwundetentransport befördern kann. So müſſen ſie ſtundenlang liegen — und wer weiß, wie viel Transportierungen ſie ſchon hinter ſich haben? Vom Kampffeld zum Verbandplatz, von da zur Ambulance, von dieſer in ein fliegendes Feldhoſpital, dann in die Ortſchaft — jetzt zur Eiſenbahn; und von hier ſteht ihnen noch die Fahrt nach Wien bevor; dort vom Bahnhof zum Spital und von da, nach ſo langen Leiden, vielleicht zum Regiment zurück, vielleicht zum Friedhof … Mir ward ſo leid, ſo leid, ſo ſchrecklich leid um die armen Teufel! — ich hätte zu jedem Einzelnen hinknien wollen und ihm Worte des Mitgefühls zuflüſtern. Aber der Doktor ließ mich nicht. Wenn wir an einer Station ausſtiegen, nahm er mich am Arm und führte mich in das Büreau des Stationschefs. Hierher brachte er mir Wein oder ſonſt eine Erfriſchung. Die Schweſtern walteten auch ſchon hier ihres barmherzigen Amtes. Sie reichten den Verwundeten an Trank und Speiſe, was nur aufzutreiben war: aber öfters gab es nichts, die Vorräte in den Reſtaurationen waren zumeiſt erſchöpft. Dieſes Getriebe auf den Bahnhöfen, namentlich auf den größeren, machte mir einen ſinnverwirrenden Eindruck; es ſchien mir wie „ein böſer Traum“. Dieſes Hin- und Herrennen, dieſes wüſte Durcheinander — abmarſchbereite Truppen — Flüchtlinge — Krankenträger — Haufen blutender und wimmernder Soldaten — ſchluchzende, händeringende Frauen —; Geſchrei, barſche Kommandorufe — überall Gedränge, nirgends ein freier Durchgang — aufgeſchichtetes Gepäck, Kriegsmaterial, Kanonen, abſeits Pferde und brüllendes Hornvieh — dazwiſchen das unausgeſetzte Geläute des Telegraphen — durchfahrende Züge, welche mit aus Wien anlangender Reſerve vollgefüllt — vielmehr vollgepfropft — ſind … Nicht anders waren dieſe Soldaten in den Wagen dritter und vierter Klaſſe — ja in Laſt- und Viehwaggons — untergebracht, nicht anders wie Schlachtvieh. Und, im Grunde genommen, ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken; was waren ſie denn anderes? Wurden ſie nicht auch zur „Schlacht“ — wurden ſie nicht auf den großen politiſchen Markt geſchleppt, wo mit Kanonenfutter — [chair à canon] — geſchachert wird? Da rollten ſie vorbei. Tolles Gebrüll — war es ein Kriegslied? — ſchallte heraus und übertönte das raſſelnde Gepolter der Räder; eine Minute — und der Zug war verſchwunden. Mit Windeseile trug er einen Teil ſeiner Fracht dem ſicheren Tode entgegen. Ja — {ſicherem Tode} … Wenn auch kein Einzelner von ſich ſagen kann, daß {er} ſicher fällt, ein gewiſſer Prozentſatz von der Geſamtheit muß und wird fallen. Zu Felde ziehende Heere, die ſich auf der Heerſtraße zu Fuß oder zu Roß fortbewegen: das mag noch eine gewiſſe antike Poeſie an ſich haben; aber der moderne Schienenweg, das Symbol der nationenverbindenden Kultur, als Beförderungsmittel der losgelaſſenen Barbarei: — das iſt gar zu widerſinnig und abſcheulich. Wie falſch klingt da auch das Telegraphengeklingel … dieſes herrliche Siegeszeichen des menſchlichen Intellekts, der es fertig gebracht hat, den Gedanken mit Blitzesſchnelle von einem Land zum andern zu leiten; alle dieſe neuzeitlichen Erfindungen, welche beſtimmt ſind, den Verkehr der Völker zu fördern, das Leben zu erleichtern, zu verſchönern, zu bereichern: die werden jetzt von jenem altweltlichen Prinzip mißbraucht, welches die Völker entzweien und das Leben vernichten will. „Seht unſere Eiſenbahnen, ſeht unſere Telegraphen — wir ſind civiliſierte Nationen“, prahlen wir den Wilden gegenüber und benutzen dieſe Dinge zur verhundertfachten Entfaltung {unſerer} Wildheit … Daß mich lauter ſolche Gedanken quälen mußten, während ich an den Stationen auf das Weiterfahren unſeres Zuges wartete — das vertiefte und verbitterte noch mein Leid. Ich beneidete faſt Jene, die da nur in naivem Schmerze die Hände rangen und weinten, die ſich nicht im Zorn aufbäumten gegen die ganze Schauerkomödie — die Niemanden anklagten, nicht einmal jenen „Herrn der Heerſchaaren“, von dem ſie doch glaubten, daß er es ſei, der das hereingebrochene Unglück über ſie verhängt … 55. Viertes Buch. 1866. // 10. Abſchnitt Es war ſpät abends, als ich in Königinhof anlangte. Meine Reiſegefährten hatten an einer früheren Station bleiben müſſen. Ich war allein — in Furcht und Bangen. Wie, wenn Doktor Breſſer verhindert worden wäre, zu kommen? Was ſollte ich dann hier beginnen? Zudem war ich von der Fahrt wie gerädert, von den durchgemachten Trauer- und Schauerempfindungen ganz entnervt. Wäre nicht die Sehnſucht nach Friedrich geweſen, ſo hätte ich mir nur noch den Tod gewünſcht. Sich hinlegen können und einſchlafen und nie wieder erwachen in einer Welt, in der es ſo grauſam und wahnſinnig zugeht! … Nur eins nicht: am Leben bleiben und Friedrich unter den Vermißten wiſſen! Der Zug hielt. Mühſam und zitternd ſtieg ich aus und nahm mir mein Handgepäck herab. Ich führte ein Handkofferchen bei mir, mit etwas Wäſche für mich und Charpie und Verbandzeug für den Verwundeten; außerdem eine Reiſe-Toilettentaſche. Die hatte ich ſo gewohnheitsmäßig mitgenommen, in dem anerzogenen Glauben, daß man gar nicht ſein könne, ohne die ſilbernen Büchſen und Kapſeln, die Seifen und Waſſer, die Bürſten und Kämme. Reinlichkeit — dieſe Tugend des Körpers, dasſelbe, was Ehrlichkeit für die Seele — dieſe zweite Natur des Kulturmenſchen: wie mußte ich jetzt erſt erfahren, daß darauf in ſolchen Zeiten ganz verzichtet werden muß. Nun ja — es iſt ja nur folgerichtig: der Krieg iſt die Verneinung der Kultur, alſo müſſen durch ihn alle Errungenſchaften der Kultur wegfallen; ein Rückſchlag in die Wildheit iſt er, alſo muß er alles Wilde im Gefolge haben — darunter auch jenes, dem Edelmenſchen ſo furchtbar verhaßte Ding: {den Schmutz}. Die Kiſte mit Material für die Spitäler, die ich in Wien für Doktor Breſſer beſorgt hatte, war mit den anderen Kiſten des Hilfskomitees aufgegeben worden — wer weiß wann und wo dieſelbe abgeliefert wurde? Ich hatte nichts bei mir, als meine zwei Stück Handgepäck und ein umgehängtes Geldtäſchchen, welches mit einigen Hundertgulden-Noten gefüllt war. Schwankenden Schrittes ging ich über die Schienen nach dem Perron. Dort herrſchte, trotz der ſpäten Stunde, dasſelbe Gewühle, wie auf den anderen Stationen, und immer dasſelbe Bild: Verwundete — Verwundete. Nein, nicht dasſelbe Bild: ärger noch. Königinhof war ein Ort, der mit dieſen Unglücklichen überfüllt war; es gab im ganzen Ort keinen unbelegten Raum, und nun hatte man die Kranken ſcharenweiſe zur Eiſenbahn gebracht, wo ſie, ganz notdürftig verbunden, überall umherlagen, auf der Erde, auf den Steinen … Es war eine finſtere, mondloſe Nacht; der Schauplatz war nur durch drei oder vier an Pfählen befindliche Laternen beleuchtet. Erſchöpft und ſchlaf-, beinahe todesſchlafbedürftig, ſank ich auf die freie Ecke einer Bank und legte mein Gepäck vor mir auf den Boden. Ich hatte vorerſt nicht den Mut, mich umzuſehen, ob unter den vielen Menſchen, die hier geſchäftig hin und her ſchoſſen, auch Doktor Breſſer ſei. Faſt war ich überzeugt, daß ich ihn nicht finden würde. Es gab ja zehn Chancen gegen eine, daß er verhindert worden zu kommen, oder daß er zu einer anderen als zur bezeichneten Stunde hier einträfe; einen regelmäßigen Verkehr gab es ja überhaupt nicht mehr: mein Zug war gewiß viel ſpäter eingetroffen, als in der Fahrordnung verzeichnet ſtand. Ordnung: auch ein Kulturbegriff — mit dem war ja ringsum gleichfalls gebrochen … Mein Unternehmen erſchien mir jetzt als ein wahnwitziges. Dieſes vermeintliche Rufen Friedrichs — glaubte ich denn ſonſt an derlei myſtiſche Dinge? — es entbehrte ſicher aller Begründung. Wer weiß — vielleicht war Friedrich auf dem Weg nach Hauſe — vielleicht auch tot — warum ſuchte ich ihn hier? Eine andere Stimme begann jetzt nach mir zu rufen, andere Arme breiteten ſich mir entgegen: Rudolf, mein Sohn — wie würde der nach der „Mama“ gefragt haben und nicht haben einſchlafen können, ohne den mütterlichen Gutenachtkuß … Wohin würde ich mich hier wenden, wenn ich Breſſer nicht fände? Und die Hoffnung, ihn zu finden, war mir plötzlich ſo gering geworden, wie unter hunderttauſenden von Loſen die Hoffnung auf einen Haupttreffer. Zum Glück hatte ich mein Täſchchen mit dem Gelde — der Beſitz von Banknoten bietet immer Auskunftsmittel. Unwillkürlich griff ich an die Stelle, wo das Täſchchen hängen ſollte … Großer Gott! Der Riemen, an welchem es befeſtigt geweſen, abgeriſſen — das Täſchchen fort — verloren! … Welcher Schlag! Und doch, ich brachte es zu keiner Anklage gegen das Schickſal; ich vermochte nicht, zu jammern: „Zufall, wie hart triffſt du mich“, denn in einer Zeit, wo rings das Unglück hagelte, über das eigene Unglückchen klagen, da hätte man vor ſich ſelber ſich ſeiner Selbſtſucht ſchämen müſſen. Und zudem: für mich gab es nur eine ſchreckliche Möglichkeit: Friedrichs Tod — alles Andere war nichts. Ich muſterte alle Anweſenden: kein Doktor Breſſer. Was nun beginnen? An wen mich wenden? Ich hielt einen Vorübergehenden an: „Wo kann ich den Stationschef finden?“ „Sie meinen den Dirigenten der hieſigen Krankenſtation, Stabsarzt S.? Dort ſteht er.“ Den hatte ich zwar nicht gemeint, aber vielleicht konnte er mir Auskunft über Doktor Breſſer geben. Ich näherte mich der bezeichneten Stelle. Der Stabsarzt ſprach eben mit einem vor ihm ſtehenden Herrn: „Es iſt ein Elend“, hörte ich ihn ſagen. „Man hat hier und in Turnau Depots für alle Hoſpitäler des Kriegsſchauplatzes errichtet; die Gaben ſtrömen maſſenhaft zu — Wäſche, Lebensmittel, Verbandzeug ſo viel man will — aber was damit beginnen? Wie abladen — wie ſortieren — wie weiterſenden? Es fehlt uns an Händen — wir würden hundert rührige Beamte brauchen —“ Schon wollte ich den Stabsarzt anſprechen, als ich einen Mann auf ihn zueilen ſah, in dem ich — o Freude — Doktor Breſſer erkannte. In meiner Erregung fiel ich dem alten Hausfreund um den Hals. „Sie? Sie, Baronin Tilling? Was machen Sie denn hier?“ „Ich bin gekommen, zu helfen, zu helfen … Iſt Friedrich nicht in einem Ihrer Spitäler?“ „Ich habe ihn nicht geſehen.“ War mir dieſe Nachricht Enttäuſchung oder Erleichterung? — Ich weiß es nicht. Er war nicht da … alſo entweder tot oder unverſehrt … übrigens, Breſſer konnte unmöglich alle Verwundeten der Umgebung erkannt haben — ich mußte ſelber alle Lazarethe abſuchen. „Und Frau Simon?“ fragte ich weiter. „Die iſt ſchon ſeit mehreren Stunden hier … eine herrliche Frau! Raſch entſchloſſen, umſichtig … Jetzt iſt ſie eben beſchäftigt, die hier liegenden Verwundeten in leerſtehende Eiſenbahnwaggons unterzubringen. Sie hat erfahren, daß in einem nahen Orte — in Horonewos — die Not am größten ſei. Dort will ſie hinfahren und ich begleite ſie.“ „Ich auch, Doktor Breſſer! Laſſen Sie mich mitkommen“ … „Wo denken Sie hin, Baronin Martha? Sie, ſo zart und verwöhnt — derlei harte, bitterharte Arbeit — —“ „Was ſoll ich ſonſt hier thun?“ unterbrach ich. „Wenn Sie mein Freund ſind, Doktor, helfen Sie mir mein Vorhaben ausführen … ich will ja Alles thun, jeden Dienſt verrichten … Stellen Sie mich der Frau Simon als freiwillige Krankenpflegerin vor und nehmen Sie mich mit — aus Barmherzigkeit nehmen Sie mich mit!“ „Wohlan, Ihr Wille geſchehe. Da iſt die tapfere Frau — kommen Sie“ … 56. Viertes Buch. 1866. // 11. Abſchnitt Als mich Doktor Breſſer zu Frau Simon geführt und mich derſelben als Krankenpflegerin vorſtellte, nickte ſie mit dem Kopfe, wandte ſich aber ſogleich wieder ab, um einen Befehl zu erteilen. Ihre Züge konnte ich in dem zweifelhaften Lichte nicht erkennen. Fünf Minuten ſpäter waren wir auf der Fahrt nach Horonewos. Ein Leiterwagen, der eben von dort Verwundete gebracht, diente uns als Fahrgelegenheit. Wir ſaßen auf dem Stroh, das vielleicht noch blutig war von der vorigen Fracht. Der Soldat, welcher neben dem Kutſcher ſaß, hielt eine Laterne, welche unſtäten Schein auf unſere Straße warf. „Böſer Traum — böſer Traum“: immer mehr und mehr hatte ich den Eindruck, einen ſolchen durchzumachen. Das Einzige, was mich an die Wirklichkeit meiner Lage mahnte und was mir zugleich eine Beruhigung war, war Doktor Breſſers Nähe. Ich hatte meine Hand in die ſeine gelegt und ſein anderer Arm unterſtützte mich: „Lehnen Sie ſich an mich, Baronin Martha — armes Kind“, ſagte er ſanft. Ich lehnte mich an, ſo gut ich konnte, aber doch: welche Folterlage! Wenn man ſein ganzes Leben lang gewohnt war, auf ſchwellenden Sitzen, ſprungfederigen Wagen und weichen Betten zu ruhen, wie ſchwer fällt es da — zumal nach einer ermüdenden Tagereiſe, in einem ſchüttelnden Leiterwagen zu ſitzen, deſſen harter Brettergrund nur mit einer Lage blutfeuchten Strohs gepolſtert iſt. Und ich war doch unverletzt — wie muß erſt denen zu Mute ſein, die mit zerſchmetterten Gliedern, mit hervorſtehenden Knochenſplittern auf ſolchem Fuhrwerk über Stock und Stein gejagt werden? Bleiſchwer fielen mir die Lider zu. Ein wehthuendes Schläfrigkeitsgefühl peinigte mich. Bei der Unbequemlichkeit meiner Lage — alle Glieder ſchmerzten mich — bei der Erregtheit meiner Nerven war ja Schlaf unmöglich; deſto grauſamer wirkte das nicht zu bannende Schlafbedürfnis. Gedanken und Bilder, ſo verworren wie Fieberträume, wirbelten in meinem Hirn. Alle die Schauerſcenen, welche der Regimentsarzt erzählt hatte, wiederholten ſich vor meinem Geiſt, teils mit den Worten des Erzählers ſelbſt, teils als die Geſichts- und die Gehörsvorſtellungen, welche dieſe Worte hervorgerufen hatten: ich ſah die ſchaufelnden Totengräber, ſah die Hyänen einherſchleichen, hörte die verzweifelten Opfer des in Brand geſchoſſenen Lazareths ſchreien; und dazwiſchen fielen, als würden ſie laut und in des Regimentsarztes Stimme geſprochen, Worte wie: Aaskrähen, Marketenderbude, Sanitätspatrouille. Das hinderte mich aber nicht daneben auch noch das Geſpräch zu vernehmen, welches meine Wagengefährten halblaut miteinander führten: … „Ein Teil der geſchlagenen Armee flüchtete nach Königgrätz“, erzählte Doktor Breſſer. „Die Feſtung aber war verſchloſſen und von den Wällen wurde auf die Flüchtigen geſchoſſen — namentlich auf die Sachſen, die man in der Dämmerung für Preußen hielt. Hunderte ſtürzten ſich in die Wallgräben und ertranken … An der Elbe ſtockte die Flucht und die Verwirrung erreichte den höchſten Grad. Die Brücken waren von Pferden und Kanonen ſo vollgeſtopft, daß das Fußvolk keinen Platz mehr fand … Tauſende ſtürzten ſich in die Elbe — auch Verwundete“ … „Es ſoll entſetzlich ſein in Horonewos“, ſagte Frau Simon. „Alles von ſeinen Bewohnern verlaſſen — Dorf und Schloß. Sämtliche innere Räume zerſtört und doch mit hilfloſen Verwundeten angefüllt … Wie wohl wird den Unglücklichen die Labung thun, die wir ihnen bringen! Aber es wird zu wenig — zu wenig ſein!“ „Und zu wenig auch unſere ärztliche Hilfe“, verſetzte Doktor Breſſer. „Wir müßten unſerer Hundert ſein, um das Erforderliche thun zu können. Es fehlt an Inſtrumenten und Medikamenten — und hälfen uns auch dieſe? Die Überfüllung dieſer Ortſchaften iſt derart, daß der Ausbruch gefährlicher Epidemien droht. Die erſte Sorge iſt ſtets die, ſo viel Verwundete als möglich wegzubefördern, aber ihr Zuſtand iſt zumeiſt ein ſo jammervoller, daß kein Gewiſſen den Transport auf ſich nehmen kann … ſie fortſchaffen heißt, ſie töten; ſie dortlaſſen, heißt den Hoſpitalbrand herbeiführen — eine ſchwere Alternative! Was ich in dieſen Tagen — ſeit der Schlacht von Königgrätz, Schauriges und Trauriges geſehen, das überſteigt alle Begriffe. Sie müſſen ſich auf das Schlimmſte gefaßt machen, Frau Simon.“ „Ich habe langjährige Erfahrung und Mut. Je größer das Elend, deſto mehr ſteigt meine Willenskraft.“ „Ich weiß. Dieſer Ruf iſt Ihnen vorausgegangen. Ich hingegen, wenn ich ſo viel Elend ſehe, fühle allen Mut ſinken und es ſtockt mir das Herz. Hunderte — ja tauſende von Hilfsbedürftigen um Hilfe flehen hören und nicht helfen {können} — es iſt gräßlich! In all dieſen um das Schlachtfeld eiligſt errichteten Ambulancen fehlte es an Erquickungsmitteln; vor allem: kein Waſſer. Die meiſten vorhandenen Brunnen ſind von den Bewohnern unbrauchbar gemacht worden … weit und breit kein Stück Brot aufzutreiben … Alle Räume, die ein Dach tragen: Kirchen, Meierhöfe, Schlöſſer, Hütten, ſind mit Kranken gefüllt — alles, was einem Wagen gleicht, wird mit einer Ladung Verwundeter weggeführt … Die Straßen bedecken ſich nach allen Richtungen mit ſolchen Höllenkarren — denn wahrlich, was da an Leiden auf Rädern rollt, das iſt hölliſch. Da liegen ſie — Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten — von Blut, Staub und Schmutz bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, mit Wunden, für die es keine menſchenmögliche Hilfe gibt, Klagetöne, Schreie ausſtoßend, die nichts Menſchliches haben — und doch: die noch ſchreien können, ſind die Beklagenswerteſten nicht …“ „Da ſterben wohl Viele unterwegs?“ „Gewiß. Oder wenn ſie abgeladen worden — in irgend einem überfüllten Raum — enden ſie ſtill und unbemerkt auf dem erſten beſten Bündel Stroh, auf welches ſie ſich fallen ließen. Manche ſtill — manche aber auch in verzweifeltem Todeskampfe tobend und raſend, die haarſträubendſten Flüche ausſtoßend … Solche Flüche mußte wohl jener Herr Twinnig aus London gehört haben, welcher bei der Genfer Konferenz folgenden Vorſchlag machte: „Wenn der Zuſtand eines Verwundeten nicht die geringſte Hoffnung der Heilung übrig läßt, wäre es in dieſem Fall nicht angemeſſen, daß man ihm erſt den Troſt der Religion ſpende, ihm, ſo weit es die Umſtände geſtatten, einen Augenblick der Sammlung laſſe und dann ſeiner Agonie auf die wenigſt ſchmerzliche Weiſe ein Ende mache? Man verhinderte dadurch, daß er wenige Augenblicke ſpäter ſtirbt, das Fieber im Gehirn und vielleicht die Gottesläſterung auf der Zunge.“ „Wie unchriſtlich!“ rief Frau Simon. „Was? Das Gnadenſtoßgeben?“ „Nein — die Anſicht, daß eine inmitten der unerträglichſten Martern ausgeſtoßene Läſterung der Seele des Gemarterten gefährlich werden könne … So ungerecht iſt der Gott der Chriſten nicht und ſicher nimmt er jeden gefallenen Krieger in Gnaden auf“ … „Mohammeds Paradies wird auch jedem Türken zugeſichert, der einen Chriſten erſchlagen hat,“ entgegnete Breſſer. „Glauben Sie mir, geehrte Frau Simon, jene Gottheiten alle, welche als kriegslenkend dargeſtellt werden und deren Beiſtand und Segen die Prieſter und Befehlshaber den Kämpfern als Mordlohn verſprechen, die ſind alle für Läſterungen gleich taub wie für Bitten. Sehen Sie dort hinauf: jener Stern erſter Größe, mit rötlichem Lichte — man ſieht ihn nur alle zwei Jahre über unſeren Häuptern flimmern — oder vielmehr {leuchten}, er flimmert nicht — das iſt der Planet Mars — das dem Kriegsgott gewidmete Geſtirn; jenem Gott, der in der alten Zeit ſo gefürchtet und geehrt wurde, daß er weit mehr Tempel beſaß, als die Göttin der Liebe. Schon in der Schlacht bei Marathon, ſchon in dem engen Paß der Thermopylen hat jener Stern dem Kampf der Menſchen blutfarbig vorgeleuchtet und zu ihm ſtiegen die Flüche der Gefallenen auf; ihn beſchuldigten ſie ihres Unglücks, während er ahnungslos und friedlich — damals wie heute — die Sonne umkreiſte. Feindliche Geſtirne? … die gibt es nicht. Der Menſch hat keinen anderen Feind, als den Menſchen — der aber iſt grimmig genug. — Und auch keinen anderen Freund“, ſetzte Breſſer nach einer kleinen Pauſe hinzu. „Davon geben Sie ſelber ein Beiſpiel, hochherzige Frau, Sie ſind —“ „O Doktor!“ unterbrach Frau Simon. „Schauen Sie — dort, der Flammenſchein, am Horizont … ſicherlich ein brennendes Dorf!“ Ich öffnete die Augen und ſah den roten Schein. „Nein“, ſagte Doktor Breſſer — „es iſt der aufgehende Mond. Ich verſuchte, eine bequemere Stellung anzunehmen und ſetzte mich ein wenig auf. Fortan wollte ich vermeiden die Augen zu ſchließen: dieſer Zuſtand des Halbſchlafes mit dem Bewußtſein des Nichtſchlafens, worin die entſetzlichen Phantaſiebilder ihren wilden Reigen aufführten — das war gar ſo qualvoll … lieber an dem Geſpräche der beiden teilnehmen und mich von den eigenen Gedanken losreißen. Aber der Mann und die Frau waren verſtummt. Sie blickten nach der Stelle, wo nun wirklich das Nachtgeſtirn emporſtieg. Und nach einer Weile fielen meine Augen doch wieder zu. Diesmal {war} es der Schlaf. In der einen Sekunde, in der ich fühlte, daß ich einſchlief, daß die Welt um mich aufhörte zu beſtehen, empfand ich ſolche Wonne des Nichtſeins, daß mir ſelbſt der Bruder meines Beglückers — der Tod — ganz willkommen geweſen wäre. Ich weiß nicht, wie lange Zeit ich in dieſer negativ-ſeligen Exiſtenzentrückung zubrachte — aber plötzlich und gewaltſam wurde ich herausgeriſſen. Kein Lärm, keine Erſchütterung war es, was mich geweckt hatte, ſondern ein Qualm unerträglich verpeſteter Luft. „Was iſt das?!“ Gleichzeitig mit mir riefen auch die anderen dieſe Frage aus. Unſer Wagen bog um eine Ecke und am Wegrand ward uns die Antwort. Vom Monde hell beleuchtet, ragte da eine weiße Mauer empor, vermutlich eine Kirchhofmauer. Jedenfalls hatte ſie als Schutzwehr gedient — am Fuße derſelben, aufgeſchichtet, lagen zahlreiche Leichen … Der Verweſungsgeruch, der von dieſen toten Körpern aufſtieg, war es, der mich aus dem Schlaf geriſſen hatte. Als wir vorbeifuhren, hob ſich ein dichter Schwarm von Raben und Krähen kreiſchend von dem Leichenhaufen empor, flatterte eine Zeit lang — wie ſchwarzes Gewölk gegen den hellen Himmelhintergrund und ließ ſich dann wieder zum Schmauſe nieder … „Friedrich, mein Friedrich!!“ „Beruhigen Sie ſich, Baronin Martha“, tröſtete mich Breſſer; „Ihr Mann konnte nicht dabei geweſen ſein.“ Der kutſchierende Soldat hatte ſein Geſpann angetrieben, um ſchneller aus dem Bereiche des mephitiſchen Dunſtes hinwegzukommen; das Fuhrwerk raſſelte und ſtolperte dahin, als wären wir auf wilder Flucht. Ich glaubte, die Pferde gingen durch … zitternde Angſt erfaßte mich. Mit beiden Händen klammerte ich mich an Breſſers Arm; aber den Kopf mußte ich zurück wenden, um dorthin, nach jener Mauer zu ſchauen und — war es das täuſchende Licht des Mondes, waren es die Bewegungen der auf ihre Beute zurückgekehrten Vögel? — mir war es, als regte ſich dieſe ganze Schar von Toten, als ſtreckten uns dieſe Leichname die Arme nach, als rüſteten ſie ſich, uns zu verfolgen … Ich wollte ſchreien, aber die furchtgepreßte Kehle verſagte mir den Dienſt. 57. Viertes Buch. 1866. // 12. Abſchnitt Wieder bog der Wagen um eine Straßenecke. „Hier ſind wir, das iſt Horonewos“, hörte ich den Doktor ſagen, und er befahl dem Kutſcher, zu halten. „Was beginnen wir mit der Frau?“ klagte Frau Simon — „die wird uns eher ein Hindernis ſein — ſtatt einer Hilfe.“ Ich raffte mich auf: „Nein, nein“, ſagte ich — „es iſt mir jetzt beſſer … Ich will Ihnen helfen, ſo gut ich kann.“ Wir befanden uns inmitten des Ortes, vor dem Thore eines Schloſſes. „Hier wollen wir zuerſt ſehen, was ſich thun läßt“, ſagte der Doktor. „Das Schloß, von ſeinen Beſitzern verlaſſen, ſoll vom Keller bis zum Dache mit Verwundeten angefüllt ſein.“ Wir ſtiegen ab. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten, ſtrengte aber meine äußerſte Kraft an, um dies nicht merken zu laſſen. „Vorwärts!“ ſagte Frau Simon. „Haben wir alle unſere Gepäckſachen? Was ich mitführe, wird den Leuten Labung bringen.“ „Auch in meinem Kofferchen befinden ſich Stärkungsmittel und Verbandszeug“, ſagte ich. „Und meine Handtaſche enthält Inſtrumente und Arzneien“, fügte Breſſer hinzu, dann gab er den uns begleitenden Soldaten die nötigen Befehle: zwei ſollten bei den Pferden bleiben, die übrigen mit uns kommen. Wir traten unter das Schloßthor. Dumpfe Klagelaute von verſchiedenen Seiten … Alles finſter — — „Licht! Da macht doch vor allem Licht!“ ſchrie Frau Simon. O weh, alles mögliche hatten wir mitgebracht: Chokolade und Fleiſchextrakt, Cigarren und Leinwandſtreifen — aber an eine Kerze hatte niemand gedacht. Keine Möglichkeit, das Dunkel, das uns und die Unglücklichen umgab, aufzuhellen. Nur eine Schachtel Zündhölzer, welche der Doktor in der Taſche trug, half uns für einige Sekunden die ſchrecklichen Bilder zu ſehen, welche dieſe Stätte des Elends füllten. Der Fuß glitt auf dem von Blut ſchlüpfrigen Boden aus, wenn man ſich weiter bewegen wollte. Was nun? Zu den hundert Verzweifelten, welche hier ſtöhnten und ſeufzten, waren nur noch ein paar Verzweifelnde und Seufzende mehr hinzugekommen: „Was nun, was nun?“ „Ich will das Haus des Pfarrers aufſuchen“, ſagte Frau Simon, „oder ſonſt im Dorfe Beiſtand holen. Kommen Sie, Doktor, geleiten Sie mich mit Ihren Streichhölzern zum Ausgang zurück; und Sie, Frau Martha, bleiben indeſſen hier —“ Hier, allein — im Finſtern, inmitten dieſer wimmernden Leute, in dem erſtickenden Geruch? Das war eine Lage! Mir ſchauderte bis in das Knochenmark. Aber ich widerſprach nicht. „Ja“, ſagte ich — „ich bleibe an dieſer Stelle und warte, bis Sie mit Licht zurückkommen.“ „Nein“, rief Breſſer, indem er meinen Arm in den ſeinen ſchob, „kommen Sie mit — Sie dürfen in dieſem Fegefeuer nicht zurückbleiben — unter den vielleicht fiebertollen Menſchen.“ Ich war dem Freunde für dieſes Vorgehen dankbar und klammerte mich feſt an ſeinen Arm — das Zurückbleiben in dieſen Räumen hätte mich vielleicht wahnſinnig gemacht vor Angſt … Ach, ich war doch ein feiges, hilfloſes Geſchöpf, dem Unglück und den Schrecken nicht gewachſen, in welche ich mich da begeben hatte … Warum war ich nicht zu Hauſe geblieben? Dennoch, wenn ich Friedrich wiederfände? Wer weiß, ob er nicht in dieſen dunklen Räumen lag, die wir eben verließen? Ich rief — während des Hinausgehens — öfter ſeinen Namen, aber das gehoffte und gefürchtete „Hier bin ich, Martha!“ ward mir nicht zurückgerufen. Wir traten wieder ins Freie. Der Wagen ſtand noch auf derſelben Stelle. Doktor Breſſer entſchied, daß ich wieder aufſteigen ſolle. „Frau Simon und ich gehen indeſſen im Dorfe Hilfe ſuchen“, ſagte er, „und Sie bleiben hier.“ Ich fügte mich gern, denn meine Füße konnten mich kaum tragen. Der Doktor half mir aufſteigen und richtete mir mit dem umliegenden Stroh einen Sitz zurecht. Zwei Soldaten blieben bei dem Wagen zurück. Die übrigen wurden von Frau Simon und dem Doktor mitgenommen. Nach einer halben Stunde ungefähr kam die ganze Expedition zurück. Erfolglos. Der Pfarrhof zerſtört, wie alles Andere, und leer; ſämtliche Häuſer Ruinen; nirgends ein Licht aufzutreiben geweſen: — es blieb jetzt nichts Anderes übrig, als den Anbruch des Tages abzuwarten. Wie viele von den Unglücklichen, denen unſer Kommen ſchon Hoffnung erweckt hatte und welche unſere Hilfe jetzt noch hätte retten können, würden in dieſer Nacht wohl ſterben? War das eine lange, bange Nacht! Obwohl thatſächlich nur noch drei bis vier Stunden bis zu Sonnenaufgang vergingen, wie endlos mußten uns dieſe Stunden ſcheinen, deren Verlauf — ſtatt durch die Pendelſchläge einer Uhr — durch die ohnmächtigen Hilferufe leidender Mitmenſchen markiert war. Endlich dämmerte der Morgen. Jetzt konnte gehandelt werden. Frau Simon und Doktor Breſſer machten ſich neuerdings auf den Weg, um vielleicht doch noch einige der verſteckten Dorfbewohner aufzuſtöbern. Es gelang. Aus den Trümmern krochen hier und da ein paar Bauern hervor — zuerſt ſtörriſch und mißtrauiſch; als jedoch Doktor Breſſer ſie in ihrer Mutterſprache anredete und Frau Simon mit ihrer ſanften Stimme ihnen zuſetzte, ließen ſie ſich herbei, ihre Dienſte zu leihen. Es hieß vor Allem, noch ſämtliche anderen verſteckten Einwohner auftreiben, damit ſie bei der Arbeit behilflich ſeien: die umherliegenden Toten begraben, die Brunnen in Stand ſetzen, um für die Lebenden Waſſer zu ſchöpfen; die auf den Wegen zerſtreuten Feldkeſſel zuſammenſuchen, um Geſchirre zu ſchaffen; die Torniſter der Geſtorbenen und Gefallenen ausleeren und die darin befindliche Wäſche für die Verwundeten verwenden. Jetzt kam auch ein preußiſcher Stabsarzt mit Leuten und Hilfsmitteln an — und ſo konnte endlich mit einigem Erfolg daran gegangen werden, den Unglücklichen Hilfe zu bringen. Nun war auch für mich der Augenblick gekommen, da ich vielleicht Denjenigen finden würde, auf deſſen vermeintlichen Ruf ich die unſelige Fahrt unternommen; dieſer Gedanke peitſchte meine gebrochenen Kräfte wieder einigermaßen auf. Frau Simon begab ſich in Begleitung des preußiſchen Stabsarztes vorerſt in das Schloß, wo die meiſten Verwundeten lagen. Doktor Breſſer wollte die übrigen Räume des Dorfes durchſuchen. Ich zog es vor, mich dem Freunde anzuſchließen und ging mit dieſem. Daß Friedrich in dem Schloſſe {nicht} lag, hatte der Doktor bereits auf einem früheren Rundgang konſtatiert. Wir hatten kaum hundert Schritte gemacht, als laute Klagerufe an unſer Ohr ſchlugen. Dieſelben drangen aus dem offenen Thor der kleinen Dorfkirche. Wir traten ein. Über hundert Menſchen lagen auf dem harten Steinboden — ſchwerverwundet, verſtümmelt. Fiebernden und irrenden Blickes ſchrien und jammerten ſie nach Waſſer. Schon an der Schwelle war mir zum Umſinken — ich ſchritt aber dennoch die Reihen durch: ich ſuchte ja Friedrich … Er war nicht da. Breſſer mit ſeinen Leuten machten ſich bei den Armen zu ſchaffen; ich ſtützte mich an ein Seitenaltar und blickte mit unnennbarem Schaudern auf das Jammerbild. Und {das} war der Tempel des Gottes der ewigen Liebe — das waren die wunderthätigen Heiligen, welche da in den Niſchen und an den Wänden fromm die Hände falteten und ihre Köpfe unter dem goldſtrahlenden Glorienſchein emporhoben? … „O Mutter Gottes, heilige Mutter Gottes … einen Tropfen Waſſer … erbarme dich!“ hörte ich einen armen Soldaten flehen. Das hatte er zu dem buntbemalten, tauben Bilde wohl ſchon tagelang vergebens gebetet. — O, ihr armen Menſchen, ehe {ihr} nicht dem Gebot der Liebe gehorcht, das ein Gott in eure Herzen gelegt hat, werdet ihr immer vergebens die Liebe Gottes anrufen — ſo lange unter {euch} die Grauſamkeit nicht überwunden iſt, habt ihr von himmliſchem Mitleid nichts zu hoffen … 58. Viertes Buch. 1866. // 13. Abſchnitt Was ich an dieſem ſelben Tage noch Alles ſehen und erfahren mußte! Nicht wieder erzählen, das wäre freilich das Einfachſte und Verlockendſte. Man ſchließt die Augen und wendet den Kopf ab wenn gar zu Grauenhaftes ſich ereignet — auch das Gedächtnis hat die Fähigkeit zu ſolchem Augenſchließen. Wenn doch nichts mehr zu helfen iſt — was läßt ſich an der ſtarren Vergangenheit ändern? — wozu ſich und die Anderen mit dem Wühlen in dem Entſetzlichen quälen? Wozu? Das werde ich ſpäter ſagen. So viel nur jetzt: {ich muß.} Mehr noch. Nicht nur mein eigenes Gedächtnis will ich anſtrengen — meine Auffaſſungskraft reichte an die Wucht der Geſchehniſſe gar nicht heran —; ich werde noch hinzufügen, was andere Zeugen jener Scenen — was Frau Simon, Doktor Brauer und der ſächſiſche Feldhoſpital-Kommandant, Doktor Naundorff, (man vergleiche des letztgenannten erſchütterndes Buch „Unter dem roten Kreuz“) berichtet haben. Wie in Horonewos, ſo hatte die Hölle noch in vielen anderen der umliegenden Ortſchaften ihre Filialen. So war es in Sweti, in Hradeck, in Problus. So in Pardubitz, wo, als es die erſten Preußen beſetzten, … über {tauſend} Schwerverwundete, Operierte und Amputierte umherlagen, teils ſterbend, teils ſchon geſtorben, Leichen zwiſchen Verſcheidenden und ſolchen, welche ihr Ende erſehnten. Viele nur in blutigen Hemden, daß man nicht einmal wiſſen konnte, welches Landes Kinder ſie waren. Alle die, welche noch Spuren des Lebens in ſich trugen, ſchreiend nach Waſſer und Brot, ſich krümmend unter den Schmerzen ihrer Wunden, und um den Tod gleichwie um eine Wohlthat flehend.“ „Roßnitz,“ ſo ſchreibt Doktor Brauer in ſeinen Briefen, „Roßnitz, dieſer Ort, deſſen Bild bis in meine Sterbeſtunde vor meinem Gedächtniſſe ſtehen wird, Roßnitz, wohin ich am 6. Tage nach der mörderiſchen Schlacht von den Johannitern geſchickt wurde und wo das größte Elend, welches ſich menſchliche Einbildungskraft vorzuſtellen vermag, noch an dieſem Tage herrſchte. Ich fand daſelbſt unſern R. mit 650 Verwundeten, welche in elenden Scheunen und Ställen, ohne Verpflegung, mitten unter Toten und Halbtoten, teilweiſe ſeit Tagen in ihrem eigenen Kote lagen. Hier war es, wo ich nach Errichtung des Grabhügels des gefallenen Oberſtlieutenants v. F. ſo von Schmerz überwältigt wurde, {daß ich eine Stunde lang die heißeſten Thränen vergoß} und mich trotz des Aufwandes meiner ganzen moraliſchen Kraft kaum zu faſſen vermochte. Obgleich ich als Arzt gewohnt bin, menſchliches Elend in allerlei Geſtalt zu erblicken und in der Ausübung meines Berufes es lernte den Jammer der gequälten menſchlichen Natur zu ertragen, ſo entquollen doch in der That hier meinen Augen unaufhaltſame Thränen. Hier in Roßnitz war es, wo ich am zweiten Tage, als ich erkannte, daß unſere Kräfte ſolchem Elend nicht gewachſen ſeien, den Mut verlor und zu verbinden aufhörte.“ — — — „… In welchem Zuſtand waren dieſe 600 Männer (diesmal ſpricht Doktor Naundorff). Es iſt unmöglich, dies mit Wahrheit zu ſchildern. An den noch immer offenen Wunden ſaugten Mücken, mit denen ſie bedeckt waren; im Fieber funkelnde Blicke irrten forſchend umher und ſuchten nach irgend einer Hilfe — nach Labung, nach Waſſer, nach Brot! Mantel, Hemd, Fleiſch und Blut bildeten bei den Meiſten eine widerliche Miſchung. {Würmer begannen ſich darin zu erzeugen und einzufreſſen.} Ein abſcheulicher Geruch erfüllte jeglichen Raum. Alle dieſe Soldaten lagen auf der nackten Erde, nur Wenige fanden etwas Stroh, auf welches ſie ihre elenden, verſtümmelten Körper betten konnten. Einige, welche nur lehmigen, durchgeweichten Boden unter ſich hatten, ſind in dem Schlamme desſelben halb verſunken; ſie vermögen nicht, ſich aus ihm emporzuarbeiten; Andere liegen in einer Pfütze gräulichen Schmutzes, den zu beſchreiben jede Feder ſich ſträuben muß.“ „… In Masloved“ — ſo erzählte Frau Simon — „ein Ort von ungefähr fünfzig Nummern, lagen — acht Tage nach der Schlacht — 700 Verwundete. Nicht ſowohl ihr Jammergeſchrei als ihre troſtloſe Verlaſſenheit drang zum Himmel empor. In einer einzigen Scheune waren allein 60 dieſer Unglücklichen aufgeſchichtet. Eine jede ihrer Wunden war an ſich ſchon ſchwer, durch den hilfloſen Zuſtand, den Mangel an Pflege und Nahrung waren dieſelben hoffnungslos geworden; faſt Alle waren brandig. Zerſchoſſene Glieder bildeten nur noch faulende Fleiſchſtücke, Geſichter nur noch eine mit Schmutz bedeckte, zerronnene Blutmaſſe, in welcher eine unförmliche ſchwarze Öffnung den Mund vorſtellte, welchem gräßliche Töne entquollen. Die fortſchreitende Verweſung trennte ganze abgeſtorbene Teile von dieſen elenden Körpern. Lebendige liegen neben Toten gebettet, die in Fäulnis überzugehen beginnen und für welche die Würmer ſich rüſten. Dieſe ſechzig Menſchen, ſo wie der größte Teil der Übrigen, lagen ſeit einer Woche auf derſelben Stelle. Ihre Wunden waren entweder gar nicht, oder nur in unzureichender Weiſe verbunden worden; ſeit dem Tage der Schlacht lagen ſie, unfähig ſich von der Stelle zu bewegen, nur mangelhaft genährt, ohne hinreichendes Waſſer. Unter ſich ein durch Blut und Unrat verfaulendes Lager, ſo verbrachten ſie acht Tage! Lebendige Leichname, durch deren zuckende Glieder eine vergiftete Blutwelle nur noch träge ihren Umlauf vollendet. Sie hatten noch nicht ſterben können, und doch — wie durften ſie erwarten, je wieder lebendig zu werden? Was iſt dabei des Staunens werter“ — beſchloß Frau Simon dieſen Bericht — „die unendliche Lebenskraft der menſchlichen Natur, welche das erduldet und noch zu atmen vermag, oder der Mangel an zureichender Hilfe?“ Das Staunenswerteſte iſt — will mich bedünken — daß Menſchen einander in ſolche Lage {bringen}, — daß Menſchen, die ſo etwas geſehen, nicht kniend hinſinken und den leidenſchaftlichen Eid ſchwören, gegen den Krieg zu kriegen: daß ſie nicht — wenn ſie Fürſten ſind — das Schwert von ſich ſchleudern oder — wenn ſie keine Macht beſitzen — nicht fortan ihr ganzes Wirken, in Wort und Schrift, in Denken, Lehren und Handeln dem einen Ziele widmen: Die Waffen nieder! * * * Frau Simon — ſie nannten ſie „die Lazareth-Mutter“ — war eine Heldin. Wochenlang hatte ſie in jenen Gegenden geweilt und alle Drangſale und Gefahren ertragen. Hunderte ſind durch ſie gerettet worden. Tag und Nacht arbeitete, ſchaffte, befehligte ſie. Bald verrichtete ſie die demütigſten Dienſte an den Krankenlagern, bald kommandierte ſie Transporte oder requirierte Lebensmittel. Wenn ſie an einem Orte Hilfe geſchafft, ſo eilte ſie ohne Raſt an einen andern; ſie ließ aus Dresden eine reiche Sendung kommen und führte dieſelbe, trotz allen entgegenſtehenden Schwierigkeiten, nach den Punkten, welche der Hilfe bedurften; ſie übernahm die Vertretung der patriotiſchen Vereine auf böhmiſchem Boden und errang ſich da eine Stellung gleich derjenigen, welche Florence Nightingale in der Krim eingenommen. Und ich? Gebrochen, troſtlos, von Schmerz und Ekel überwältigt — nichts habe ich zu helfen vermocht. Schon in der Kirche — unſere erſte Etappe — fiel ich auf den Stufen jenes Marienaltars erſchöpft zuſammen und Doktor Breſſer hatte alle Mühe, mich wieder aufzurichten. Von dort ſchleppte ich mich an ſeiner Seite eine Strecke weiter und wir kamen in eine ſolche Scheune, welche ein Bild bot, wie es Frau Simon beſchrieben. In der Kirche wenigſtens war ein weiter Raum, wo die Unglücklichen {neben} einander lagen, hier aber waren ſie auf- und ineinander geſchichtet — haufen- und knäuelweiſe; in die Kirche waren doch Pflegende — vielleicht ein durchmarſchierendes Sanitätskorps — gekommen, welche zwar mangelhafte, aber doch einige Hilfe geboten hatten; hier aber waren lauter ganz ungefunden Gebliebene — eine krabbelnde, wimmernde Maſſe halbverfaulter Menſchenreſte … Erſtickender Ekel packte mich an der Kehle, bitterſter Jammer am Herzen — mir war als fühlte ich letzteres entzwei brechen — und ich ſtieß einen gellenden Schrei aus. Dieſer Schrei iſt das letzte, was mir von jener Scene in Erinnerung geblieben. 59. Viertes Buch. 1866. // 14. Abſchnitt Als ich wieder zur Beſinnung kam, befand ich mich in einem fahrenden Eiſenbahnwagen. Mir gegenüber ſaß Doktor Breſſer. Als er gewahrte, daß ich die Augen geöffnet und erſtaunt und forſchend um mich ſchaute, ergriff er meine Hand: „Ja, ja, Frau Martha,“ ſagte er, „dies iſt ein Koupee zweiter Klaſſe — Sie träumen nicht. Sie ſind hier in Geſellſchaft einiger leichtverwundeter Offiziere und Ihres Freundes Breſſer, und wir fahren nach Wien.“ So war es. Der Doktor hatte einen Transport Verwundeter von Horonewos nach Königinhof gebracht, und von dort war ihm ein anderer Transport zur Beförderung nach Wien anvertraut worden. Mich Ohnmächtige — in der doppelten Bedeutung des Wortes ohnmächtig — hatte er mitgenommen und brachte mich nach Hauſe. Ich hatte mich auf jenen Stätten des Elends als völlig unnütz und unfähig erwieſen, als ein Hindernis und eine Bürde; Frau Simon war ſehr froh, als Doktor Breſſer mich fortſchaffte. Und ich mußte zugeben, daß es ſo am beſten war. Aber Friedrich? — Ich hatte ihn nicht gefunden. Gott ſei Dank — daß ich ihn nicht gefunden: ſo war noch nicht alle Hoffnung tot: und hätte ich gar den geliebten Mann unter jenen Jammergeſtalten erkennen müſſen — ich wäre wahnſinnig geworden! Vielleicht würde ich zu Hauſe einen Brief meines Friedrich vorfinden … Dieſe Hoffnung — nein, Hoffnung iſt zu viel geſagt: der Gedanke an dieſe bloße {Möglichkeit} — goß mir einen Balſam in die wunde Seele. Ja wund — wund fühlte ich mein Inneres … Das Rieſenweh, welches ich geſehen, hatte mir ſo tief ins eigene Herz geſchnitten, daß mir war, als ſollte es nie mehr ganz geheilt werden können. — Auch wenn ich meinen Friedrich wiederfände, auch wenn mir eine lange Zukunft von Glanz und Liebe beſcheert würde, könnte ich denn jemals vergeſſen, daß ſo viele andere meiner armen Menſchenbrüder und -Schweſtern ſo unſägliches Unglück tragen müſſen? So lange tragen müſſen, als ſie nicht zur Einſicht kommen, daß dieſes Unglück nicht Verhängnis, ſondern Verbrechen iſt. — — Ich ſchlief beinahe während der ganzen Fahrt. Doktor Breſſer hatte mir ein leichtes Narkotikum eingegeben, damit ein langer und feſter Schlaf meine durch die Erlebniſſe von Horonewos ſo erſchütterten Nerven wieder einigermaßen beruhige. Als wir auf dem wiener Bahnhof ankamen, ſtand ſchon mein Vater da, mich abzuholen. Doktor Breſſer, der an alles dachte, hatte nach Grumitz telegraphiert. Ihm ſelbſt wäre es nicht möglich geweſen, mich dahin zu begleiten, da er ſeine Verwundeten in das Hoſpital zu bringen hatte und dann unverzüglich wieder nach Böhmen zurückkehren wollte. Mein Vater umarmte mich ſchweigend und auch ich fand kein Wort zu ſagen. Dann wandte er ſich an Doktor Breſſer. „Wie ſoll ich Ihnen danken? Hätten Sie nicht dieſe kleine Verrückte in Schutz genommen — —“ Aber der Doktor drückte uns eilig die Hände. „Ich muß weg,“ ſagt er, „ich habe Dienſt. Kommen Sie glücklich nach Hauſe. Die junge Frau braucht Schonung, Excellenz … iſt ſtark erſchüttert worden … keine Vorwürfe, kein Ausfragen … ſchnell ins Bett: … Orangenblütenwaſſer … Ruhe, Adieu!“ Und fort war er. Mein Vater legte meinen Arm in den ſeinen und führte mich durch das Gedränge dem Ausgang zu. Da ſtand wieder eine lange Reihe von Ambulanzwagen. Wir mußten eine Strecke zu Fuß gehen, um zu der Stelle zu gelangen, wo unſer Wagen wartete. Die Frage: „Iſt mittlerweile Nachricht von Friedrich gekommen?“ ſtieg mir wiederholt zu den Lippen empor, ich fand aber nicht den Mut, ſie auszuſprechen. Endlich — wir waren ſchon ein Stück gefahren und mein Vater war noch immer ſtumm — brachte ich dieſelbe hervor: „Bis geſtern Abend nicht,“ lautete die Antwort. „Möglich, daß wir heute Nachricht finden. Ich bin nämlich ſchon geſtern, gleich nach Empfang des Telegramms, zur Stadt gefahren. Ach, {haſt} Du uns Angſt gemacht, Du närriſches Ding! Auf die Schlachtfelder fahren, dem grimmigen Feind entgegen — dieſe Leute ſind ja wie die Wilden … Durch ihre Spitzkugelſiege ſind ſie ganz berauſcht … und überhaupt: disciplinierte Soldaten ſind ſie ja nicht, dieſe Landwehrleute — von ſolchen kann man ſich auf die ärgſten Unthaten gefaßt machen, und Du — eine Frau — läufſt da mitten hinein; Du — nun der Doktor hat mir verordnet, Dir keine Vorwürfe zu machen —“ „Wie geht es meinem Sohne Rudolf?“ „Der ſchreit und heult nach Dir, ſucht Dich im ganzen Haus, will nicht glauben, daß Du weggereiſt ſeieſt, ohne ihm einen Abſchiedskuß zu geben. Und nach den Anderen frägſt Du nicht? nach Lilli, Roſa, Otto, Tante Marie? Du kommſt mir überhaupt ſo teilnahmslos vor —“ „Wie geht es Allen? Hat Konrad geſchrieben?“ „Gut geht es allen. Von Konrad kam geſtern ein Brief — es iſt ihm nichts geſchehen. Lilli iſt ſelig. Du wirſt ſehen, von Tilling wird nächſtens auch gute Nachricht eintreffen. Leider iſt in politiſcher Hinſicht nichts Gutes zu erwarten. Du haſt doch von dem großen Unglück gehört?“ „Welches … Ich habe in der Zeit gar nichts Anderes geſehen, als großes Unglück.“ „Ich meine Venetien — unſer ſchönes Venetien fortgeſchleudert — dem Intriganten Louis Napoleon auf dem Präſentierteller gereicht! Und das nach ſolchen glänzenden Siegen, wie wir bei Cuſtozza errungen haben … Statt unſere Lombardei zurückzunehmen, auch noch unſer Venedig hingeben! Freilich, dadurch ſind wir die Feinde im Süden los, haben auch den Louis Napoleon für uns und können jetzt mit aller Wucht für Sadowa Rache nehmen, den Preußen aus dem Lande hinauswerfen, ihn verfolgen und uns Schleſien holen. Benedek hat große Fehler begangen, jetzt aber wird der Oberbefehl in die Hände des glorreichen Feldherrn der Südarmee gelegt … Du antworteſt nicht? Nun denn, ſo will ich Dir, immer nach Breſſers Verordnung Ruhe laſſen.“ Nach zweiſtündiger Fahrt kamen wir in Grumitz an. Als unſer Wagen im Schloßhof einfuhr, ſtürzten uns die Schweſtern entgegen. „Martha, Martha“ — riefen beide ſchon von weitem: „Er iſt da!“ Und nochmals — am Wagenſchlag. „Er iſt da, Martha!“ „Wer!“ „Friedrich, Dein Mann.“ 60. Viertes Buch. 1866. // 15. Abſchnitt Ja — ſo war es. Erſt geſtern, ſpät am Abend, war Friedrich mit einem Verwundetentransporte von Böhmen nach Wien und von dort hierher gebracht worden. Er hatte eine Kugel in das Bein bekommen, eine Wunde, die ihn augenblicklich dienſtunfähig und pflegebedürftig machte, die jedoch gänzlich ungefährlich war. Aber auch die Freude iſt ſchwer zu ertragen. Die mir von meinen Schweſtern ſo unvorbereitet zugeworfene Nachricht: „Friedrich iſt da“ wirkte ebenſo, wie die Schreckniſſe der vergangenen Tage: ſie raubte mir die Beſinnung. Man mußte mich aus dem Wagen in das Schloß tragen und zu Bett bringen. Hier verbrachte ich — war es die Nachwirkung des Narkotikums, war es die Heftigkeit des Freudenſchlages? — mehrere Stunden in bald ſchlafender, bald delirierender Bewußtloſigkeit. Als ich zu mir kam und mich in meinem Bette ſah, da glaubte ich, daß ich aus einem ſchweren Traum erwachte und daß ich von Grumitz gar nicht fortgekommen war. Der Brief Breſſers, mein Entſchluß nach Böhmen abzureiſen, meine Erlebniſſe dortſelbſt — die Rückfahrt, die angekündigte Heimkehr Friedrichs: Alles nur geträumt … Ich blickte auf. Am Fuße des Bettes ſtand meine Kammerjungfer. „Iſt mein Bad bereit?“ fragte ich, „ich will aufſtehen.“ Jetzt ſtürzte aus einer Ecke des Zimmers Tante Marie hervor: „Ach Martha, armer Schatz, biſt Du endlich wach und bei Sinnen — Gott ſei Dank! Ja, ja, ſteh auf — und ja, ja, nimm Dein Bad, das wird wohl thun … wenn man ſo von Straßen- und Eiſenbahnſtaub bedeckt iſt, wie Du —“ „Eiſenbahnſtaub — was meinſt Du denn?“ „Schnell, ſteh’ auf — Netti, richten Sie Alles vor. Friedrich vergeht ſchon vor Ungeduld, Dich zu ſehen.“ „Friedrich, mein Friedrich!!!“ Wie oft hatte ich in den letzten Tagen dieſen Namen ſo ſchmerzlich ausgerufen — aber jetzt war es ein Jubelruf — denn nunmehr hatte ich verſtanden; es war kein Traum; ich war fortgeweſen und heimgekehrt und ſollte den Gatten wiederſehen! Eine Viertelſtunde ſpäter trat ich bei ihm ein. Allein. — Ich hatte mir ausgebeten, daß Niemand mit mir komme. Bei unſerem Wiederfinden ſollte kein Dritter anweſend ſein. „Friedrich!“ — „Martha!“ Ich war auf das Ruhebett hingeſtürzt, auf dem er lag und ſchluchzte an ſeiner Bruſt. * * * Es war dies das zweite Mal im Leben, daß mir der geliebte Gatte aus den Gefahren des Krieges zurückgegeben ward. „O, die Seligkeit, ihn wieder zu haben! Wie kam ich, gerade ich dazu, mitten aus der Schmerzensflut, in der ſo Viele untergegangen, an ein ſicheres, glückliches Ufer gelangt zu ſein? Wohl Denen, die in ſolcher Lage freudig den Blick zum Himmel heben und dem Lenker oben warmen Dank emporſenden; durch dieſen Dank, den ſie, weil er demütig geſprochen wird, auch für demütig halten, von dem ſie gar nicht ahnen, wie anmaßend und ſelbſtüberhebend er im Grunde iſt, fühlen ſie ſich entlaſtet; damit haben ſie für den ihnen verliehenen Vorzug, den ſie Huld und Gnade nennen, nach ihrer Meinung genügend quittiert. Ich war das nicht im ſtande. Wenn ich an die Elenden dachte, die ich an jenen Jammerſtätten geſehen, und an die beklagenswerten Mütter und Frauen dachte, deren Lieben von demſelben Schickſal, das mich begünſtigt hatte, in Qual und Tod geſtürzt worden — da konnte ich unmöglich ſo unbeſcheiden ſein, dieſe Begünſtigung als eine göttlich beabſichtigte anzunehmen, für die ich berechtigt wäre, zu danken. Mir fiel ein, wie neulich einmal Frau Walter, unſere Haushälterin, mit einem Beſen über einen Schrank fuhr, worauf eine Schar zuckerwitternder Ameiſen wimmelte — ſo fegte das Schickſal über die böhmiſchen Schlachtfelder weg; — die armen ſchwarzen Arbeiterinnen waren zumeiſt zerdrückt, getötet, verſtreut, nur Einige blieben unverſehrt. Wäre es wohl von Dieſen vernünftig und angemeſſen geweſen, wenn ſie der Frau Walter dafür innigen Dank emporgeſendet hätten? … Nein, ich konnte durch die Freude des Wiederſehens, ſo groß dieſe auch war das Weh aus meinem Herzen nicht vollſtändig bannen — ich konnte nicht und wollte nicht. Zu helfen war ich nicht im ſtande geweſen; verbinden, pflegen, warten — wie jene barmherzigen Schweſtern, wie die tapfere Frau Simon es gethan — dazu hatten meine Kräfte nicht gereicht. Aber die Barmherzigkeit, die aus Mitgefühl beſteht, die habe ich den armen Mitgeſchöpfen doch angedeihen laſſen und die durfte ich nicht, in egoiſtiſchem Vollvergnügen, ihnen wieder entziehen — ich durfte nicht {vergeſſen}. Aber wenn auch nicht frohlocken und danken — {lieben}, den Wiedergefundenen hundertfach zärtlich in mein Herz ſchließen: das durfte ich wohl … „O Friedrich, Friedrich!“ wiederholte ich unter Thränen und Liebkoſungen, „habe ich Dich wieder!“ „Und Du wollteſt mich ſuchen und pflegen? Wie heldenhaft und wie thöricht, Martha!“ „Thöricht, ja — das ſehe ich ein. Die rufende Stimme, die mich fortzog, war Einbildung, war Aberglaube, denn Du riefſt mich nicht. Aber heldenhaft? Nein. Wenn Du wüßteſt, wie feig ich mich dem Elend gegenüber erwies! Nur Dich — nur wenn Du dort gelegen — hätte ich pflegen können. Ich habe Entſetzliches geſehen, Friedrich, was ich nie vergeſſen werde. O unſere ſchöne Welt, wie kann man ſie nur ſo verderben, Friedrich? Eine Welt, in der zwei Weſen einander ſo lieben können, wie ich und Du — in der ſolches Feuerglück lodern kann, wie unſer Einsſein — wie mag die nur ſo thöricht ſein, die Flammen des tod- und jammerbringenden Haſſes zu ſchüren?“ „Ich habe auch etwas Entſetzliches geſehen, Martha — etwas, das ich nie vergeſſen kann. Denke Dir — auf mich losſtürzend, mit gehobener Klinge, — es war während eines Kavalleriegefechts bei Sadowa — auf mich losſtürzend — Gottfried von Teſſow.“ „Tante Korneliens Sohn?“ „Derſelbe. Er hat mich zur rechten Zeit erkannt und ſenkte die bereits hiebbereite Waffe —“ „Da hat er eigentlich gegen ſeine Pflicht gehandelt, wie? Einen Feind ſeines Königs und Vaterlandes verſchont — unter dem nichtigen Vorwand, daß derſelbe ein lieber Freund und Vetter ſei …“ „Das arme Bürſchchen! Kaum hatte er den Arm ſinken laſſen, ſo ſauſte ein Säbel über ſeinen Kopf … Es war mein Nebenmann, ein junger Offizier, der ſeinen Oberſtlieutenant ſchützen wollte und —“ Friedrich hielt inne und bedeckte ſein Geſicht mit beiden Händen. „Getötet?“ fragte ich ſchaudernd. Er nickte. „Mama, Mama!“ kam es vom Nebenzimmer her und die Thür wurde aufgeriſſen. Es war meine Schweſter Lilli, den kleinen Rudolf an der Hand. „Verzeih’, daß ich euer Wiederſehen-[tête-à-tête] ſtöre, aber Dieſer da verlangt gar zu ſtürmiſch nach ſeiner Mama.“ Ich eilte dem Kind entgegen und preßte es leidenſchaftlich an mein Herz. — Ach die arme, arme Tante Kornelie! 61. Viertes Buch. 1866. // 16. Abſchnitt Noch am ſelben Tag kam der aus Wien telegraphiſch gerufene Chirurg im Schloſſe an und nahm Friedrichs Wunde in Behandlung. Sechs Wochen äußerſte Ruhe — und die Heilung würde eine vollſtändige ſein. Daß mein Mann den Dienſt quittieren würde, das ſtand nun bei uns beiden feſt. Natürlich konnte dies erſt nach Beendigung des Krieges ausgeführt werden. Übrigens konnte man den Krieg füglich als beendet betrachten. Nach dem Verzicht auf Venedig war der Konflikt mit Italien beſeitigt, Napoleons Freundſchaft war gewonnen und man würde im ſtande ſein, mit dem nordiſchen Sieger einen glimpflichen Frieden abzuſchließen. Unſer Kaiſer ſelbſt wünſchte ſehnlichſt, dem unglücklichen Feldzug ein Ende zu machen und wollte nicht noch ſeine Hauptſtadt einer Belagerung ausſetzen. Die preußiſchen Siege im übrigen Deutſchland, ſo der am 16. Juli ſtattgefundene Einzug der Preußen in Frankfurt a/M., verliehen dem Gegner einen gewiſſen Nimbus, der — wie alle Erfolge — auch bei uns zu Lande Bewunderung erzwang und eine Art Glauben weckte, daß es eine geſchichtliche Miſſion ſein, welche da von den Preußen mittelſt gewonnener Schlachten ausgeführt wurde. Das Wort „Waffenſtillſtand“ — „Frieden“ war nun einmal gefallen, und da konnte auf deſſen Verwirklichung ebenſo ſicher gerechnet werden, wie man in Zeiten, wo die Drohung des Krieges einmal ausgeſprochen, über kurz oder lang auf den Ausbruch des Krieges rechnen muß. Selbſt mein Vater gab jetzt zu, daß unter den obwaltenden Umſtänden ein Aufheben der Feindſeligkeiten angemeſſen wäre; die Armee war geſchwächt, die Überlegenheit des Zündnadelgewehres mußte anerkannt werden und ein Vormarſch der feindlichen Truppen nach der Hauptſtadt, die Beſchießung Wiens und nebſtbei auch die Zerſtörung von Grumitz: das waren Eventualitäten welche auch meinem kampfluſtigen Herrn Papa nicht ſonderlich zulächelten. Sein Vertrauen in die Unbeſiegbarkeit der öſterreichiſchen Truppen war durch die Thatſachen denn doch erſchüttert worden; und es iſt überhaupt eine Neigung des menſchlichen Geiſtes, von den laufenden Ereigniſſen abzunehmen, daß ſie ſerienweiſe auftreten: daß auf Erfolg wieder Erfolg, auf Unglück wieder Unglück folgen müſſe. Beſſer alſo, in der Unglücksſerie innehalten — die Zeit der Genugthuung und der Rache würde ſchon kommen … Rache und immer wieder Rache? Jeder Krieg muß einen Beſiegten aufweiſen und wenn dieſer nur in einem nächſten Krieg Genugthuung finden kann, einem nächſten der natürlich wieder einen genugthuungheiſchenden Beſiegten ſchaffen wird — wann nimmt das ein Ende? Wie kann Gerechtigkeit erlangt, wann altes Unrecht geſühnt werden, wenn als Sühnemittel immer wieder neues Unrecht angewendet wird? Keinem vernünftigen Menſchen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen — nur Blut, das ſoll immer wieder mit Blut ausgewaſchen werden! Die in Grumitz obwaltende Stimmung war allgemein eine düſtere. In der Ortſchaft herrſchte Panik: „die Preußen kommen, die Preußen kommen“ war auch hier — trotz den von mancher Seite gehegten Friedenshoffnungen — immer noch die ausgegebene Angſtparole, und die Leute verpackten und vergruben ihre Koſtbarkeiten; auch bei uns im Schloſſe hatten Tante Marie und Frau Walter dafür geſorgt, daß das Familienſilber in ein geheimes Verſteck gebracht werde. Lilli war in ſteter Sorge um Konrad, von welchem jetzt ſeit einigen Tagen die Nachrichten ausgeblieben waren; mein Vater fühlte ſich in ſeiner patriotiſchen Ehre gekränkt und wir beide, Friedrich und ich, trotz des ſtill in unſeren Herzen ruhenden Glückes über unſere Wiedervereinigung, waren von dem miterlebten, ſo heftig mitempfundenen Unglück der Zeit aufs ſchmerzlichſte erſchüttert. Und von allen Seiten floß dieſem Schmerze immer wieder neue Nahrung zu. In ſämtlichen Zeitungsberichten, in allen Briefen aus Verwandten- und Bekanntenkreiſen nichts als Klage und Trauer. Da war ein Brief von Tante Kornelie, welche ihr Unglück noch nicht kannte, worin ſie in ſo rührenden Worten von der Furcht ſprach, ihr einziges Kind etwa verlieren zu müſſen — ein Brief, über den wir Zwei bittere Thränen vergoſſen. Und wenn wir abends im Kreiſe beiſammen ſaßen, da gab es nicht heiteres, ſcherzgewürztes Geplauder, Muſik, Kartenſpiel und anregende Lektüre, ſondern immer nur — geſprochen oder geleſen — Geſchichten von Jammer und Tod. Wir laſen nichts anderes als Zeitungen und dieſe waren mit „Krieg“ und nichts als „Krieg“ gefüllt, und was wir ſprachen, bezog ſich meiſt auf die Erfahrungen, welche Friedrich und ich von den böhmiſchen Schlachtfeldern zurückgebracht hatten. Meine Abreiſe dahin wurde mir zwar von Allen ſehr übel genommen, dennoch lauſchten ſie geſpannt, wenn ich von den dortigen, teils ſelbſterlebten, teils mitgeteilten Ereigniſſen erzählte. Roſa ſchwärmte für Frau Simon und ſchwor, falls der Krieg andauern ſollte, ſich der ſächſiſchen Samariterin anzuſchließen. Dagegen proteſtierte natürlich unſer Vater: „Mit Ausnahme der barmherzigen Schweſtern und der Marketenderinnen, hat kein Frauenzimmer im Krieg ’was zu ſuchen … ihr ſeht ja, wie untauglich unſere Martha ſich erwieſen hat. Das war ein unverzeihlicher Streich von Dir, Du tolles Kind — Dein Mann ſollte Dich noch nachträglich dafür züchtigen.“ Friedrich ſtreichelte meine Hand: „Ja, eine Thorheit war’s — aber eine ſchöne.“ — Wenn ich von den Schreckniſſen, die ich ſelber geſehen, oder die mir meine Reiſegefährten mitgeteilt, in gar zu unverhüllter Weiſe ſprach, wurde ich oft von Tante Marie oder von meinem Vater rügend unterbrochen: „Wie kann man ſo abſcheuliche Dinge wiederholen?“ Oder: „Schämſt Du Dich nicht, als Frau, als zarte Dame, ſo häßliche Worte in den Mund zu nehmen?“ Als ich gar eines Abends von den Verſtümmelten ſprach und das Los derer beklagte, die im Namen des Mannesmuts, der Manneszucht und der Mannesehre in den Krieg getrieben, von dort zurückkehren müſſen, ihrer Mannheit auf ewig beraubt — — „Martha! {Vor den Mädchen}!!!“ ſtöhnte Tante Marie, im Tone der höchſten ſittlichen Entrüſtung. Da riß mir die Geduld: „O über eure Prüderie — und o über eure zimperliche Wohlanſtändigkeit! {Geſchehen} dürfen alle Greuel, aber nennen darf man ſie nicht. Von Blut und Unrat ſollen die zarten Frauen nichts erfahren und nichts erwähnen, wohl aber die Fahnenbänder ſticken, welche das Blutbad überflattern werden; {davon} dürfen Mädchen nichts wiſſen, daß ihre Verlobten unfähig gemacht werden können, den Lohn ihrer Liebe zu empfangen, aber dieſen Lohn ſollen ſie ihnen zur Kampfesanfeuerung verſprechen. Tod und Tötung hat nichts unſittliches für euch, ihr wohlerzogenen Dämchen — aber bei der bloßen Erwähnung der Dinge, welche die Quellen des fortgepflanzten {Lebens} ſind, müßt ihr errötend wegſchauen. Das iſt eine grauſame Moral, wißt ihr das? Grauſam und feig! Dieſes Wegſchauen — mit dem leiblichen und mit dem geiſtigen Auge — das iſt an dem Beharren ſo vielen Elends und Unrechts ſchuld! Wer nur erſt den Mut hätte, hinzuſchauen, wo Mitgeſchöpfe in Leid und Elend ſchmachten und den Mut hätte, über das Geſchaute nachzudenken —“ „Ereifere Dich nicht“, unterbrach Tante Marie, „wir können doch nicht, ſo viel wir auch zuſchauen und nachdenken wollten, das Übel von der Erde wegſchaffen — dieſelbe iſt nun einmal ein Jammerthal und wird es immer bleiben.“ „Das wird ſie nicht“, entgegnete ich und behielt ſo doch das letzte Wort. 62. Viertes Buch. 1866. // 17. Abſchnitt „Die Gefahr, daß Frieden geſchloſſen wird, rückt immer näher“, klagte eines Tages mein Bruder Otto. Wir ſaßen eben wieder um den Familientiſch — Friedrich auf ſeinem Ruhebett daneben — und es hatte jemand aus der Zeitung die Nachricht vorgeleſen, daß Benedetti in Böhmen angekommen ſei — offenbar mit der Sendung betraut, Friedensvorſchläge zu unterbreiten. Nichts fürchtete mein kleiner — er war zwar ſchon groß, doch hatte ich die Gewohnheit ihn ſo zu nennen — mein kleiner Bruder ſo ſehr, als daß der Krieg ein frühzeitiges Ende nehme und daß es ihm nicht beſchieden wäre, den Feind aus dem Land zu jagen. Es war nämlich aus Wiener-Neuſtadt die Nachricht erfolgt, daß, falls die Feindſeligkeiten wieder aufgenommen würden, dann bei der nächſten, am 18. Auguſt folgenden Ausmuſterung nicht nur die Zöglinge des letzten, ſondern auch mehrere des vorletzten Jahrganges ſogleich in aktiven Dienſt treten dürften. Dieſe Ausſicht verſetzte den jungen Helden in Entzücken. Gleich aus der Akademie in den Krieg — welche Wonne! Ähnlich freut ſich eine Penſionatsſchülerin hinaus in die Welt — auf den erſten Ball. Sie hat tanzen gelernt — der Neuſtadter Schüler lernte ſchießen und fechten —; ſie ſehnt ſich, unter einem angezündeten Kronleuchter, in feſtlicher Toilette, bei Orcheſterklang, ihre Kunſt zu entfalten, und er ſehnt ſich nicht minder nach der ſchmucken Uniform und nach dem großen Kanonenkotillon. Der Vater war über dieſes ſoldatiſche Feuer ſeines Lieblings natürlich hoch erfreut: „Sei ruhig, mein tapferer Junge,“ erwiderte er auf Ottos Seufzer über den drohenden Frieden, und klopfte ihm beifällig auf die Schulter; „Du haſt ein langes Leben vor Dir. Wenn auch jetzt der Feldzug zu Ende wäre, in den nächſten Jahren muß es doch wieder losgehen.“ Ich ſagte nichts. Seit meinem letzten Ausfall gegen Tante Marie hatte ich, auf Friedrichs Weiſung, den Vorſatz gefaßt und ausgeführt, die leidigen Streitereien über das Thema Krieg möglichſt zu vermeiden. Es konnte ja zu nichts führen, als zu Bitterkeiten; und ſeitdem ich die Spuren der grauſigen Geißel mit eigenen Augen geſehen, hatte ſich mein Haß und meine Verachtung des Krieges ſo vertieft, daß mir jede Verteidigung desſelben wie eine perſönliche Beleidigung in die Seele ſchnitt. Mit Friedrich waren wir ja einig: er würde austreten; und darüber war ich auch im klaren: mein Sohn Rudolf würde in keine militäriſche Anſtalt gethan, wo die ganze Erziehung darauf eingerichtet iſt — und folgerichtig eingerichtet ſein muß — in den Jünglingen die Sehnſucht nach kriegeriſchen Thaten zu wecken. Ich forſchte meinen Bruder einmal aus, was denn ſo die Anſichten ſeien, welche den Schülern in Bezug auf den Krieg beigebracht werden. Aus ſeinen Antworten ging ungefähr folgendes hervor: Der Krieg wird als ein notwendiges Übel hingeſtellt (alſo doch {Übel} — ein Zugeſtändnis dem Geiſte der Zeit), zugleich aber als der vorzüglichſte Erwecker der ſchönſten menſchlichen Tugenden, die da ſind: Mut, Entſagungskraft und Opferwilligkeit, als der Spender des größten Ruhmesglanzes, und ſchließlich als der wichtigſte Faktor der Kulturentwickelung. Die gewaltigen Eroberer und Gründer der ſogenannten Weltreiche — die Alexander, Cäſar, Napoleon — werden als die erhabenſten Beiſpiele menſchlicher Größe angeführt und der Bewunderung empfohlen; die Erfolge und Vortheile des Krieges werden auf das lebhafteſte herausgeſtrichen, während man die in ſeinem Gefolge unabweisbar eintretenden Nachteile — Verrohung, Verarmung, moraliſche und phyſiſche Entartung — gänzlich mit Stillſchweigen übergeht. — Nun ja; nach demſelben Syſtem ward ja auch in meinem — im Mädchenunterricht vorgegangen; dadurch war in meinem kindlichen Gemüt die Bewunderung für die Kriegslorbeeren entſtanden, die mich einſt beſeelte. War ich doch ſelber von Bedauern erfüllt geweſen, daß mir nicht, wie den Knaben, die Möglichkeit winkt, ſolche Lorbeeren zu pflücken, — konnte ich es nun einem Knaben verargen, daß ihn dieſe Möglichkeit mit Freude und mit Ungeduld erfüllte? Und ſo antwortete ich denn nichts auf Ottos Klageruf, ſondern ſetzte ruhig meine Lektüre fort. Ich las, wie gewöhnlich, eine Zeitung und dieſe war — auch wie gewöhnlich — mit Berichten von Kriegsſchauplatz gefüllt. „Da iſt eine intereſſante Korreſpondenz eines Arztes, der den Rückzug unſerer Truppen mitgemacht hat … ſoll ich laut leſen?“ fragte ich. „Den Rückzug?“ rief Otto. „Das möchte ich lieber nicht hören. Ja, wenn es die Geſchichte vom Rückzug des verfolgten Feindes wäre —“ „Es nimmt mich überhaupt Wunder“, bemerkte Friedrich, „daß jemand etwas von einer mitgemachten Flucht erzählt; das iſt eine Kriegsepiſode, über welche die Beteiligten zu ſchweigen pflegen.“ „Ein geordneter Rückzug iſt noch keine Flucht“ fiel mein Vater ein. „Da hatten wir einmal im Jahre 49 — es war unter Radetzky —“ Ich kannte die Geſchichte und verhinderte deren Abrollung, indem ich unterbrach: „Dieſer Bericht war an eine mediziniſche Wochenſchrift eingeſendet, daher nicht für militäriſche Kreiſe beſtimmt. Hört zu.“ Und ohne weiter um Erlaubnis zu fragen, las ich die Stelle vor: „— — Um vier Uhr fingen unſere Truppen zu retirieren an. Wir Ärzte waren noch vollauf beſchäftigt mit dem Verbinden der Verwundeten — deren Zahl einige Hundert — welche noch der Abfertigung harrten. Plötzlich ſprengte Kavallerie auf uns heran und ſtürmte neben und hinter uns über Hügel und Felder — gleichzeitig Artillerie- und Fuhrweſenwagen — gegen Königgrätz zu. Viele Kavalleriſten ſtürzten und wurden {von den nachſtürmenden Pferden völlig zerſtampft}. Wagen fielen um und zerdrückten die ſich dazwiſchen drängenden Fußgänger. Wir wurden vom Verbandplatze, der plötzlich verſchwand, auseinandergeworfen. Man rief uns zu ‚Rettet euch‘. Inmitten dieſes Geſchreies hörte man noch den Donner der Kanonen und Granatſplitter fielen in unſere Maſſen. So wurden wir von der Menge fortgedrückt, ohne zu wiſſen, wohin. Ich hatte mit dem Leben abgeſchloſſen. Meine alte Mutter … meine heißgeliebte Braut, lebt wohl! … — Plötzlich hatten wir Waſſer vor uns; rechts einen Eiſenbahndamm, links einen Hohlweg, vollgeſtopft mit ſchwerfälligen Requiſitions- und Verwundetenwagen, und hinter uns noch eine unabſehbare Reihe von Reitern. Wir wateten durch das Waſſer. Jetzt kam Befehl, die Stränge der Pferde abzuſchneiden, die Pferde zu retten und die Wagen zurückzulaſſen. Auch die Wagen mit den Verwundeten? Ja — auch die. Wir Fußgänger waren der Verzweiflung nahe; wir wateten wiederholt bis über die Knie im Waſſer, in der Angſt, jeden Augenblick niedergeſtoßen zu werden und zu ertrinken. Endlich gelangten wir in einen Bahnhof, der wieder ganz verrammelt war. Viele durchbrachen die Verrammlung, die anderen ſprangen darüber hinweg — ich lief mit Tauſenden Infanteriſten hinterher. Jetzt kamen wir zu einem Fluß — durchwateten ihn; dann ſprangen wir über Paliſſaden, gingen abermals bis an den Hals über einen zweiten Fluß, kletterten über Anhöhen hinauf, ſprangen über gefällte Bäume und langten um 1 Uhr nachts in einem Wäldchen an, wo wir vor Erſchöpfung und Fieber niederſanken. Um 3 Uhr marſchierten wir — das heißt ein Teil von uns, ein anderer Teil von uns mußte zurückbleiben, da zu ſterben — marſchierten wir, noch triefend vor Näſſe und Kälte, weiter. Die Dörfer alle leer — keine Menſchen, keine Lebensmittel, nicht einmal Trinkwaſſer — die Luft verpeſtet. Tote auf den zerſtampften Getreidefeldern, kohlſchwarze Körper, die Augen aus den Höhlen — — —“ „Genug, genug!“ ſchrieen die Mädchen. „Solche Sachen ſollte die Cenſur gar nicht erlauben“, bemerkte mein Vater. „Es könnte einem die Freude an dem Soldatenſtand verleiden —“ „Und beſonders die Freude an dem Krieg, das wäre wirklich ſchade,“ ſchaltete ich halblaut ein. „Überhaupt“, fuhr er fort, „die Fluchtepiſoden ſollten diejenigen, welche dabei waren, anſtändigerweiſe verſchweigen, denn es iſt wahrlich keine Ehre, ein allgemeines [‚sauve qui peut‘] mitgemacht zu haben. Der Wicht, der mit dem Rufe ‚Rettet euch‘ das erſte Signal zum Reißaus gibt, ſollte ſofort niedergeſchoſſen werden. Ein Feiger ruft es und tauſend Tapfere werden dadurch demoraliſiert und müſſen mitlaufen.“ „Gerade ſo“, entgegnete Friedrich, „wie wenn ein Tapferer ‚Vorwärts!‘ ruft, tauſend Feige voranſtürmen müſſen, — und dabei auch wirklich von momentaner Tapferkeit durchglüht werden. Es laſſen ſich die Menſchen überhaupt nicht ſo ſcharf in mutige und mutloſe trennen; ſondern ein jeder hat ſeine mehr oder minder kouragierten, ſowie mehr oder minder feigen Augenblicke. Und beſonders, wo es ſich um Scharen handelt, hängt jeder einzelne von dem Zuſtand ſeiner Gefährten ab. Wir ſind Herdengeſchöpfe und werden von Herdengefühlen beherrſcht. Wo ein Schaf hinüberſpringt, ſpringen die anderen nach; wo einer ‚Hurrah‘ ſchreiend voranſprengt, ſchreien die anderen nachſprengend mit; und wo einer die Flinte ins Korn wirft, um zu laufen, laufen die anderen auch. In dem einen Fall wird die ‚tapfere Truppe‘ laut geprieſen, im zweiten wird über ihr Vorgehen — geſchwiegen, und es ſind doch dieſelben Leute. Ja, dieſelben Menſchen ſind es, die je nach der Maſſeneinwirkung mutig oder mutlos ſich gebärden und fühlen. Nicht als anhaftende Eigenſchaften ſind Tapferkeit und Furcht zu betrachten, vielmehr als Gemütszuſtände, gerade ſo wie Fröhlichkeit und Trauer. Ich bin während meines erſten Feldzuges einmal in den Wirbel einer ſolchen wilden Flucht geraten. In den offiziellen Aufzeichnungen des Generalſtabs wurde das Ding zwar als ‚wohlgeordneter Rückzug‘ mit einigen Worten abgethan — es war aber eine richtige Deroute. Das tobte und kollerte und raſte fort, in namenloſer Verwirrung: die Waffen, die Torniſter, die Tſchakos und die Mäntel wurden weggeſchleudert — kein Kommandowort mehr zu hören — keuchend, ſchreiend, verzweiflungsgepeitſcht ſtoben die aufgelöſten Bataillone dahin, der nachſprengende und nachfeuernde Feind hinterher … Das iſt unter den vielen grauſamen Phaſen des Krieges die grauſamſte: wenn die beiden Gegner nicht als Kämpfer, ſondern als Jäger und Wild fungieren. Hier kommt für den Jäger die roheſte Mordluſt, für das Wild die bitterſte Todesfurcht zum Vorſchein. Gehetzt und furchtgeſpornt, geraten die Verfolgten in eine Art Delirium; all die anerzogenen Gefühle und Geſinnungen, welche den in den Kampf ſich Stürzenden beleben — Vaterlandsliebe, Ehrgeiz, Thatendurſt — die gingen dem Fliehenden verloren. Ihn erfüllt nur noch ein zu ganzer Gewalt entfeſſelter Trieb und zwar der heftigſte, der ein lebendes Weſen beherrſchen kann: der Selbſterhaltungstrieb. Dieſer ſteigert ſich — je näher die Gefahr — bis zum höchſten Paroxysmus der Qual. Auch wer ſolches niemals durchgemacht, kann — wenn anders er die Extaſen der Liebeswonnen kennt — ſich einen Begriff von jener Schmerzenswut machen. Was für den auf das äußerſte aufgeſtachelten Gattungstrieb der Augenblick der Wolluſt iſt, das iſt für den Erhaltungstrieb — gleichgradig, nur auf dem anderen Ende der Skala — der Augenblick, da das erſchöpfte Wild unter den Fängen der Meute zuſammenbricht.“ „Aber Tilling“ kam es nun wieder in vorwurfsvollem Tone von Tante Marie — „Vor den Mädchen! Worte wie Wol—“ „Und vor einem Jüngling“, fügte mein Vater ebenſo vorwurfsvoll hinzu, „vor einem angehenden Soldaten, Worte wie Todesfurcht —“ Friedrich zuckte die Achſeln: „Ich würde raten“, entgegnete er, „aus dem Lexikon vor allem das Wort Natur zu ſtreichen.“ 63. Viertes Buch. 1866. // 18. Abſchnitt Friedrichs Geneſung machte ſichere Fortſchritte. Auch die fiebernde Welt draußen ſchien ihrer Geſundung näher zu kommen: immer öfter und immer lauter ward das Wort Friede geſprochen. Der Vormarſch der Preußen, welche auf ihrem Wege keinen Widerſtand mehr fanden und welche über Brünn — deſſen Schlüſſel der Bürgermeiſter dem König Wilhelm überreicht hatte — ruhig gegen Wien zogen, dieſer Vormarſch glich eher einem militäriſchen Spaziergang, als einem Kriegszug — und am 26. Juli wurde denn auch richtig zu Nikolsburg ein Waffenſtillſtand mit Friedenspräliminarien abgeſchloſſen. Eine große Freude erlebte mein Vater an der eingelaufenen Nachricht von Admiral Tegethoffs Sieg bei Liſſa. Italieniſche Schiffe in die Luft geſprengt — der „Affundatore“ zerſtört: welche Genugthuung! Ich konnte mich an dem Entzücken nicht ſo recht beteiligen. Überhaupt konnte ich nicht recht verſtehen, warum dieſe Seeſchlachten überhaupt noch geliefert wurden. Aber ſo viel iſt gewiß, über das Ereignis brach — nicht nur bei meinem Vater — ſondern in allen Wiener Blättern, der hellſte Jubel aus. Der Ruhm eines kriegeriſchen Sieges iſt etwas durch Jahrtauſende lange Tradition zu ſolcher Größe Aufgebauſchtes, daß auf die Kunde eines ſolchen für das ganze Volk ein Stolzanteil entfällt. Wenn irgendwo ein vaterländiſcher General einen fremden General geſchlagen hat, ſo wird jedem einzelnen Angehörigen des betreffenden Staates gratuliert, und da jeder hört, daß ſich alle anderen freuen — was allerdings erfreulich iſt — ſo freut ſich ſchließlich in der That ein jeder. „Heerdengefühle“ würde das Friedrich genannt haben. Ein anderes politiſches Ereignis jener Tage war, daß ſich Öſterreich nunmehr dem Genfer Vertrage anſchloß: „Nun — biſt Du jetzt zufrieden?“ fragte mein Vater, als er dieſe Nachricht geleſen; — „ſiehſt Du ein, daß der Krieg, den Du immer eine Barbarei nennſt, mit der fortſchreitenden Civiliſation immer humaner wird? Ich bin ja auch für das menſchliche Kriegführen: den Verwundeten gebührt die ſorgfältigſte Pflege und alle mögliche Erleichterung … Schon aus ſtrategiſchen Gründen, welche ſchließlich in Kriegsſachen doch das Wichtigſte ſind; durch eine gehörige Behandlung der Kranken können ſehr viele in kurzer Zeit wieder kampffähig und in die Reihen zurück verſetzt werden.“ „Du haſt recht, Papa: wieder brauchbares Material — das iſt die Hauptſache … Aber nach den Dingen, die ich geſehen, kann kein rotes Kreuz ausreichen — und hätte es zehnmal mehr Leute und Mittel, — um das Elend abzuwehren, welches eine Schlacht im Gefolge hat —“ „Abwehren freilich nicht, aber mildern. Was ſich nicht verhüten läßt, muß man eben zu mildern trachten.“ „Die Erfahrung lehrt, daß eine ausreichende Milderung nicht möglich iſt. Ich wollte daher, der Satz würde umgekehrt: Was ſich nicht mildern läßt, ſoll man verhüten!“ Es fing bei mir an, eine fixe Idee zu werden: Die Kriege müſſen aufhören. Und jeder Menſch {muß} beitragen, was er nur immer kann, auf daß die Menſchheit dieſem Ziele — ſei’s auch nur 1/1000 Linie — näher rücke. Die Bilder wurde ich nicht mehr los, die ich da oben in Böhmen geſchaut. Beſonders des Nachts, wenn ich aus feſtem Schlafe auffuhr, fühlte ich jenes wunde Weh im Herzen, und zugleich im Gewiſſen eine Pflichtmahnung — als erteilte mir jemand den Befehl: „Verhindere, verhüte, duld’ es nicht!“ Erſt wenn ich vollends wach geworden und mich beſann, was ich war, kam mir die Einſicht meiner Ohnmacht: Was ſoll denn {ich} verhindern und verhüten können? Da könnte mir einer ebenſogut angeſichts des flut- und ſturmdrohenden Meeres befehlen: Duld’ es nicht! Schöpfe es aus! — Und mein nächſter Gedanke war — beſonders wenn ich ſeine Atemzüge hörte — war ein tiefglückliches: „Friedrich hab’ ich wieder“, und ich verſenkte mich in dieſe Vorſtellung, ſo lebhaft als nur möglich, da legte ich den Arm um den neben mir Liegenden, auch auf die Gefahr, ihn aufzuwecken, und küßte ihn auf den Mund. Mein Sohn Rudolf hatte eigentlich recht, auf ſeinen Stiefvater eiferſüchtig zu ſein — dieſes Gefühl war nämlich ſeit letzter Zeit im Herzen des Kleinen erwacht. Daß ich von Grumitz abgereiſt war, ohne ihm adieu zu ſagen, daß ich bei meiner Rückkunft nicht zuerſt {ihn} zu umarmen verlangt; — daß ich überhaupt faſt den ganzen Tag nicht von des Gatten Seite wich — das alles zuſammengenommen hatte das arme Bürſchchen veranlaßt, mir eines ſchönen Morgens weinend an den Hals zu ſinken und zu ſchluchzen: „Mama, Mama, Du haſt mich gar nicht mehr lieb!“ „Was ſprichſt Du für Unſinn, Kind?“ „Ja … nur … nur Pa-pa … Ich … ich will gar nicht … groß werden, wenn Du mich … nicht mehr magſt …“ „Nicht mehr mögen? Dich, mein Kleinod!“ — Ich küßte und herzte das weinende Kind — „Dich, mein einziger Sohn, mein Stolz, meine Zukunftsfreude! Ich habe Dich ja ſo, ich habe Dich ja über — nein, nicht {über} alles, aber ſo unendlich lieb.“ Nach dieſem kleinen Auftritt war mir die Liebe zu meinem Buben wieder lebhafter zum Bewußtſein gekommen. In der letzten Zeit war ich in der That von der Angſt um Friedrich ſo ſehr eingenommen geweſen, daß der arme Rudolf ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden. Die Pläne, welche wir miteinander, Friedrich und ich, für die Zukunft ſchmiedeten, waren folgende: nach Beendigung des Krieges Austritt aus dem Militärdienſt und Zurückziehung nach einem kleinen, billigen Ort, wo Friedrichs Oberſten-Penſion und meine Zulage genügen konnten, unſeren kleinen Haushalt zu beſtreiten. Wir freuten uns auf dieſes einſame, ſelbſtſtändige Beiſammenſein, wie ein Paar junge Verliebte. Durch die zuletzt durchgemachten Ereigniſſe hatten wir wieder ſo recht gelernt, daß wir uns {gegenſeitig die Welt bedeuteten}. Der kleine Rudolf war übrigens aus dieſer Gemeinſchaft nicht ausgeſchloſſen. Seine Erziehung ſollte als eine Hauptaufgabe unſere geplante Exiſtenz ausfüllen. Nicht müßig und zwecklos wollten wir die Tage dahinleben; da hatten wir unter Anderem eine ganze Liſte von Studien aufgeſtellt, die wir gemeinſchaftlich pflegen wollten. Unter den Wiſſenſchaften war es namentlich ein Zweig der Rechtswiſſenſchaft, nämlich das {Völkerrecht}, dem ſich Friedrich ganz beſonders zu widmen vornahm. Er beabſichtigte, fern von allen utopiſtiſchen und ſentimalen Theorien, die praktiſche, die reale Seite des Völkerfriedens zu unterſuchen. Durch die Lektüre Buckles — zu welcher ich ihm den Anſtoß gegeben — durch die Bekanntmachung mit den neueſten naturwiſſenſchaftlichen Errungenſchaften, welche ihm durch die Bücher Darwins, Büchners und Anderer geoffenbart worden, hatte ſich ihm die Überzeugung erſchloſſen, daß die Welt einer neuen Erkenntnisphaſe entgegen geht; und dieſe Erkenntnis in möglichſter Fülle ſich anzueignen, das ſchien ihm nunmehr — neben den Freuden der Häuslichkeit — Lebensinhalt genug. Mein Vater, der von unſeren Abſichten vorläufig nichts wußte, machte ganz andere Zukunftspläne für uns: „Du wirſt jetzt ein junger Oberſt ſein, Tilling, und in zehn Jahren biſt Du ſicher General. Bis dahin wird ſchon wieder ein Krieg ausbrechen und Du kannſt das Kommando eines ganzen Armeekorps — oder, wer weiß? die Würde eines Generaliſſimus erlangen, und es wird Dir vielleicht das große Glück beſchieden, Öſterreichs Waffen wieder zu ihrem vollen — momentan verdunkelten — Glanz zu verhelfen. Wenn wir einmal das Zündnadelgewehr, oder vielleicht noch ein wirkſameres Syſtem eingeführt haben, dann werden wir die Herren Preußen ſchon drunter kriegen.“ „Wer weiß,“ meinte ich, „vielleicht wird die Feindſchaft mit Preußen aufhören, vielleicht ſchließen wir einſt mit ihnen ein Bündnis —“ Mein Vater zuckte die Achſeln: „Wenn nur Frauen nicht über Politik reden wollten!“ ſagte er verächtlich. „Nach dem Vorgefallenen müſſen wir die Übermütigen züchtigen, wir müſſen den anektierten (ſo nennen ſie’s — ich ſage „geraubten“) Staaten wieder zu ihrem zertretenen Recht verhelfen, das erfordert unſere Ehre und das Intereſſe unſerer europäiſchen Machtſtellung. Freundſchaft — Allianz mit dieſen Frevlern? Nimmermehr. Außer ſie kämen demütig gekrochen.“ „In dieſem Fall,“ bemerkte Friedrich, „würde man wohl den Fuß auf ihren Nacken ſetzen; Bündniſſe ſucht und ſchließt man nur mit Jenen, die einem imponieren, oder die gegen einen gemeinſchaftlichen Feind Schutz leiſten können. In der Staatskunſt iſt Egoismus das oberſte Prinzip.“ „Nun ja,“ gab mein Vater zurück, „wenn das ego „Vaterland“ heißt, ſo iſt {ſolchem} Egoismus doch alles Andere unterzuordnen, ſo iſt doch Alles erlaubt und geboten, was dem Intereſſe dieſes Ichs dienlich erſcheint.“ „Es iſt nur zu wünſchen,“ entgegnete Friedrich, „daß im Verkehr der Gemeinweſen dieſelbe erhöhte Geſittung erlangt werde, welche im Verkehr der Einzelnen den rohen, fauſtrechtlichen Ich-Kultus verdrängt hat, und die Einſicht immer mehr Platz greife, daß die eigenen Intereſſen auch ohne Schädigung der fremden, vielmehr im Verein mit dieſen, am wirkſamſten zu fördern ſind.“ „Was?“ fragte mein Vater, die Hand ans Ohr legend. Natürlich mochte Friedrich ſeinen langen Satz nicht wiederholen und erläutern — und die Diskuſſion war zu Ende. 64. Viertes Buch. 1866. // 19. Abſchnitt „Ich komme morgen 1 Uhr nach Grumitz, Konrad.“ Den Jubel kann man ſich vorſtellen, den dieſe Depeſche bei Lilli hervorrief. So entzückt und freudig wird wohl kein anderer Ankömmling empfangen, wie einer, der aus dem Kriege heimkehrt. Freilich war es in dieſem Falle nicht auch, wie es in den betreffenden Balladen und Kupferſtichen am liebſten dargeſtellt wird: „die Heimkehr des {Siegers}“; aber die menſchlichen Gefühle der liebenden Braut ließen ſich von den patriotiſchen nicht beeinträchtigen, und hätte Vetter Konrad die Stadt Berlin „genommen“ — ich glaube, es hätte dies die Herzlichkeit von Lillis Empfang nicht zu ſteigern vermocht. Ihm natürlich wäre es lieber geweſen, wenn er mit ſiegenden Truppen heimgekehrt wäre; wenn er dazu beigetragen hätte, ſeinem Kaiſer die Provinz Schleſien zu erobern. Indeſſen: überhaupt ſich geſchlagen zu haben iſt ja für den Soldaten ſchon eine Ehre, auch wenn er der Geſchlagene — ja ſogar der Gefallene iſt; Letzteres iſt ganz beſonders rühmlich. So erzählte Otto, daß in der Wien-Neuſtädter Akademie auf einer Ehrentafel die Namen aller jener Zöglinge eingetragen ſind, welchen der Vorzug zu teil wurde, vor dem Feinde zu bleiben. [„Tué à l’ennemi“], ſagt man in Frankreich, und es iſt dies dort zu Lande — wie überall — eine, beſonders bei den Ahnen, ſehr geſchätzte Eigenſchaft. Je mehr man in ſeiner Familie Vorfahren aufweiſen kann, die in Schlachten — gleichviel ob gewonnenen oder verlorenen — ihr Leben gelaſſen haben, deſto ſtolzer iſt der Enkel darauf, deſto mehr Wert kann er auf ſeinen Namen, deſto weniger Wert darf er auf ſein Leben legen. Um ſich getöteter Ahnen würdig zu zeigen, muß man an der Töterei — an der aktiven und paſſiven — ſeine helle Freude haben. Nun, deſto beſſer, daß, ſo lange es Kriege gibt, doch auch Leute vorkommen, welche darin Erhebung, Begeiſterung, ja ſogar Genuß finden. Die Zahl ſolcher Leute wird jedoch täglich geringer, während die Zahl der Soldaten täglich größer wird … wohin muß das endlich führen? {Zur Unerträglichkeit.} Und wohin führt dieſe? So weit dachte Konrad nicht. Seine Auffaſſung ſtimmte noch vortrefflich zu der bekannten Lieutenantsarie aus der weißen Dame: „Ha, welche Luſt, Soldat zu ſein, ha, welche Luſt …“ Wenn man ihn reden hörte, konnte man ihn förmlich um die Expedition beneiden, welche er eben mitgemacht. Mein Bruder Otto war auch von ſolchem Neide ganz erfüllt. Dieſer aus der Blut- und Feuertaufe zurückgekehrte Krieger, der in ſeiner Huſarenuniform von jeher ſchon ſo ritterlich ausgeſehen und jetzt auch noch mit einer ehrenvollen Schramme über das Kinn geziert war, der mitten im Kugelregen dringeweſen, der vielleicht ſo manchem Feind den Garaus gegeben — der erſchien ihm jetzt von einem heldenhaften Nimbus umſtrahlt. „Es war keine glückliche Campagne, das muß ich zugeben,“ ſprach Konrad, „dennoch habe ich ein paar herrliche Erinnerungen davon mitgebracht.“ „Erzähle, erzähle,“ drängten Lilli und Otto. „Ich kann da nicht viel Einzelheiten erzählen — das Ganze liegt hinter mir wie ein Taumel … das Pulver ſteigt einem ganz ſonderbar zu Kopfe. Eigentlich beginnt der Rauſch oder das Fieber — das kriegeriſche Feuer mit einem Wort — ſchon beim Abmarſch. Zwar iſt der Abſchied vom Liebchen ſchwer gefallen — es war das eine Stunde, welche das Herz mit weichem Weh erfüllte — aber wenn man einmal draußen iſt, mit den Kameraden, dann heißt es: jetzt wird an die höchſte Aufgabe gegangen, welche das Leben an den Mann ſtellen kann, nämlich das geliebte Vaterland verteidigen … Als dann die Spielleute den Radetzky-Marſch intonierten und die ſeidenen Falten der Fahnen im Winde flatterten: ich muß geſtehen, in dieſem Augenblick hätt’ ich nicht umkehren mögen — auch in den Arm der Liebe nicht … Da fühlte ich, daß ich dieſer Liebe nur dann würdig wäre, wenn ich da draußen an der Seite der Brüder meine Pflicht gethan … Daß wir zum Siege marſchierten, bezweifelten wir nicht. Was wußten wir von den abſcheulichen Spitzkugeln? Die allein waren an den Niederlagen ſchuld — ich ſag’ euch, die ſchlugen in unſere Reihen ein wie Hagel … Und auch ſchlechte Führung hatten wir — der Benedek, ihr werdet ſehen, wird noch vor ein Kriegsgericht geſtellt … Attakieren hätten wir ſollen … Wenn ich jemals Feldherr würde — meine Taktik wäre: angreifen, immer angreifen, „das Präveniere ſpielen“, ins feindliche Land einfallen … Das iſt ja auch nur eine Art, und zwar die ſchwerere, der Verteidigung: „Muß es ſein — komm zuvor, komm zuvor, // Im rückſichtsloſen Angriff liegt der Sieg.“ ſagt der Dichter. — Doch das gehört nicht hierher: mir hatte der Kaiſer den Oberbefehl nicht übergeben, alſo bin ich auch an den taktiſchen Mißerfolgen unſchuldig — die Generäle ſollen ſehen, wie ſie ſich mit ihrem oberſten Kriegsherrn und wie mit ihrem eigenen Gewiſſen abfinden — wir Offiziere und Truppen haben unſere Pflicht gethan; es hieß ſich ſchlagen, und wir haben uns geſchlagen. Und das iſt ein eigenes Hochgefühl … Schon die Erwartung, ſchon dieſe Spannung, wenn man auf den Feind ſtößt und wenn es heißt: jetzt geht es los … Dieſes Bewußtſein, daß in dem Augenblicke ein Stück Weltgeſchichte ſich abſpielt — und dann der Stolz, die Freude am eigenen Mut — rechts und links der Tod, der große, geheimnisvolle, dem man männlich trotzt —“ „Ganz wie der arme Gottfried Teſſow“, murmelte Friedrich für ſich … „nun ja — es iſt ja dieſelbe Schule —“ Konrad fuhr mit Eifer fort: „Das Herz ſchlägt höher, die Pulſe fliegen, es erwacht — und das iſt die eigentliche Verzückung — es erwacht die Kampfluſt, es lodert die Wut — der Feindeshaß — zugleich die brennendſte Liebe für das bedrohte Vaterland, und das Voranſtürmen, das Dreinhauen wird zur Wonne. Man fühlt ſich in eine andere Welt verſetzt, als die, in der man aufgewachſen, eine Welt, in der alle die gewohnten Gefühle und Anſchauungen in ihr Gegenteil verwandelt worden ſind: das Leben wird zum Plunder, Töten wird zur Pflicht. Die Ehre, das Heldentum, die großartigſte Selbſtaufopferung ſind allein noch übrig, alle anderen Begriffe ſind in dem Gewirre untergegangen. Dazu der Pulverdampf, das Kampfgeſchrei … ich ſage euch, es iſt ein Zuſtand, der ſich mit nichts Anderem vergleichen läßt. Höchſtens kann einem dieſes ſelbe Feuer auf der Tiger- oder Löwenjagd durchlodern, wenn man der wildgewordenen Beſtie gegenüberſteht und —“ „Ja“, unterbrach Friedrich, „der Kampf mit dem toddräuenden Feind, der heiße, ſehnende und ſtolze Wunſch, ihn zu überwinden, erfüllt mit einer eigenen Wolluſt — [pardon], Tante Marie — wie ja alles, was das Leben erhält oder weitergibt, von der Natur durch Freudenlohn geſichert wird. So lange der Menſch von wilden — vier- und zweibeinigen — Angreifern bedroht war und ſich nur durch Erlegung derſelben das Leben friſten konnte, ward ihm der Kampf zur Wonne. Wenn uns Kulturmenſchen im Kriege mitunter noch dieſelbe Luſt durchrieſelt, ſo iſt dies eine angeerbte Reminiscenz. Und damit jetzt, wo es in Europa weder Wilde noch Raubtiere gibt, uns jene Wonne nicht ganz entgehe, haben wir uns künſtliche Angreifer geſchaffen. Da heißt es: Paßt auf: ihr habt blaue Röcke und die dort drüben haben rote Röcke; ſobald dreimal in die Hände geklatſcht wird, verwandeln ſich für euch die Rotröcke in Tiger, während für jene ihr Blauröcke zu wilden Beſtien werdet. Alſo Achtung: Eins, zwei, drei — Sturm geblaſen — Attake getrommelt — jetzt kann’s losgehen — freßt euch auf! — Und haben ſich zehntauſend, oder je nach dem geſteigerten Heeresſtand, hunderttauſend Kunſttiger unter gegenſeitigem Kampfeswonne-Geheul bei Xdorf aufgefreſſen, ſo gibt das die „hiſtoriſch“ zu werden beſtimmte Xdorfer Schlacht; die Händeklatſcher verſammeln ſich alsdann um einen grünen Kongreßtiſch in Xſtadt, regeln auf der Karte verſchobene Grenzmarken, feilſchen über Kontributionsbeträge, unterſchreiben ein Papier, welches in die Geſchichtsjahrbücher als der Xſtädter Frieden eingetragen wird; klatſchen abermals dreimal in die Hände und ſagen den übriggebliebenen Rot- und Blaujacken: umarmt euch, Menſchenbrüder! 65. Viertes Buch. 1866. // 20. Abſchnitt In der Umgebung waren überall Preußen einquartiert, und jetzt ſollte auch Grumitz an die Reihe kommen. Obgleich der Waffenſtillſtand ſchon in Kraft und der Friede beinahe geſichert war, ſo hegte die Bevölkerung noch allgemein Angſt und Mißtrauen. Die Idee, daß die Pickelhauben-Tiger ſie zerreißen würden, wenn ſie könnten, war den Leuten nicht ſo leicht wegzunehmen; die drei Handſchläge von Nikolsburg hatten die Wirkung der drei Handſchläge der Kriegserklärung noch nicht aufzuheben vermocht, und nicht ausgereicht, um dem Landvolk in den „Preußen“ wieder Menſchenbrüder ſehen zu machen. Der bloße Namen des gegneriſchen Volkes bekommt zu Kriegszeiten eine ganze Schar von haſſenswerten Nebenbedeutungen — iſt nicht mehr der Gattungsname einer augenblicklich bekriegten Nation, es wird ſynonym mit „Feind“ und faßt allen Abſcheu in ſich, den dieſes Wort ausdrückt. So geſchah es, daß die Leute in der Gegend zitterten, wie vor einbrechenden Wölfen, wenn ein preußiſcher Quartiermeiſter daher kam, um Unterkunft für einen Truppenteil zu ſchaffen. Bei manchen äußerte ſich neben der Furcht auch der Haß, und dieſe wähnten, eine patriotiſche Pflicht zu erfüllen, wenn ſie einem Preußen ’was zu leide thaten — wenn ſie aus einem Verſteck heraus dem „Feind“ eine Flintenkugel ſandten. Es war dies öfters vorgekommen, und wenn man den Schuldigen faßte, wurde er ohne viel Umſtände hingerichtet. Dieſe Beiſpiele bewirkten, daß die Leute ihren Haß verbiſſen und die einquartierten Soldaten ohne Widerſtand aufnahmen. Dann gewahrten ſie zu ihrem nicht geringen Erſtaunen, daß der „Feind“ eigentlich aus lauter gutmütigen, freundlichen und ehrlich zahlenden Mitmenſchen beſtand. Eines Morgens — es war in den erſten Tagen des Auguſt — ſaß ich im Erker des Bibliothekzimmers und ſchaute durch die offenen Fenſter hinaus. Von hier hatte man einen weiten Fernblick über die Gegend. Mir war’s, als ſähe ich von weitem einen Reitertrupp, der ſich auf der Landſtraße nach unſerer Richtung bewegte. „Preußiſche Einquartierung“, war mein erſter Gedanke. Ich ſetzte ein im Erker ſtehendes Fernrohr zurecht und ſchaute nach dem betreffenden Punkt. Richtig: eine Gruppe von ungefähr zehn Reitern mit wehenden ſchwarz-weißen Fähnlein an den Lanzenſpitzen. Darunter ein Fußgeher — im Jagdanzug. Warum ging der ſo zwiſchen den Pferden? … Ein Gefangener? … Das Glas war nicht ſcharf genug — ich konnte nicht erkennen, ob der vermeintliche Gefangene nicht etwa einer unſerer Forſtbeamten war. Doch es hieß, die Schloßbewohner von dem kommenden Verhängnis in Kenntnis ſetzen. Ich verließ eilig das Bibliothekzimmer, um meinen Vater und Tante Marie aufzuſuchen. Ich fand ſie beide im Salon: „Die Preußen kommen, die Preußen kommen!“ meldete ich atemlos. Man iſt immer froh, eine wichtige Nachricht als erſter mitteilen zu können. „Hol’ ſie der Teufel,“ war meines Vaters wenig gaſtliche Äußerung, während Tante Marie das Richtige traf, indem ſie ſagte: „Ich will ſogleich der Frau Walter Befehle zu den nötigen Vorbereitungen geben.“ „Und wo iſt Otto?“ fragte ich. „Den muß man benachrichtigen und ihn warnen, daß er nicht etwa ſeinen Preußenhaß leuchten laſſe … daß er mit den Gäſten nicht unhöflich ſei.“ „Otto iſt nicht zu Hauſe,“ antwortete mein Vater, „er iſt heute früh auf Rebhühner ausgegangen. Du hätteſt ihn ſehen ſollen, wie Schmuck ihm der Jagdanzug ſteht … das wird ein prächtiger Burſch — an dem hab’ ich meine Freude.“ Indeſſen wurde es im Hauſe laut; man hörte haſtige Schritte und aufgeregte Stimmen. „Sie kommen ſchon, die Windbeutel!“ ſeufzte mein Vater. Die Thür wurde aufgeriſſen und Franz, der Kammerdiener, ſtürzte herein: „Die Preußen, die Preußen!“ rief er in dem Tone, wie man „Feuer, Feuer!“ ruft. „Die werden uns nicht freſſen,“ bemerkte mein Vater mürriſch. „Aber ſie bringen einen mit,“ fuhr der Mann mit zitternder Stimme fort, „einen Grumitzer — ich weiß nicht wer — der auf ſie geſchoſſen hat — und wer ſoll auf ſolches Pack nicht gern ſchießen? … aber der iſt verloren.“ — Jetzt vernahm man den Laut von Pferdegetrampel mit Stimmengewirr vermengt. Wir traten auf den Flur und ſchauten durch die nach dem Hof gehenden Fenſter. Soeben kamen die Ulanen hereingeritten und in ihrer Mitte — mit trotzigem, bleichem Geſicht — Otto, mein Bruder. Der Vater ſtieß einen Schrei aus und eilte die Treppe hinab. Mir ſtand das Herz ſtill. Was da bevorſtand, war entſetzlich. Wenn Otto wirklich auf die preußiſchen Soldaten geſchoſſen hatte — und das ſah ihm ſehr ähnlich — … ich vermochte den Fall gar nicht auszudenken … Dem Vater nachzugehen, fehlte mir der Mut. Troſt und Beiſtand in allen Kümmerniſſen ſuchte ich ſtets nur bei Friedrich. Alſo raffte ich mich auf, um mich in Friedrichs Zimmer zu begeben. Ehe ich jedoch dahin gelangte, kam mein Vater wieder zurück, und Otto hinter ihm. An ihren Mienen ſah ich, daß die Gefahr vorüber war. Das Verhör hatte folgendes ergeben: der Schuß war zufällig losgegangen. Als die Ulanen herangeritten kamen, wollte Otto ſie von der Nähe ſehen; er lief querfeldein, ſtolperte, fiel am Straßengraben nieder und dabei entlud ſich ſein Gewehr. Im erſten Augenblick war die Ausſage des jungen Jägers von den Leuten bezweifelt worden; ſie nahmen ihn in ihre Mitte und brachten ihn als ihren Gefangenen in das Schloß. Als ſich aber herausſtellte, daß der Jüngling der Sohn des General Althaus und ſelber ein Militärzögling ſei, ließen ſie ſeine Rechtfertigung gelten. „Der Sohn eines Soldaten und ſelber angehender Soldat, wird auf gegneriſche Soldaten wohl im ehrlichen Kampfe, nicht aber zur Zeit der Waffenruhe und nicht meuchlings ſchießen.“ Auf dieſe Worte meines Vaters hin, hatte der preußiſche Unteroffizier den jungen Menſchen frei gegeben. „Und biſt Du wirklich unſchuldig?“ fragte ich Otto „bei Deinem Preußenhaß würde es mich nicht wundern, wenn —“ Er ſchüttelte den Kopf: „Ich werde hoffentlich im Leben noch genug Gelegenheit haben,“ antwortete er, „ein paar ſolchen draufzuſchießen — aber nicht aus dem Hinterhalte — nicht, ohne auch {meine} Bruſt ihren Kugeln auszuſetzen.“ „Brav, mein Junge!“ rief mein Vater, von dieſen Worten entzückt. Ich konnte das Entzücken nicht teilen. Alle dieſe Phraſen, in welchen mit dem {Leben} — dem der anderen und dem eigenen — ſo geringſchätzig und prahleriſch herumgeworfen wird, haben mir einen widerlichen Klang. Doch war ich von Herzen froh, daß die Sache ſo abgelaufen. Wie entſetzlich wäre es doch für meinen armen Vater geweſen, wenn dieſe Leute den vermeintlichen Miſſethäter ohne weitere Umſtände gleich abgeſtraft hätten. Da würde der unſelige Krieg, von dem unſer Haus bisher verſchont geblieben, es doch noch ins Unglück geſtürzt haben … Die betreffende Abteilung war richtig gekommen, Quartier zu machen. Schloß Grumitz war auserſehen, zwei Oberſte und ſechs Offiziere des preußiſchen Heeres zu beherbergen. Im Dorfe ſollte die Mannſchaft untergebracht werden. Zwei Mann wurden im Schloßhof als Wache aufgeſtellt. Ein paar Stunden nach den Quartiermachern zogen die unfreiwilligen und ungeladenen Gäſte ſchon bei uns ein. Wir waren ſeit mehreren Tagen auf den Fall vorbereitet geweſen und Frau Walter hatte dafür geſorgt, daß alle Gaſtzimmer und -Betten bereit ſtanden. Auch der Koch hatte genügende Vorräte herbeigeſchafft und der Keller barg eine erkleckliche Anzahl voller Fäſſer und alten Flaſchen: den Herren Preußen ſollte es bei uns an nichts fehlen. 66. Viertes Buch. 1866. // 21. Abſchnitt Als ſich an dieſem Tage die Schloßgeſellſchaft auf das Zeichen der Tiſchglocke im Salon verſammelte, bot dieſer ein glänzendes und lebensfrohes Bild. Die Herren — bis auf Miniſter „Allerdings“, welcher augenblicklich unſer Gaſt war — ſämtlich in Uniform; die Damen in Putz. Seit langer Zeit hatten wir uns zum erſtenmal wieder „aufgedonnert“; Lori namentlich — die kokette Lori — welche am ſelben Tag von Wien gekommen war, hatte auf die Nachricht hin, daß fremde Offiziere anweſend ſeien, ihre ſchönſte Toilette ausgepackt und ſich mit friſchen Roſen geſchmückt. Gewiß war es darauf abgeſehen, dem einen oder dem anderen Vertreter des feindlichen Heeres den Kopf zu verdrehen. Nun meinethalben mochte ſie ſämtliche preußiſche Bataillone erobern — aber Friedrich unbehelligt laſſen… Lilli, die glückliche Braut, trug ein lichtblaues Kleid; Roſa — wahrſcheinlich auch ſehr froh, wieder einmal jungen Kavalieren ſich zeigen zu können — war in roſa Mouſſeline gehüllt; nur ich in der Anſicht, daß Kriegszeit, auch wenn man niemanden zu betrauern hat, immer Trauerzeit ſei, hatte eine ſchwarze Toilette angelegt. Ich erinnere mich noch an den eigentümlichen Eindruck, den es mir machte, als ich an jenem Tag den Salon, in welchem die übrigen ſchon verſammelt waren, betrat. Glanz, Heiterkeit, vornehmer Luxus — die geputzten Frauen, die ſchmucken Uniformen: welcher Kontraſt zu den noch vor ſo kurzer Zeit geſehenen Bildern von Jammer, Schmutz und Schrecken. Und die Glänzenden, Heiteren, Vornehmen {ſelber} ſind es ja, welche freiwillig den Jammer in Scene ſetzen, welche nichts thun wollen, ihn abzuſchaffen, welche, im Gegenteil, ihn glorifizieren und mit ihren Goldborten und Sternen den Stolz bekunden, den ſie darein ſetzen, die Träger und Stützen des Jammerſyſtems zu ſein! … Mein Eintritt unterbrach die in den verſchiedenen Gruppen geführte Unterhaltung, da mir nun unſere preußiſchen Gäſte ſämtlich vorgeſtellt werden mußten; — zumeiſt vornehm klingende Namen auf — „ow“ und auf „witz“; viele „von“ und ſogar ein Prinz — ein Heinrich, ich weiß nicht der wievielte, aus dem Hauſe Reuß. Das alſo waren unſere Feinde: Vollendete Gentlemen mit den geſchliffenſten Geſellſchaftsformen. Nun freilich: das weiß man ja, wenn heutzutage mit einer benachbarten Nation Krieg geführt wird, ſo hat man es nicht mit Hunnen und Vandalen zu thun; aber doch: es wäre viel natürlicher, ſich den Feind als eine wilde Horde vorzuſtellen, und es gehört eine gewiſſe Anſtrengung dazu, ihn als ebenbürtigen Kulturbürger aufzufaſſen. „Gott, der du die Widerſacher derer, die dir vertrauen, durch die Kraft deiner Verteidigung zurückwirfſt, höre uns, die wir um deine Erbarmniſſe flehen, gnädig an, damit wir nach der unterdrückten Wut des Feindes dir in Ewigkeit danken können.“ So hatte allſonntäglich der Grumitzer Pfarrer gebetet. Wie mußte da die Gemeinde ſich den „wütenden Feind“ vorſtellen? Gewiß nicht ſo, wie dieſe höflichen Edelleute, die jetzt den anweſenden Damen den Arm boten, um ſie zu Tiſche zu führen … Überdies hatte Gott diesmal das Gebet der Anderen erhört und {unſere} Wut unterdrückt — der ſchäumende, mordgierige Feind, der durch die Kraft der göttlichen Verteidigung (wir nannten es zwar Zündnadelgewehr) zurückgeworfen worden, das waren {ja wir} — O du heiliger Widerſinn! … Das waren ſo ungefähr meine Gedanken, während wir an der mit Blumen und Fruchtſchalen reich geſchmückten Tafel uns in bunter Reihe niederließen. Auch das Silber war auf des Hausherrn Befehl aus dem Verſteck wieder hervor geholt. Ich ſaß zwiſchen einem ſtattlichen Oberſten auf — ow und einem ſchlanken Lieutenant auf — itz. Lilli ſelbſtverſtändlich an der Seite ihres Bräutigams; Roſa war von dem prinzlichen Heinrich zu Tiſch geführt worden, und der böſen Lori war es doch wieder gelungen, meinen Friedrich zum Nachbar zu haben. Nur zu! Eiferſüchtig würde ich doch nicht werden: — er war ja „mein“ Friedrich, am meinſten … Es wurde ſehr viel und ſehr heiter geſprochen. Die „Preußen“ fühlten ſich offenbar höchſt vergnügt, nach den durchgemachten Strapazen und Entbehrungen wieder einmal an wohlbeſetzter Tafel und in guter Geſellſchaft zu feſten; und das Bewußtſein, daß der überſtandene Feldzug ein ſiegreicher geweſen, trug jedenfalls dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Aber auch wir, die Beſiegten, ließen von Groll und Beſchämung nichts merken und bemühten uns, die möglichſt liebenswürdigen Hauswirte zu ſpielen. Meinem Vater mußte dies zwar — wie ich ſeine Geſinnungen kannte — einige Überwindung koſten, aber er führte ſeine Rolle mit muſterhafter Courtoiſie durch. Der niedergeſchlagenſte war Otto. Seinem in der letzten Zeit genährten Preußenhaß, ſeiner Sehnſucht, den Feind aus dem Land zu jagen, ging es ſichtlich gegen den Strich, dieſem ſelben Feind nun höflichſt Pfeffer und Salz hinüberreichen zu müſſen, ſtatt ihn mit dem Bajonett durchbohren zu dürfen. Dem Thema Krieg wurde im Geſpräch ſorgfältig ausgewichen; die Fremden wurden von uns behandelt, als wären ſie unſere Gegend zufällig beſuchende Vergnügungsreiſende, und ſie ſelber vermieden es noch ängſtlicher, auf die Sachlage — daß ſie nämlich als unſere Überwinder hier hauſten — anzuſpielen. Mein junger Lieutenant verſuchte ſogar recht angelegentlich, mir den Hof zu machen. Er ſchwor auf Ehre und auf Taille, daß es nirgends ſo gemütlich ſei, wie in Öſterreich, und daß daſelbſt (mit ſeitwärts abgeſchoſſenem Zündnadelblick) die reizendſten Frauen der Welt zu finden ſeien. Ich leugne nicht, daß ich mit dem ſchmucken Marsſohne auch ein wenig kokettierte; es geſchah, um der Lori Griesbach und ihrem Nachbar zu zeigen, daß ich gegebenen Falles mich einigermaßen rächen könnte … aber der da drüben blieb ebenſo ruhig — wie {ich} es im Grunde meines Herzens eigentlich auch war. Vernünftiger und zweckmäßiger wäre es jedenfalls geweſen, wenn mein „ſchneidiger“ Lieutenant ſeine mörderiſchen Augengeſchoſſe auf die ſchöne Lori gezielt hätte. Konrad und Lilli, in ihrer Eigenſchaft als Verlobte (ſolche Leute ſollte man eigentlich immer hinter Gitter ſetzen), wechſelten ganz auffällig verliebte Blicke und flüſterten und ſtießen heimlich miteinander ihre Gläſer an und was dergleichen Salonturteltauben-Manöver mehr ſind. Und, wie mir ſchien, noch eine dritte {Flirtation} begann da ſich zu entſpinnen. Der deutſche Prinz nämlich — Heinrich der ſo und ſo vielte — unterhielt ſich auf das Angelegentlichſte mit meiner Schweſter Roſa und dabei malte ſich in ſeinen Zügen unverhohlene Bewunderung. Nach aufgehobener Tafel begab man ſich in den Salon zurück, in welchem jetzt der angeſteckte Kronleuchter ein feſtliches Licht verbreitete. Die Terraſſenthür ſtand offen. Draußen war die laue Sommernacht von mildem Mondlicht durchflutet. Ich trat hinaus. Das Nachtgeſtirn warf ſeine Strahlen auf die heuduftenden Raſenflächen des Parkes und ſpiegelte ſich ſilberfunkelnd auf dem im Hintergrunde ausgedehnten Teich … War das wirklich derſelbe Mond, welcher mir vor kurzer Zeit den an eine Kirchhofsmauer gelehnten, vom kreiſchendem Raubgevögel umkreiſten Leichenhaufen gezeigt hatte? Und waren das dieſelben Leute drinnen — eben öffnete ein preußiſcher Offizier den Flügel, um ein Mendelsſohnſches Lied ohne Worte vorzutragen — waren das dieſelben, die vor kurzem noch mit dem Säbel um ſich ſchlugen, um Menſchenſchädel zu ſpalten? … Nach einer Weile kamen auch Prinz Heinrich und Roſa heraus. Sie ſahen mich nicht in meiner dunklen Ecke und gingen an mir vorüber. Jetzt ſtanden ſie, an das Geländer gelehnt, nah, ſehr nah nebeneinander. Ich glaube ſogar, der junge Preuße — der Feind — hielt die Hand meiner Schweſter in der ſeinen. Sie ſprachen leiſe, dennoch drang einiges von des Prinzen Rede zu mir herüber: „Holdſeliges Mädchen … plötzliche, ſieghafte Leidenſchaft … Sehnſucht nach häuslichem Glück … Würfel gefallen … aus Barmherzigkeit nicht ‚nein‘! … Flöße ich Ihnen denn Abſcheu ein?“ Roſa ſchüttelt verneinend den Kopf. Da führt er ihre Hand an ſeine Lippen und verſuchte, den Arm um ihre Mitte zu ſchlingen. Sie, die Wohlerzogene, entwindet ſich raſch. Ach, mir wäre es beinah lieber geweſen, wenn mir der ſanfte Mondſtrahl da einen Liebeskuß beleuchtet hätte … Nach all den Bildern des Haſſes und des bitteren Jammers, die ich vor kurzem hatte ſchauen müſſen, wäre mir jetzt ein Bild von Liebe und ſüßer Luſt wie etwas Vergütung erſchienen. — „Ach — Du biſt es, Martha!“ Jetzt war Roſa meiner gewahr geworden — zuerſt ſehr erſchrocken, daß Jemand dieſe Scene belauſcht, dann aber beruhigt, daß nur {ich} es war. Im höchſten Grade verlegen und beſtürzt war jedoch der Prinz. Er trat an mich heran: „Ich habe Ihrer Schweſter ſoeben meine Hand angeboten, gnädige Frau. Legen Sie gütigſt ein Wort für mich ein! Meine Handlungsweiſe wird Ihnen Beiden etwas raſch und kühn erſcheinen. Zu einer anderen Zeit würde ich wohl auch überlegter und beſcheidener vorgegangen ſein — aber in den letzten Wochen habe ich es mir angewöhnt, ſchnell und keck voranzuſprengen — da war kein Zögern noch Zagen erlaubt … und was ich im Kriege geübt, das habe ich jetzt unwillkürlich in der Liebe wieder ausgeführt … Verzeihen Sie — und ſeien Sie mir gnädig. Sie ſchweigen, Komteſſe? Verweigern Sie mir Ihre Hand?“ „Meine Schweſter kann doch nicht auch ſo raſch über ihr Schickſal entſcheiden,“ kam ich Roſa, welche tiefbewegt und abgewandten Hauptes daſtand, zu Hilfe. „Ob unſer Vater ſeine Einwilligung zur Heirat mit einem ‚Feinde‘ geben, ob Roſa die ſo plötzlich eingeflößte Neigung auch erwidern wird — wer kann das heute wiſſen?“ „Ich weiß es,“ antwortete ſie und reichte dem jungen Manne beide Hände hin. Er aber riß ſie ſtürmiſch an ſein Herz. „O, ihr närriſchen Kinder!“ ſagte ich und zog mich leiſe einige Schritte zurück, bis zur Saalthür, um zu wachen, daß — wenigſtens in {dieſem} Augenblick — Niemand herauskomme. 67. Viertes Buch. 1866. // 22. Abſchnitt Am folgenden Tag ward die Verlobung gefeiert. Mein Vater leiſtete keinen Widerſtand. Ich hätte geglaubt, daß ſein Preußenhaß es ihm unmöglich machen würde, einen der feindlichen Krieger und Sieger in ſeine Familie aufzunehmen; aber ſei es, daß er die individuelle von der nationalen Frage gänzlich trennte — (ein gebräuchliches Vorgehen: „Ich haſſe Jene als Nation, nicht als Individuen“ hört man häufig beteuern, obſchon es keinen Sinn hat, ebenſowenig Sinn, als wollte Einer ſagen: „Ich haſſe den Wein als Getränk, aber jeden Tropfen verſchlucke ich gern“ — doch vernünftig braucht ja eine landläufige Phraſe nicht zu ſein — im Gegenteil) ſei es, daß der Ehrgeiz die Oberhand gewann und eine Verbindung mit dem fürſtlichen Hauſe Reuß ihm ſchmeichelte; ſei es endlich, daß die ſo romantiſch geäußerte, plötzliche Liebe der jungen Leute ihn rührte: kurz, er ſprach ein ziemlich bereitwilliges Ja. Weniger einverſtanden war Tante Marie. „Unmöglich!“ war ihr erſter Ausruf. „Der Prinz iſt ja lutheriſcher Konfeſſion.“ Aber ſchließlich tröſtete ſie ſich mit der Ausſicht, daß Roſa ihren Gatten wahrſcheinlich bekehren werde. Im Herzen Ottos grollte es am tiefſten. „Wie, wollt ihr,“ ſprach er, „wenn wieder Krieg ausbricht, daß ich meinen Schwager aus dem Land verjage?“ Aber auch ihm wurde die famoſe Theorie von dem Unterſchiede zwiſchen Nation und Individuum erläutert und — zu meinem Staunen, denn ich habe ſie nie begriffen — er begriff ſie. Wie ſchnell und leicht man doch unter freudigen Umſtänden das durchgemachte Elend vergißt! Zwei Liebespaare — oder, ich kann es kühnlich ſagen, {drei}, denn Friedrich und ich, die Vermählten, ſchwärmten nicht viel weniger füreinander, als die Verlobten — alſo ſo viele Liebespaare in der kleinen Geſellſchaft, das ergab doch eine glücksgehobene Stimmung. Schloß Grumitz war in den folgenden paar Tagen eine Stätte der Heiterkeit und Lebensluſt. Allmählich fühlte auch ich die Schreckensbilder der vergangenen Wochen aus meinem Gedächtnis entweichen. Nicht ohne Gewiſſensbiß wurde ich gewahr, wie mein vor kurzer Zeit noch ſo brennender Mitſchmerz in manchen Augenblicken ganz entſchwand. — Von der Außenwelt klang wohl noch immer Trauriges herüber: die Klagen der Leute, die in dem Kriege Hab und Gut oder teuere Häupter verloren; Nachrichten von drohenden Finanzkataſtrophen, von ausbrechenden Seuchen: die Cholera, hieß es, habe ſich unter den preußiſchen Mannſchaften gezeigt — ſogar in unſerem Dorfe wurde ein Fall ſignaliſiert — freilich ein zweifelhafter: „Es wird die Ruhr ſein — die tritt ja jeden Sommer auf“, tröſtete man ſich. Nur immer verjagen — die trüben Gedanken und die böſen Befürchtungen: „Es iſt nichts“ — „es iſt vorbei“ — „es wird nichts kommen“ — das iſt ſo leicht gedacht. Man braucht nur eine heftig ſchüttelnde Kopfbewegung zu machen und die unliebſamen Vorſtellungen ſind verſcheucht … „Hörſt Du, Martha,“ ſagte mir eines Tages die glückliche Braut, „dieſer Krieg war freilich etwas Schauderhaftes, aber ich muß ihn doch noch ſegnen. Wäre ich ohne ihn ſo maßlos glücklich geworden, wie ich es jetzt bin? Hätte ich Heinrich jemals kennen gelernt? Und er — hätte er jemals eine ſo liebende Braut gefunden?“ „Nun gut, liebe Roſa, ich will gern dieſe Auffaſſung mit Dir teilen: — es mögen eure zwei beglückten Herzen gegen die vielen tauſende gebrochenen in die Wagſchale fallen …“ „Nicht nur um Einzelſchickſale handelt es ſich, Martha. Auch im Großen und Ganzen bringt der Krieg — für Jene, die ſiegen — einen großen Gewinn, alſo einem ganzen Volke. Man muß Heinrich darüber reden hören. Er ſagt, Preußen ſtehe jetzt groß da — in dem Heere herrſche allgemeiner Jubel und begeiſterte Dankbarkeit und Liebe zu den Feldherren, die es zum Siege geführt … dadurch ward der deutſchen Geſittung, dem Handel, oder ſagte er dem deutſchen Wohlſtand — ich weiß nicht mehr genau … die hiſtoriſche Miſſion … kurz, man muß ihn reden hören.“ „Warum ſpricht Dein Bräutigam nicht lieber von eurer Liebe, ſtatt von politiſchen und militäriſchen Dingen?“ „O wir ſprechen von Allem — und Alles, was er ſagt, klingt mir wie Muſik … Ich fühle es ihm ſo gut nach, daß er ſtolz und ſelig iſt, dieſen Krieg für König und Vaterland mitgefochten —“ „Und ſich dabei als Beute ein ſo verliebtes Bräutchen geholt zu haben,“ ergänzte ich. Dem Vater gefiel ſein künftiger Schwiegerſohn ſehr gut — und wem hätte der prächtige junge Menſch nicht gefallen ſollen? Er erteilte ihm jedoch ſeine Sympathie und ſeinen Segen unter allerlei Verwahrungen und Vorbehalt: „Sie ſind mir als Menſch und Soldat und als Prinz in jeder Hinſicht ſchätzenswert, lieber Reuß“ ſo ſagte er zu wiederholten Malen und in verſchiedenen Redewendungen, „aber als preußiſcher Offizier kann ich Sie natürlich nicht leiden und ich behalte mir — trotz aller Familienverbindung — das Recht vor, nichts ſo ſehr zu wünſchen, als einen kommenden Krieg, in welchem Öſterreich die jetzige Überrumpelung tüchtig heimzahlt. Die politiſche Frage iſt von der perſönlichen ganz zu trennen. Mein Sohn wird einſt — Gott walte — daß ich’s erlebe — gegen das Land Preußen zu Felde ziehen; ich ſelbſt, wenn ich nicht zu alt wäre und wenn mein Kaiſer mich dazu beriefe, übernähme gleich ein Kommando, um Wilhelm Ⅰ. und beſonders, um Ihren arroganten Bismarck zu bekriegen. Dies verſchlägt nicht, daß ich die militäriſchen Tugenden der preußiſchen Armee und die ſtrategiſche Kunſt ihrer Führer anerkenne und daß ich es ganz natürlich finden würde, wenn Sie im nächſten Feldzug, an der Spitze eines Bataillons, unſere Hauptſtadt erſtürmen wollten und das Haus anzünden ließen, in welchem Ihr Schwiegervater wohnt – kurz —“ „Kurz, die Konfuſion der Gefühle iſt eine heilloſe,“ unterbrach ich einmal eine ſolche Rhapſodie — „die Widerſprüche und Gegenſätze verſchlingen einander darin wie die Infuſorien in einem faulenden Waſſertropfen … So geht es immer, wenn widerſtreitende Begriffe zuſammengepfercht werden. Ein Ganzes haſſen und ſeine Teile lieben; — als Menſch ſo und als Landeſangehöriger ſo denken wollen — das geht nicht: entweder — oder. Da lobe ich mir den Botokudenhäuptling: der empfindet für die Anhänger eines anderen Stammes — von denen er nicht einmal weiß, daß ſie „Individuen“ ſind — weiter nichts, als den Wunſch, ſie zu ſkalpieren.“ „Aber Martha, mein Kind, ſolche wilde Gefühle paſſen doch nicht zu dem geſitteten und humaner gewordenen Stand unſerer Kultur.“ „Sage lieber, der Staub unſerer Kultur paßt nicht zu der aus alten Zeiten uns überkommenen Wildheit. So lange dieſe — das heißt ſo lange der Kriegsgeiſt nicht abgeſchüttelt iſt, läßt ſich unſere vielgeprieſene „Humanität“ nicht {vernünftig} vertreten. Denn Du wirſt doch Deine eben gehaltene Rede, in welcher Du dem Prinzen Heinrich verſicherſt, daß Du ihn als Schwiegerſohn lieben und als Preußen haſſen willſt, als Menſchen hochſchätzen und als Oberlieutenant verabſcheuen, daß Du ihm gern Deinen väterlichen Segen gibſt und zugleich ihm das Recht einräumſt, gelegentlich auf Dich zu ſchießen — verzeih’, lieber Vater, aber dieſe Rede wirſt Du doch nicht für vernünftig ausgeben?“ „Was ſagſt Du? Ich verſteh’ kein Wort …“ Die beliebte Schwerhörigkeit hatte ſich wieder rechtzeitig eingeſtellt. 68. Viertes Buch. 1866. // 23. Abſchnitt Nach wenigen Tagen wurde es wieder ſtill auf Grumitz. Unſere Einquartierung mußte abziehen und auch Konrad wurde zu ſeinem Regiment befohlen. Lori Griesbach und der Miniſter waren ſchon früher abgereiſt. Die Hochzeit meiner beiden Schweſtern ward auf den Oktober verlegt. Beide ſollten am ſelben Tage in Grumitz getraut werden. Prinz Heinrich wollte den Dienſt verlaſſen; jetzt nach dieſem glorreichen Feldzuge, in welchem er ſich Beförderung geholt, konnte er dies leicht thun, um ſich auf ſeinen Lorbeeren und ſeinen Beſitzungen auszuruhen. Der Abſchied der zwei Liebespaare war ein ſchmerzlicher und glücklicher zugleich. Man verſprach, ſich täglich zu ſchreiben, und die ſichere Ausſicht auf das nahe Glück ließ das Scheideweh nicht recht aufkommen. {Sichere} Ausſicht auf Glück? … Die gibt es eigentlich nie — doch zu Kriegszeiten am allerwenigſten. Da ſchwebt das Unglück ſo dicht wie Heuſchreckenſchwärme in der Luft; und die Chancen, auf einem Fleckchen zu ſtehen, welches von der niedergehenden Geißel verſchont bleibt, ſind gar geringe. Freilich — der Krieg war aus. Das heißt, man hatte erklärt, daß der Frieden geſchloſſen ſei. Ein Wort genügt, die Schreckniſſe zu entfeſſeln, und da meint man wohl auch, ein Wort könne genügen, dieſelben ſogleich wieder aufzuheben — doch dies vermag kein Machtſpruch. Die Feindſeligkeiten werden eingeſtellt, aber die Feindſeligkeit dauert fort. Der Samen für künftige Kriege iſt geſtreut und die Frucht des eben beendigten Krieges entfaltet ſich weiter: Elend, Verwilderung, Seuchen. Ja, da half kein Leugnen und Nicht-dran-denken mehr: — die Cholera wütete im Lande. Es war am Morgen des 8. Auguſt. Wir ſaßen Alle um den Frühſtückstiſch unter der Veranda und laſen unſere eben eingelaufenen Poſtſachen. Die zwei Bräute fielen auf die an ſie gerichteten Liebesbriefe her — ich blätterte in den Zeitungen. Aus Wien die Nachricht: „Die Cholera-Sterbefälle mehren ſich bedenklich; nicht nur in den Militär- auch in den Civilſpitälern ſind ſchon viele Erkrankungen ſignaliſiert, die als echte [cholera asiatica] bezeichnet werden müſſen, und die energiſchſten Maßregeln werden allenthalben ergriffen, um der Verbreitung der Epidemie zu ſteuern.“ Ich wollte die Stelle laut vorleſen, als Tante Marie, welche den Brief einer Freundin aus einem Nachbarſchloſſe in Händen hielt, erſchreckt aufſchrie: „Entſetzlich! Betti ſchreibt mir, daß in ihrem Hauſe zwei Perſonen an der Cholera geſtorben ſind und jetzt auch ihr Mann erkrankt ſei.“ „Excellenz, der Lehrer wünſcht zu ſprechen.“ Hinter dem Diener trat auch ſchon der Gemeldete heran. Er ſah bleich und verſtört aus: „Herr Graf, ich zeige ergebenſt an, daß ich die Schule ſchließen muß. Geſtern ſind zwei Kinder erkrankt und heute — geſtorben. „Die Cholera?“ riefen wir. „Ich denke wohl … wir müſſen’s beim Namen nennen. Die ſogenannte „Ruhr“, welche unter den Soldaten, die hier einquartiert wurden, ausbrach und der ſchon zwanzig Mann erlegen ſind — es war die Cholera. Im Dorf herrſcht großer Schrecken, denn der Doktor, der aus der Stadt hierher gekommen, hat unverhohlen geſagt, daß die ſchreckliche Krankheit nunmehr zweifellos die hieſige Bevölkerung ergriffen hat.“ „Was iſt das?“ fragte ich aufhorchend — „man hört läuten.“ „Das iſt das Sterbeglöcklein, Frau Baronin,“ antwortete der Schulmeiſter. „Es wird wohl wieder Jemand in den letzten Zügen liegen … Der Doktor hat erzählt, daß in der Stadt die Sterbeglocke gar nicht mehr aufhört zu erklingen —“ Wir blickten einander alle in der Runde an — ſtumm und bleich. Hier war er alſo wieder — der Tod — und Jeder von uns ſah deſſen knöcherne Hand nach dem Haupte eines Teuern ausgeſtreckt. „Fliehen wir!“ ſchlug Tante Marie vor. „Fliehen, wohin?“ entgegnete der Lehrer. „Ringsum iſt ja das Übel ſchon verbreitet.“ „Weit, weit weg — über die Grenze —“ „Da wird wohl ein Cordon errichtet werden, über den man nicht hinauskann.“ „Das wäre ja entſetzlich! Man wird doch die Leute nicht hindern, ein verſeuchtes Land zu verlaſſen?“ „Gewiß — die geſunden Gegenden werden ſich gegen Einſchleppung verwahren.“ „Was thun, was thun?!“ Und Tante Marie rang die Hände. „Den Willen Gottes abwarten,“ antwortete mein Vater mit einem tiefen Seufzer. „Du biſt doch ſonſt ſo beſtimmungsgläubig, Marie — ich verſtehe Deine Fluchtſehnſucht nicht. Eines jeden Menſchen Schickſal erreicht ihn, wo er immer ſei … Aber immerhin — mir wäre es auch lieber, wenn ihr Kinder abreiſen würdet — und Du, Otto, daß Du mir kein Obſt mehr anrührſt.“ „Ich werde ſogleich an Breſſer telegraphieren,“ ſagte Friedrich, „daß er uns Desinfektionsmittel ſende“ … Was dann ſpäter folgte, ich kann es nicht mehr in ſeinen Einzelheiten erzählen, denn die Frühſtückstiſch-Epiſode war die letzte, die ich zu jener Zeit in die roten Hefte eingetragen. Nur aus dem Gedächtnis kann ich die Ereigniſſe der nächſten Tage berichten. Furcht und Bangen erfüllte uns Alle, Alle. Wer könnte zur Zeit der Epidemie nicht zittern, wenn man unter teuern Weſen lebt? Über dem lieben Haupte eines Jeden ſchwebt ja das Damoklesſchwert — und auch ſelber ſterben, ſo furchtbar und ſo unnütz ſterben — wem ſollte der Gedanke nicht Grauen einflößen? Der Mut beſteht höchſtens {darin}, nicht daran zu denken. Fliehen? Dieſe Idee war mir auch gekommen — beſonders, meinen kleinen Rudolf in Sicherheit zu bringen … Mein Vater, trotz allem Fatalismus, beſtand auf der Flucht der Anderen. Am kommenden Tage ſollte die ganze Familie fort. Nur er wollte bleiben, um ſeine Hausleute und die Einwohnerſchaft des Dorfes in der Gefahr nicht zu verlaſſen. Friedrich erklärte auf das Beſtimmteſte, auch bleiben zu wollen, und da war mein Entſchluß gleichfalls gefaßt: von des Gatten Seite würde ich freiwillig nimmer weichen. Tante Marie mit den beiden Mädchen und mit Otto und Rudolf ſollten ſchleunigſt abreiſen. Wohin? — das war noch nicht beſtimmt — vorläufig nach Ungarn, ſo weit wie möglich. Die Bräute widerſetzten ſich durchaus nicht, ſondern halfen emſig packen … Sterben — wenn in naher Zukunft die Erfüllung heißer Liebesſehnſucht, das heißt verzehnfachte Lebenswonne winkt, das hieße ja zehnfach ſterben. Die Koffer wurden in den Speiſeſaal gebracht, damit, unter der Beihilfe Aller, die Arbeit ſchneller von ſtatten gehe. Ich brachte einen Pack von Rudolfs Kleidern auf dem Arm herbei. „Warum thut das nicht Deine Jungfer?“ fragte der Vater. „Ich weiß nicht, wo die Netti ſteckt … ich klingelte ihr ſchon mehrere Male und ſie kommt nicht … So bediene ich mich lieber ſelber —“ „Du verdirbſt Deine Leute,“ ſagte mein Vater aufgebracht und er gab einem anweſenden Diener Befehl, das Mädchen überall zu ſuchen und augenblicklich hierher zu führen. Nach einer Weile kam der Ausgeſandte zurück — mit verſtörter Miene. „Die Netti liegt in ihrem Zimmer … ſie iſt … ſie hat … ſie iſt …“ „Kannſt Du nicht ſprechen?“ donnerte ihn mein Vater an. „Was iſt ſie —?“ „— Schon — ganz ſchwarz.“ Ein Schrei kam aus unſer Aller Munde. Und ſo war es denn da — das grauſe Geſpenſt — in unſerem Hauſe ſelber … „Was nun thun? Konnte man das unglückliche Mädchen hilflos ſterben laſſen? Aber, wer ſich ihr nahte, holte ſich faſt ſicher den Tod — und nicht nur ſich — er gab ihn dann wieder den Anderen weiter. — Ach, ſo ein Haus, in welches die Seuche eingezogen, das iſt, als wäre es von Räubern umzingelt, oder als ſtände es in Flammen — überall, an allen Ecken und Enden — auf jedem Schritt und Tritt — grinſt der Tod. — — „Hole augenblicklich den Arzt,“ befahl mein Vater zunächſt. „Und ihr, Kinder, beſchleunigt eure Abfahrt“ … „Der Herr Doktor iſt ſeit einer Stunde nach der Stadt zurückgefahren,“ antwortete der Diener auf meines Vaters Weiſung. „Weh … mir wird übel!“ kam es jetzt von Lilli, welche bis in die Lippen erbleichte und ſich an eine Seſſellehne anklammerte. Wir ſprangen ihr bei: „Was haſt Du? … Sei nicht thöricht … das iſt die Angſt …“ Aber es war nicht die Angſt, es war — kein Zweifel: wir mußten die Unglückliche auf ihr Zimmer bringen, wo ſie ſogleich von heftigen Erbrechungen und den übrigen Symptomen ergriffen wurde — es war an dieſem Tage der zweite Cholera-Fall im Schloſſe. Entſetzlich war es anzuſehen, was die arme Schweſter litt. Und kein Doktor da! Friedrich war der Einzige, der, ſo gut es ging, das Amt eines Solchen verſah. Er ordnete das Nötige an: warme Umſchläge. Senfteig auf den Magen und an die Beine — Eisſtückchen — Champagner. Nichts half. Dieſe für leichte Choleraanfälle ausreichenden Mittel, hier konnten ſie nicht retten. Wenigſtens gaben ſie der Kranken und den Umſtehenden den Troſt, daß etwas geſchah. Nachdem die Anfälle nachgelaſſen, kamen die Krämpfe an die Reihe — ein Zucken und Zerren der ganzen Geſtalt, {daß die Knochen krachten}. Die Unſelige wollte jammern: ſie konnte nicht, — denn die Stimme verſagte … die Haut wurde bläulich und kalt — der Atem ſtockte — — Mein Vater rannte händeringend auf und nieder. Einmal ſtellte ich mich ihm in den Weg: „Das iſt der Krieg, Vater!“ ſagte ich. „Willſt Du den Krieg nicht verfluchen?“ Er ſchüttelte mich ab und gab keine Antwort. Nach zehn Stunden war Lilli tot. — Netti, das Stubenmädchen war ſchon früher geſtorben — allein auf ihrem Zimmer; wir Alle waren um Lilli beſchäftigt geweſen und von der Dienerſchaft hatte ſich Niemand in die Nähe der „ſchon ganz Schwarzen“ gewagt … * * * Mittlerweile war Doktor Breſſer angekommen. Die telegraphiſch verlangten Medikamente brachte er ſelber. Ich hätte ihm die Hand küſſen mögen, als er unerwartet in unſere Mitte trat, um den alten Freunden ſeine aufopfernden Dienſte zu weihen. Er übernahm ſofort den Oberbefehl des Hauſes. Die zwei Leichen ließ er in eine entfernte Kammer ſchaffen, ſperrte die Zimmer ab, in welchen die Armen geſtorben und unterzog uns Alle einer kräftigen desinfizierenden Prozedur. Ein intenſiver Karbolgeruch erfüllte nunmehr alle Räume, und heute noch, wenn mir dieſer Geruch entgegenweht, ſteigen jene Cholera-Schreckenstage vor meinem Geiſte auf. Die geplante Flucht mußte ein zweites Mal unterbleiben. Schon ſtand am Tage nach Lillis Tode der Wagen bereit, welcher Tante Marie, Roſa, Otto und meinen Kleinen fortführen ſollte, als der Kutſcher — von dem unſichtbaren Würger erfaßt, wieder vom Kutſchbock abſteigen mußte. „Alſo will ich euch fahren,“ ſagte mein Vater, als ihm dieſe Nachricht gebracht wurde. „Schnell — iſt Alles bereit?“ … Roſa trat vor: „Fahret,“ ſagte ſie — „ich muß bleiben … ich … folge der Lilli — —“ Und ſie ſprach wahr. Bei Tagesanbruch wurde auch dieſe zweite junge Braut in die — Leichenkammer gebracht. Natürlich war in dem Schrecken dieſes neuen Unglücksfalles die Abreiſe der Anderen nicht ausgeführt worden. Mitten in meinem Schmerze, meiner tobenden Angſt, ergriff mich auch wieder der tiefſte Zorn gegen jene Rieſenthorheit, welche {ſolches} Übel freiwillig heraufbeſchwört. Mein Vater war, als ſie Roſas Leichnam hinausgetragen, in die Knie gefallen, den Kopf an die Mauer … Ich trat hin und packte ihn beim Arme: „Vater,“ ſagte ich — „das iſt der Krieg.“ Keine Antwort. „Hörſt Du, Vater? — Jetzt oder nie: {willſt} Du jetzt den Krieg verfluchen?“ Er aber raffte ſich auf: „Du erinnerſt mich daran … dieſes Unglück will mit Soldatenmut getragen werden … Nicht ich allein! das ganze Vaterland hat Blut- und Thränenopfer bringen müſſen —“ „Was hat denn dem Vaterland Dein und Deiner Brüder Leid gefrommt? Was frommen ihm die verlorenen Schlachten, was dieſe beiden geknickten Mädchenleben? — Vater — o thue mir die Liebe: fluche dem Krieg! Sieh her,“ ich zog ihn zum Fenſter hin — eben wurde auf einem Karren ein ſchwarzer Sarg in den Hof gerollt: „ſieh her — das iſt für unſere Lilli — und morgen ein gleicher für unſere Roſa … und übermorgen vielleicht ein dritter — und warum, warum?!“ „Weil Gott es ſo gewollt, mein Kind —“ „Gott — immer Gott! … Daß ſich doch alle Thorheit, alle Wildheit, alle Gewaltthätigkeit der Menſchen ſtets hinter dieſem Schilde birgt! Gottes Wille.“ „Läſtere nicht, Martha, jetzt läſt’re nicht, da Gottes ſtrafende Hand ſo ſichtbar —“ Ein Diener kam hereingerannt: „Ex’lenz — der Tiſchler will den Sarg nicht in die Kammer tragen, wo die Komteſſen liegen — und Niemand traut ſich hinein —“ „Auch Du nicht, Feigling?“ „Ich kann nicht allein —“ „So werde ich Dir helfen — ich will meine Tochter ſelber …“ Und er ſchritt zur Thür. „Zurück!“ ſchrie er mich an, da ich ihm folgen wollte. „Du darfſt nicht mit — Du darfſt mir nicht auch noch ſterben … und denke an Dein Kind!“ Was thun? Ich ſchwankte … Das iſt das quälendſte in ſolchen Lagen; nicht einmal zu wiſſen, wo die Pflicht liegt. Leiſtet man den Kranken und den Toten die Liebesdienſte, zu welchem das Herz drängt, ſo ſchleppt man den Keim des Übels wieder weiter und bringt den anderen, den noch verſchonten, die Gefahr. Man wollte {ſich} opfern, weiß aber, daß man mit dieſem Wagnis auch andere hinzuopfern wagt. Über ſolches Dilemma kann nur eines hinaushelfen: mit dem Leben abſchließen — nicht nur mit dem eigenen, ſondern auch mit demjenigen ſeiner Teuren — annehmen, daß alle zu Grunde gehen — und eins dem anderen, ſo lange es geht, in den Leidensſtunden beiſtehen. Rückſicht, Vorſicht — das alles muß aufhören: Zuſammen! — an Bord eines untergehenden Schiffes — Rettung gibt es keine — „halten wir uns umfangen, eng, recht eng aneinander — bis zum letzten Augenblick — und: ſchöne Welt, ade!“ Dieſe Reſignation war über uns alle gekommen; die Fluchtpläne hatte man aufgegeben; jeder ging an jedes Kranken und an jedes Toten Lager; ſogar Breſſer verſuchte nicht mehr, uns dieſes Verhalten — das einzig menſchliche — zu wehren. Seine Nähe, ſein energiſches, raſtloſes Schalten gab uns das einzige Sicherheitsgefühl: wenigſtens war unſer ſinkendes Schiff nicht ohne Kapitän. Ach, dieſe Cholerawoche in Grumitz! … Über zwanzig Jahre ſind ſeither vergangen, aber noch ſchaudert es mir durch Mark und Bein, wenn ich daran zurückdenke. Thränen, Wimmern, herzzerreißende Sterbeſcenen — der Karbolgeruch, das Knochenknarren der Krampfbefallenen, die ekelhaften Symptome, das unaufhörliche Geklingel des Totenglöckleins, die Begräbniſſe — nein: Verſcharrungen — denn in ſolchen Fällen gibt es keinerlei Trauerpomp; — die ganze Lebensordnung aufgegeben: keine Mahlzeiten — die Köchin war geſtorben — kein Schlafengehen des Nachts — hier und da ein ſtehend eingenommener Biſſen, und in den Morgenſtunden ein ſitzendes Einnicken. Draußen, wie eine Ironie der gleichgültigen Natur, das herrlichſte Sommerwetter, fröhlicher Amſelſchlag, üppiges Farbenglühen der Blumenbeete … Im Dorfe ununterbrochenes Sterben — die zurückgebliebenen Preußen alle tot. „Ich bin heute dem Totengräber begegnet,“ erzählte Franz der Kammerdiener, „wie er mit einem leeren Wagen vom Friedhof zurückfuhr. „Wieder ein paar hinausgeſchafft?“ habe ich ihn gefragt. „Ja, wieder ſechs oder ſieben … alle Tag, ſo ein halb’ Dutzend, manchmal auch mehr … es kommt auch vor, daß einer oder der andere im Wagen drin noch a biſsl muckſt — aber thut nix — nur ’nein in die Gruben mit die Preußen!“ Am folgenden Tage ſtarb der Unmenſch ſelber und ein anderer mußte ſein Amt — zur Zeit das angeſtrengteſte im Ort — übernehmen. Die Poſt brachte nur trübes; von überall her Nachrichten über das Wüten der Seuche und Liebesbriefe — ewig unbeantwortet zu bleibende Liebesbriefe — von dem nichts ahnenden Prinzen Heinrich. An Konrad hatte ich, um ihn auf das fürchterliche vorzubereiten, eine Zeile geſchickt: „Lilli ſehr krank.“ Er konnte nicht augenblicklich kommen — der Dienſt hielt ihn zurück. Erſt am vierten Tage kam der Unſelige ins Haus geſtürzt: „Lilli?“ rief er — „iſt es wahr?“ Unterwegs hatte er das Unglück erfahren. Wir bejahten. Er blieb unheimlich ſtill und thränenlos. „Ich habe ſie viele Jahre geliebt,“ ſprach er nur leiſe vor ſich hin. Dann laut: „Wo liegt ſie? — Auf dem Friedhofe? … Ich will ſie beſuchen … lebt wohl … ſie erwartet mich …“ „Soll ich mitkommen?“ trug ihm jemand an. „Nein, ich gehe lieber allein.“ Er ging — und wir ſahen ihn nicht wieder. Am Grabe der Braut hat er ſich eine Kugel durch den Kopf gejagt. So endete Konrad Graf Althaus, Oberſtlieutenant im 4. Huſarenregiment, im ſiebenundzwanzigſten Lebensjahre. Zu einer anderen Zeit hätte die Tragik dieſes Vorfalls viel erſchütternder gewirkt, aber jetzt: wie viele junge Offiziere hatte der Krieg unmittelbar weggerafft — dieſen mittelbar. Und in dem Augenblick, als wir von der That erfuhren, war in unſerer Mitte ein neues Unglück ausgebrochen, das unſere ganze Herzensangſt in Anſpruch nahm: Otto — meines armen Vaters angebeteter, einziger Sohn — war von dem Würgeengel gepackt. Die ganze Nacht und den folgenden Tag dauerte ſein Leiden — unter wechſelndem Hoffen und Verzagen — um ſieben Uhr Abends war alles vorbei. Mein Vater warf ſich auf die Leiche mit einem ſo markerſchütternden Schrei, daß es das ganze Haus durchdröhnte. Wir hatten Mühe, ihn von dem Toten fortzureißen. Ach, und dieſer Schmerzensjammer, der jetzt folgte: heulende, brüllende, röchelnde Laute der Verzweiflung waren es, die der alte Mann ſtunden- und ſtundenlang ausſtieß … Sein Sohn, ſein Stolz, ſein Otto, ſein alles! Auf dieſe Ausbrüche folgte plötzlich ſtarre, ſtumme Apathie. Dem Begräbnis ſeines Liebling hatte er nicht beiwohnen können. Er lag auf einem Sopha regungslos und — beinahe ſchien es — bewußtlos. Breſſer ordnete an, daß er entkleidet und zu Bett gebracht werde. Nach einer Stunde ſchien er ſich zu beleben. Tante Marie, Friedrich und ich waren an ſeiner Seite. Er ſchaute eine Zeit lang mit fragendem Blick herum, dann ſetzte er ſich auf und verſuchte zu ſprechen. Doch brachte er kein Wort hervor und rang mit ſchmerzverzerrtem Geſicht nach Atem. Da begann es ihn zu ſchütteln und zu werfen, als wäre er von jenen ſchauerlichen Krämpfen befallen, welche die letzten Symptome der Cholera ſind, und doch hatten ſich vorher keine der anderen Erſcheinungen bei ihm gezeigt. Endlich brachte er ein Wort hervor: „Martha“. Ich fiel kniend an der Bettſeite nieder: „Vater, mein teurer, armer Vater! …“ Er erhob ſeine Hand über meinem Scheitel: „Dein Wunſch“ … ſprach er mühſam — „ſei erfüllt … ich flu- ich verfluch-“ Er konnte nicht weiter reden und ſank in die Kiſſen zurück. Mittlerweile war Breſſer herbeigekommen und gab auf unſer ängſtliches Fragen Beſcheid: Ein Herzkrampf hatte meinen Vater getötet. „Das Fürchterlichſte iſt,“ ſagte Tante Marie, nachdem wir ihn begraben, „daß er mit einem Fluch auf den Lippen verſchied.“ „Laß das gut ſein, Tante,“ beruhigte ich ſie. „{Wenn} dieſer Fluch erſt von Aller — Aller Lippen fiele, ſo wäre das der Menſchheit größter Segen. 69. Viertes Buch. 1866. // 24. Abſchnitt Das war die Cholerawoche von Grumitz! In einem Zeitraum von ſieben Tagen zehn Bewohner des Schloſſes dahingerafft: Mein Vater, Lilli, Roſa, Otto, meine Jungfer Netti, die Köchin, der Kutſcher und zwei Stalljungen. Im Dorfe ſtarben in derſelben Zeit über achtzig Perſonen. Wenn man das ſo trocken herſagt, klingt es wie eine beachtenswerte ſtatiſtiſche Notiz; wenn es in einem erzählenden Buche ſteht — wie ein übertreibendes Phantaſieſpiel des Autors. Aber es iſt weder ſo trocken wie das Eine, noch ſo ſchauerromantiſch, wie das Andere, es iſt kalte, greifbare trauerreiche Wirklichkeit. Nicht Grumitz allein war in unſerer Gegend ſo hart mitgenommen worden. Wer in den Annalen der nachbarlichen Ortſchaften und Schlöſſer, nachblättern will, könnte daſelbſt viele ähnliche Fälle von Maſſenunglück finden. Da iſt zum Beiſpiele — in der Nähe des Städtchens Horn — das Schloß Stockern. Von der Familie, die es bewohnte, ſind in der Zeit vom 9. bis 13. Auguſt 1866, gleichfalls nach Abmarſch der preußiſchen Einquartierung, vier Mitglieder — der zwanzigjährige Rudolf, deſſen Schweſtern Emilie und Bertha, Onkel Candid — und außerdem fünf Perſonen Dienerſchaft — der Seuche erlegen. Die jüngſte Tochter, Pauline von Engelshofen, blieb verſchont. Dieſelbe hat ſich in der Folge mit einem Baron Suttner vermählt — auch ſie erzählt heute noch mit Schaudern von der Cholerawoche in Stockern. Es war damals eine ſolche Trauer- und Sterbereſignation über mich gekommen, daß ich ſtündlich erwartete, der Tod — in deſſen Zeichen das Land ſeit zwei Monaten ſtand — werde nun mich ſelber und meine anderen Lieben dahinraffen. Mein Friedrich — mein Rudolf: ich beweinte ſie ſchon im voraus. — Bei alledem, mitten in meinem Harme, hatte ich doch ſüße Augenblicke. Das war, wenn ich an meines Gatten Bruſt gelehnt, von ihm liebend umſchlungen, mein Leid an ſeinem treuen Herzen ausweinen durfte. Wie ſanft er da — nicht Troſt-, aber Worte des Mitſchmerzes und der Liebe zu mir ſprach, es wurde mir dabei ſo warm und weit ums eigene Herz … Nein, die Welt iſt nicht ſo ſchlecht — mußte ich unwillkürlich denken — die Welt iſt nicht ganz Jammer und Grauſamkeit: es lebt in ihr das Mitleid und die Liebe … freilich erſt in einzelnen Seelen, nicht als allgültiges Geſetz und als obwaltender Normalzuſtand — aber doch {vorhanden0; und ſo wie dieſe Regungen uns zwei durchglühen, mit ihrer milden Rührung ſelbſt dieſe Schmerzenszeit verſüßend — ſo wie ſie noch in vielen anderen, ja in den {meiſten} Seelen wohnen, ſo werden ſie einſt zum Durchbruch gelangen und das allgemeine Verlangen der Menſchenfamilie beherrſchen: die Zukunft gehört der Güte. * * * Wir verbrachten den Reſt des Sommers in der Nähe von Genf. Es war Doktor Breſſers Überredungskunſt doch gelungen, uns zur Flucht aus der verſeuchten Gegend zu bewegen. Anfangs ſträubte ich mich dagegen, die Gräber der Meinen ſo raſch zu verlaſſen und war überhaupt, wie geſagt, von ſolcher Todesergebung erfüllt, daß ich ganz apathiſch geworden und jeden Fluchtverſuch für unnütz hielt; — aber ſchließlich mußte Breſſer dennoch ſiegen, als er mir vorhielt, daß es meine Mutterpflicht ſei, den kleinen Rudolf ſo gut wie möglich der Gefahr zu entreißen. Daß wir als Zufluchtsort die Schweiz gewählt, geſchah auf Friedrichs Wunſch. Er wollte ſich mit den Männern bekannt machen, welche das „Rote Kreuz“ ins Leben gerufen und an Ort und Stelle über den Verlauf der ſtattgehabten Konferenzen, ſo wie über die weiteren Ziele der Konvention ſich unterrichten. Seinen Abſchied vom Militärdienſt hatte Friedrich eingereicht, und vorläufig, bis zur Erledigung des Geſuches, einen halbjährigen Urlaub erhalten. Ich war nun reich geworden, ſehr reich. Der Tod meines Vaters und meiner drei Geſchwiſter hatte mich in den Beſitz von Grumitz und des ſämtlichen Familienvermögens geſetzt. „Sieh her,“ ſagte ich zu Friedrich, als mir vom Notar die Beſitzdokumente übermittelt wurden. „Was würdeſt Du dazu ſagen, wenn ich den ſtattgehabten Krieg nun preiſen wollte, wegen dieſes durch ſeine Folgen mir zugefallenen Vorteils?“ „Dann wärſt Du meine Martha nicht! Doch — ich verſtehe, was Du ſagen willſt. Der herzloſe Egoismus, der ſich über materiellen Gewinn zu freuen vermag, welcher aus dem Verderben Anderer ſproßt — dieſe Regung, die der Einzelne, wenn er wirklich niedrig genug iſt, ſie zu fühlen, doch ſorgfältig zu verbergen trachtet — zu der bekennen ſich ſtolz und offen Nationen und Dynaſtien: Tauſende ſind unter unſäglichem Leid zu Grunde gegangen — aber wir haben dadurch an Territorium, an Macht gewonnen: dem Himmel ſei Preis und Dank für den glücklichen Krieg.“ Wir lebten ſehr ſtill und zurückgezogen in einer kleinen, am Ufer des Sees gelegenen Villa. Ich war von den durchgemachten Ereigniſſen ſo gedrückt, daß ich durchaus mit keinem fremden Menſchen Umgang haben wollte. Friedrich reſpektierte meine Trauer und verſuchte gar nicht, das banale Mittel „Zerſtreuung“ dagegen vorzuſchlagen. Ich war es den Grumitzer Gräbern ſchuldig — das ſah mein zartfühlender Gatte wohl ein — ihnen eine Zeit lang in aller Stille nachzuweinen. Die der ſchönen Welt ſo raſch und grauſam Entriſſenen ſollten nicht auch noch der Erinnerungsſtätte, die ſie in meinem trauernden Herzen hatten, ebenſo raſch und kalt beraubt werden. Friedrich ſelber ging oft in die Stadt, um dort den Zweck ſeines hieſigen Aufenthaltes, das Studium der Rote-Kreuz-Frage zu betreiben. Von den Ergebniſſen dieſes Studiums habe ich keine klare Erinnerung mehr; ich führte damals kein Tagebuch, und ſo iſt mir meiſt wieder entfallen, was mir Friedrich von ſeinen betreffenden Erfahrungen mitteilte. Nur eines Eindruckes erinnere ich mich deutlich, den mir die ganze Umgebung machte: die Ruhe, die Unbefangenheit, die heitere Geſchäftigkeit aller Leute, die ich zufällig ſah — als lebte man mitten in friedlichſter, gemütlichſter Zeit. Faſt nirgends ein Echo von dem ſtattgehabten Krieg, höchſtens in anekdotiſchem Tone, wie wenn derſelbe ein intereſſantes Ereignis mehr abgegeben hätte — weiter nichts — das neben dem übrigen Europaklatſch vorteilhaft Geſprächsſtoff lieferte; — als hätte das grauſige Kanonendonnern auf den böhmiſchen Schlachtfeldern nichts Tragiſcheres an ſich, als eine neue Wagnerſche Oper. Das Ding gehörte nunmehr der Geſchichte an, hatte einige Landkarten-Umänderungen zur Folge — aber deſſen Schauerlichkeit war aus dem Bewußtſein geſchwunden — in das der Unbeteiligte vielleicht niemals gedrungen … vergeſſen, verſchmerzt, verwiſcht. Ebenſo die Zeitungen — ich las zumeiſt franzöſiſche Blätter: — alles Intereſſe auf die für 1867 ſich vorbereitende pariſer Weltausſtellung, auf die Hoffeſte in Compiègne, auf litterariſche Perſönlichkeiten (es tauchten ein paar neue vielbeſtrittene Talente auf: Flaubert, Zola), auf Theaterereigniſſe: eine neue Oper von Gounod — eine von Offenbach der Hortenſe Schneider zugedachte Glanzrolle u. dgl. gerichtet. Das kleine pikante Duell, welches die Preußen und Öſterreicher [là-bas en Bohème] ausgefochten, das war ſchon eine etwas verjährte Angelegenheit … O, was drei Monate zurückliegt oder dreißig Meilen entfernt iſt, was nicht im Bereich des Jetzt und des Hier ſich abſpielt, dort reichen die kurzen Fühlhörnchen des menſchlichen Herzens und des menſchlichen Gedächtniſſes nicht hin. Gegen Mitte Oktober verließen wir die Schweiz. Wir begaben uns nach Wien zurück, wo die Abwickelung der Verlaſſenſchaftsangelegenheiten meine Anweſenheit erheiſchte. Nach Erledigung dieſer Geſchäfte beabſichtigten wir, uns auf längere Zeit in Paris niederzulaſſen. Friedrich führte im Sinn, der Idee der Friedensliga nach Kräften die Wege zu ebnen, und er war der Anſicht, daß die bevorſtehende Weltausſtellung die beſte Gelegenheit biete, einen Kongreß der Friedensfreunde zu veranſtalten; auch hielt er Paris für den geeignetſten Ort, eine internationale Sache wirkſam zu vertreten. „Das Kriegshandwerk habe ich niedergelegt,“ ſagte er, „und zwar habe ich das aus einer im Kriege ſelber gewonnenen Überzeugung gethan. Für dieſe Überzeugung nun will ich wirken. Ich trete in den Dienſt der Friedensarmee. Freilich noch ein ganz kleines Heer, deſſen Streiter keine andere Wehr und Waffen haben, als den Rechtsgedanken und die Menſchenliebe. Doch Alles, was in der Folge groß geworden, hat klein und unſcheinbar begonnen. „Ach,“ ſeufzte ich dagegen, „es iſt ein hoffnungsloſes Beginnen. Was willſt Du — Einzelner — erreichen, gegen jenes mächtige, jahrtauſendalte, von Millionen Menſchen verteidigte Bollwerk?“ „Erreichen? Ich? … Wahrlich, ſo unvernünftig bin ich nicht, zu hoffen, daß ich perſönlich eine Umgeſtaltung herbeiführen werde. Ich ſagte ja nur, daß ich in die {Reihen} der Friedensarmee eintreten wolle. Habe ich etwa, als ich im Kriegsheer ſtand, gehofft, daß {ich} das Vaterland retten, daß {ich} eine Provinz erobern würde? Nein, der Einzelne kann nur {dienen}. Mehr noch; er muß dienen. Wer von einer Sache durchglüht iſt, der kann nicht anders als für ſie wirken, als für ſie ſein Leben einſetzen — wenn er auch weiß, wie wenig dieſes Leben an und für ſich zum Siege beitragen kann. Er dient, weil er muß: nicht nur der Staat — auch die eigene Überzeugung, wenn ſie begeiſtert iſt, legt eine Wehrpflicht auf.“ „Du haſt recht. Und wenn endlich Millionen Begeiſterter dieſer Wehrpflicht genügen, dann muß jenes von ſeinen Verteidigern verlaſſene, jahrtauſendalte Bollwerk auch zuſammenfallen.“ Von Wien aus machte ich eine Pilgerfahrt nach Grumitz — deſſen Herrin ich nun geworden. Doch ich betrat gar nicht das Schloß. Nur auf dem Friedhof legte ich vier Kränze nieder und fuhr wieder zurück. Nachdem meine wichtigſten Geſchäfte geordnet waren, ſchlug Friedrich eine kleine Reiſe nach Berlin vor, um der beklagenswerten Tante Kornelie einen Beſuch zu machen. Ich willigte ein. Für die Dauer unſerer Abweſenheit übergab ich meinen kleinen Sohn der Aufſicht Tante Mariens. Letztere war durch die Ereigniſſe der Grumitzer Cholerawoche unbeſchreiblich niedergedrückt. Ihre ganze Liebe, ihr ganzes Lebensintereſſe übertrug ſie jetzt auf meinen kleinen Rudolf. Ich hoffte auch, daß es ſie ein wenig zerſtreuen und aufrichten werde, das Kind eine Zeit lang bei ſich zu haben. Am 1. November verließen wir Wien. In Prag unterbrachen wir unſere Reiſe, um zu übernachten. Tags darauf, ſtatt die Reiſe nach Berlin fortzuſetzen, machten wir eine neue Pilgerfahrt. „Allerſeelentag!“ ſagte ich, als mein Blick auf das Datum eines mit dem Frühſtück in unſer Hotelzimmer gebrachten Zeitungsblattes fiel. „Allerſeelen“ — wiederholte Friedrich. „Wieviel arme Tote hier auf den nahen Schlachtfeldern, denen nicht einmal dieſer Gräber-Ehrentag zu gute kommt — weil ſie keine Gräber haben … Wer wird ſie beſuchen?“ Ich ſah ihn eine Weile ſchweigend an. Dann halblaut: „Willſt Du?“ Er nickte. Wir hatten uns verſtanden, und eine Stunde ſpäter waren wir auf dem Weg nach Chlum und Königgrätz. 70. Viertes Buch. 1866. // 25. Abſchnitt Welch ein Anblick! Eine Elegie Tiedges kam mir in den Sinn: „Welch ein Anblick! Hierher, Volksregierer! // Hier bei dem verwitternden Gebein // Schwöre, deinem Volk ein ſanfter Führer, // Deiner Welt ein Friedensgott zu ſein. // Hier ſchau’ her, wenn dich nach Ruhme dürſtet, // Zähle dieſe Schädel, Völkerhirt, // Vor dem Ernſte, der dein Haupt, entfürſtet, // In die Stille niederlegen wird. Laß im Traum das Leben dich umwimmern, // Das hier unterging in ſtarres Grauen; // Iſt es denn ſo lockend, ſich mit Trümmern // In die Weltgeſchichte einzubauen?“ Leider ja, es iſt verlockend, ſo lang die Weltgeſchichte — das heißt Diejenigen, welche ſie ſchreiben — die Heldenſtandbilder aus Kriegstrümmern aufbauen, ſo lang ſie den Titanen des Völkermordes Kränze reichen. Auf den Lorbeerkranz verzichten, dem Ruhme entſagen, wäre edel — meint der Dichter? Erſt werde das Ding, auf das zu verzichten ſo wohlthätig erſchiene, ſeines Nimbus entkleidet und kein Ehrgeiziger wird mehr darnach greifen. Es dämmerte ſchon, als wir in Chlum ankamen und von da, Arm in Arm, in ſchweigendem Schauer, dem nahen Schlachtfelde zuſchritten. Es fiel ein mit ganz kleinen Schneeflocken gemiſchter Nebel und die kahlen Äſte der Bäume bogen ſich unter dem ſchrill klagenden Pfeifen eines kalten Novemberwindes. Maſſen von Gräbern und Maſſengräber rings umher. Aber ein {Friedhof}? Nein. Da hatte man keine müden Lebenspilger zur Ruhe friedlich hingebettet, da wurden mitten in ihrem jugendlichen Lebensfeuer, in ihrer vollſten Manneskraft ſtrotzende Zukunftsanwärter gewaltſam niedergeworfen und mit Grabeserde überſchaufelt. Verſchüttet, erſtickt, auf ewig ſtumm gemacht — alle die brechenden Herzen, die blutig zerfetzten Glieder, die bitterlich weinenden Augen — die wilden Verzweiflungsſchreie, die vergeblichen Gebete … Einſam war es auf dieſem Kriegsacker nicht. Viele, Viele hatte der Allerſeelentag hierhergebracht — aus Freundes- und aus Feindesland — welche gekommen waren, auf der Stätte niederzuknieen, wo ihr Liebſtes gefallen. Schon der Zug, mit dem wir gekommen, war mit anderen Trauernden gefüllt geweſen — und ſo hatte ich ſchon mehrere Stunden lang um mich jammern und klagen gehört. „Drei Söhne — drei Söhne … einer ſchöner und beſſer und lieber als der andere — habe ich bei Sadowa verloren!“ erzählte uns ein ganz gebrochen ausſehender alter Mann. Noch mehrere andere der Wagengenoſſen miſchten ihre Klagen dazu: um den Bruder, den Gatten, den Vater. — Aber von allen dieſen hat mir keiner ſolchen Eindruck gemacht, wie das thränenloſe, dumpfe „Drei Söhne, drei Söhne!“ des armen Alten. Auf dem Felde ſelbſt ſah man von allen Seiten, auf allen Wegen ſchwarze Geſtalten, gehen, oder knien — oder mühſam weiter ſchwanken, mitunter laut aufſchluchzend zuſammenbrechen. Es waren nur wenig Einzelgräber da, nur wenig inſchrifttragende Kreuze oder Steine. Wir bückten uns und entzifferten, ſo gut das Dämmerlicht es noch geſtattete, einige Namen. Major von Reuß vom 2. preußiſchen Garderegiment. „Vielleicht ein Verwandter vom Bräutigam unſerer armen Roſa,“ bemerkte ich. Graf Grünne — Verwundet 3. Juli — geſtorben 5. Juli … Was mag er in den zwei Tagen gelitten haben! … Ob das wohl ein Sohn des Grafen Grünne war, der vor dem Krieg den bekannten Satz geäußert: „Mit naſſen Fetzen werden wir die Preußen verjagen?“ Ach wie wahnwitzig und frevleriſch, wie ſchrill mißtönig klingt doch jedes vor dem Kriege geſprochene Aufreizungswort, wenn man ſich’s an {ſolcher} Stelle wiederholt! Worte: — weiter nichts — Prahlworte, Hohnworte, Drohworte — geſprochen, geſchrieben und gedruckt — {die} nur haben dieſes Feld beſtellt … Wir gehen weiter. Überall mehr oder minder hohe, mehr oder minder breite Erdhügel … auch da, wo der Boden nicht erhaben iſt, auch unter unſeren Füßen modern vielleicht Soldatenleichen — — — Immer dichter rieſelt der Nebel: „Friedrich — ſetze doch Deinen Hut auf: Du wirſt Dich erkälten.“ Friedrich aber blieb unbedeckt — und ich wiederholte meine Mahnung kein zweites Mal. Unter den Leidtragenden, die hier umher wandelten, befanden ſich auch viele Offiziere und Soldaten; wahrſcheinlich ſolche, die den heißen Tag von Königgrätz ſelber mitgemacht und jetzt an die Stelle gepilgert waren, wo ihre gefallenen Kameraden ruhten. Jetzt waren wir an den Platz gelangt, wo die meiſten Krieger — Freund und Feind nebeneinander — begraben lagen. Der Platz war — wie ein Kirchhof — umfriedigt. Hierher ſtrömte die größte Anzahl der Trauernden, den auf dieſer Stelle war es am wahrſcheinlichſten, daß die von ihnen Beweinten da begraben ſeien. An dieſer Umfriedigung knieten und ſchluchzten die Beraubten, hier hingen ſie ihre Kränze und ihre Grablaternen auf. Ein großer, ſchlanker Mann, von vornehmer jugendlicher Geſtalt, in einen Generalsmantel gehüllt, kam auf den Tumulus zu. Die Anderen wichen von der Stelle ehrerbietig zurück und ich hörte einige Stimmen flüſtern: „Der Kaiſer …“ Ja, es war Franz Joſeph. Der Landesherr, der oberſte Kriegsherr war es, der da am Allerſeelentag gekommen war, für ſeine toten Landeskinder, für ſeine gefallenen Krieger ein ſtilles Gebet zu verrichten. Auch er ſtand unbedeckten, gebeugten Hauptes da, in ſchmerzerfüllter Ehrerbietung von der Majeſtät des Todes. Lange, lange blieb er unbeweglich. — Ich konnte mein Auge nicht von ihm wenden. Was mochten für Gedanken durch ſeine Seele ziehen — was für Gefühle durch ſein Herz, welches doch — das wußte ich — ein gutes und ein weiches Herz war? Es überkam mich, als könnte ich ihm nachfühlen, als könnte ich gleichzeitig mit ihm die Gedanken denken, die ſeinen geſenkten Kopf durchkreuzten: … Ihr, meine armen Tapferen … geſtorben … und wofür? … Wir haben ja nicht geſiegt … mein Venedig! Verloren … ſo Vieles, ſo Vieles verloren … auch euer junges Leben … Und ihr habt es ſo opfermutig hergegeben … für mich … O könnte ich es euch zurückgeben! Ich, für mich, habe ja das Opfer nicht begehrt — für euch, für euer Land, ihr meine Landeskinder, ſeid ihr in dieſen Krieg geführt worden … Und nicht durch mich … wenn es auch auf meinen Befehl geſchehen — hab’ ich denn nicht befehlen {müſſen}? Nicht meinetwillen ſind die Unterthanen da — nein, ihretwillen bin ich auf den Thron berufen … und jede Stunde wäre ich bereit, für meines Volkes Wohl zu ſterben … O, hätte ich meinem Herzensdrang gefolgt und nimmer „ja“ geſagt, wenn ſie Alle um mich herum riefen: „Krieg, Krieg!“ … Doch — konnte ich mich widerſetzen? Gott iſt mein Zeuge, ich konnte nicht … Was mich drängte, was mich zwang — ich weiß es ſelbſt nicht mehr genau — nur ſo viel weiß ich — es war ein unwiderſtehlicher Druck von außen — von euch ſelber, ihr toten Soldaten … O wie traurig, traurig, traurig — was habt ihr nicht Alles gelitten und jetzt liegt ihr hier und auf anderen Wahlſtätten — von Kartätſchen und Säbelhieben, von Cholera und Typhus hingerafft … O hätte ich „nein“ ſagen können … du haſt mich darum gebeten, Eliſabeth … O {hätte} ich’s geſagt! Der Gedanke iſt unerträglich, daß … ach, es iſt eine elende, unvollkommene Welt … zu viel, {zu} viel des Jammers! … Immer noch, während ich ſo für ihn dachte, haftete mein Auge an ſeinen Zügen, und jetzt — ja es war „zu viel, zu viel des Jammers“ — jetzt bedeckte er ſein Geſicht mit beiden Händen und brach in heftiges Weinen aus. So geſchehen am Allerſeelentag 1866 auf dem Totenfelde von Sadowa. 71. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 1. Abſchnitt Die Stadt Berlin fanden wir in hellem Jubel. Jeder Ladenſchwengel und jeder Eckenſteher trug ein gewiſſes Siegesbewußtſein zur Schau. „{Wir} haben die Andern drunter gekriegt“! das ſcheint doch eine ſehr erhebende und unter der ganzen Bevölkerung verteilbare Empfindung zu ſein. Dennoch, in den Familien, die wir aufſuchten, fanden wir ſo manche tiefniedergeſchlagene Leute, ſolche nämlich, welche einen unvergeßlichen Toten auf den deutſchen oder böhmiſchen Schlachtfeldern liegen hatten. Am meiſten fürchtete ich mich, Tante Kornelie wiederzuſehen. Ich wußte, daß ihr herrlicher Sohn Gottfried ihr Abgott, ihr Alles geweſen, und ich konnte den Schmerz ermeſſen, der die arme beraubte Mutter jetzt erdrücken mußte — ich brauchte mir nur vorzuſtellen, daß mein Rudolf, wenn ich ihn großgezogen hätte … nein, {den} Gedanken wollte ich gar nicht ausdenken. Unſer Beſuch war angeſagt. Mit Herzklopfen betrat ich Frau von Teſſows Wohnung. Schon im Vorzimmer bekundete ſich die im Hauſe herrſchende Trauer. Der Diener, der uns einließ, trug ſchwarze Livree; im großen Empfangszimmer, deſſen Sitzmöbel mit Überzügen bedeckt waren, war kein Feuer angezündet und die Spiegel und Bilder an den Wänden waren ſämtlich mit Flor verhängt. Von hier wurde uns die Thüre nach Tante Korneliens Schlafzimmer geöffnet, wo ſie uns erwartete. Dasſelbe, ein ſehr großer, durch einen Vorhang — hinter welchem das Bett ſtand — geteilter Raum, diente Tante Kornelie jetzt als beſtändiger Aufenthalt; ſie verließ nie mehr das Haus, außer um allſonntäglich in den Dom zu gehen — und nur ſelten das Zimmer, nur täglich eine Stunde, welche ſie in Gottfrieds geweſenem Studierkabinett verbrachte. In dieſem war Alles auf derſelben Stelle ſtehen und liegen geblieben, wie er es am Tage ſeiner Abreiſe verlaſſen. Sie führte uns im Laufe unſeres Beſuches hinein und ließ uns einen Brief leſen, den er auf ſeine Mappe gelegt: „Meine einzige, liebe Mutter! Ich weiß ja, meine Herzliebſte Du, daß Du nach meiner Abfahrt hierherkommen wirſt — und da ſollſt Du dieſes Blatt finden. Der perſönliche Abſchied iſt vorbei. Deſto mehr wird es Dich freuen und überraſchen, {noch} ein Zeichen zu entdecken, noch ein letztes Wort von mir zu hören, und zwar ein frohes, hoffnungsvolles. Sei guten Muts: ich komme wieder. Zwei ſo aneinander hängende Herzen, wie die unſeren, wird das Schickſal nicht auseinander reißen. Meine Beſtimmung iſt es, jetzt einen glücklichen Feldzug zu überſtehen, Sterne und Kreuze zu erringen — und dann: Dich zur ſechsfachen Großmutter machen. Ich küſſe Deine Hand, ich küſſe Deine liebe ſanfte Stirn — o Du aller Mütterchen angebetetſtes. Dein Gottfried.“ Als wir bei Tante Kornelie eintraten, war dieſelbe nicht allein. Ein Herr in langem, ſchwarzem Rocke, auf den erſten Blick als Paſtor erkenntlich, ſaß ihr gegenüber. Die Tante erhob ſich und kam uns entgegen; der Paſtor ſtand gleichfalls von ſeinem Sitze auf, blieb aber im Hintergrunde ſtehen. Was ich erwartet, geſchah: als ich die alte Frau umarmte, brachen wir beide, ſie und ich, in lautes Schluchzen aus. Auch Friedrich blieb nicht trockenen Auges, indem er die Trauernde an ſein Herz drückte. Geſprochen wurde in dieſer erſten Minute gar nichts. Was man ſich in ſolchen Augenblicken — beim erſten Wiederſehen nach einem ſchweren Unglücksfall — zu ſagen hat, das drücken Thränen vollſtändig aus … Sie führte uns an ihren Sitzplatz zurück und wies uns nebenſtehende Seſſel an. Dann, nachdem ſie die Augen getrocknet: „Mein Neffe, Oberſt Baron Tilling, — Herr Militäroberpfarrer und Konſiſtorialrat Mölſer,“ ſtellte ſie vor. Stumme Verneigungen wurden gewechſelt. „Mein Freund und geiſtlicher Berater,“ ergänzte ſie, „der es ſich angelegen ſein läßt, mich in meinem Schmerze aufzurichten —“ „Dem es aber leider noch nicht gelungen iſt, Ihnen die richtige Ergebung, die richtige Freudigkeit des Kreuztragens beizubringen, geſchätzte Freundin,“ ſagte Jener. „Warum mußte ich eben einen neuerlichen, ſo mattherzigen Thränenerguß ſehen?“ „Ach, verzeihen Sie mir! Als ich meinen Neffen und ſeine liebe junge Frau zum letzten Male ſah, da war mein Gottfried —“ Sie konnte nicht weiter reden. „Da war Ihr Sohn noch auf dieſer ſündigen Welt, allen Verſuchungen und Gefahren ausgeſetzt, während er jetzt in den Schoß des Vaters eingegangen iſt, nachdem er den rühmlichſten, ſeligſten Tod für König und Vaterland gefunden hat. „Sie, Herr Oberſt,“ wandte er ſich nun an meinen Mann, „der Sie mir eben auch als Soldat vorgeſtellt wurden, können mir helfen, dieſer gebeugten Mutter den Troſt zu geben, daß das Schickſal ihres Sohnes ein neidenswertes iſt. Sie müſſen es wiſſen, welche Todesfreudigkeit den tapfern Krieger beſeelt — der Entſchluß, ſein Leben auf dem Altar des Vaterlandes zum Opfer zu bringen, verklärt ihm alles Scheideweh, und wenn er im Sturm der Schlacht, beim Donner der Geſchütze ſinkt, ſo erwartet er, zu der großen Armee verſetzt zu werden und dabei zu ſein, wenn der Herr der Heerſchaaren droben Heerſchau hält. Sie, Herr Oberſt, ſind unter Jenen zurückgekehrt, welchen die göttliche Vorſehung den gerechten Sieg verliehen —“ „Verzeihen Sie, Herr Konſiſtorialrat — ich habe in öſterreichiſchen Dienſten geſtanden —“ „O ich dachte … Ah ſo …“ entgegnete der Andere ganz verwirrt … „Auch eine prächtige, tapfere Armee, die öſterreichiſche.“ — Er ſtand auf. „Doch ich will nicht länger ſtören … die Herrſchaften wollen gewiß von Familienangelegenheiten ſprechen … Leben Sie wohl, gnädige Frau — in einigen Tagen will ich wieder kommen … Bis dahin erheben Sie Ihre Gedanken zu dem Allerbarmer, ohne deſſen Wille kein Haar von unſerm Haupte fällt und welcher Jenen, die ihn lieben, alle Dinge zum Beſten dienen läßt, auch Trübſal und Leid, auch Not und Tod. Ich empfehle mich ergebenſt.“ Meine Tante ſchüttelte ihm die Hand: „Hoffentlich ſehe ich Sie bald? Recht bald, ich bitte —“ Er verneigte ſich gegen uns Alle und wollte der Thüre zuſchreiten. Friedrich aber hielt ihn auf: „Herr Konſiſtorialrat — dürfte ich eine Bitte an Sie richten?“ „Sprechen Sie, Herr Oberſt.“ „Ich entnehme Ihren Reden, daß Sie ebenſoſehr von religiöſen, wie von militäriſchem Geiſt durchdrungen ſind. Da könnten Sie mir einen großen Gefallen erweiſen —“ Ich horchte geſpannt auf. Wo wollte Friedrich nur hinaus? „Meine kleine Frau hier,“ fuhr er fort, „iſt nämlich mit allerlei Skrupel und Zweifel erfüllt … ſie meint, daß vom chriſtlichen Standpunkte aus der Krieg nicht recht zuläſſig ſei. Ich weiß zwar das Gegenteil — denn nichts hält mehr zuſammen als der Prieſter- und der Soldatenſtand — aber mir fehlt die Beredſamkeit, dies meiner Frau klar zu machen. Würden Sie ſich nun herbeilaſſen, Herr Konſiſtorialrat, uns morgen oder übermorgen eine Stunde der Unterredung zu ſchenken, um —“ „O ſehr gern,“ unterbrach der Geiſtliche. „Wollen Sie mir Ihre Adreſſe? …“ Friedrich gab ihm ſeine Karte und es wurde ſogleich Tag und Stunde des erbetenen Beſuches feſtgeſetzt. Hierauf blieben wir mit der Tante allein. „Gewährt Dir der Zuſpruch dieſes Freundes wirklich Troſt?“ fragte ſie Friedrich. „Troſt? {Den} gibt es für mich hinieden nicht mehr. Aber er ſpricht ſo viel und ſo ſchön von den Dingen, von welchen ich jetzt am liebſten höre — von Tod und Trauer, von Kreuz und Opfer und Entſagung … er ſchildert die Welt, die mein armer Gottfried verlaſſen mußte, und von welcher auch ich mich wegsehne, als ein ſolches Thal des Jammers, der Verderbnis, der Sünde, des zunehmenden Verfalles … und da erſcheint es mir denn weniger traurig, daß mein Kind abberufen worden. — Er iſt ja im Himmel und hier auf dieſer Erde —“ „Walten oft Höllengewalten, das iſt wahr — das habe ich jetzt wieder in der Nähe geſehen,“ erwiderte Friedrich nachdenklich. Hierauf wurde er von der armen Frau über die beiden Feldzüge ausgefragt, wovon er den einen mit — den andern gegen — Gottfried mitgemacht. Er mußte hundert Einzelheiten anführen und konnte dabei der beraubten Mutter denſelben Troſt geben, den er einſt mir aus dem italieniſchen Kriege gebracht: nämlich, daß der Betrauerte eines raſchen und ſchmerzloſen Todes geſtorben ſei. Es war ein langer, trauriger Beſuch. Auch die ganzen Einzelheiten der ſchaurigen Cholerawoche habe ich da wiedererzählt und meine Erlebniſſe auf den böhmiſchen Schlachtfeldern. Eh’ wir ſie verließen, führte uns Tante Kornelie noch in Gottfrieds Zimmer, wo ich beim Durchleſen des oben angeführten Briefes — von dem ich mir ſpäter eine Abſchrift erbat — von neuem bittere Thränen vergießen mußte. 72. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 2. Abſchnitt „Jetzt erkläre mir,“ ſagte ich zu Friedrich, als wir unſeren vor Frau von Teſſow’s Villa wartenden Wagen beſtiegen, „warum Du den Konſiſtorialrat —“ „Zu einer Konferenz mit Dir gebeten? Verſtehſt Du nicht? … Das ſoll mir als Studienmaterial dienen. Ich will wieder einmal hören — und diesmal notieren — mit welchen Argumenten die Prieſter den Völkermord verteidigen. Als Führerin des Streites habe ich Dich vorgeſchoben. Einer jungen Frau geziemt es beſſer, vom chriſtlichen Standpunkte aus Zweifel über die Berechtigung des Krieges zu hegen, als einem ‚Herrn Oberſt‘ —“ „Du weißt aber, daß wir ſolche Zweifel nicht vom religiöſen, ſondern vom humanen Standpunkt —“ „Dieſen müſſen wir dem Herrn Konſiſtorialrat gegenüber gar nicht hervorkehren, ſonſt würde die Streitfrage auf ein anderes Feld verlegt. Die Friedensbeſtrebungen der Freidenkenden leiden an keinem inneren Widerſpruch, und gerade der Widerſpruch, welcher zwiſchen den Satzungen der Chriſtenliebe und den Geboten der Kriegsführung beſteht, wollte ich von einem militäriſchen Oberpfarrer — d. h. alſo von einem Vertreter chriſtlichen Soldatentums — erläutern hören. Der Geiſtliche ſtellte ſich pünktlich ein. Offenbar war ihm die Ausſicht verlockend, eine belehrende und bekehrende Predigt vorbringen zu können. Ich hingegen blickte der Unterredung mit etwas peinlichen Gefühlen entgegen, denn es fiel mir darin eine unaufrichtige Rolle zu. — Aber zum Wohle der Sache, welcher Friedrich fortan ſeine Dienſte geweiht, konnte ich mir ſchon einige Überwindung auferlegen und mich mit dem Satze tröſten: Der Zweck heiligt die Mittel. Nach den erſten Begrüßungen — wir ſaßen alle Drei auf niederen Lehnſtühlen in der Nähe des Ofens — begann der Konſiſtorialrat alſo: „Laſſen Sie mich auf den Zweck meines Beſuches eingehen, gnädige Frau. Es handelt ſich darum, aus Ihrer Seele einige Skrupel zu bannen, welche nicht ohne ſcheinbare Berechtigung ſind, welche aber leicht als Sophismen dargelegt werden können. Sie finden z. B., daß das Gebot Chriſti, man ſolle ſeine Feinde lieben und ferner der Satz: „Wer das Schwert nimmt, ſoll durch das Schwert umkommen“ in Widerſpruch zu den Pflichten des Soldaten ſtehen, der ja doch bemächtigt iſt, den Feind an Leib und Leben zu ſchädigen —“ „Allerdings, Herr Konſiſtorialrat, dieſer Widerſpruch ſcheint mir unlöslich. Es kommt auch noch das ausdrückliche Gebot des Dekalogs hinzu: „Du ſollſt nicht töten.“ „Nun ja — auf der Oberfläche beurteilt, liegt hierin eine Schwierigkeit; aber wenn man in die Tiefe dringt, ſo ſchwinden die Zweifel. Was das fünfte Gebot anbelangt, ſo würde es richtiger heißen (und iſt auch in der engliſchen Bibelausgabe ſo übertragen) „Du ſollſt nicht {morden}.“ Die Tötung zur Notwehr iſt aber kein Mord. Und der Krieg iſt ja doch nur die Notwehr im Großen. Wir können und müſſen, der ſanften Mahnung unſeres Erlöſers gemäß, die Feinde lieben; aber das ſoll nicht heißen, daß wir offenbares Unrecht und Gewaltthätigkeit nicht ſollten abwehren dürfen.“ „Dann kommt es alſo immer darauf hinaus, daß nur Verteidigungskriege gerecht ſeien, und ein Schwertſtreich erſt dann geführt werden darf, wenn der Feind ins Land fällt? Die gegneriſche Nation aber geht von demſelben Grundſatz aus — wie kann da überhaupt der Kampf beginnen? In dem letzten Krieg war es Ihre Armee, Herr Konſiſtorialrat, welche zuerſt die Grenze überſchritt und —“ „Wenn man den Feind abwehren will, meine Gnädige — wozu man das heiligſte Recht hat, ſo iſt es durchaus nicht nötig, die günſtige Zeit zu verſäumen und erſt zu warten, bis er uns ins Land gefallen, ſondern es muß unter Umſtänden dem Landesherrn frei ſtehen, dem Gewaltſamen, Ungerechten zuvorzukommen. Dabei befolgt er eben das geſchriebene Wort: Wer das Schwert nimmt, ſoll durch das Schwert umkommen. Er ſtellt ſich als Gottes Diener und Rächer über den Feind, indem er trachtet, Denjenigen, der gegen ihn das Schwert nimmt, durch das Schwert umkommen zu laſſen —“ „Da muß irgendwo ein Trugſchluß ſtecken,“ ſagte ich kopfſchüttelnd, „dieſe Gründe können doch unmöglich für {beide} Parteien gleich rechtfertigend ſein —“ „Was ferner den Skrupel betrifft,“ fuhr der Geiſtliche fort, ohne meine Einrede zu beachten, „daß der Krieg an und für ſich Gott mißfällig ſei, ſo fällt dieſer bei jedem bibelfeſten Chriſten weg, denn die heilige Schrift zeigt zur Genüge, daß der Herr dem Volke Israel ſelber befohlen hat, Kriege zu führen, um das gelobte Land zu erobern, und er verlieh ſeinem Volke Sieg und Segen dazu. 4. Moſe 21, 14 iſt die Rede von einem eigenen Buche der Kriege Jehovas. Und wie oft wird in den Pſalmen die Hülfe gerühmt, die Gott ſeinem Volke im Kriege angedeihen ließ. Kennen Sie nicht Salomos Spruch (22, 31): Das Roß ſteht gerüſtet für den Tag der Schlacht, // Aber von dem Herrn kommt der Sieg. Im 144. Pſalm dankt und lobt David den Herrn, ſeinen Hort, der „ſeine Hände lehrt ſtreiten und ſeine Fäuſte kriegen.“ „So herrſcht denn der Widerſpruch zwiſchen dem alten und dem neuen Teſtament: der Gott der alten Hebräer war ein kriegeriſcher, aber der ſanfte Jeſus verkündete die Botſchaft des Friedens und lehrte Nächſten- und Feindesliebe.“ „Auch im neuen Teſtament ſpricht Jeſus im Gleichnis Lukas 14, 31 ohne jeglichen Tadel von einem König, der ſich mit einem anderen König in den Krieg begeben will. Wie oft gebraucht auch der Apoſtel Paulus Bilder aus dem Kriegsleben. Er ſagt (Römer 13, 4), daß die Obrigkeit das Schwert nicht umſonſt trägt, ſondern Gottes Diener und ein Rächer iſt, über den, der Böſes thut.“ „Nun alſo — dann liegt in der heiligen Schrift ſelber der Widerſpruch, den ich meine. Indem Sie mir zeigen, daß derſelbe in der Bibel auch zu finden iſt, räumen Sie ihn nicht weg.“ „Da ſieht man die oberflächliche und zugleich anmaßende Urteilsweiſe, welche die eigene, ſchwache Vernunft über Gottes Wort erheben will. Widerſpruch iſt etwas Unvollkommenes, Ungöttliches; indem ich alſo nachweiſe, daß ein Ding in der Bibel vorkommt, iſt der Beweis erbracht, daß es in ſich — mag es der menſchlichen Einſicht noch ſo unverſtändlich ſein — keinen Widerſpruch enthalten kann.“ „Wenn nicht vielmehr durch das Vorhandenſein des Widerſpruchs der Nachweis geführt wäre, daß die betreffenden Stellen unmöglich göttlichen Urſprungs ſind.“ Dieſe Antwort ſchwebte mir auf den Lippen, doch habe ich ſie unterdrückt, um das Streitobjekt nicht gänzlich zu verrücken. „Sehen Sie, Herr Konſiſtorialrat,“ miſchte ſich jetzt Friedrich in das Geſpräch; „noch viel kräftiger als Sie, hat ein Oberſtſtückhauptmann im 17. Jahrhundert die Zuläſſigkeit der Kriegsgreuel durch Berufung auf die Bibel dargethan. Ich habe mir das Schriftſtück aufgehoben und auch meiner Frau ſchon vorgeleſen, ſie wollte ſich aber mit dem darin ausgeſprochenen Geiſte nicht befreunden. Ich geſtehe, mir kommt das Ding auch etwas — ſtark vor … und ich möchte gern Ihre Anſicht darüber hören. Wenn Sie erlauben ſo bringe ich das Dokument.“ Er holte aus einem Schubfach ein Papier hervor, entfaltete es und las: „Der Krieg iſt von Gott ſelbſt inventieret und den Menſchen gelehret worden. Den erſten Soldaten ſetzte Gott ein mit einem zweiſchneidigen Schwert vor das Paradies, um dem erſten Rebellen, Adam, ſolches zu verbieten. Im Deuteronomium iſt zu leſen, wie Gott ſein Volk durch Moſes zum Sieg encouragieren läßt und ihnen ſogar ſeine Prieſter als Avantgarde gibt. Das erſte Stratagema ward der Stadt Hai beigebracht. In dieſem Judenkrieg mußte die Sonne zwei ganze Tage aneinander am Firmament ſtehend leuchten, damit der Krieg und die Victori konnte perſequieret und viele Tauſende erſchlagen und die Könige aufgehenkt werden. Alle Kriegsgreuel ſind vor Gott gebilligt, denn die ganze heilige Schrift iſt voll davon und beweiſet genugſam, daß der rechtmäßige Krieg von Gott ſelber inventieret iſt, daß alſo ein jeder Menſch von gutem Gewiſſen in demſelben dienen, leben und ſterben kann. Seine Feinde mag er verbrennen oder verſengen, ſchinden, niederſtoßen oder in Stücke zerhauen — es iſt {Alles recht}, mögen Andere daran judizieren was ſie wollen; Gott hat in dieſen Stücken nichts verboten, ſondern die grauſamſten Manieren, Menſchen umzubringen, gebilliget. Die Prophetin Deborah nagelte dem Kriegsoberſten Siſſara den Kopf am Erdboden an. Gideon, der von Gott verordnete Führer des Volks, rächte ſich an den Oberſten zu Senhot, die ihm etwas Proviant verweigert hatten, ſoldatiſch; Galgen und Rad, Schwert und Feuer waren zu ſchlecht; ſie wurden mit Dornen gedroſchen und zerriſſen — gleichwohl war es recht vor den göttlichen Augen. Der königliche Prophet David, ein Mann nach dem Herzen Gottes, inventierte die grauſamſten Martern über die ſchon überwundenen Kinder Ammon zu Rabboth: er ließ ſie mit Säbeln zerſchneiden, mit eiſernen Wagen über ſie fahren, zerſchnitt ſie mit Meſſern, zog ſie herdurch wie man Ziegelſteine formieret, und alſo that er in allen Städten der Kinder Ammon, Ferner hat —“ „Das iſt greulich, das iſt abſcheulich!“ unterbrach der Oberpfarrer. „Nur einem rohen Söldling aus der verwilderten Zeit des 30 jährigen Krieges ſieht es gleich, ſolche Beiſpiele aus der Bibel heranzuziehen, um darauf die Berechtigung der Grauſamkeit gegen den Feind zu ſtützen. Wir verkünden jetzt ganz andere Lehren: im Kriege darf weiter nichts erſtrebt werden, als die Unſchädlichmachung des Gegners — bis zum Tode — ohne böswillige Abſicht gegen das Leben eines Einzelnen. Tritt ſolche Abſicht, oder gar Mordluſt und Grauſamkeit gegen Wehrloſe ein, dann iſt das Töten im Kriege gerade ſo unmoraliſch und unzuläſſig wie im Frieden. Ja, in vergangenen Jahrhunderten, wo Landknechtsführer und fahrendes Volk den Krieg als Handwerk betrieben, da konnte der Oberſtſtückhauptmann ſolches ſchreiben; aber heutzutage wird nicht für Sold und Beute und nicht ohne zu wiſſen, gegen wen und warum, zu Felde gezogen, ſondern für die höchſten idealen Güter der Menſchheit — für Freiheit, Selbſtſtändigkeit, Nationalität — für Recht, Glaube, Ehre, Zucht und Sitte …“ „Sie, Herr Konſiſtorialrat,“ warf ich ein, „ſind jedenfalls ſanfter und menſchlicher als der Stückhauptmann; Sie haben daher aus der Bibel keine Belege für die Statthaftigkeit der Greuel — an welchem unſere mittelalterlichen Vorfahren und vermutlich noch mehr die alten Hebräer — ihre Luſt hatten — beizubringen; aber es iſt doch dasſelbe Buch und derſelbe Jehova, der nicht ſanfter geworden ſein kann, von dem aber Jeder nur ſo viel Beſtätigung ſich holt, als zu ſeiner Anſchauung paßt.“ Auf dieſes hin erhielt ich eine kleine Strafpredigt über meinen Mangel an Ehrerbietung dem Worte Gottes gegenüber und über meinen Mangel an Urteil bei deſſen Auslegung. Es gelang mir jedoch, das Geſpräch wieder auf unſer eigentliches Thema zurückzuleiten und jetzt erging ſich der Konſiſtorialrat in lange, diesmal ununterbrochen bleibende Ausführungen über den Zuſammenhang zwiſchen ſoldatiſchem und chriſtlichem Geiſte; er ſprach von der religiöſen Weihe, „die dem Fahneneid innewohnt, wenn die Standarten mit Muſikbegleitung feierlich in die Kirche getragen werden unter der Ehrenbedeckung zweier Offiziere mit gezogenem Degen; da tritt der Rekrut zum erſtenmale öffentlich mit Helm und Seitengewehr auf und zum erſtenmale folgt er der Fahne ſeines Truppenteils, die jetzt entfaltet iſt vor dem Altare des Herrn, zerfetzt wie ſie iſt und geſchmückt mit dem Ehrenzeichen der Schlachten, in der ſie getragen worden“ … Er ſprach von der allſonntäglichen kirchlichen Fürbitte: „Beſchütze das königliche Kriegsheer und alle treuen Diener des Königs und des Vaterlands. Lehre ſie, wie Chriſten ihres Eides gedenken und laß dann ihre Dienſte geſegnet ſein zu Deiner Ehre und des Vaterlandes Beſten. „Gott mit uns,“ führte er weiter aus, „iſt ja auch die Inſchrift auf der Gürtelſchnalle, mit der der Infanteriſt ſein Seitengewehr ſich umgürtet, und dieſe Loſung ſoll ihm Zuverſicht geben. Iſt Gott mit uns — wer mag wider uns ſein? Da ſind auch die allgemeinen Landes-, Buß- und Bettage, die beim Beginn eines Krieges ausgeſchrieben werden, damit das Volk im Gebete des Herrn Hilfe erflehe, zugleich in der getroſten Hoffnung auf ſeinen Beiſtand und im Vertrauen auf den durch dieſen Beiſtand zu erlangenden glücklichen Ausgang. Welche Weihe liegt für den ausziehenden Krieger darin — wie mächtig hebt dies ſeine Kampfes- und ſeine Todesfreudigkeit! Er kann getroſt, wenn ihn ſein König ruft, in die Reihen der Kämpfer treten und auf Sieg und Segen für die gerechte Sache rechnen; Gott der Herr wird dieſelben unſerem Volke ebenſowenig entziehen, wie einſt ſeinem Volke Israel, wenn wir nur zu ihm betend die Arbeit des Kampfes thun. Der innige Zuſammenhang zwiſchen Gebet und Sieg zwiſchen Frömmigkeit und Tapferkeit ergiebt ſich leicht — denn was kann mehr Freudigkeit im Angeſicht des Todes gewähren, als die Zuverſicht, wenn im Schlachtgewühl die letzte Stunde ſchlägt, vor dem himmliſchen Richter Gnade zu finden? Treue und Glauben in Verbindung mit Mannhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit gehören zu den älteſten Traditionen unſeres Volkes. In dieſem Ton ging es noch lange fort: bald in öliger Milde, geſenkten Hauptes, mit ſanftem Tonfall von Liebe, Himmel, Demut, „Kindlein“, Heil und „köſtlichen Dingen“; — bald mit militäriſcher Kommandoſtimme, bei ſtolz in die Bruſt geworfener Haltung, von ſtrenger Sitte und ſtrammer Zucht — ſcharf und ſchneidig — Schwert und Wehr. Das Wort „Freude“ wurde nicht anders als in den Zuſammenſetzungen Todes-, Kampfes- und Sterbensfreudigkeit gebraucht. Vom feldprobſtlichen Standpunkt ſcheinen eben Töten und Getötetwerden als die vornehmſten Lebensfreuden zu gelten. Alles Übrige iſt erſchlaffende, ſündhafte Luſt. Auch Verſe wurden deklamiert. Zuerſt das Körnerſche: Vater, du führe mich // Führ’ mich zum Siege, führ’ mich zum Tode! // Herr, ich erkenne deine Gebote. // Herr, wie du willſt, ſo führe mich, // Gott ich erkenne dich! Dann das alte Volkslied aus dem 30 jährigen Kriege: Kein ſel’grer Tod iſt in der Welt, // Als wie vom Feind erſchlagen, // Auf grüner Au’, im freien Feld, // Darf nicht hören groß Wehklagen. // Im engen Bett, da einer allein // Muß an den Todesreih’n, // Hier aber find’t er Geſellſchaft fein — // Fallen wie Kraut im Maien. Ferner das Lenauſche Lied vom kriegsluſtigen Waffenſchmied: Friede hat das Menſchenleben // Still verwahrloſt, ſanft verwüſtet, // Wie er ſeiner That ſich brüſtet, // Alles hängt voll Spinneweben… // Ha! nun fährt der Krieg dazwiſchen, // Klafft und gähnt auch manche Wunde. // Gähnt man ſelt’ner mit dem Munde. // Kampf und Tod die Welt erfriſchen. Und ſchließlich noch das Wort Luthers: „Sehe ich den Krieg an als ein Ding, das Weib, Kind, Haus, Hof, Gut und Ehre ſchützt und Frieden damit erhält und bewahrt, ſo iſt er eine {gar köſtliche Sache}.“ „Nun ja — ſehe ich den Panther als eine Taube an, ſo iſt der Panther ein gar ſanftes Tierchen,“ bemerkte ich ungehört. Gern hätte ich auch auf ſeine poetiſchen Ergüſſe die Verſe Bodenſtedts entgegnet: Ihr mögt von Kriegs- und Heldenruhm // So viel und wie ihr wollt verkünden, // Nur ſchweigt von eurem Chriſtentum, // Gepredigt aus Kanonenſchlünden. // Bedürft ihr Proben eures Muts, // So ſchlagt euch wie die Heiden weiland, // Vergießt ſo viel ihr müßt des Bluts, // Nur redet nicht dabei vom Heiland, // Noch gläubig ſchlägt das Türkenheer // Die Schlacht zum Ruhme ſeines Allah. // Wir haben keinen Odin mehr, // Tot ſind die Götter der Walhalla. // Seid was ihr wollt, doch ganz und frei, // Auf dieſer Seite wie auf jener, // Verhaßt iſt mir die Heuchelei // Der kriegeriſchen Nazarener. Aber unſer „kriegeriſcher Nazarener“ ſah nicht, was in meinem Geiſte vorging; er ließ ſich in ſeinem Redefluß nicht irre machen und als er ſich empfahl, da hatte er das Bewußtſein, mich zweier Dinge überführt zu haben; daß der Krieg vom chriſtlichen Standpunkte aus ein gerechtfertigter — und an und für ſich eine köſtliche Sache ſei. Durch dieſen rhetoriſchen Sieg ſeiner Berufspflicht nachgekommen zu ſein und damit dem fremden Herrn Oberſten einen beträchtlichen Dienſt erwieſen zu haben, war ihm ſichtlich ſehr befriedigend, denn als er ſich zum Gehen erhob und wir ihm unſeren Dank für die bereitwillige Bemühung ausſprachen, erwiderte er abwehrend: „Es iſt an {mir}, Ihnen zu danken, mir die Gelegenheit geboten zu haben, durch mein ſchwaches Wort, deſſen ganze Wirkſamkeit dem vielfach herangezogenen Worte Gottes zuzuſchreiben iſt, ſolche Zweifel zu verſcheuchen, welche ſowohl der Chriſtin, als der Soldatenfrau nur quälend ſein mußten. Der Friede ſei mit Ihnen!“ „Ach!“ ſtöhnte ich, nachdem er ſich entfernt hatte, „das war eine Qual!“ „Ja, das war es,“ beſtätigte Friedrich. „Beſonders unſere Unaufrichtigkeit war mir nicht behaglich — die falſche Vorausſetzung nämlich, unter welcher wir ihn zur Entfaltung ſeiner Beredſamkeit bewogen haben. Einen Augenblick drängte es mich, ihm zu ſagen: Halten Sie ein, hochwürdiger Herr, ich ſelber hege die gleichen Anſichten gegen den Krieg, wie meine Frau, und was Sie ſprechen, ſoll mir nur dazu dienen, die Schwäche Ihrer Argumente näher zu unterſuchen. Aber ich ſchwieg. Wozu eines redlichen Mannes Überzeugung — eine Überzeugung, die noch dazu die Grundlage ſeines Lebensberufes iſt — verletzen?“ „Überzeugung? — biſt Du deſſen ſicher? Glaubt er wirklich die Wahrheit zu ſprechen, oder bethört er ſeine Soldatengemeinde abſichtlich, wenn er ihr den ſicheren Sieg verſpricht, durch den Beiſtand eines Gottes, von dem er doch wiſſen muß, daß er von dem Feinde gerade ſo angerufen wird? Dieſe Berufungen auf „unſer Volk“, auf „unſere“, als die einzig gerechte Sache, die zugleich Gottes Sache iſt, die waren doch nur möglich zu einer Zeit, da ein Volk von allen übrigen Völkern abgeſchloſſen, ſich für das einzig Daſeinsberechtigte, das einzig Gottgeliebte hielt. Und dann dieſe Vertröſtungen auf den Himmel, um deſto leichter die Hingebung des irdiſchen Lebens zu erlangen, alle dieſe Ceremonien — Weihen, Eide, Geſänge — welche in der Bruſt des in den Krieg Befohlenen die ſo beliebte „Todesfreudigkeit“ — mir graut vor dem Worte — erwecken ſollen, iſt das nicht —“ „Alles hat zwei Seiten, Martha,“ unterbrach Friedrich. „Weil wir den Krieg verwünſchen, erſcheint uns Alles, was ihn ſtützt und verſchönt, was ſeine Schrecken verſchleiert, haſſenswert.“ „Ja, natürlich, denn dadurch wird das Gehaßte erhalten.“ „Nicht dadurch allein … Alte Einrichtungen ſtehen mit tauſend Faſern feſtgewurzelt, und ſo lang ſie da waren, war’s doch auch gut, daß diejenigen Gefühle und Gedanken beſtanden, durch die ſie verſchönt — durch die ſie nicht nur erträglich, ſondern ſogar beliebt gemacht wurden. Wie viel armen Teufeln half jene anerzogene „Todesfreudigkeit“ über das Sterbensweh hinweg; wie viel fromme Seelen bauten vertrauensvoll auf die ihnen vom Prediger zugeſicherte Gotteshilfe: wie viel unſchuldige Eitelkeit und ſtolzes Ehrgefühl ward nicht durch jene Ceremonien geweckt und befriedigt, wie viel Herzen ſchlugen nicht höher bei den Klängen jener Geſänge? Von allem Leid, das der Krieg über die Menſchen gebracht hat, iſt doch wenigſtens jenes Leid abzurechnen, welches wegzuſingen und wegzulügen den Kriegsbarden und den Feldgeiſtlichen gelungen iſt.“ 73. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 3. Abſchnitt Wir wurden von Berlin ſehr plötzlich wieder abberufen. Eine Depeſche meldete mir, daß Tante Marie ſchwer erkrankt ſei und uns zu ſehen wünſche. Ich fand die alte Frau von den Ärzten aufgegeben. „Jetzt iſt die Reihe an mir,“ ſagte ſie. „Eigentlich gehe ich recht gern … Seit mein armer Bruder und ſeine drei Kinder hingerafft wurden, hat es mich ohnehin auf dieſer Welt nicht mehr gefreut — von dieſem Schlag konnte ich mich nie mehr erholen … Drüben werde ich die Andern wiederfinden … Konrad und Lilli ſind dort auch vereint … es war ihnen nicht beſtimmt, auf Erden vereint zu werden … “ „Wäre zu rechter Zeit abgerüſtet worden —“ wollte ich zu widerſprechen beginnen, aber ich hielt mich zurück: mit dieſer Sterbenden konnte ich doch keinen Streit anheben und doch nicht an ihrer Lieblingstheorie „Beſtimmung“ zu rütteln verſuchen. „Ein Troſt iſt mir,“ fuhr ſie fort, „daß wenigſtens Du glücklich zurückbleibſt, liebe Martha … Dein Mann iſt aus zwei Feldzügen zurückgekehrt — die Cholera hat euch verſchont — es hat ſich deutlich erwieſen, daß ihr beſtimmt ſeid, miteinander alt zu werden … Trachte nur, aus dem kleinen Rudolf einen guten Chriſten und einen guten Soldaten heranzuziehen, damit ſein Großvater noch da oben ſeine Freude an ihm haben möge“ … Auch darüber ſchwieg ich lieber, daß ich feſt entſchloſſen war, aus meinem Sohne keinen Soldaten zu machen. „Ich werde unaufhörlich für euch beten … damit ihr lange und zufrieden lebt. —“ Natürlich hob ich den Widerſpruch nicht auf, daß eine „unverrückbare Beſtimmung“ durch den Einfluß unaufhörlichen Betens zum Guten gelenkt werden ſolle, doch unterbrach ich die Arme, indem ich ſie bat, ſich mit Sprechen nicht anzuſtrengen, und erzählte ihr, um ſie zu zerſtreuen, von unſeren ſchweizer und berliner Erlebniſſen. Ich berichtete, daß wir auch mit Prinz Heinrich zuſammengekommen und daß derſelbe in ſeinem Schloßpark dem Andenken der ebenſo ſchnell gewonnenen als wiederverlorenen Braut ein Marmordenkmal aufrichten laſſe. Nach drei Tagen, ergeben und gefaßt, mit den ſelbſtverlangten — andächtig empfangenen Sterbeſakramenten verſehen, entſchlief meine arme Tante Marie; — und ſo waren denn alle die Meinen, Alle, in deren Mitte ich aufgewachſen, von der Erde geſchieden … In ihrem Teſtament war als Univerſalerbe ihres kleinen Vermögens mein Sohn Rudolf eingeſetzt und zum Vormund — Miniſter „Allerdings“ beſtellt. Dieſer Umſtand brachte mich nun in häufige Berührung mit dieſem einſtigen Freunde meines Vaters. Er war auch ziemlich der Einzige, der unſer Haus beſuchte. Die tiefe Trauer, in welche mich die Grumitzer Unglückswoche verſetzt hatte, brachte es ſelbſtverſtändlich mit ſich, daß ich ganz zurückgezogen lebte. Unſer Plan, nach Paris zu überſiedeln, konnte erſt ausgeführt werden, wenn alle meine Geſchäfte in Ordnung gebracht waren, was jedenfalls noch einige Monate in Anſpruch nehmen mußte. Unſer Freund, der Miniſter, welcher wie geſagt, beinahe unſeren einzigen Umgang bildete, hatte in der letzten Zeit ſeinen Abſchied genommen oder bekommen, — das habe ich nie ergründen können — kurz, er hatte ſich ins Privatleben zurückgezogen, liebte es aber noch immer, ſich mit Politik zu beſchäftigen. Er wußte ſtets das Geſpräch auf dieſes ſein Lieblingsthema zu lenken und wir gaben ihm auch willig die Replik. Da ſich Friedrich jetzt ſo eifrig mit dem Studium des Völkerrechts befaßte, ſo war ihm jede Diskuſſion willkommen, welche dieſes Gebiet ſtreifte. Nach dem Speiſen (Herr von Allerdings — wir bezeichneten ihn unter uns immer mit dieſem Spitznamen — war zweimal wöchentlich bei uns zu Tiſch geladen) pflegten die beiden Herren ſich in ein langes politiſches Geſpräch zu vertiefen, wobei mein Mann es jedoch vermied, dieſes Geſpräch in die ihm ſo verhaßte Kannegießerei ausarten zu laſſen, ſondern bemüht war, dasſelbe auf verallgemeinernde Standpunkte zu lenken. Hierin konnte ihm „Allerdings“ allerdings nicht immer folgen, denn in ſeiner Eigenſchaft als eingewurzelter Diplomat und Büreaukrat hatte er ſich angewöhnt, die ſogenannte „praktiſche Politik“ oder „Realpolitik“ zu betreiben — ein Ding, welches ja nur auf die nächſtliegenden Sonderintereſſen gerichtet iſt und von den theoretiſchen Fragen der Geſellſchaftskunde nichts weiß. Ich ſaß daneben, mit einer Handarbeit beſchäftigt und miſchte mich nicht in das Geſpräch, was dem Herrn Miniſter ganz natürlich ſchien, denn bekanntlich iſt für Frauen die Politik ja „viel zu hoch“; er war überzeugt, daß ich dabei an andere Dinge dachte, während ich — im Gegenteil — ſehr aufmerkſam zuhörte, da es meines Amtes war, mir ſo gut als möglich den Wortlaut dieſer Dialoge in das Gedächtnis zu prägen, um dieſelben hernach in die roten Hefte einzutragen. Friedrich machte von ſeinen Geſinnungen kein Hehl, obwohl er wußte, welche undankbare Rolle es iſt, gegen das allgemein Geltende ſich aufzulehnen und Ideen zu vertreten, ſo lange dieſelben noch in jenem Stadium ſind, wo ſie — wenn nicht als umſtürzleriſch verdammt — ſo doch als phantaſtiſch verlacht werden. „Ich kann Ihnen heute eine intereſſante Nachricht mitteilen, lieber Tilling,“ ſagte der Miniſter eines Nachmittags mit wichtiger Miene. „Man geht in Regierungskreiſen, das heißt im Kriegsminiſterum, mit der Idee um, auch bei uns die allgemeine Wehrpflicht einzuführen.“ „Wie? Dasſelbe Syſtem, welches vor dem Krieg bei uns ſo allgemein geſchmäht und verſpottet wurde? „Bewaffnete Schneidergeſellen“ und ſo weiter?“ … „Allerdings hatten wir vor kurzer Zeit ein Vorurteil dagegen — aber es hat ſich bei den Preußen doch bewährt, das müſſen Sie zugeſtehen. Und eigentlich — vom moraliſchen Standpunkt — ſelbſt vom demokratiſchen und liberalen Standpunkt, für welchen Sie ja mitunter zu ſchwärmen ſcheinen — iſt es doch eine gerechte und erhebende Sache, wenn jeder Sohn des Vaterlandes, ohne Rückſicht auf Stand und Bildungsſtufe, die gleichen Pflichten zu erfüllen hat. Und vom ſtrategiſchen Standpunkt: hätte das kleine Preußen jemals ſiegen können, wenn es die Landwehr nicht gehabt hätte — und wäre dieſe bei uns ſchon eingeführt geweſen, wären wir jemals beſiegt worden?“ „Das heißt alſo, wenn wir ein größeres Material gehabt hätten, ſo hätte dem Feinde das ſeine nichts genützt. [Ergo] — wenn überall die Landwehr eingeführt wird, iſt ſie für Niemand mehr zum Vorteil. Das Kriegsſchauſpiel wird mit mehr Figuren geſpielt, die Partie hängt aber doch wieder von dem Glück und der Geſchicklichkeit der Spieler ab. Ich ſetze den Fall alle europäiſchen Mächte führen die allgemeine Wehrpflicht ein, ſo bliebe das Machtverhältnis genau dasſelbe — der Unterſchied wäre nur der, daß, um zur Entſcheidung zu gelangen, ſtatt Hunderttauſende, Millionen hingeſchlachtet werden müßten.“ „Finden Sie es aber gerecht und billig, daß nur ein Teil der Bevölkerung ſich opfere, um die höchſten Güter der Andern zu verteidigen, und dieſe Anderen zumal wenn ſie reich ſind, ruhig zu Hauſe bleiben dürfen? Nein, nein — mit dem neuen Geſetz wird das aufhören. Da gibt es kein Loskaufen mehr — da muß jeder mitthun. Und gerade die Gebildeten, die Studenten, ſolche, die etwas gelernt haben, die geben intelligente und daher auch ſieghafte Elemente ab.“ „Bei dem Gegner ſind dieſelben Elemente vorhanden — alſo heben ſich die durch gebildete Unteroffiziere zu gewinnenden Vorteile. Dagegen bleibt — gleichfalls auf beiden Seiten — der Verluſt an unſchätzbarem geiſtigen Material, welches dem Lande dadurch entzogen wird, daß die Gebildetſten — diejenigen, welche durch Erfindungen, Kunſtwerke oder wiſſenſchaftliche Forſchungen die Kultur gefördert hätten — in Reih’ und Glied als Zielſcheiben feindlicher Geſchütze aufgeſtellt werden.“ „Ach was — zu dem Erfindungmachen und Kunſtwerkproduzieren und Schädelknochen-Unterſuchungen — Alles Dinge, welche die Machtſtellung des Staates um kein Quentchen vergrößern —“ „Hm!“ „Wie?“ „Nichts, bitte, fahren Sie fort.“ „— dazu bleibt den Leuten noch immer Zeit. Sie brauchen ja nicht ihr ganzes Leben lang zu dienen — aber ein paar Jahre ſtrammer Zucht, die thun ſicherlich Allen gut und machen ſie zur Ausübung ihrer übrigen Bürgerpflichten nur deſto befähigter. Blutſteuer müſſen wir nun einmal zahlen — alſo ſoll ſie unter Allen gleich verteilt werden.“ „Wenn durch dieſe Verteilung auf den Einzelnen weniger käme, ſo hätte das etwas für ſich. Das wäre aber nicht der Fall — die Blutſteuer würde da nicht {verteilt}, ſondern vermehrt. Ich hoffe, das Projekt dringt nicht durch. Es iſt unabſehbar, wohin das führte. Eine Macht wollte dann die andere an Heeresſtärke überbieten und endlich gäbe es keine Armeen mehr, ſondern nur bewaffnete Völker. Immer mehr Leute würden zum Dienſt herangezogen, immer länger würde die Dauer der Dienſtzeit, immer größer die Kriegsſteuerkoſten, die Bewaffnungskoſten … Ohne miteinander zu fechten, würden ſich die Nationen durch Kriegsbereitſchaft alle ſelber zu grunde richten.“ „Aber lieber Tilling, Sie denken zu weit!“ „Man kann niemals zu weit denken. Alles was man unternimmt, muß man bis zu ſeinen letzten Konſequenzen — wenigſtens ſoweit, als der Geiſt reicht, auszudenken wagen. Wir verglichen vorhin den Krieg mit dem Schachſpiel — auch die Politik iſt ein ſolches, Excellenz, und das ſind gar ſchwache Spieler, welche nicht weiter denken als einen Zug, und ſich ſchon freuen, wenn ſie ſich ſo geſtellt haben, daß ſie {einen} Bauer bedrohen. Ich will den Gedanken, der ſich unabläſſig ſteigernden Wehrmacht und der Verallgemeinerung der Dienſtpflicht ſogar noch weiter ausſpinnen, bis zu der äußerſten Grenze — bis zu jener nämlich, wo das Maß {übergeht}. Wie dann, wenn, nachdem die größten Maſſen und die äußerſten Altersgrenzen erreicht ſind, es einer Nation einfiele, auch Regimenter von Frauen aufzuſtellen? Die Anderen müßten es nachahmen. Oder Kinderbataillone? Die Anderen müßten es nachahmen. Und in der Bewaffnung — in den Zerſtörungsmitteln — wo wäre da die Grenze? O dieſes wilde, blinde In-den-Abgrundrennen!“ „Beruhigen Sie ſich, lieber Tilling … Sie ſind ein rechter Phantaſt. Sagen Sie mir ein Mittel, den Krieg abzuſchaffen, ſo wäre es allerdings ganz gut. Nachdem aber das nicht möglich iſt, ſo muß doch jede Nation trachten, ſich darauf ſo gut als möglich vorzubereiten, um ſich in dem unausweichlichen Kampf ums Daſein (ſo heißt das Schlagwort des jetzt ſo modernen Darwin, nicht wahr?) die größte Gewinnchance zu ſichern.“ Wenn ich die Mittel, Kriege aufzuheben, vorſchlagen wollte, ſo würden Sie mich noch einen ärgeren Phantaſten ſchelten, einen ſentimentalen, von ‚Humanitätsſchwindel‘ (ſo heißt doch das beliebte Schlagwort der Kriegspartei?) angekränkelten Träumer!“ … „Allerdings könnte ich Ihnen nicht verhehlen, daß zur Erreichung eines ſolchen Ideals aller praktiſcher Untergrund fehlt. Man muß mit den vorhandenen Faktoren rechnen. Dazu gehören die menſchlichen Leidenſchaften, die Rivalitäten, die Verſchiedenheit der Intereſſen, die Unmöglichkeit, ſich über alle Fragen zu einigen —“ „Iſt auch nicht nötig: wo die Zwiſtigkeiten beginnen, hat ein Schiedsgericht — nicht aber die Gewalt — zu entſcheiden!“ „Einem Tribunal werden ſich die ſouveränen Staaten, werden ſich die Völker niemals fügen wollen.“ „Die Völker? Die Potentaten und Diplomaten wollen es nicht. Aber das Volk? Man frage es nur, bei ihm iſt der Friedenswunſch glühend und wahr, während die Friedensbeteuerungen, die von den Regierungen ausgehen, häufig Lüge, gleißneriſche Lüge ſind – oder wenigſtens von den anderen Regierungen grundſätzlich als ſolche aufgefaßt werden. Das heißt ja eben ‚Diplomatie‘. Und immer mehr und mehr werden die Völker nach Frieden rufen. Sollte die allgemeine Wehrpflicht ſich verbreiten, ſo würde in demſelben Maße die Kriegsabneigung zunehmen. Eine {Klaſſe} von für ihren Beruf begeiſterter Soldaten iſt noch denkbar: durch ihre Ausnahmeſtellung, die als eine Ehrenſtellung gilt, die ihr für die damit verbundenen Opfer Erſatz geboten; aber wenn die Ausnahme aufhört, hört auch die Auszeichnung auf. Es ſchwindet die bewundernde Dankbarkeit, welche die Heimgebliebenen den zu ihrem Schutze Hinausgezogenen weihen — weil es ja Heimgebliebene überhaupt keine mehr gibt. Die kriegsliebenden Gefühle, die dem Soldaten immer untergeſchoben — und damit auch häufig erweckt werden, die werden dann ſeltener angefacht; denn wer ſind diejenigen, die am heldenmütigſten thun, die am heftigſten von kriegeriſchen Großthaten und Gefahren ſchwärmen? Diejenigen, die davor ſchön ſicher ſind — die Profeſſoren, die Politiker, die Bierhauskannegießer — der Chor der Greiſe, wie im ‚Fauſt‘. Nach dem Verluſt der Sicherheit wird dieſer Chor verſtummen. Ferner: wenn nicht nur jene dem Militärdienſt ſich widmen, die ihn lieben und loben, ſondern auch alle jene zwangsweiſe dazu herangezogen werden, die ihn verabſcheuen, ſo muß dieſer Abſcheu zur Geltung kommen. Dichter, Denker, Menſchenfreunde, ſanfte Leute, furchtſame Leute: alle dieſe werden von ihrem Standpunkte aus das aufgezwungene Handwerk verdammen!“ „Sie werden dieſe Geſinnung aber wohlweislich verſchweigen, um nicht für feige zu gelten — um ſich höheren Orts nicht der Ungnade auszuſetzen.“ „Schweigen? Nicht immer. So wie ich rede — obwohl ich ſelber lange geſchwiegen habe — ſo werden die Anderen auch mit der Sprache herausrücken. Wenn die Geſinnung reift, wird ſie zum Wort. Ich einzelner bin vierzig Jahre alt geworden, bis meine Überzeugung die Kraft gewann, ſich im Ausdruck Luft zu machen. Und ſo wie ich zwei oder drei Jahrzehnte gebraucht — ſo werden die Maſſen vielleicht zwei oder drei Generationen gebrauchen, aber reden werden ſie endlich doch.“ 74. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 4. Abſchnitt Neujahr 67! Wir feierten Sylveſter ganz allein, mein Friedrich und ich. Als es zwölf Uhr ſchlug: „Erinnerſt Du Dich des Trinkſpruches,“ fragte ich ſeufzend, „den mein armer Vater voriges Jahr um dieſe Stunde ausgebracht? Ich wage es gar nicht, Dir jetzt Glück zu wünſchen – die Zukunft birgt mitunter ſo unerwartet Fürchterliches in ihrem Schoß und noch kein Menſch hat ſolches abzuwenden vermocht …“ „So benutzen wir die Jahreswende, Martha, um, ſtatt vorauszudenken, zurückzuſchauen, in das eben verfloſſene Jahr. Was haſt Du, meine arme, tapfere Frau da Alles leiden müſſen! So viele Deiner Lieben begraben … und jene Schreckenstage auf den böhmiſchen Schlachtfeldern -“ „Ich bedauere nicht, die dortigen Greuel geſehen zu haben — wenigſtens kann ich nunmehr mit der ganzen Kraft meiner Seele an Deinen Beſtrebungen teilnehmen.“ „Wir müſſen Deinen — {unſeren} Rudolf dazu erziehen, dieſe Beſtrebungen weiter durchzuführen; in {ſeiner} Zeit wird vielleicht ein ſichtbares Ziel am Horizont aufſteigen — in unſerer ſchwerlich. — Wie die Leute auf den Straßen lärmen — die bejubeln doch wieder das neue Jahr, trotz der Leiden, welche ihnen das — ebenſo eingejubelte — alte gebracht. O dieſe vergeßlichen Menſchen!“ „Schilt ſie nicht zu ſehr ob dieſer Vergeßlichkeit, Friedrich. Mir fängt auch ſchon an, das vergangene Leid wie traumhaft aus dem Gedächtnis zu entflattern und was ich gegenwärtig empfinde, iſt das Glück der Gegenwart, das Glück, Dich zu haben, Einziger! Ich glaube auch — wir wollen zwar nicht von der Zukunft ſprechen — aber ich glaube, wir haben eine ſchöne Zukunft vor uns … Einig, liebend, ſelbſtändig, reich — wie viel herrliche Genüſſe kann uns das Leben noch bieten: wir werden reiſen, die Welt kennen lernen, die ſo ſchöne Welt … Schön, ſolange Frieden herrſcht, und der kann jetzt viele, viele Jahre ausdauern … Sollte doch wieder Krieg ausbrechen, ſo biſt Du nicht mehr daran beteiligt … auch Rudolf iſt nicht bedroht, da er nicht Soldat werden ſoll“ … „Wenn aber, wie Miniſter Allerdings berichtet, jeder Menſch wehrpflichtig ſein wird —“ „Ach, Unſinn. — Was ich alſo ſagen wollte: wir reiſen, wir ziehen uns in Rudolf einen Muſtermenſchen auf, wir verfolgen unſer edles Ziel der Friedenspropaganda, und wir — wir lieben uns!“ „O Du mein holdes Weib!“ … Er zog mich an ſich und küßte mich auf den Mund. Es war das erſte Mal, nach all der Trennungs-, Schreckens- und Trauerzeit, daß ſich der milden Zärtlichkeit ſeiner Liebkoſungen wieder eine Flamme beimiſchte — eine Flamme, die mich mit ſüßer Glut umloderte. Vergeſſen war Krieg, Cholera, Allerſeelen in dieſer ſeligen Sylveſternacht und — — unſer am 1. Oktober 1867 geborenes Töchterchen haben wir {Sylvia} getauft. Der Faſching desſelben Jahres brachte wieder Bälle und Vergnügungen aller Art. Natürlich nicht für uns — meine Trauer hielt mich von allen ſolchen Dingen fern. Was mich aber wunderte, war, daß nicht die ganze Geſellſchaft ſolchen rauſchenden Treiben entſagte. Es mußte doch beinah in jeder Familie ein Verluſtfall vorgekommen ſein; aber, wie es ſcheint, man ſetzte ſich darüber hinaus. Zwar blieben einige Häuſer geſchloſſen, namentlich in der Ariſtokratie, aber an Tanzgelegenheiten fehlte es der Jugend nicht und natürlich waren die beliebteſten Tänzer Diejenigen, welche von den italieniſchen oder böhmiſchen Schlachtfeldern heimgekehrt; und am meiſten gefeiert wurden die Marineoffiziere — namentlich die Mitkämpfer bei Liſſa. In Tegethoff, den jugendlichen Admiral (wie nach dem Feldzug von Schleswig-Holſtein in den ſchönen General Gablenz) war die halbe Damenwelt verliebt. „Cuſtozza“ und „Liſſa“, das waren überhaupt die beiden Trümpfe, welche in jedem Geſpräch über den abgelaufenen Krieg ausgeſpielt wurden. Daneben Zündnadelgewehr und Landwehr — zwei Inſtitutionen, welche ſchleunigſt eingeführt werden ſollten und künftige Siege waren uns verbürgt. Siege — wann und gegen wen? Darüber ſprach man ſich nicht aus; aber der Revanchegedanke, der jede verlorene Partie — wenn es auch nur eine Kartenpartie iſt — zu begleiten pflegt, der ſchwebte über allen Kundgebungen der Politiker. Wenn wir auch ſelber nicht wieder gegen Preußen losziehen würden, vielleicht würden es Andere auf ſich nehmen, uns zu rächen. Allem Anſchein nach wollte Frankreich mit unſeren Überwindern anbinden und da könnte ihnen ſo manches heimgezahlt werden — das Ding hatte in diplomatiſchen Kreiſen ſogar ſchon einen Namen; [„La revanche de Sadowa“]. So teilte uns Miniſter Allerdings befriedigt mit. Es war zu Anfang des Frühjahrs, daß wieder ſo ein gewiſſer „ſchwarzer Punkt“ am Horizont aufſtieg — eine ſogenannte „Frage“. Auch die Nachrichten von franzöſiſchen Rüſtungen verſchafften den Konjektural-Politikern das ſo beliebte „Krieg in Sicht“. Die Frage hieß diesmal die Luxemburger. Luxemburg? Was war denn das wieder ſo weltwichtiges? Da mußte ich erſt wieder Studien anſtellen, wie einſt über Schleswig-Holſtein. Mir war der Name eigentlich nur aus Suppés „Flotte Burſchen“ geläufig, worin bekanntlich ein „Graf von Luxemburg ſein ganzes Geld verputzt, putzt, putzt …“ Das Ergebnis meiner Forſchungen war folgendes: Luxemburg gehörte nach den Verträgen von 1814 und 1816 (ah, da haben wir’s: Verträge — da läßt ſich ſchon ein Völkerprozeß daraus ableiten — eine hübſche Einrichtung, dieſe Verträge) — gehörte laut Vertrag dem König der Niederlande und zugleich dem deutſchen Bunde. Preußen hatte in der Hauptſtadt das Beſatzungsrecht. Nun hatte aber Preußen im Juni 1866 ſeine Teilnahme am alten Bund gekündigt, wie ſollte es jetzt mit dem Beſatzungsrecht gehalten werden? Da war ſie, die Frage. Der prager Frieden hatte ja ein neues Syſtem in Deutſchland eingeſetzt und mit dieſem war die Zuſammengehörigkeit mit Luxemburg aufgehoben — warum behielten dann die Preußen ihr Beſatzungsrecht? „Allerdings“ — das war verwickelt und konnte am vorteilhafteſten und gerechteſten durch Abſchlachtung neuer Hunderttauſende geſchlichtet werden — das muß doch jeder „einſichtige?“ Politiker zugeben. Dem holländiſchen Volke hat niemals etwas an dem Beſitz des Großherzogtums gelegen; auch dem König Wilhelm Ⅲ. lag nichts daran, und er hätte es gern für eine Summe in ſeine Privatkaſſe an Frankreich abgegeben. Da begannen nun {geheime} Verhandlungen zwiſchen dem König und dem franzöſiſchen Kabinett. Recht ſo: Geheimnis iſt ja der Kern aller Diplomatie. Die Völker dürfen von den Streitigkeiten nichts wiſſen — kommen dieſe erſt zum Austrage, ſo haben ſie das Recht, dafür zu bluten. Warum und wofür ſie ſich ſchlagen — das iſt Nebenſache. Ende März erſt macht der König die Nachricht offiziell und am ſelben Tage, als er ſein Einverſtändnis nach Frankreich telegraphiert, wird der preußiſche Geſandte im Haag davon unterrichtet. Daraufhin beginnen Unterhandlungen mit Preußen. Dieſes beruft ſich auf die Garantie der Verträge von 1859, auf Grundlage deren das Königreich Holland beſtand. Die öffentliche Meinung (wer iſt das, die öffentliche Meinung? Wohl die Leitartikelſchreiber?) in Preußen iſt entrüſtet, daß das alte deutſche Reichsland losgeriſſen werden ſoll; im norddeutſchen Reichstag — am 1. April — werden über dieſen Gegenſtand feuerige Interpellationen geſtellt. Bismarck bleibt zwar über Luxemburg kalt, veranſtaltet jedoch bei dieſer Gelegenheit Rüſtungen gegen Frankreich, was natürlich wieder franzöſiſche Gegenrüſtungen zur Folge hat. Ach, wie ich dieſe Melodie ſchon kenne! Damals zitterte ich ſehr, daß ein neuer Brand in Europa ausbreche. An Schürern fehlte es nicht: in Paris Caſſagnac und Emile de Girardin, in Berlin Menzel und Heinrich Leo. Ob denn ſolche Kriegshetzer nur eine entfernte Ahnung haben von der Rieſenhaftigkeit ihres Verbrechertums? Ich glaube kaum. Um jene Zeit war es — ich habe das erſt viele Jahre ſpäter erzählen gehört — daß Profeſſor Simon dem Kronprinzen Friedrich von Preußen gegenüber über die ſchwebende Frage äußerte: „Wenn Frankreich und Holland bereits abgeſchloſſen haben, ſo bedeutet das den Krieg.“ Worauf der Kronprinz in heftiger Erregung und Beſtürzung erwiderte: „Sie haben den Krieg nicht geſehen … hätten Sie ihn geſehen, ſo würden Sie das Wort nicht ſo ruhig ausſprechen … Ich habe ihn geſehen und ich ſage Ihnen, es iſt {die} größte {Pflicht}, wenn es irgend möglich iſt, den Krieg zu vermeiden.“ Und diesmal wurde er vermieden. In London trat eine Konferenz zuſammen, welche am 11. Mai zu dem erwünſchten friedlichen Reſultate führte. Luxemburg ward als neutral erklärt und Preußen zog ſeine Truppen fort. Die Friedensfreunde atmeten auf, aber es gab Leute genug, welche ſich über dieſe Wendung ärgerten. Nicht der Kaiſer der Franzoſen — dieſer wünſchte den Frieden — aber die franzöſiſche „Kriegspartei“. Auch in Deutſchland erhoben ſich Stimmen, welche das Verhalten Preußens verurteilten: „Aufopferung eines Bollwerks“, „Wie Furcht ausſehende Nachgiebigkeit“ und dergleichen mehr. — Auch jede Privatperſon, welche auf den Rechtsſpruch des Gerichtes hin auf irgend einen Beſitz verzichtet, zeigt ſolche Nachgiebigkeit — wäre es beſſer, ſie beugte ſich keinem Tribunal und ſchlüge mit den Fäuſten drein? Was die Londoner Konferenz erreicht, das könnte in ſolchen ſtrittigen Fragen immer erreicht werden, und den Staatenlenkern wäre jene Vermeidung immer möglich, die der nachnachmalige Friedrich Ⅲ., Friedrich der Edle, die {größte Pflicht} genannt. 75. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 5. Abſchnitt Im Mai begaben wir uns nach Paris, um die Ausſtellung zu beſuchen. Ich hatte die Weltſtadt noch nicht geſehen und war von der Pracht und dem Leben derſelben ganz geblendet. Namentlich damals — das Kaiſerreich ſtand auf ſeinem höchſten Glanzpunkte und ſämtliche Kronenträger Europas hatten ſich da zuſammengefunden — namentlich damals bot Paris ein Bild fröhlichſter und friedensſicherſter Herrlichkeit. Nicht wie die Hauptſtadt {eines} Landes, ſondern wie die Hauptſtadt der Internationalität erſchien mir damals die — drei Jahre ſpäter von ihrem öſtlichen Nachbar bombardierte — Stadt. Alle Völker der Erde hatten ſich in dem großen Champ de Mars-Palaſte zu den friedlichen — einzig nützlichen, weil ſchaffenden und nicht zerſtörenden —Kampf des Wettbewerbs verſammelt; ſo viel Kunſtwerke und Gewerbewunder waren hier zuſammengetragen, daß ſich in jedem Beſchauer der Stolz regen mußte, in ſo vorgeſchrittener, immer noch weiteren Fortſchritt verſprechender Zeit zu leben: und neben dieſem Stolz mußte natürlich auch der Vorſatz entſtehen, den Gang ſolcher genußſpendenden Kulturentwickelung nicht mehr durch brutales Vernichtungswüten zu hemmen. Dieſe hier als Gäſte des Kaiſers und der Kaiſerin verſammelten Könige, Fürſten und Diplomaten konnten doch bei all’ den ausgetauſchten Höflichkeiten, Freundlichkeiten, Glückwünſchen nicht daran denken, nächſtens mit ihren Gaſtgebern oder untereinander Todesgeſchoſſe zu tauſchen? … Nein: ich atmete auf. Dieſes ganze blendende Ausſtellungsfeſt ſchien mir die Bürgſchaft, daß jetzt eine Ära von langen, langen Friedensjahren begonnen. Höchſtens gegen einen Mongolenüberfall oder ſo etwas dergleichen konnten dieſe civiliſierten Leute noch das Schwert ziehen, aber gegeneinander? — das erlebten wir wohl nimmermehr. Was mich in dieſer Auffaſſung beſtärkte, war die Mitteilung, die mir über einen Lieblingsplan des Kaiſers gemacht wurde: {allgemeine Abrüſtung}. Ja, das ſtand bei Napoleon Ⅲ. feſt — ich habe es aus dem Munde ſeiner nächſten Verwandten und Vertrauten —: bei nächſter paſſender Gelegenheit würde er ſämtlichen europäiſchen Regierungen den Vorſchlag unterbreiten, ihren Heeresſtand auf ein Minimum herabzuſetzen. Das ließ ſich hören — das war wohl eine vernünftigere Idee, als diejenige einer allgemeinen Heeresverſtärkung. Damit wäre die bekannte Forderung Kants erfüllt, welche in Paragraph 3 der „Präliminar-Artikel zum ewigen Frieden“ alſo formuliert iſt: „Stehende Heere ([miles perpetuus]) ſollen mit der Zeit ganz aufhören. Dieſelben bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitſchaft, immer dazu gerüſtet zu ſcheinen, reizen dieſe an, ſich einander in Menge der Gerüſteten, die keine Grenzen kennt (o prophetiſcher Weiſenblick!) zu übertreffen, und indem durch die darauf gewendeten Koſten der Friede endlich {noch drückender} wird, als ein kurzer Krieg, ſo ſind ſie ſelbſt Urſachen von Angriffskriegen, um dieſe Laſt los zu werden.“ Welche Regierung konnte einen Vorſchlag, wie der Franzoſe ihn plante, ablehnen, ohne ſich als eroberungsſüchtig zu entlarven? Welches Volk würde gegen ſolche Ablehnung nicht revoltieren? Der Plan mußte gelingen. Friedrich teilte meine Zuverſicht nicht: „Vor Allem bezweifle ich,“ ſagte er, „daß Napoleon dieſen Vorſatz auch aufrichtig hegt. Und wenn auch: der Druck der Kriegspartei würde ihn an der Ausführung hindern. Überhaupt werden die Throninhaber an der Bethätigung ſolcher, aus der Schablone fallender großer Willensmeinungen von ihrer Umgebung immer gehindert. Zweitens läßt ſich einem lebenden Weſen nicht ſo „mir nichts, dir nichts“ befehlen, daß es aufhöre zu ſein. Da ſetzt es ſich zur Wehr.“ „Von welchem lebenden Weſen ſprichſt Du?“ „Von der Armee. Dieſelbe iſt ein Organismus und als ſolcher lebensentfaltungs- und ſelbſterhaltungskräftig. Gegenwärtig ſteht dieſer Organismus gerade in ſeiner Blüte, und wie Du ſiehſt — das allgemeine Wehrſyſtem ſoll ja auch in anderen Ländern eingeführt werden — iſt er eben im Begriffe, ſich mächtig auszubreiten.“ — „Und dennoch willſt Du dagegen ankämpfen?“ „Ja, aber nicht, indem ich hintrete und ihm ſage: Stirb, Ungeheuer! denn auf das hin würde mir beſagter Organismus kaum den Gefallen erweiſen, ſich tot hinzuſtrecken. Sondern ich kämpfe dagegen, indem ich für ein anderes, noch ganz ſchwach aufkeimendes Lebensgebilde eintrete, welches, indem es an Kraft und Ausdehnung zunimmt, das andere verdrängen ſoll. Daß ich in ſolchen naturwiſſenſchaftlichen Metaphern ſpreche — daran biſt Du urſprünglich ſchuld, Martha. Du warſt es, welche mich zuerſt verleitete, die Werke der modernen Naturforſcher zu ſtudieren. Dadurch iſt mir die Einſicht aufgegangen, daß auch die Erſcheinungen des ſozialen Lebens nur dann in ihrer Entſtehung verſtanden und in ihrem künftigen Verlauf vorausgeſehen werden können, wenn man ſie als unter dem Einfluß ewiger Geſetze ſtehend auffaßt. Davon haben die meiſten Politiker und hohen Würdenträger keinen blauen Dunſt — das löbliche Militär ſchon gar nicht. Vor einigen Jahren wäre es mir auch nicht in den Sinn gekommen.“ Wir wohnten im Grand-Hôtel auf dem Boulevard des Capucines. Dasſelbe war zumeiſt mit Engländern und Amerikanern gefüllt. Landsleute trafen wir nur wenige: der Öſterreicher iſt nicht reiſeluſtig. Wir ſuchten übrigens auch keinen Anſchluß: meine Trauer war noch nicht abgelegt und wir hegten keinen Wunſch nach geſelliger Unterhaltung. Meinen Sohn Rudolf hatte ich natürlich bei mir. Er war jetzt acht Jahre alt und ein wunderbar geſcheites Männchen. Wir hatten einen jungen Engländer aufgenommen, der bei dem Kleinen halb Hofmeiſter-, halb Kindermädchenſtelle vertrat. Zu unſeren langen Stationen im Ausſtellungspalaſt, ſowie auch unſeren zahlreichen Ausflügen in die Umgebung, konnten wir den Rudi doch nicht immer mitnehmen und die Zeit des Lernens war ja auch ſchon für ihn gekommen. Neu — neu — neu war mir dieſe ganze hier erſchloſſene Welt! All’ die von den vier Himmelsgegenden zuſammengekommenen Menſchen, von überall her die reichſten und vornehmſten; dieſe Feſte, dieſer Aufwand, dieſes Gewimmel … ich war förmlich betäubt davon. Aber ſo intereſſant und genußreich es mir auch war, dieſe überraſchenden und überwältigenden Eindrücke in mich aufzunehmen, ſo ſehnte ich mich im Stillen doch wieder aus dem Getöſe hinaus, nach irgend einem abgelegenen, friedlichen Plätzchen, wo ich mit Friedrich und meinem Kinde — meinen {Kindern}, ich ſah ja wieder Mutterfreuden entgegen — in ruhiger Zurückgezogenheit hätte leben können. Es iſt doch ſonderbar — ich finde es in den roten Heften öfters beſtätigt —, wie in der Abgeſchloſſenheit die Sehnſucht nach Ereigniſſen und Thaten, nach Erlebniſſen und Vergnügungen entſteht und mitten in dieſen wieder die Sehnſucht nach Einſamkeit und Ruhe. Von der großen Welt hielten wir uns fern. Nur bei unſerem Geſandten Metternich hatten wir einen Beſuch abgeſtattet und dabei erwähnt, daß wir unſerer Familientrauer wegen keine Einführung bei Hofe und in die Geſellſchaft wünſchten. Dagegen ſuchten wir die Bekanntſchaft einiger hervorragender politiſcher und litterariſcher Perſönlichkeiten; teils aus perſönlichem Intereſſe und zu geiſtiger Anregung, teils im Hinblick auf Friedrichs „Dienſt“. Trotz der geringen Hoffnungen, die er auf einen greifbaren Erfolg ſeiner Beſtrebungen hatte, verlor er dieſe niemals aus dem Auge, und er ſetzte ſich mit verſchiedenen einflußreichen Perſonen in Verkehr, von welchen er Förderung ſeiner Sache, oder mindeſtens Auskunft über deren Stand erhalten konnte. Wir haben uns damals ein eigenes Büchelchen angelegt — wir nannten es „Friedenspolitik“ — in welches ſämtliche, auf dieſen Gegenſtand bezügliche Urkunden, Notizen, Artikel u._ſ._w. abſchriftlich eingetragen wurden. Auch die Geſchichte der Friedensidee, ſoweit wir von derſelben Kenntnis erlangten, haben wir da zu Protokoll gebracht. Daneben die Ausſprüche verſchiedener Philoſophen, Dichter, Juriſten und Schriftſteller über „Krieg und Frieden“. Es war bald zu einem ſtattlichen Bändchen herangewachſen und im Lauf der Zeit — ich habe dieſe Buchführung bis auf den heutigen Tag fortgeſetzt — ſind ſogar mehrere Bändchen daraus geworden. Wenn man das mit den Bibliotheken vergleicht, die mit Werken ſtrategiſchen Inhalts gefüllt ſind, mit den ungezählten tauſenden von Bänden, welche Kriegsgeſchichte, Kriegsſtudium und Kriegsverherrlichung enthalten, mit den militärwiſſenſchaftlichen und militärtechniſchen Lehrbüchern und Leitfäden über Rekrutenabrichtung und Balliſtik, mit den Schlachtenchroniken und Generalſtabsberichten, Soldatenliedern und Kriegsgeſängen: ja dann freilich könnte einen der Vergleich mit den paar Heftchen Friedenslitteratur kleinmütig machen — vorausgeſetzt, daß man die Kraft und den Gehalt — namentlich den Zukunftsgehalt — eines Dinges nach deſſen Ausdehnung bemeſſen wollte. Wenn man aber bedenkt, daß {eine} Samenkapſel in ſich die virtuelle Möglichkeit birgt, einen Wald entſtehen zu machen, der ganze, über weite Felder ausgedehnte Unkrautmaſſen verdrängen wird; — und ferner bedenkt, daß die Idee im Reiche des Geiſtes dasſelbe iſt, was das Samenkorn im Reiche der Pflanzen — dann braucht man um die Zukunft einer Idee nicht beſorgt zu ſein, weil ſich bisher die Geſchichte ihrer Entfaltung in einem kleinen Heftchen aufzeichnen läßt. Ich will hier einige Stellen anführen, wie ſie unſer Friedensprotokoll im Jahre 1867 aufwies. Auf der erſten Seite ſtand ein gedrängter hiſtoriſcher Überblick: Vierhundert Jahre vor Chriſtus ſchrieb Ariſtophanes eine Komödie: „Der Frieden“, in welcher eine humanitäre Tendenz vertreten iſt. Die griechiſche — ſpäter nach Rom verpflanzte — Philoſophie vertritt das Streben nach „menſchlicher Einheit“ — von Sokrates an, welcher ſich „Weltbürger“ nennt, bis zu Terenz, dem „nichts Menſchliches fremd“ und zu Cicero, der die „[caritas generis humani]“ als den höchſten Grad der Vollkommenheit hinſtellt. Im erſten Jahrhundert unſerer Zeitrechnung erſcheint Virgil und ſein berühmtes 4. Hirtengedicht, welches der Welt den ewigen Frieden vorausſagt, unter dem mythologiſchen Gewande des wiedererſtandenen goldenen Zeitalters. Im Mittelalter verſuchten die Päpſte öfters, ſich als Schiedsrichter zwiſchen den Staaten einzuſetzen, aber vergebens. Im 15. Jahrhundert kam ein König auf die Idee, eine Friedensliga zu bilden. Es war dies Georg Podiebrad von Böhmen, der den Kämpfen von Kaiſer und Papſt ein Ende machen wollte: er wandte ſich dieſerhalb an Ludwig Ⅺ. von Frankreich, welcher auf dieſen Vorſchlag jedoch nicht einging. Zum Schluß des 16. Jahrhunderts faßte König Heinrich Ⅳ. von Frankreich den Plan einer europäiſchen Staatenföderation. Nachdem er ſein Land von den Schrecken der Religionskriege befreit, wollte er für alle Zukunft die Duldung und den Frieden geſichert ſehen. Er wollte die ſechzehn Staaten, welche Europa bildeten (Rußland und die Türkei zählten noch zu Aſien), in einen Bund vereint wiſſen. Jeder dieſer ſechzehn Staaten hätte zwei Abgeordnete zu einem „europäiſchen Reichstag“ zu ſchicken gehabt; dieſem aus 32 Mitgliedern beſtehenden Reichstag wäre die Aufgabe zugefallen, den religiöſen Frieden zu gewährleiſten und alle internationalen Konflikte zu ſchlichten. Wenn nun jeder Staat ſich verpflichtete, den Entſchlüſſen des Reichstages ſich unterzuordnen, ſo war damit jedes Element eines zukünftigen europäiſchen Krieges verſchwunden. Der König teilte dieſen Plan ſeinem Miniſter Sully mit, der denſelben begeiſtert aufnahm und ſofort mit den anderen Staaten zu verhandeln begann. Schon war Eliſabeth von England, ſchon der Papſt und Holland und mehrere Andere gewonnen; nur das Haus Öſterreich würde Widerſtand geleiſtet haben, weil ihm territoriale Konzeſſionen abgefordert worden wären, in die es nicht gewilligt hätte. Ein Feldzug wäre nötig geweſen, um dieſen Widerſtand zu brechen. Die Hauptarmee hätte Frankreich geſtellt, welches von vornherein auf jede Gebietserweiterung verzichtete: einziger Zweck des Feldzugs und einzige dem Hauſe Öſterreich aufzulegende Friedensbedingung wäre der Beitritt zum Staatenbund geweſen. Schon waren die Vorbereitungen getroffen und Heinrich Ⅳ. wollte ſich ſelber an die Spitze des Heeres ſtellen, als er am 13. Mai 1610 — unter der Mordwaffe eines wahnſinnigen Mönches fiel. Keiner von ſeinen Nachfolgern und kein ſonſtiger Souverän hat dieſen glorreichen Plan zur Erlangung des Völkerglückes wieder aufgenommen. Die Regenten und Politiker blieben dem alten Kriegsgeiſt treu; aber die Denker aller Länder ließen die Friedensidee nicht mehr fallen. Im Jahre 1647 wird die Sekte der Quäker gebildet, deren Grundlage die Verdammung des Krieges bildet. Im ſelben Jahre veröffentlichte William Penn ſein Werk über den zukünftigen Frieden Europas, indem er ſich auf den Plan Heinrichs Ⅳ. ſtützt. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts erſcheint das berühmte Buch [„La paix perpétuelle“] von dem Abbé de St. Pierre. Gleichzeitig entwickelt denſelben Plan ein Landgraf von Heſſen und Leibnitz ſchreibt einen günſtigen Kommentar dazu. Voltaire macht den Ausſpruch: „Jeder europäiſche Krieg iſt ein Bürgerkrieg.“ Mirabeau, in der denkwürdigen Sitzung vom 25. Auguſt 1790, ſagt folgende Worte: „Vielleicht iſt der Augenblick nicht mehr entfernt, da die Freiheit, als unumſchränkte Herrſcherin über beide Welten, den Wunſch der Philoſophen erfüllen wird: die Menſchheit von dem Verbrechen des Krieges zu befreien und den ewigen Frieden zu verkünden. Dann wird das Glück der Völker das einzige Ziel des Geſetzgebers ſein, der einzige Ruhm der Nationen.“ Im Jahre 1795 ſchreibt einer der größten Denker aller Zeit, Immanuel Kant, ſeine Abhandlung „Zum ewigen Frieden“. Der engliſche Publiziſt Bentham ſchließt ſich den immer zunehmenden Reihen der Friedensvertreter — Fourrier, Saint-Simon u. a. — mit Begeiſterung an; Beranger dichtet „Die heilige Allianz der Völker“; Lamartine [„La Marseillaise de la Paix“]. In Genf ſtiftete der Graf Cellon einen Friedensverein, in deſſen Namen er mit allen europäiſchen Herrſchern in propagandiſtiſche Korreſpondenz tritt. Aus Amerika, Maſſachuſetts, kommt der „gelehrte Grobſchmied“, Elihu Burritt, daher und ſtreut ſeine „Oliven-Blätter“ und ſein „Funken vom Amboß“ in Millionen Exemplaren in die Welt und führt 1849 den Vorſitz in einer Verſammlung der engliſchen Friedensfreunde. In dem Pariſer Kongreß, welcher dem Krimkrieg ein Ende machte, hielt die Friedensidee ihren Einzug in die Diplomatie, indem dem Vertrage eine Klauſel beigeſetzt ward, welche beſtimmt, daß die Mächte ſich verpflichten, bei künftigen Konflikten ſich vorangehenden Vermittelungen zu unterſtellen. Dieſe Klauſel enthält ein dem Prinzip des Schiedsgerichts dargebrachte Anerkennung, — {befolgt} wurde ſie aber nicht. Im Jahre 1863 ſchlug die franzöſiſche Regierung den Mächten vor, einen Kongreß zu veranſtalten, bei welchem die Grundlage zu allgemeiner Abrüſtung und zu einverſtändlicher Verhütung künftiger Kriege gelegt werden ſollte. Recht ſpärlich die Eintragungen, die zu jener Zeit mein Protokoll füllten! Das iſt ſpäter anders geworden. Sie beweiſen aber, daß die {Möglichkeit} des Weltfriedens ſchon von altersher ins Auge gefaßt worden war. Nur vereinzelt, von großen Zwiſchenräumen getrennt, erhoben ſich die Stimmen und verhallten — nicht nur unbeachtet, ſondern zumeiſt auch ungehört. Mit allen Entdeckungen, allem Fortſchritt, allem {Wachstum} geht’s nicht anders: Naht von ferne ſich der Frühling, // Zwitſchert’s da und dort hervor, // Rückt er weiter in das Land ein, // Schmettert’s laut im großen Chor. // So im weiten Kreis der Zeit // Flüſtert’s lang ſchon da und dort, // Kommt der {richtige} Moment // Stimmen Alle ein ſofort. (Märzrot) 76. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 6. Abſchnitt Und wieder nahte meine ſchwere Stunde. Aber diesmal wie ſo anders, als zu jener Zeit, da Friedrich mich verlaſſen mußte — um des Auguſtenburgers willen. Diesmal war er an meiner Seite, auf des Gatten richtigem Poſten: durch ſeine Gegenwart, durch ſeinen Mitſchmerz der Gattin Leiden mildernd. Das Gefühl, ihn da zu haben, war mir ein ſo beruhigendes und glückliches, daß ich darüber das phyſiſche Ungemach beinah vergaß. Ein Mädchen! Das war unſeres ſtillen Wunſches Erfüllung. Die Freuden, die man an einem Sohne hat, die würde uns ja der kleine Rudolf bieten; jetzt konnten wir dazu auch noch diejenigen Freuden erleben, welche ſo ein aufblühendes Töchterchen ſeinen Eltern verſchafft. Daß ſie ein Ausbund von Schönheit, von Anmut, von Holdſeligkeit ſein würde, unſere kleine Sylvia, daran zweifelten wir keinen Augenblick. Wie wir beide nun über der Wiege dieſes Kindes ſelber kindiſch wurden, was für ſüße Albernheiten wir da ſprachen und trieben, das will ich gar nicht verſuchen zu erzählen. Andere als verliebte Eltern verſtänden es doch nicht, und alle ſolche ſind wohl ſelber grad’ ſo toll geweſen. Wie das Glück doch ſelbſtiſch macht! Es folgte jetzt eine Zeit für uns, in der wir glücklich alles Andere — was nicht unſer häuslicher Himmel war — gar zu ſehr vergaßen. Die Schrecken der Cholerawoche nahmen in meinem Gedächtnis immer mehr die Geſtalt eines entſchwundenen böſen Traumes an, und auch Friedrichs Energie in Verfolgung ſeines Zieles ließ einigermaßen nach. Es war aber auch entmutigend: überall, wo man mit jenen Ideen anklopfte — Achſelzucken, mitleidiges Lächeln, wo nicht gar Zurechtweiſung. Die Welt will, wie es ſcheint — nicht nur betrogen, ſondern auch unglücklich gemacht werden. So wie man ihr Vorſchläge unterbreiten will, das Elend und den Jammer fortzuſchaffen, ſo heißt das „Utopie, kindiſcher Traum“, und ſie will nichts hören. Dennoch ließ Friedrich ſein Ziel nicht gänzlich aus den Augen. Er vertiefte ſich immer mehr in das Studium des Völkerrechts, ſetzte ſich in brieflichen Verkehr mit Bluntſchli und anderen Gelehrten dieſes Zweiges. Gleichzeitig — und zwar mit mir in Gemeinſchaft — betrieb er auch fleißig andere, namentlich naturwiſſenſchaftliche Studien. Er plante, über den Gegenſtand „Krieg und Frieden“ ein größeres Werk zu ſchreiben. Doch ehe er ſich an die Ausführung machte, wollte er durch lange und eingehende Forſchungen ſich dazu rüſten und ſchulen. „Ich bin zwar ein alter k._k. Oberſt,“ ſagte er, „und die meiſten meiner Alters- und Ranggenoſſen würden es verſchmähen, ſich mit Lernen abzugeben … man hält ſich gewöhnlich für unbändig geſcheit, wenn man ein ältlicher Mann in Amt und Würden iſt — ich ſelber, vor einigen Jahren, hatte auch ſolchen Reſpekt vor meiner Perſon … Nachdem ſich mir aber plötzlich ein neuer Geſichtskreis aufgethan, nachdem ich einen Einblick in den modernen Geiſt gewann, da überkam mich das Bewußtſein meiner Unwiſſenheit … Nun ja, von alledem, was jetzt auf allen Gebieten an neuer Erkenntnis gewonnen worden, davon hat man ja in meiner Jugend {gar nichts} — oder vielmehr das Gegenteil gelernt. Da muß ich jetzt — trotz der Silberfäden an den Schläfen — wieder von vorne anfangen.“ Den Winter nach Sylvias Geburt verbrachten wir in aller Stille in Wien. Im folgenden Frühjahr bereiſten wir Italien. Weltkennenlernen gehörte ja auch zu unſerm neuen Lebensprogramm. Frei und reich waren wir, nichts hinderte uns, es auszuführen. Kleine Kinder ſind zwar auf Reiſen ein wenig läſtig, aber wenn man genügendes Perſonal von Bonnen und Wärterinnen mitführen kann, ſo läßt es ſich ſchon machen. Ich hatte eine alte Dienerin zu mir genommen, welche einſt meine und meiner Schweſter Kindsfrau geweſen, dann einen Wirtſchaftsbeamten geheiratet hatte und jetzt verwitwet war. Dieſe „Frau Anna“ war meines vollſten Vertrauens würdig und in ihren Händen konnte ich meine kleine Sylvia mit voller Beruhigung zurücklaſſen, wenn wir — Friedrich und ich — auf mehrere Tage unſer Hauptquartier verließen, um Ausflüge zu machen. Ebenſogut war Rudolf bei Mr. Foſter, ſeinem Hofmeiſter aufgehoben. Doch geſchah es häufig, daß wir den achtjährigen kleinen Mann mit uns nahmen. Schöne, ſchöne Zeiten! … Schade, daß ich damals die roten Hefte ſo ſtark vernachläſſigte. Gerade da hätte ich ſo viel des Schönen, Intereſſanten und Heitern eintragen können: aber ich habe es unterlaſſen, und ſo ſind mir die Einzelheiten jener Jahre meiſt aus dem Gedächtnis entſchwunden: nur in großen Zügen kann ich mir noch ein Bild davon zurückrufen. In das „Friedensprotokoll“ fand ich Gelegenheit, eine erfreuliche Eintragung zu machen. Es war dies nämlich ein Zeitungsartikel, gezeichnet B. Desmoulins, worin der franzöſiſchen Regierung der Vorſchlag gemacht wird, ſich an die Spitze der europäiſchen Staaten zu ſtellen, indem ſie das Beiſpiel gäbe, abzurüſten. „So wird ſich Frankreich das Bündnis und die aufrichtige Freundſchaft aller Staaten ſichern, welche dann aufhören würden, ſich vor Frankreich zu fürchten, deſſen Mithilfe ſie benötigten. So würde ſich die allgemeine Entwaffnung von ſelber einſtellen, {das Prinzip der Eroberung wäre auf immer aufgegeben} und die Konföderation der Staaten würde ganz natürlich einen oberſten Gerichtshof internationaler Gerechtigkeit bilden, welcher im ſtande ſein wird, auf dem Wege des Schiedsrichteramtes alle Streitigkeiten zu ſchlichten, welche der Krieg niemals zu entſcheiden vermocht. Indem es ſo handelte, würde Frankreich die einzige reelle und einzige dauerhafte Kraft — nämlich das Recht — auf ſeine Seite gebracht, und dem Menſchengeſchlecht auf ruhmreiche Weiſe eine neue Ära eröffnet haben.“ (Opinion Nationale 25. Juli 1868.) {Beachtung} hat dieſer Artikel natürlich wieder nicht gefunden. Im Winter 1868 bis 1869 kehrten wir nach Paris zurück und diesmal — auch von dieſer Seite wollten wir das Leben kennen lernen — ſtürzten wir uns in die „große Welt“. Es war ein etwas ermüdendes, aber für einige Zeit doch recht genußreiches Treiben. Wir hatten — um ein Zuhauſe zu haben — uns ein kleines möbliertes Hotel im Viertel der Champs Eliſées gemietet, wo wir unſeren zahlreichen Bekannten, bei denen wir täglich zu irgend welchen Feſten geladen waren, auch manchmal [„revanche“] bieten konnten. Von unſerem Geſandten beim Tuilerienhofe eingeführt, waren wir für den ganzen Winter zu den Montagen der Kaiſerin vergeben; außerdem ſtanden uns die Häuſer ſämtlicher Botſchafter offen, ſo wie die Salons der Prinzeſſin Mathilde, der Herzogin von Mouchy, der Königin Iſabella von Spanien und ſo weiter. Auch viele litterariſche Größen lernten wir kennen — den größten freilich nicht, denn dieſer, ich meine Viktor Hugo, lebte in der Verbannung; doch ſind wir Renan, Dumas, Vater und Sohn, Octave Feuillet, George Sand, Arſène Houſſaye und einigen Anderen begegnet. Bei dem Letztgenannten haben wir auch einen Maskenball mitgemacht. Wenn der Verfaſſer der [„Grandes dames“] in ſeinem prachtvollen kleinen Hotel der Avenue Friedland eines ſeiner venetianiſchen Feſte gab, ſo war es Gewohnheit, daß daſelbſt die wirklich großen Damen unter dem Schutze der Maske ſich in der Nähe die „kleinen Damen“ — bekannte Schauſpielerinnen u. dgl. — beſahen, welche hier ihre Diamanten und ihren Witz funkeln ließen. Wir waren auch ſehr fleißige Theaterbeſucher. Mindeſtens dreimal wöchentlich verbrachten wir die Abende entweder in der italieniſchen Oper, wo Adelino Patti — eben mit dem Marquis de Caux verlobt — die Zuhörerſchaft entzückte, oder im Théâtre Francais, oder auch in einem der kleineren Boulevard-Theater, um Hortenſe Schneider als Großherzogin von Gerolſtein oder andere Operetten- und Vaudeville-Berühmtheiten zu ſehen. Es iſt doch ſonderbar, wie, wenn man in dieſen Wirbel des Glanzes und der Unterhaltungen geſtürzt iſt, wie einem dieſe kleine „große Welt“ plötzlich ſo ſchrecklich wichtig vorkommt und die darin waltenden Geſetze von Eleganz und [„chic“] (damals hieß es noch [„chic“]) eine Art ganz ernſthaft genommener Pflichten auferlegen. Im Theater einen geringeren Platz einnehmen, als eine Proſceniumsloge: in den Bois mit einem Wagen ſich zeigen, deſſen Geſpann nicht tadellos wäre; auf den Hofball gehen, ohne eine von Worth „unterſchriebene“ 2000 Franks-Toillette zu tragen; ſich zu Tiſche ſetzen [(Madame la baronne est servie …)] auch wenn man keine Gäſte hat, ohne ſich von dem würdevoll amtierenden [maître d’hotel] und einigen Lakaien die feinſten Gerichte und edelſten Weine auftragen zu laſſen: — das wären alles arge Verſtöße … Wie leicht — wie leicht geſchieht es einem, wenn man von dem Räderwerk ſolcher Exiſtenz erfaßt worden, daß man alle ſeine Gedanken und Gefühle auf dieſes im Grunde gedanken- und gefühlloſe Treiben verwendet; daß man darüber vergißt, Anteil zu nehmen an dem Gang der wirklichen Welt da draußen — ich meine das Univerſum — und an dem Beſtande der eigenen Welt da drinnen — ich meine das häusliche Glück. Mir wäre es vielleicht ſo ergangen — aber davor ſchützte mich Friedrich. Er war nicht der Mann dazu, ſich von dem Strudel der Pariſer [„haute vie“] hinreißen und verſchlingen zu laſſen. Er vergaß über der Welt, in der wir uns bewegten, weder das Univerſum, noch unſeren Herd. Ein paar Vormittagsſtunden blieben uns nach wie vor der Lektüre und der Familie geweiht, und ſo brachten wir das größte Kunſtſtück fertig, neben dem Vergnügen auch das Glück zu pflegen. Für uns Öſterreicher hegte man in Paris viel Sympathie. Oft wurde in politiſchen Geſprächen auf eine [„Revanche de Sadowa“] angeſpielt, ſo gewiß als müßte die uns vor zwei Jahren geſchehene Unbill wieder gut gemacht werden. Als ob ſich überhaupt {derlei} wieder {gut} machen ließe! Wenn Schläge nicht anders zu tilgen ſind, als wieder durch Schläge — dann kann das Ding ja niemals aufhören. Gerade meinem Mann und mir, weil dieſer beim Militär geweſen und den böhmiſchen Feldzug mitgemacht, gerade uns glaubten die Leute nichts Angenehmeres und Höflicheres ſagen zu können, als eine hoffnungsvolle Anſpielung auf die bevorſtehende Sadowa-Rache, welche bereits als ein geſchichtliches, das „europäiſche Gleichgewicht“ ſicherndes und durch politiſch-diplomatiſche Vorkehrungen geſichertes Ereignis behandelt wurde. Eine bei nächſter Gelegenheit den „Preußen“ zu gebende Schlappe war eine völkerpädagogiſche Notwendigkeit. Die Sache würde nicht tragiſch ausfallen … nur ſo etwas den Übermut gewiſſer Leute dämpfen. Vielleicht genügte zu dieſem Zwecke auch ſchon dieſe an der Wand hängende Peitſche: ſollte der Übermütige etwa kecke Anwandlungen bekommen, ſo war er ja gewarnt, daß ſie auf ihn herunterſauſen werde — die [Revanche de Sadowa]. Wir lehnten natürlich ſolche Tröſtungen entſchieden ab. Altes Unglück wird durch neues Unglück nicht verwiſcht, ebenſowenig als altes Unrecht durch neues Unrecht getilgt werden kann. Wir verſicherten, daß wir keinen anderen Wunſch hegten, als den nunmehrigen Frieden nicht mehr gebrochen zu ſehen. Dasſelbe war — ſo behauptete er wenigſtens — auch der Wunſch Napoleons Ⅲ. Wir verkehrten ſo viel mit Perſonen, welche dem Kaiſer ganz nahe ſtanden, daß wir genügend Gelegentheit hatten, deſſen politiſche Geſinnungen, wie er ſie in vertraulichen Ausſprüchen laut werden ließ, kennen zu lernen. Nicht nur, daß er den momentanen Frieden wünſchte, er hegte den Plan, {den Mächten allgemeine Abrüſtung vorzuſchlagen}. Aber um dieſes auszuführen, fühlte er ſich augenblicklich nicht ſicher genug im Innern des Landes. Eine große Unzufriedenheit kochte und gährte unter der Bevölkerung, und in der nächſten Nähe des Thrones gab es eine Partei, welche darzuſtellen bemüht war, daß dieſer Thron nicht anders zu feſtigen wäre, als durch einen auswärtigen glücklichen Krieg: ſo eine kleine Triumphpromenade am Rhein, und der Glanz und Beſtand der napoleoniſchen Dynaſtie wäre geſichert. [„Il faut faire grand“] meinten dieſe Ratgeber. Daß der Krieg, welcher im vorigen Jahre über die Luxemburger Frage in Ausſicht ſtand, vereitelt worden, war jenen ſehr unlieb: die beiderſeitigen Rüſtungen waren ſchon ſo ſchön gediehen, und jetzt wäre das Ding überſtanden … Aber auf die Länge ſei ein Kampf zwiſchen Frankreich und Preußen doch unvermeidlich … Unaufhörlich ward in dieſer Richtung weitergehetzt. Doch nur ein ſchwaches Echo drang von ſolchen Dingen zu uns. Dergleichen iſt ja man gewöhnt, in den Zeitungen anſchlagen zu hören — ſo regelmäßig, wie die Brandung an der Küſte. Dabei braucht man noch nicht an den Sturm zu denken; man lauſcht ganz ruhig der Muſikkapelle, die am Strande ihre luſtigen Weiſen ſpielt — die Brandung gibt nur einen leiſen, unbeachteten Grundbaß dazu ab. 77. Fünftes Buch. Friedenszeit. // 7. Abſchnitt Das glänzende, von Vergnügungsmühen überbürdete Treiben erreichte ſeinen Höhepunkt in den Frühlingsmonaten. Da kamen noch die langen Bois-Fahrten in offenem Wagen, die verſchiedenen Gemäldeausſtellungen, Gartenfeſte, Pferderennen, Picknick-Ausflüge hinzu — und bei alledem nicht weniger Theater, nicht weniger Viſiten, nicht weniger große Diners und Soiréen, als mitten im Winter. Wir begannen ſchon ſtark, uns nach Ruhe zu ſehnen. Dieſe Art Leben hat eigentlich nur dann den wahren Reiz, wenn Koketterie- und Liebſchaftsgeſchichten damit verbunden ſind. Mädchen, welche eine Partie ſuchen, Frauen, die ſich den Hof machen laſſen und Männer, die Abenteuer wünſchen — für ſolche bietet jedes neue Feſt, bei welchem man den Gegenſtand ſeiner Träume begegnen kann, ein lebhaftes Intereſſe — aber Friedrich und ich? … Daß ich meinem Gatten unwandelbar treu war, daß ich mit keinem Blick einem anderen geſtattete, ſich mir mit verwegenen Hoffnungen zu nahen — das erzähle ich ohne jeglichen Tugendſtolz. Es iſt doch ganz ſelbſtverſtändlich. Ob ich unter anderen Verhältniſſen auch all den Verlockungen widerſtanden hätte, denen in ſolchem Vergnügungswirbel hübſche junge Frauen ausgeſetzt ſind — das kann ich ja nicht wiſſen; wenn man aber eine ſo tiefe und ſo vollbeglückte Liebe im Herzen trägt, wie ich ſie für meinen Friedrich empfand, da iſt man doch gegen alle Gefahr gepanzert. Und was ihn anbelangt: war er mir treu? Ich kann nur ſo viel ſagen: ich hab’ es nie bezweifelt. Als der Sommer ins Land gezogen kam, der [„grand-prix“] vorüber war und die verſchiedenen Mitglieder der Geſellſchaft Paris zu verlaſſen begannen — die einen nach Trouville und Dieppe, nach Biarritz und Vichy, die Anderen nach Baden-Baden, die Dritten auf ihre Schlöſſer — Prinzeſſin Mathilde nach St. Gratien, der Hof nach Compiègne — da wurden wir mit Aufforderungen, das gleiche Reiſeziel zu wählen und mit Einladungen nach den Landſitzen beſtürmt; aber wir waren durchaus nicht geſonnen, die eben durchgemachte Luxus- und Vergnügungscampagne des Winters auch noch ins Sommerliche zu übertragen. Nach Grumitz wollte ich vor der Hand nicht zurückkehren: ich fürchtete zu ſehr das Wiedererwachen der ſchmerzlichen Erinnerungen; auch hätten wir dort — der vielen Verwandten und Nachbarſchaften wegen — nicht die gewünſchte Einſamkeit gefunden. So wählten wir denn abermals als Aufenthaltsort einen ſtillen Winkel der Schweiz. Wir verſprachen unſeren pariſer Freunden im nächſten Winter wiederzukommen, und traten vergnügt, wie ferienreiſende Schüler, unſere Sommerfahrt an. Was nun folgte, war wirklich eine Erholungszeit. Lange Spaziergänge, lange Leſeſtunden, lange Spielſtunden mit den Kindern und keine Eintragungen in die roten Hefte — letzteres ein Zeichen von Sorgloſigkeit und Seelenruhe. Auch Europa ſchien damals ſo ziemlich ſorgenlos und ruhig zu ſein. Wenigſtens ſah man nirgends „ſchwarze Punkte“. Selbſt von der berühmten [Revanche de Sadowa] hörte man nichts mehr verlauten. Den größten Verdruß, den ich damals empfand, der war mir durch die ſeit einem Jahr bei uns in Öſterreich eingeführte allgemeine Wehrpflicht bereitet. Daß mein Rudolf einſt werde Soldat ſein {müſſen} — das konnte ich nicht faſſen. Und da phantaſieren die Leute von Freiheit! „Ein Jahr „Freiwilliger“ — tröſtete mich Friedrich — „das iſt nicht viel.“ Ich ſchüttelte den Kopf: „Und wäre es nur {ein} Tag! Keinen Menſchen ſollte man zwingen können, ein beſtimmtes Amt, das er vielleicht haßt, auch nur einen Tag zu bekleiden, denn an dieſem Tag muß er das Gegenteil von dem, was er fühlt zur Schau tragen, muß beſchwören, das mit Freuden zu thun, was er verabſcheut — kurz, er muß lügen — und meinen Sohn wollte ich vor Allem zur Wahrhaftigkeit erziehen.“ „Dann hätte er um ein paar hundert Jahre ſpäter geboren werden müſſen, Liebſte!“ erwiderte Friedrich. „Ganz wahr kann nur ein ganz freier Mann ſein: und mit dieſen Beiden — Wahrheit und Freiheit — iſt’s noch ſchlecht beſtellt in unſeren Tagen, das wird mir — je mehr ich mich in mein Studium vertiefe — deſto klarer.“ Jetzt, in unſerer Weltabgeſchiedenheit, hatte Friedrich zu ſeinen Arbeiten doppelte Muße und er oblag denſelben mit wahrem Feuereifer. So glücklich und zufrieden wir in der Einſamkeit lebten, ſo blieben wir doch bei dem Entſchluſſe, den folgenden Winter wieder in Paris zu verbringen. Diesmal aber nicht in der Abſicht, uns zu beluſtigen, ſondern um für unſere Lebensaufgabe einigermaßen praktiſch zu wirken. Dabei hegten wir zwar nicht die {Zuverſicht}, etwas zu erreichen — aber wenn einem auch nur die Möglichkeit des Schattens einer Chance geboten ſcheint, für eine Sache, die man als die edelſte Sache der Welt erkannt hat, etwas leiſten zu können, ſo empfindet man es als unabweisliche Pflicht, dieſe Chance zu verſuchen. Wir hatten nämlich, wenn wir in unſeren traulichen Geſprächen die pariſer Erinnerungen rekapitulierten, auch jenes Planes des Kaiſers Napoleon gedacht, der uns durch die Mitteilungen ſeiner Vertrauten zu Ohren gekommen — des Planes, den Mächten Abrüſtung vorzuſchlagen. Daran knüpften wir unſere Hoffnungen und unſere Projekte. Friedrichs Forſchungen hatten ihm die Memoiren Sullys in die Hände geſpielt, in welchen der Friedensplan Heinrichs Ⅳ. mit allen Einzelheiten verzeichnet ſtand. Davon wollten wir dem Kaiſer der Franzoſen eine Abſchrift zukommen laſſen; zugleich würden wir verſuchen, durch unſere Verbindungen in Öſterreich und Preußen dieſe beiden Regierungen auf die Vorſchläge der franzöſiſchen Regierung vorzubereiten; ich konnte dies durch Miniſter Allerdings bewerkſtelligen, und Friedrich beſaß in Berlin einen Verwandten, der in einflußreicher politiſcher Stellung und bei Hofe ſehr gut angeſchrieben war. Im Dezember, als wir nach Paris überſiedeln wollten, wurden wir jedoch daran gehindert. Unſer Schatz — unſere kleine Sylvia erkrankte. Das waren bange Stunden! … Natürlich traten da Napoleon Ⅲ. und Heinrich Ⅳ. in den Hintergrund: unſer Kind im Sterben! Aber es ſtarb nicht. Nach zwei Wochen war alle Gefahr vorbei. Nur unterſagte uns der Arzt, mit der Kleinen während der ärgſten Winterkälte zu reiſen. Wir verſchoben demnach unſere Abfahrt auf den Monat März. Dieſe Krankheit und dieſe Geneſung — die Gefahr und die Rettung —, wie hatten die unſere Herzen erſchüttert und dieſelben — ich hätte dies nicht mehr für möglich gehalten — einander wieder näher gebracht! Gemeinſchaftliches Zittern vor einem gräßlichen Unglück, welches man beſonders wegen der Verzweiflung des andern fürchtet, und gemeinſchaftlich geweinte Freudenthränen, wenn dieſes Unglück abgewendet, das vermag gar mächtig zwei Seelen in eine zu verſchmelzen. 78. Sechſtes Buch. 1870/71. // 1. Abſchnitt Vorahnungen? Die gibt es nicht. Paris hätte ſonſt, als wir an einem ſonnigen Nachmittag des März 1870 dort anlangten, mir keinen ſo heiteren, luſtverſprechenden Eindruck machen können. Man weiß es heute, was damals in kürzeſter Friſt derſelben Stadt für Schreckniſſe bevorſtanden — aber mich beſchlich nicht das mindeſte trübe Vorgefühl. Wir hatten ſchon im Voraus — durch den Agenten John Arthur — dasſelbe kleine Palais gemietet, welches wir im letzten Jahre bewohnt, und an der Einfahrt desſelben erwartete uns auch unſer vorjähriger [maître d’hotel]. Als wir, um zu unſerer Wohnung zu gelangen, über die elyſäiſchen Felder fuhren — es war eben die Bois-Stunde — da begegneten wir mehreren unſerer alten Bekannten und tauſchten fröhliche Wiederſehensgrüße. Die vielen kleinen Veilchenkarren, welche um dieſe Jahreszeit in den Straßen von Paris herumgerollt werden, füllten die Luft mit tauſend Frühlingsverſprechungen; die Sonnenſtrahlen funkelten und ſpielten regenbogenfarbig in den Springbrunnen des Rundplatzes und hefteten kleine Fünkchen an die Wagenlaternen und das Pferdegeſchirr der zahlreichen Gefährte. Unter Anderen fuhr auch die ſchöne Kaiſerin in einem [à la Daumont] beſpannten Wagen an uns vorbei und winkte, mich erkennend, einen Gruß mit der Hand. Es gibt ſo einzelne Bilder und Scenen, die ſich in das Gedächtnis einphotographieren und -phonographieren, ſamt den ſie begleitenden Empfindungen und einigen gleichzeitig geſprochenen Worten. „Schön iſt doch dieſes Paris!“ rief damals Friedrich aus, — und meine Empfindung war ein kindiſches „Sichfreuen“ auf den kommenden Aufenthalt. Hätte ich gewußt, was mir, was dieſer ganzen, in Glanz und Heiterkeit getauchten Stadt bevorſtand — — — Diesmal vermieden wir es, uns, wie im verfloſſenen Jahre, in den Strudel weltlicher Vergnügungen zu werfen. Wir erklärten, keine Balleinladungen annehmen zu wollen und hielten uns von den großen Empfängen fern. Auch das Theater beſuchten wir nicht mehr ſo häufig — nur wenn irgend ein Stück beſonderes Aufſehen machte — und ſo kam es, daß wir die meiſten Abende allein oder in Geſellſchaft weniger Freunde, in unſerem Heim verbrachten. Was unſere Pläne in Bezug auf des Kaiſers Abrüſtungsidee betraf, ſo kamen wir eigentlich ſchlecht damit an. Napoleon Ⅲ. hatte zwar ſeine Idee nicht ganz aufgegeben, aber der jetzige Moment — hieß es — ſei zu deren Ausführung durchaus ungeeignet. In der Umgegend des Thrones war man ſich bewußt, daß dieſer Thron nicht auf gar feſten Füßen ſtand; eine große Unzufriedenheit kochte und gährte im Volk, und um dieſe niederzuhalten, wurden alle Polizei- und Cenſurmaßregeln verſchärft — was nur um ſo größere Unzufriedenheit zur Folge hatte. Das einzige, ſo ſagten gewiſſe Leute, was der Dynaſtie neuen Glanz und Beſtand geben könnte, wäre ein glücklicher Feldzug … Dazu lag freilich keine nahe Ausſicht vor, aber von Abrüſtung ſprechen, wäre ganz und gar gefehlt; dadurch würde ja der ganze Nimbus der Bonaparte zerſtört, welcher ja auf dem Ruhmeserbe des großen Napoleon beruhte. Außerdem war uns auch auf unſere Anfragen aus Preußen und Öſterreich kein ermunternder Beſcheid geworden. Man war da in die Ära der Vergrößerung der Wehrmacht (das Wort: „Armee“ begann aus der Mode zu kommen) getreten und da fiele das Wort Abrüſtung als grober Mißton hinein. Im Gegenteil, um die Segnungen des Friedens zu erhalten, mußte man die „Wehrkraft“ nur recht ſteigern — den Franzoſen war nicht zu trauen … den Ruſſen auch nicht … den Italienern ſchon gar nicht; die fielen gleich über Trieſt und Trient her, wenn ſich Gelegenheit dazu böte — kurz, nur ſchön fleißig das Landwehrſyſtem pflegen. „Die Zeit iſt nicht reif,“ ſagte Friedrich, wenn wir ſolche Mitteilungen erhielten. „Und die Hoffnung, daß ich in Perſon das Reifen der Zeit beſchleunigen könne oder gar die erſehnten Früchte daran ſprießen ſehe — die muß ich vernünftiger Weiſe wohl aufgeben … Was ich beitragen kann, iſt gar winzig. Aber von der Stunde an, da ich dieſes Winzige als meine Pflicht erkannt, iſt es mir doch zum Größten geworden — alſo harre ich aus.“ Wenn auch vorläufig das Entwaffnungsprojekt ins Waſſer gefallen war, eine Beruhigung hatte ich doch: es war kein Krieg in Sicht. Die bei Hofe und auch in der Bevölkerung vorhandene Kriegspartei, welche da meinte, daß die „Dynaſtie in Blut aufgefriſcht“ werden ſollte und daß dem Lande wieder ein Portiönchen Ruhm erwachſen müſſe, die mußte auf Angriffspläne und auf den verlockenden „kleinen Feldzug um die Rheingrenze“ verzichten. Denn Frankreich beſaß keine Verbündeten; im Lande herrſchte große Trockenheit, Futtermangel war vorauszuſehen, man mußte die Militärpferde verkaufen, nirgends eine ſchwebende „Frage“, das Rekrutenkontingent ward vom geſetzgebenden Körper herabgeſetzt, kurz — ſo erklärte bei dieſer Gelegenheit von der Tribüne herab Ollivier: der Friede Europas iſt geſichert. {Geſichert}. Ich freute mich über dieſes Wort. In allen Zeitungen ward es wiederholt und viele Tauſende freuten ſich mit mir. Was kann es denn für die meiſten Menſchen beſſeres geben, als geſicherten Frieden? Wie viel dieſe Sicherheit aber wert war, die da am 30. Juni 1870 von einem Staatsmann verkündet worden, das wiſſen wir heute Alle. Und das hätten wir auch ſchon damals wiſſen können, daß derlei ſtaatsmänniſche Verſicherungen — welchen das Publikum immer wieder mit gleich naivem Vertrauen lauſcht — doch keine, gar keine Bürgſchaft enthalten. Die europäiſche Lage weiſt keine „ſchwebende Frage“ auf, {darum} iſt der Friede geſichert: — welche ſchwache Logik! Die Fragen können ja jeden Augenblick herangeſchwebt kommen; — erſt wenn man für dieſen Fall ein anderes Mittel in Bereitſchaft hielte, als den Krieg, erſt dann wäre man gegen den Krieg geſichert. 79. Sechſtes Buch. 1870/71. // 2. Abſchnitt Wieder zerſtreute ſich die pariſer Geſellſchaft nach allen Windrichtungen. Wir aber blieben — Geſchäfte halber — zurück. Es hatte ſich uns nämlich ein außerordentlich vorteilhafter Ankauf geboten. Durch die plötzliche Abreiſe eines Amerikaners war ein kleines erſt halbvollendetes Hotel in der Avenue de l’Imperatrice feil geworden, und zwar um einen Preis, der nicht viel mehr betrug, als die zur Ausſchmückung und Einrichtung des Objekts bereits verwendete Summe. Da wir nun einmal die Abſicht hatten, auch in Zukunft einige Monate des Jahres in Paris zu verbringen und da der betreffende Kauf zugleich ein vortreffliches Geſchäft war, ſo ſchloſſen wir den Handel ab. Die Fertigſtellung wollten wir ſelber überwachen und zu dieſem Behuf blieben wir in Paris. Die Ausſchmückung eines eigenen Neſtes iſt zudem eine ſo genußreiche Arbeit, daß wir dafür die Unannehmlichkeit, den Sommer in der Stadt zu bleiben, gern auf uns nahmen. Übrigens blieb uns auch in geſelliger Beziehung noch Anſprache genug. Das Schloß der Prinzeſſin Mathilde, St. Gratien, ferner Schloß Mouchy, dann Baron Rothſchilds Beſitzung, Ferrières, und noch mehrere andere Sommerſitze unſerer Bekannten lagen in der Nähe von Paris, und ein- oder zweimal wöchentlich ſtatteten wir bald da, bald dort einen Beſuch ab. Es war, ich erinnere mich, im Salon der Prinzeſſin Mathilde, daß ich zum erſtenmale von der „Frage“ hörte, die zur „ſchwebenden“ werden ſollte. Die Geſellſchaft ſaß — nach dem Gabelfrühſtück — auf der Terraſſe, mit dem Ausblick nach dem Park. Wer Alles da war? Deſſen kann ich mich nicht mehr entſinnen — nur zwei der anweſenden Perſönlichkeiten ſind mir im Gedächtnis geblieben; Taine und Renan. Die geiſtvolle Herrin von St. Gratien liebte es, ſich mit litterariſchen und wiſſenſchaftlichen Größen zu umgeben. Die Unterhaltung war eine ſehr rege und ich kann mich erinnern, daß es meiſt Renan war, der das Wort führte, geiſtſprühend und witzig. Wie man unglaublich häßlich ſein kann und dabei doch unglaublichen Zauber ausüben, davon iſt der Verfaſſer des Leben Jeſu ein merkwürdiges Beiſpiel. Jetzt fiel das Geſpräch auch auf Politik. Für den ſpaniſchen Thron werde ein Kandidat geſucht … Ein Prinz von Hohenzollern ſolle die Krone erhalten … Ich hatte kaum hingehorcht, denn was konnte es mir, was konnte es Allen hier Gleichgültigeres geben, als der ſpaniſche Königsthron und Derjenige, der darauf zu ſitzen käme? Doch da ſagte Jemand: „Ein Hohenzoller? Das wird Frankreich nicht dulden.“ Das Wort ſchnitt mir in die Seele, denn was heißt dieſes „nicht dulden“? Wenn das im Namen eines Landes geſagt wird, ſo ſieht man im Geiſte die dieſes Land perſonifizierende Rieſenjungfrauen-Statue mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe und mit der Hand am Schwertesknauf. Doch es wurde bald wieder auf ein anderes Geſprächsthema übergegangen. {Wie} folgenſchwer dieſe ſpaniſche Thronfrage noch werden ſollte, das ahnte unter uns noch Niemand. Ich auch nicht, natürlich. Mir war nur das anmaßende „das wird Frankreich nicht dulden“ als ein Mißton im Gedächtnis haften geblieben und damit zugleich die ganze umgebende Scenerie. Von nun an ſollte die ſpaniſche Thronfrage immer lauter und aufdringlicher werden. Täglich wurde der Raum größer, den ſie in den Zeitungen und in den Salongeſprächen einnahm und ich weiß, daß ſie mich in hohem Grade langweilte; dieſe Hohenzollern-Kandidatur: man konnte bald gar nichts Anderes hören. Und mit einer Entrüſtung wurde davon geſprochen, als könnte Frankreich nichts Beleidigenderes widerfahren; die Meiſten durchſchauten es als eine von Preußen ausgehende Provokation zum Kriege. Es iſt doch klar — hieß es — Frankreich konnte die Sache nicht dulden; wenn alſo die Hohenzollern darauf beſtehen, ſo iſt das die reine Herausforderung. Das verſtand ich nicht. Übrigens war ich ohne Sorge. Wir erhielten Briefe aus Berlin, worin uns von wohlunterrichteter Seite mitgeteilt wurde, daß man bei Hofe nicht den mindeſten Wert darauf lege, daß die ſpaniſche Krone einem Hohenzollern zufalle. Wir beſchäftigten uns demnach weit mehr mit unſerem Hausbau, als mit der Politik. Aber allmählich wurden wir doch aufmerkſam. So wie vor dem Sturm ein gewiſſes Blätterraſcheln durch den Wald geht, ſo raſchelt es vor dem Krieg von gewiſſen Stimmen durch das Volk. [„Nous aurons la guerre — nous aurons la guerre!“] das tönte durch die pariſer Luft. Da erfaßte mich unſägliches Bangen. Nicht um die Meinen — denn wir Öſterreicher waren ja vorläufig aus dem Spiele; im Gegenteil: uns ſollte ja möglicherweiſe „Satisfaktion“ geboten werden — die bekannte Sadowa-Rache. Aber wir hatten es verlernt, den Krieg vom nationalen Standpunkt aus zu betrachten, und was er vom menſchlichen, vom edelmenſchlichen iſt — das weiß man ja. Das drücken folgende Worte aus, die ich einſt aus dem Munde Guy de Maupaſſants gehört: [„Quand je songe seulement à ce mot „la guerre“ — il me vient un effarement, comme si l’on me parlait de sorcellerie, d’inquisition, d’une chose lointaine, finie, abominable, contre nature.“] … Als die Nachricht eintraf, daß Prim dem Prinzen Leopold die Krone angetragen, hielt der Herzog von Grammont im Parlament eine mit großem Beifall aufgenommene Rede, ungefähr nachſtehenden Inhalts: „Wir miſchen uns nicht in fremde Angelegenheiten, aber — wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten eines Nachbarſtaates uns verpflichtet, zu dulden, daß eine fremde Macht, indem ſie einen ihrer Prinzen auf den Thron Carls Ⅴ. ſetzt, zu unſerem Schaden das beſtehende Gleichgewicht der Kräfte von Europa (O dieſes Gleichgewicht — welcher kriegsdurſtige Heuchler hat dieſe hohle Phraſe erfunden?) ſtöre und die Intereſſen, die Ehre Frankreichs in Gefahr bringe.“ Ich kenne ein Märchen von George Sand, genannt Gribouille. Dieſer Gribouille hat die Eigenheit, wenn Regen droht, ſich aus Furcht vor dem Naßwerden in den Fluß zu ſtürzen. Wenn ich höre, daß der Krieg angetragen wird, um drohenden Gefahren vorzubeugen, ſo muß ich immer an Gribouille denken. Wohl hätte ein ganzer Hohenzollernſtamm ſich auf Carls Ⅴ. und noch auf verſchiedene andere Throne ſetzen können, ohne Frankreichs Intereſſen und Frankreichs Ehre nur den tauſendſten Teil von dem Schaden zuzufügen, der ihnen aus dem klugen „Das können wir nicht dulden“ erwachſen iſt.“ „Dieſer Fall,“ fuhr der Redner fort, „wir hegen die feſte Zuverſicht, wird nicht eintreten. Wir rechnen in dieſer Beziehung auf die Weisheit des deutſchen und auf die Freundſchaft des ſpaniſchen Volkes. Sollte es anders kommen — {dann}, meine Herren, werden wir wiſſen, ſtark durch Ihre Unterſtützung und die der Nation, unſere Pflicht ohne Schwanken und ohne Schwäche zu thun. (Stürmiſches Bravo.) Von da ab beginnt die Kriegshetze in der Preſſe. Beſonders iſt es Girardin, welcher ſeine Landsleute nicht genug anfeuern kann, die unerhörte Kühnheit, welche in dieſer Thronkandidatur liege, gehörig zu züchtigen. Es wäre gegen alle Würde Frankreichs, wenn es da nicht ſein Veto einlegte … freilich, Preußen wird nicht nachgeben, denn es iſt ihm daran gelegen, dem Wahnſinnigen, den Krieg heraufzubeſchwören. Durch ſeine Erfolge von 1866 berauſcht, glaubt es, jetzt auch über den Rhein ſeine Sieges- und Raubeszüge machen zu dürfen — aber da ſind wir da, Gott ſei Dank, ſolche Gelüſte den übermütigen Spitzhelmen zu vertreiben … In dieſem Tone geht es fort. Napoleon Ⅲ. zwar, wie wir durch ihm naheſtehende Perſonen erfahren, wünſcht nach wie vor die Erhaltung des Friedens; aber in ſeiner Umgebung finden die Meiſten, daß ein Krieg jetzt unvermeidlich ſei, daß — da man im Volke ohnehin mit der Regierung unzufrieden — das Beſte, was man thun könne, um ſich den Reſpekt des ruhmſüchtigen Landes zu ſichern, ein glücklicher Krieg wäre: [„il faut faire grand“]. Nun wird in der Runde bei anderen europäiſchen Kabinetten über die Angelegenheit angefragt. Jedes erklärt, daß es den Frieden wünſche. In Deutſchland wird ein aus Volkskreiſen ſtammendes Manifeſt veröffentlicht, welches unter Anderen auch von {Liebknecht} unterzeichnet iſt, worin es heißt: „der bloße Gedanke an einen deutſch-franzöſiſchen Krieg ſei ein Verbrechen“ Bei dieſer Gelegenheit erfahre ich und kann es in mein Friedensprotokoll eintragen: „daß eine große Verbindung mit hunderttauſenden von Mitgliedern exiſtiert, welche die Abſchaffung aller Vorurteile des Standes und der Nation zum Programmpunkt erhoben hat.“ Benedetti erhält die Miſſion, den König von Preußen aufzufordern, daß dieſer dem Prinzen Leopold die Annahme der Krone verbiete. König Wilhelm befand ſich augenblicklich zur Kur in Ems — Benedetti begibt ſich dahin und erhält am 9. Juli eine Audienz. Wie wird der Ausgang ſein? Ich erwarte die Nachricht mit Zittern. Die Antwort des Königs lautet einfach: daß er einem volljährigen Prinzen nichts verbieten könne. Dieſe Antwort verſetzte die Kriegspartei in triumphierende Freude: „Alſo man will es darauf ankommen laſſen? … Man will uns bis aufs Äußerſte reizen? Das Haupt des Hauſes ſollte einem Mitglied desſelben nichts verbieten und gebieten können? Lächerlich! Das iſt offenbar abgemachtes Komplott: die Hohenzollern wollen ſich in Spanien feſtſetzen und dann von Oſten und Süden unſer Land überfallen. Und das ſollten wir abwarten? Die Demütigung ſollten wir uns gefallen laſſen, daß man unſeren Proteſt nicht beachtet? Nimmermehr: wir wiſſen, was die Ehre, was der Patriotismus uns gebeut“ … Immer lauter und lauter, immer unheimlicher raſcheln die Sturmesvorboten. Da, am 12. Juli kommt eine Botſchaft, die mich mit Entzücken erfüllt: Don Saluſto Olozaga zeigt offiziell der franzöſiſchen Regierung an, daß Prinz Leopold von Hohenzollern, um keinen Vorwand zu einem Krieg zu bieten, auf die Annahme der angebotenen Krone {verzichtet}. Nun Gottlob: die ganze „Frage“ war ja damit einfach weggeräumt. Die Nachricht wird um 12 Uhr Mittags in der Kammer mitgeteilt und Ollivier erklärt, daß dies das Ende des Streites ſei. Am ſelben Tag wurden jedoch (offenbar die Ausführung früherer Befehle) Truppen und Material nach Metz dirigiert und in derſelben Sitzung macht Clement Duvernois folgende Interpellation: „Was haben wir für Bürgſchaften, daß Preußen nicht wieder ähnliche Verwickelungen heraufbeſchwört, wie dieſe ſpaniſche Kronkandidatur? Dem muß vorgebeugt werden.“ Schon wieder regt ſich Gribouille: Es könnte — vielleicht — einmal — ein leiſer Regen uns naß zu machen — drohen: alſo ſchnell in den Fluß geſprungen! — und abermals wird Benedetti nach Ems geſchickt, diesmal den König von Preußen aufzufordern, daß er dem Prinzen Leopold ein- für allemal und für alle Zukunft verbiete, auf die Kandidatur zurückzukommen. Kann wohl auf ſolches Vorſchreiben-wollen einer Handlung, zu welcher der Aufgeforderte nicht einmal befugt iſt, etwas Anderes erfolgen als ungeduldiges Achſelzucken! Das mußten Diejenigen doch wiſſen, welche die Anforderung ſtellten. Am 15. Juli wieder eine denkwürdige Sitzung. Ollivier verlangt einen Kredit von fünfhundert Millionen für den Krieg. {Thiers ſtimmt dagegen}. Ollivier entgegnet: er nehme die Verantwortung vor der Geſchichte auf ſich. Der König von Preußen habe ſich geweigert, den franzöſiſchen Botſchafter zu empfangen und dies durch eine Note der Regierung angezeigt. Die Linke verlangt dieſe Note zu ſehen. Die Majorität verbietet tumultuariſch und durch Abſtimmung die Vorzeigung des (wahrſcheinlich gar nicht exiſtierenden) Dokuments. Dieſe Majorität bewilligt Alles, was die Regierung für den Krieg fordert. Solche patriotiſche Opferwilligkeit, die da ohne Zaudern das {Verderben} bewilligt, wird natürlich wieder mit den bereitliegenden Phraſenclichés gehörig bewundert. 16. Juli. England macht Verſuche, den Krieg zu hindern. Vergebens … Ja, gäbe es eingeſetzte Schiedsgerichte — wie leicht und einfach wäre da ein ſo geringfügiger Konflikt gehoben. 19. Juli. Der franzöſiſche Geſchäftsträger in Berlin überreicht der preußiſchen Regierung die Kriegserklärung. {Kriegserklärung}. Die vier Silben ſprechen ſich ganz gelaſſen aus. Was iſt’s auch weiter? Der Beginn einer äußer-politiſchen Aktion, und ſo nebenbei eine halbe Million Todesurteile. Auch dieſes Aktenſtück habe ich in die roten Hefte eingetragen. Es lautete: „Die Regierung Sr. Majeſtät des Kaiſers der Franzoſen konnte den Plan, einen preußiſchen Prinzen auf den ſpaniſchen Thron zu erheben, nur als ein Unternehmen gegen die territoriale Sicherheit Frankreichs betrachten und hat ſich daher genötigt geſehen, von Sr. Majeſtät dem Könige von Preußen die Verſicherung zu verlangen, daß eine ähnliche Kombination mit ſeiner Zuſtimmung nicht wieder vorkommen werde. Da Se. Majeſtät dieſe Zuſicherung verweigert und im Gegenteil unſerem Geſandten erklärt hat, er gedenke ſich für dieſes Vorkommnis die Möglichkeit vorzubehalten, die Umſtände zu befragen, ſo hat die kaiſerliche Regierung in dieſer Erklärung des Königs einen Hintergedanken erkennen müſſen, welcher für Frankreich und für das europäiſche Gleichgewicht (da haben wir’s ſchon wieder, das berühmte Gleichgewicht: „Seht dieſes Wandbrett mit den koſtbaren Schalen darauf — es ſchwankt — die Schalen könnten herunterfallen — alſo ſchlagen wir hinein …) bedrohlich iſt. Dieſe Erklärung hat einen noch ſchwereren Charakter erhalten durch die Mitteilung, welche dem Kabinett gemacht wurde, von der Weigerung, den Geſandten des Kaiſers zu empfangen und mit ihm neue Auseinanderſetzungen einzuleiten (alſo durch ſolche Dinge: mehr oder minder freundlichen Verkehr zwiſchen Regenten und Diplomaten, wird das Schickſal der Völker beſtimmt …). Infolgedeſſen hat die franzöſiſche Regierung es für ihre Pflicht (!) gehalten, ohne Verzug an die Verteidigung (ja, ja, Verteidigung — niemals Angriff) ihrer verletzten Würde, ihrer verletzten Intereſſen zu denken, und entſchloſſen, zu dieſem Zwecke alle Maßregeln zu ergreifen, welche von der ihr geſchaffenen Lage geboten werden, betrachtet ſie ſich von jetzt an als im Zuſtand des Krieges mit Preußen.“ Zuſtand des Krieges … Bedenkt Derjenige, der auf dem grünen Tuch ſeines Schreibtiſches dieſes Wort zu Papier bringt, daß er ſeine Feder in Flammen getaucht hat, in blutige Thränen, in Seuchengift? … Alſo wegen eines für einen vakanten Thron geſuchten Königs und infolge einer zwiſchen zwei Monarchen gepflogenen Unterhandlung war diesmal der Sturm entfeſſelt? Sollte Kant doch recht haben mit ſeinem erſten Definitivartikel zum ewigen Frieden: „Die bürgerliche Verfaſſung in jedem Staate ſoll republikaniſch ſein?“ Allerdings fielen durch Verwirklichung dieſes Artikels manche Kriegsurſachen weg, denn die Geſchichte zeigt, wie viele Feldzüge dynaſtiſcher Fragen willen unternommen wurden, und alle Einſetzung monarchiſcher Gewalt beruht ja nur auf glücklicher Kriegführerſchaft; indeſſen: auch Republiken ſind kriegeriſch. Der {Geiſt} iſt es, der alte, wilde, der in den Völkern — ſeien ſie nun in dieſer oder jener Form regiert — Haß und Raufluſt und Siegesehrgeiz anfacht. Ich erinnere mich, welch eine ganz eigentümliche Stimme mich ſelber in jener Zeit erfaßte, da der deutſch-franzöſiſche Krieg ſich vorbereitete und dann losbrach. Dieſe Gewitterſchwüle vorher, dieſes gewaltige Sturmwehen nach der Erklärung … Die ganze Bevölkerung war in Fieber, und wer kann ſolcher Epidemie ſich entziehen? Natürlich — nach altem Brauch — wurde der Beginn des Feldzuges ſchon als Siegeszug betrachtet, das iſt ja ſo patriotiſche Pflicht. [„A Berlin — á Berlin!“] jubelte es durch die Straßen und von den Imperialen der Omnibuſſe herab; die Marſeillaiſe an allen Ecken und Enden: [Le jour de gloire est arrivé!] in jeder Theatervorſtellung mußte die erſte Schauſpielerin oder Sängerin — in der Oper war es Marie Saß — im Jeanne d’ Arc Koſtüm vor die Rampe treten und fahnenſchwingend dieſes Kampflied ſingen, welches vom Publikum ſtehend angehört und bisweilen mitgeſungen wurde. Auch wir haben das eines Abends mit angeſehen, Friedrich und ich, und auch wir mußten von unſeren Sitzen uns erheben. „Mußten“ nicht aus äußerem Zwang, wir hätten uns ja in den Hintergrund der Loge zurückziehen können — ſondern mußten, weil wir {elektriſiert} waren. „Siehſt Du, Martha,“ erklärte mir Friedrich, „ſolcher Funke, der da von Einem zum Anderen ſpringt und dieſe ganze Menge in einem vereinten und erhöhten Herzſchlag erheben macht — das iſt Liebe —“ „Meinſt Du? es iſt doch ein haſſendes Lied: „Daß ihr unreines Blut // Unſere Furchen tränke — —“ „Thut nichts: vereinigter Haß iſt auch eine Form von Liebe. Wo ſich Zwei oder Mehrere in einem gemeinſamen Gefühl zuſammenthun, da lieben ſie einander. Laß nur einmal einen höheren Begriff, als den der Nation, nämlich den der Menſchheit und der Menſchlichkeit, als gemeinſames Ideal aufgefaßt werden, dann —“ „Ach wann wird das ſein?“ ſeufzte ich. „Wann? Das iſt ſehr relativ. Im Verhältnis zu unſerer Exiſtenzdauer — nie; im Verhältnis zu derjenigen unſeres Geſchlechtes — morgen.“ 80. Sechſtes Buch. 1870/71. // 3. Abſchnitt Wenn ein Krieg ausgebrochen iſt, ſo ſpalten ſich alle Anhänger der neutralen Staaten in zwei Lager; die Einen nehmen für dieſen, die Anderen für jenen Teil Partei; es iſt da wie eine große ſchwebende Wette, bei der Jeder mithält. Wir Beide, Friedrich und ich, mit wem ſollten wir ſympathiſieren, wem den Sieg wünſchen? Als Öſterreicher waren wir „patriotiſch“ vollkommen berechtigt, unſere Überwinder aus dem vorigen Kriege diesmal als Überwundene ſehen zu wollen. Ferner iſt es auch naturgemäß, daß man Jenen, in deren Mitte man lebt, von deren Gefühlen man unwillkürlich angeſteckt wird, die größere Sympathie zuwendet — und wir waren ja von Franzoſen umgeben. Dennoch: Friedrich war preußiſcher Abkunft, und waren nicht auch mir die Deutſchen, deren Sprache ja die meine iſt, ſtammverwandter als ihre Gegner? Außerdem war die Kriegserklärung nicht von den Franzoſen aus ſo nichtigem Grunde — nein, nicht Grunde, {Vorwande} — ausgegangen, mußten wir daher nicht einſehen, daß die Sache der Preußen die gerechte war, daß dieſe nur als Verteidiger und dem Zwang gehorchend, in den Kampf zogen? Und war die Einmütigkeit nicht erhebend, mit welcher die vor kurzem noch ſich befehdenden Deutſchen ſich jetzt zuſammenſcharten? Sehr richtig hatte König Wilhelm in ſeiner Thronrede vom 19. Juli geſagt: „Das deutſche und das franzöſiſche Volk, beide die Segnungen chriſtlicher Geſittung und ſteigenden Wohlſtandes gleichmäßig genießend, waren zu einem heilſameren Wettkampfe berufen, als zu dem blutigen der Waffen. Doch die {Machthaber Frankreichs} haben es verſtanden, das wohlberechtigte aber reizbare Selbſtgefühl unſeres großen Nachbarvolkes durch berechnete Mißleitung für perſönliche Intereſſen und Leidenſchaften auszubeuten —“ Kaiſer Napoleon erließ ſeinerſeits folgende Proklamation: „Angeſichts der anmaßenden Anſprüche Preußens haben wir Einſprache gethan. Dieſe iſt verſpottet worden. Vorgänge* folgten, welche Verachtung für uns zeigten. Unſer Land iſt dadurch tief aufgeregt und augenblicklich erſchallt das Kriegsgeſchrei von einem Ende Frankreichs zum andern. Es bleibt uns nichts mehr übrig, als {unſere} Geſchicke dem Loſe, welches die Waffen werfen, zu überlaſſen. Wir bekriegen nicht Deutſchland, deſſen Unabhängigkeit wir achten. Wir haben die beſten Wünſche dafür, daß die Völker, welche das große deutſche Volkstum ausmachen, frei über ihre Geſchicke verfügen. Was uns betrifft, ſo verlangen wir die Aufrichtung eines Standes der Dinge, welcher unſere Sicherheit verbürge und unſere Zukunft ſicher ſtelle. Wir wollen einen dauerhaften Frieden erlangen, begründet auf die wahren Intereſſen der Völker; wir wollen, daß dieſer elende Zuſtand aufhöre, bei dem alle Nationen ihre Hilfsquellen aufwenden, um ſich gegenſeitig zu bewaffnen.“ Welche Lektion, welche gewaltige Lektion ſpricht aus dieſem Schriftſtück, wenn man es mit den folgenden Ereigniſſen zuſammenhält! Alſo um Sicherheit, um dauernden Frieden zu erlangen, wurde dieſer Feldzug von Frankreich unternommen? Und was iſt daraus entſtanden? — [„L’année terrible“] und dauernde — noch immer dauernde — Feindſchaft. Nein, nein: — mit Kohle läßt ſich nicht weiß färben, mit [asa foetida] nicht Wohlgeruch verbreiten und mit Krieg nicht Frieden ſichern. Dieſer „elende Zuſtand“, auf den Napoleon anſpielte, wie hat der ſeither ſich noch verſchlimmert! Es war dem Kaiſer Ernſt, voller Ernſt mit dem Plane, eine europäiſche Abrüſtung anzubahnen, ich habe es durch ſeine nächſten Verwandten mit Beſtimmtheit erfahren, aber die Kriegspartei hat ihn gedrängt, gezwungen — und er gab nach … Dennoch konnte er ſich nicht enthalten, in der Kriegsproklamation ſelber ſeine Lieblingsidee anklingen zu laſſen. Es ſollte deren Verwirklichung nur hinausgeſchoben ſein. „Nach dem Feldzug — nach dem Siege …“ ſagte er ſich zum Troſt. Es iſt anders gekommen. Auf welcher Seite alſo unſere Sympathien ſtanden? Wenn man dazu gelangt, den Krieg an und für ſich zu verabſcheuen, wie das bei Friedrich und mir der Fall war, ſo kann das echte, naive „Paſſionieren“ für den Ausgang eines Feldzuges nicht mehr eintreten; die einzige Empfindung iſt eben die: Hätte er nur nie begonnen — dieſer Feldzug — und wäre er nur ſchon aus! Ich glaubte nicht, daß der gegenwärtige Krieg lange dauern und bedeutende Folgen haben werde. Zwei oder drei gewonnene Schlachten hier oder dort und man würde ſicherlich parlamentieren und dem Ding ein Ende machen. Um was ſchlug man ſich denn eigentlich? Um gar nichts. Das Ganze war mehr eine Art Waffenpromenade, von den Franzoſen aus ritterlicher Abenteuerluſt, von den Deutſchen aus tapferer Verteidigungspflicht unternommen; ein paar getauſchte Säbelhiebe und die Gegner würden ſich wieder die Hände reichen … Thörin, die ich war! Als ob die Folgen eines Krieges im Verhältnis zu den Urſachen ſeines Entſtehens blieben. {Der Verlauf} iſt es, der die Folgen beſtimmt. Gern hätten wir Paris verlaſſen, denn der ganze von der Bevölkerung gezeigte Enthuſiasmus berührte uns höchſt peinlich. Aber der Weg nach Oſten war nunmehr {verſperrt}; auch hielt uns der Bau unſeres Hauſes zurück — kurz: wir blieben. Geſelligen Umgang hatten wir beinahe keinen mehr. Alles was nur konnte, hatte Paris geflohen und unter den obwaltenden Umſtänden dachte auch unter den Zurückgebliebenen keiner daran, Einladungen auszuteilen. Nur einige unſerer Bekannten aus litterariſchen Kreiſen, die noch anweſend waren, ſuchten wir öfters auf. Gerade in dieſer Phaſe des beginnenden Krieges war es Friedrich intereſſant, die betreffenden Urteile und Anſichten der hervorragenden Geiſter kennen zu lernen. Da war ein ganz junger Schriftſteller der ſpäter zu ſolcher Berühmtheit gelangte Guy de Maupaſſant, von deſſen Äußerungen, die mir aus der Seele geſprochen waren, ich einige in die roten Hefte eintrug: „Der Krieg — wenn ich nur an dieſes Wort denke, ſo überkommt mich ein Grauen, als ſpräche man mir von Hexen, von Inquiſition — von einem entfernten, überwundenen, abſcheulichen, naturwidrigen Dinge. Der Krieg — ſich ſchlagen! Erwürgen, niedermetzeln! Und wir beſitzen heute — zu unſerer Zeit mit unſerer Kultur, mit dem ſo ausgedehnten Wiſſen, auf ſo hoher Stufe der Entwickelung, auf der wir angelangt zu ſein glauben — wir beſitzen Schulen, wo man lernt zu töten — auf recht große Entfernung zu töten, eine recht große Anzahl auf einmal. … Das Wunderbare iſt, daß die Völker ſich dagegen nicht erheben, daß die ganze Geſellſchaft nicht revoltiert bei dem bloßen Worte Krieg. Jeder, der regiert, iſt ebenſo verpflichtet, den Krieg zu vermeiden, wie ein Schiffskapitän verpflichtet iſt, den Schiffbruch zu vermeiden. Wenn ein Kapitän ſein Schiff verloren hat, wird er vor ein Gericht geſtellt und verurteilt, falls man erkennt, daß er ſich Nachläſſigkeit zu ſchulden kommen ließ. Warum wird die Regierung nach jedem erklärten Kriege nicht gerichtet? Wenn die Völker das verſtänden, wenn ſie ſich weigerten, ohne Grund ſich töten zu laſſen — dann wäre es mit dem Kriege aus.“ Und Erneſte Renan ließ ſich alſo vernehmen: „Iſt es nicht herzzerreißend, zu denken, daß Alles, was wir Männer der Wiſſenſchaft in fünfzig Jahren aufzubauen beſtrebt waren, mit einem Schlage zuſammengeſtürzt iſt: die Sympathien zwiſchen Volk und Volk, das gegenſeitige Verſtändnis, das fruchtbare Zuſammenarbeiten. Wie tötet ein ſolcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verleumdung des einen Volkes wird nun nicht aufs Neue in den nächſten fünfzig Jahren von dem anderen mit Begierde geglaubt werden und ſie für unabſehbare Zeiten voneinander trennen! Welche Verzögerung des europäiſchen Fortſchrittes! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufrichten können, was dieſe Menſchen an einem Tage heruntergeriſſen haben.“ Ich hatte auch Gelegenheit einen Brief zu leſen, den Guſtave Flaubert in jenen erſten Julitagen, als eben der Krieg ausgebrochen war, an George Sand geſchrieben hat. Hier iſt er: „Ich bin verzweifelt über die Dummheit meiner Landsleute. Die unverbeſſerliche Barbarei der Menſchheit erfüllt mich mit tiefer Trauer. Dieſer Enthuſiasmus, der von keiner Idee beſeelt iſt, macht, daß ich ſterben möchte, um ihn nicht mehr zu ſehen. Der gute Franzoſe will ſich ſchlagen: 1) weil er ſich durch Preußen herausgefordert glaubt; 2) weil der natürliche Zuſtand des Menſchen die Wildheit iſt; 3) weil der Krieg ein myſtiſches Element in ſich hat, das die Menſchen fortreißt Sind wir wieder zu den Raſſenkämpfen gekommen? Ich fürchte es … Die ſchrecklichen Schlachten, die ſich vorbereiten, haben nicht einmal einen Vorwand für ſich. Es iſt die Luſt, ſich zu ſchlagen, um ſich zu ſchlagen. Ich beklage die geſprengten Brücken und Tunnels. Alle dieſe menſchliche Arbeit, die verloren geht! Sie haben geſehen, daß ein Herr in der Kammer die Plünderung des Großherzogtums Baden vorgeſchlagen hat. Ach, daß ich nicht bei den Beduinen ſein kann!“ „Ach,“ rief ich, als ich dieſen Brief zu Ende geleſen, „daß wir nicht fünfhundert Jahre ſpäter geboren ſind — das wäre noch beſſer als die Beduinen.“ „So lange werden die Menſchen nicht mehr brauchen, um vernünftig zu werden,“ entgegnete Friedrich zuverſichtlich. Das war jetzt das Stadium der Proklamationen und der Armeebefehle. Immer wieder die alte Leier und immer wieder das zu Beifall und Begeiſterung hingeriſſene Publikum. Über die in den Manifeſten verbürgten Siege wird gejubelt, als wären dieſelben bereits erfochten. Am 28. Juli erließ Napoleon Ⅲ. vom Hauptquartier in Metz folgende Urkunde. Auch dieſe habe ich eingetragen — nicht etwa aus geteilter Bewunderung — ſondern aus Zorn über das ewig gleiche hohle Phraſenwerk. „Wir verteidigen Ehre und Boden des Vaterlandes. Wir werden ſiegen. Nichts iſt zu viel für die ausharrenden Anſtrengungen der Soldaten Afrikas, der Krim, Chinas, Italiens und Mexikos. Noch einmal werdet ihr beweiſen, was eine franzöſiſche Armee vermag, die von Vaterlandsliebe durchglüht iſt. Welchen Weg immer wir außerhalb unſerer Grenzen einſchlagen, wir finden dort die ruhmreichen Spuren unſerer Väter. Wir werden uns ihrer würdig zeigen. Von unſeren Erfolgen hängt das Schickſal der Freiheit und der Civiliſation ab. Soldaten — thue Jeder ſeine Pflicht und der Gott der Schlachten wird mit uns ſein.“ [„Le Dieu des armées“] durfte natürlich nicht fehlen. Daß die Führer beſiegter Heere ſchon hundertmal dasſelbe geſprochen, das hindert die Anderen nicht, bei jedem neuen Feldzug wieder dasſelbe zu ſprechen, und damit dasſelbe Vertrauen zu wecken. Gibt es etwas kürzeres und ſchwächeres als das Gedächtnis der Völker? Am 31. Juli verläßt König Wilhelm Berlin und erläßt nachſtehendes Manifeſt: „Indem ich heute zur Armee gehe, um mit ihr für die Ehre und für die Erhaltung unſerer höchſten Güter zu kämpfen, erlaſſe ich eine Amneſtie für politiſche Verbrecher. Mein Volk weiß mit mir, daß Friedensbruch und Feindſchaft nicht auf unſerer Seite waren. Aber herausgefordert, ſind wir entſchloſſen, gleich unſeren Vätern und in feſter Zuverſicht auf Gott den Kampf zu beſtehen zur Errettung des Vaterlandes.“ Notwehr, Notwehr: das iſt die einzig ſtatthafte Art des Tötens; daher rufen beide Gegner: „Ich wehre mich“ Iſt das nicht Widerſinn? — Nicht ſo ganz — denn über Beiden waltet eine dritte Macht, die Macht des überkommenen alten Kriegsgeiſtes. — Nur gegen den ſich zu wehren, ſollten alle ſich verbünden … Neben den obigen Manifeſten finde ich in meinen roten Heften eine Eintragung, mit dem ſonderbaren Titel überſchrieben: {„Hätte Ollivier die Tochter Meyerbeers geheiratet, wäre da der Krieg ausgebrochen?“} Die Sache verhielt ſich ſo. Unter unſeren pariſer Bekannten befand ſich auch der Litterat Alexander Weill, und dieſer war es, der obige Frage aufwarf, indem er uns Nachſtehendes erzählte: „Meyerbeer ſuchte einen talentvollen Mann für ſeine zweite Tochter und ſeine Wahl fiel auf meinen Freund Emile Ollivier. Ollivier iſt Witwer. Er hat in erſter Ehe die Tochter Liszts geheiratet, die der berühmte Pianiſt von der Gräfin d’Agoult (Daniel Stern) hatte, mit der er lange Zeit im ehelichen Verhältnis lebte. Dieſe Ehe war ſehr glücklich und Ollivier hatte den Ruf eines tugendhaften Ehemannes. Er beſaß kein Vermögen, aber als Redner und Staatsmann war er ſchon berühmt. Meyerbeer wollte ihn perſönlich kennen lernen und zu dieſem Zwecke gab ich — es war im April des Jahres 1864 — einen großen Ball, dem die meiſten Celebritäten der Kunſt und der Wiſſenſchaft beiwohnten und wo natürlich Ollivier, der von mir von der Abſicht Meyerbeers unterrichtet war, die erſte Rolle ſpielte. Er gefiel Meyerbeer. Die Sache war nicht leicht in Gang zu bringen. Meyerbeer kannte die unabhängige Originalität ſeiner zweiten Tochter, die nie einen anderen Gatten als den ihrer freien Wahl ehelichen würde. Es wurde verabredet, daß Ollivier nach Baden komme, um dort dem Mädchen zufällig vorgeſtellt zu werden, als Meyerbeer plötzlich vierzehn Tage nach dieſem Ball ſtarb. Ollivier war es — erinnern Sie ſich? — der ihm im Nordbahnhof eine Trauer- und Lobrede hielt. Nun behaupte ich, ja, ich bin deſſen ſicher: hätte Ollivier die Tochter Meyerbeers geheiratet, der Krieg zwiſchen Frankreich und Deutſchland wäre nicht ausgebrochen! Hier meine plauſiblen Beweiſe. Vorerſt hätte Meyerbeer, der das Kaiſertum bis zur Verachtung haßte, nie ſeinem Tochtermann erlaubt, Miniſter des Kaiſers zu werden. Man weiß, daß, wenn Ollivier der Kammer gedroht hätte, eher ſeine Demiſſion zu geben, als den Krieg zu erklären, dieſelbe Kammer nie den Krieg erklärt hätte. Der gegenwärtige Krieg iſt das Werk dreier intimer Stuben- und Geheimminiſter der Kaiſerin, mit Namen: Jerome David, Paul de Caſſagnac und Duc de Grammont. Die Kaiſerin, von dem Papſte aufgereizt, deſſen religiöſe Puppe ſie iſt, wollte dieſen Krieg, an deſſen Sieg ſie nicht zweifelte, um die Nachfolge ihres Sohnes zu ſichern. Sie ſagte: [„C’est ma guerre à moi et à mon fils!“] und die drei obengenannten päpſtlichen „Anabaptiſten“ waren ihre geheimen Werkzeuge, um den Kaiſer, der keinen Krieg wollte, und die Kammer durch falſche und verhehlte Depeſchen aus Deutſchland zum Krieg zu zwingen!“ „Das nennt man Diplomatie!“ unterbrach ich ſchaudernd. „Hören Sie weiter,“ fuhr Alexander Weill fort. „Den 15. Juli ſagte mir Ollivier, den ich auf der [place de la concorde] antraf: ‚Der Friede iſt geſichert — eher gäbe ich meine Demiſſion.‘ Woher nun kam es, daß derſelbe Mann einige Tage ſpäter, ſtatt ſeine Demiſſion zu geben, den Krieg ſelbſt [d’un cœur léger], wie er in der Kammer ſagte, erklärte?“ „Leichten Herzens!“ rief ich mit neuem Schauer. „Hier liegt ein Geheimnis, das ich aufklären kann. Der Kaiſer, für den das Geld nie einen anderen Wert hat, als um Liebe und Freundſchaft ſich zu erkaufen — er glaubt, wie Jugurtha in Rom, ganz Frankreich wäre feil, die Männer wie die Weiber — hat die Gewohnheit, wenn er einen Miniſter annimmt, der nicht reich iſt, ihn durch ein Geſchenk von einer Million Franken näher an ſich zu feſſeln. Daru allein, der mir dieſes Geheimnis entdeckte, lehnte dieſes Geſchenk ab: [timeo Danaos et dona ferentes]. Und er allein, nicht gebunden, gab ſeine Demiſſion. So lange der Kaiſer zauderte, erklärte ſich Ollivier, mit der goldenen Kette an ſeinen Meiſter gefeſſelt, neutral — eher für den Frieden. Sobald aber der Kaiſer von ſeiner Frau und ihren drei ultramontanen Anabaptiſten überrumpelt ward, erklärte ſich auch Ollivier für den Krieg und entſeelte ſich lebendig mit ‚leichtem Herzen‘ und — voller Taſche.“ (Briefe hervorragender Männer an Alexander Weill. (Zürich, Verlagsmagazin.)) 81. Sechſtes Buch. 1870/71. // 4. Abſchnitt „O Monſieur, o Madame — welches Glück, welche große Nachricht!“ Mit dieſen Worte ſtürzten eines Tages Friedrichs Kammerdiener und hinter ihm der Koch in unſer Zimmer. Es war am Tage von Wörth. „Was gibt’s?“ „An der Börſe iſt eine Depeſche angeſchlagen: wir haben geſiegt. Die Armee des Königs von Preußen iſt ſo gut wie vernichtet … Die Stadt ſchmückt ſich mit dreifarbigen Fahnen — es ſoll heute Abend illuminiert werden.“ Im Laufe des Nachmittags ſtellt ſich jedoch heraus, daß die Nachricht eine falſche — ein Börſenmanöver — war. Ollivier hält von ſeinem Balkon aus eine Anſprache an die Menge. Nun — deſto beſſer. Wenigſtens würde man nicht beleuchten müſſen. Dieſe Freudenkundgebungen anläßlich „vernichteter Armeen“ — d. h. anläßlich zahlloſer zerriſſener Leben und gebrochener Herzen — das hätte in mir auch wieder den Flaubertſchen Wunſch erweckt: „Ach wär’ ich doch bei den Beduinen!“ Am 7. Auguſt Unglücksbotſchaft. Der Kaiſer eilt aus St. Cloud nach dem Kriegsſchauplatz. Der Feind iſt ins Land gedrungen. Die Blätter können ihrer Entrüſtung über die „Invaſion“ nicht heftig genug Ausdruck geben. Der Ruf [„à Berlin!“] — däuchte mir — bedeutete doch auch beabſichtigten Einfall — doch {daran} war nichts entrüſtendes; — daß aber die öſtlichen Barbaren in das ſchöne, gottgeliebte Frankreich einzufallen ſich unterſtanden: das war ſchier Wildheit, Frevel — dem mußte raſch geſteuert werden. Der interimiſtiſche Kriegsminiſter erläßt ein Dekret, daß alle rüſtigen Bürger von dreißig bis vierzig Jahren, welche der Nationalgarde noch nicht angehören, derſelben ſofort einverleibt werden müſſen. Es bildet ſich ein Miniſterium der Landesverteidigung. Die bewilligte Kriegsanleihe von fünfhundert wird auf tauſend Millionen erhöht. Ganz herzerfriſchend iſt es, wie opferfähig die Leute über das Geld und das Leben der Anderen ſtets verfügen. Eine kleine finanzielle Unannehmlichkeit macht ſich dem Publikum zwar ſogleich fühlbar: wenn man Banknoten wechſeln will, muß man dem Wechsler zehn Prozent zahlen — es iſt nicht ſo viel Gold vorhanden, als die Bank von Frankreich Noten ausgeben darf. Und jetzt, deutſcherſeits Sieg auf Sieg … Die Phyſiognomie der Stadt Paris und ihrer Einwohner verändert ſich. Statt der ſtolzen, prahleriſchen kampfesfrohen Laune tritt Beſtürzung und grimmiger Zorn ein. Immer mehr verbreitet ſich das Gefühl, daß eine Vandalenhorde über das Land niedergegangen — etwas Schreckhaftes, Unerhörtes, wie etwa eine Heuſchreckenwolke oder ſonſt eine Naturplage. Daß ſie mit ihrer Kriegserklärung dieſe Plage ſelber heraufbeſchworen, daß ſie dieſelbe für unerläßlich hielten, — damit ja nicht etwa ein Hohenzollern in ferner Zukunft auf die Idee kommen könne, um den ſpaniſchen Thron zu werben — das hatten ſie vergeſſen. Über den Feind kommen entſetzliche Märchen in Umlauf. „Die Ulanen, die Ulanen“: das hat einen phantaſtiſch-dämoniſchen Klang, beinahe als hieße es „das wilde Heer“. In der Einbildung der Leute nimmt dieſe Truppengattung ein teufliſches Weſen an. Wo immer von der deutſchen Kavallerie ein kühner Streich ausgeführt wird, wird er den Ulanen zugeſchrieben — eine Art Halbmenſchen, ohne Sold, darauf angewieſen, von Beute zu leben. Neben den Schauergerüchten entſtehen aber auch wieder Triumphgerüchte. Das Erfolgvorlügen gehört mit zu den Chauviniſtenpflichten. Natürlich: der Mut muß aufrecht erhalten werden. Das Gebot der Wahrhaftigkeit — wie ſo viele andere Sittengebote — verliert ſeine Gültigkeit im Kriege. Aus der Zeitung [Le Volontaire] diktierte mir Friedrich folgende Stelle für meine roten Hefte: „Bis zum 16. Auguſt haben die Deutſchen ſchon 144 000 Mann verloren, der Reſt iſt dem Verhungern nahe. Aus Deutſchland ziehen die letzten Reſerven herbei, [„la landwehr et la landsturm“]; alte Männer von 60 Jahren mit Feuerſteingewehren, an der rechten Seite eine ungeheure Tabaksdoſe, an der linken eine noch größere Schnapsflaſche, im Munde eine lange thönene Pfeife; keuchend unter der Laſt des Torniſters, {auf} welchem die Kaffeemühle und in welchem der Fliederthee {nicht} fehlen darf, ziehen ſie huſtend und ſich ſchneuzend vom rechten an das linke Rheinufer, Diejenigen verfluchend, welche ſie den Umarmungen ihrer Enkel entriſſen haben, um ſie dem ſicheren Tode entgegen zu führen.“ — „Was die deutſcherſeits gebrachten Siegesnachrichten anbelangt — ſo ſind dies die bekannten preußiſchen Lügen.“ Am 20. Auguſt verkündet Graf Palikao in der Kammer, daß drei gegen Bazaine vereinte Armeekorps in die Steinbrüche von Jaumont geworfen wurden. (Sehr gut! Sehr gut!) Zwar weiß niemand, was das für Steinbrüche ſeien, und wo ſelbe gelegen ſind; und wie ſich die drei Armeekorps darin verhalten, das macht ſich auch niemand klar; aber von Mund zu Mund geht die frohe Botſchaft: „Sie wiſſen ſchon? … In den Steinbrüchen …“ — „Ja, ja, von Jaumont.“ Keiner äußert einen Zweifel oder eine Frage; es iſt, als ob Alle aus der Gegend von Jaumont gebürtig wären und die armeeverſchlingenden Steinbrüche ſo gut kennten, wie ihre Taſche. Um dieſe Zeit tauchte auch das Gerücht auf, der König von Preußen ſei aus Verzweiflung über den Zuſtand ſeines Heeres {verrückt} geworden. Man hört nur noch Ungeheuerlichkeiten. Die Aufregung, das Fieber der Bevölkerung nimmt ſtündlich zu. Der Krieg [„là-bas“] hat aufgehört, als Waffenſpaziergang betrachtet zu werden; man fühlt, daß die losgelaſſenen Gewalten jetzt Furchtbares über die Welt bringen — es iſt nur noch von vernichteten Heeren, von wahnſinnigen Führern, von teufliſchen Horden, von Kampf bis aufs Meſſer die Rede. Ich höre es donnern und grollen — was ſich da erhebt, iſt der Sturm der Wut und der Verzweiflung. Der Kampf um Bazeilles bei Sedan wird geſchildert, als wären dort von den Bayern die unmenſchlichſten Greuel verübt worden. „Glaubſt Du das,“ fragte ich Friedrich, „glaubſt Du das von den gutmütigen Bayern?“ „Es mag ja ſein. Ob Bayer oder Turko, ob Deutſcher, Franzoſe oder Indianer: der ſich ſeines Lebens wehrende und zum töten ausholende Krieger hat allemal aufgehört „menſchlich zu“ ſein. Was in ihm geweckt und gewaltſam aufgeſtachelt worden, iſt ja eben die Beſtie. 82. Sechſtes Buch. 1870/71. // 5. Abſchnitt Metz gefallen … So lautete an jenem Tage die zwar noch verfrühte aber einige Zeit ſpäter doch zur Wahrheit gewordene Nachricht, die in der Stadt wie ein einziger großer Schreckensſchrei widerhallte. Mir iſt die Nachricht von der Einnahme einer Feſtung eher eine Erleichterung bringende Botſchaft; denn ich denke: das gibt doch eine Entſcheidung. Und darnach nur — daß die blutige Partie {aus} ſei — nur danach geht mein Sehnen. Aber nein: nichts iſt noch entſchieden — es ſind ja noch mehr Feſtungen da. Nach einer Niederlage heißt es nur, ſich aufraffen und doppelt kräftig entgegenhauen — das Glück der Waffen kann ja wechſeln. Ja wohl, bald dort, bald hier kann der Vorteil ſein; wäre dabei nur nicht auf beiden Seiten der ſichere Jammer, der ſichere Tod. Trochu fühlt ſich veranlaßt, den Mut der Bevölkerung durch eine neue Proklamation zu heben und beruft ſich darin auf einen alten Wahlſpruch der Bretagne: „Mit Gottes Hilfe für das Vaterland.“ Das klingt mir nicht eben neu — ich muß ähnlichem ſchon in anderen Proklamationen begegnet ſein. Es verfehlt eben ſeine Wirkung nicht: die Leute ſind begeiſtert. Jetzt heißt es, Paris in eine Feſtung umwandeln. Paris Feſtung? Ich kann den Gedanken nicht faſſen. Die Stadt, welche Victor Hugo [„la villelumière“] genannt, welche der Anziehungspunkt der ganzen civiliſierten, reichen, Kunſt- und Lebensgenuß ſuchenden Welt iſt, der Ausgangspunkt des Glanzes, der Mode, des Geiſtes — dieſe Stadt will ſich nun „befeſtigen“, das heißt ſich zum Zielpunkt feindlicher Angriffe, zur Scheibe der Beſchießung machen, ſich allem Verkehr abſchließen und ſich der Gefahr ausſetzen in Brand geſchoſſen oder ausgehungert zu werden? Und das thun dieſe Leute [„de gaité de cœur“], mit Opfermut, mit Freudeneifer, als gelte es die Vollbringung des nützlichſten, edelſten Werkes? Mit fieberhafter Haſt wird an die Arbeit geſchritten. Es müſſen Wälle für Aufſtellung von Mannſchaften gebaut werden und Schießſcharten eingeſchnitten; ferner vor den Thoren Gräben ausgehoben, Zugbrücken angelegt, Deckwerke neu errichtet, Kanäle überbrückt und mit Bruſtwehren angeſchüttet, Pulvermagazine gebaut, und auf der Seine eine Flotille von Kanonenbooten aufgeſtellt werden. Welches Fieber von Thätigkeit, welcher Aufwand von Anſtrengung und Fleiß; welche rieſige Koſten von Arbeit und Geld! Wie das Alles, für Werke der Gemeinnützigkeit verwendet, erfreulich und erhebend wäre — aber für den Zweck der Schadenzufügung, der Vernichtung — welche nicht einmal Selbſtzweck, ſondern ſtrategiſcher Schachzug iſt — es iſt unfaßlich! Um einer vorausſichtlich langen Belagerung widerſtehen zu können, verproviantiert ſich die Stadt. Bis jetzt — allen Erfahrungen gemäß — hat es noch keine uneinnehmbaren Feſtungen gegeben; die Kapitulation iſt ſtets nur eine Frage der Zeit. Und immer wieder werden Feſtungen errichtet, immer wieder werden ſie mit Vorräten verſehen, trotz der mathematiſchen Unmöglichkeit, ſich auf die {Dauer} vor Aushungerung zu ſchützen. Die getroffenen Maßregeln ſind großartig. Es werden Mühlen eingerichtet und Viehparks angelegt, aber ſchließlich muß der Augenblick {doch} kommen, wo das Korn ausgeht und das Fleiſch verzehrt iſt. Aber ſo weit denkt man nicht; bis dahin iſt der Feind über die Grenze zurückgedrängt oder im Land vernichtet. Der vaterländiſchen Armee ſchließt ſich ja das ganze Volk an. Alles meldet ſich zum Dienſt oder wird der zu herangezogen; ſo werden zur Beſatzung von Paris ſämtliche Feuerwehrleute des Landes berufen. In der Provinz mag es unterdeſſen brennen — was liegt daran? So kleine Unglücksfälle verſchwinden, wo es ſich um ein National-[„desastre“] handelt. Am 17. Auguſt ſind ſchon 60 000 Pompiers in die Hauptſtadt eingerückt. Auch die Matroſen werden einberufen, und täglich bilden ſich neue Truppenkörper unter verſchiedenen Namen: [volontaires, éclaireurs, franctireurs] … 83. Sechſtes Buch. 1870/71. // 6. Abſchnitt In immer beſchleunigterer Bewegung folgen einander nun die Ereigniſſe. Aber nur noch kriegeriſche Ereigniſſe. Alles Andere iſt aufgehoben. Rings um uns wird nichts Anderes mehr gedacht als [„mort aux Prussiens“]. Ein Sturm des wilden Haſſes ſammelt ſich an; noch iſt er nicht losgebrochen, aber man hört ihn rauſchen. In allen offiziellen Kundgebungen, in allem Gaſſenlärm, in allen öffentlichen Vorkehrungen — immer nur das eine Ziel: [„mort aux Prussiens“]. All’ dieſe Truppen, regelmäßige und unregelmäßige, dieſe Munitionen, dieſe nach den Befeſtigungen drängenden Arbeiter mit ihren Werkzeugen und Karren, dieſe Waffentransporte: alles was man ſieht und was man hört, das deutet in Formen und in Tönen, das blitzt und poltert, das funkelt und toſt [„mort aux Prussiens!“] — Oder mit anderen Worten — dann klingt es freilich wie ein Ruf der Liebe und durchglüht auch weiche Herzen — [„pour la patrie!“] — aber es iſt dennoch dasſelbe. Ich fragte Friedrich: „Du biſt doch preußiſcher Abſtammung — wie berühren Dich dieſe von allen Seiten laut werdenden feindlichen Geſinnungen?“ „Dieſelbe Frage haſt Du ſchon im Jahre 1866 an mich gerichtet — und damals antwortete ich Dir — wie auch heute — daß ich unter dieſen Haſſesäußerungen nicht als Landesangehöriger, ſondern als Menſch leide. Faſſe ich die Geſinnungen der Leute hier vom nationalen Standpunkt auf, ſo kann ich ihnen nur recht geben; ſie nennen es [la haine sacrèe de l’ennemi] — und dieſe Regung bildet einen wichtigen Beſtandteil des kriegeriſchen Patriotismus. In dieſem einen Gedanken gehen ſie nun auf: ihr Land von dem feindlichen Einfall wieder zu befreien. Daß {ſie} die Einfallenden durch ihre Kriegserklärung gerufen — das vergeſſen ſie. Sie haben es ja auch nicht ſelber gethan, ſondern ihre Regierung, welcher ſie aufs Wort geglaubt, daß ſie es thun mußte, und jetzt verlieren ſie keine Zeit mit Vorwürfen, mit Erwägungen, {wer} das Unglück heraufbeſchworen; es iſt nun einmal da und alle Kraft, alle Begeiſterung wird darauf verwendet, es wieder abzuwenden, oder mit ſorgloſem Opfermut vereint zu Grunde zu gehen. Glaube mir, es liegt viel edle Liebesfähigkeit in uns Menſchenkindern, ſchade nur, daß wir ſie in den alten Feindſchaftsgeleiſen vergeuden … Und drüben, die Gehaßten, die einfallenden, die „rothaarigen, öſtlichen Barbaren“ — was thun die? Sie ſind herausgefordert worden und ſie dringen in das Land derjenigen ein, welche das ihre zu überfallen drohten: [„à Berlin, à Berlin!“] Erinnerſt Du Dich noch, wie dieſer Ruf die ganze Stadt durchſchallte, ſogar von den Dächern der Omnibusſe herab?“ „Nun marſchieren jene „nach Paris!“ Warum rechnen ihnen das die [„à Berlin“]-Rufer als Verbrechen an?“ „Weil es keine Logik und keine Gerechtigkeit geben kann in jenem Nationalgefühl, deſſen oberſter Grundſatz der iſt: Wir ſind wir — das heißt die erſten, die anderen ſind Barbaren. Und jener Vormarſch der Deutſchen von Sieg zu Sieg flößt mir Bewunderung ein. Ich bin doch auch Soldat geweſen und weiß, was an dem Begriffe Sieg für ein Zauber haftet, welcher Stolz, welcher Jubel da hineingelegt wird. Iſt es doch das Ziel, der Lohn für alle gebrachten Opfer, für den Verzicht auf Ruhe und Glück, für das eingeſetzte {Leben}.“ „Warum bewundern aber die überwundenen Gegner, die ja doch auch Soldaten ſind und wiſſen, welcher Ruhm den Sieg begleitet, warum bewundern die ihre Überwinder nicht? Warum heißt es niemals in einem Schlachtbericht der verlierenden Partei: Der Feind hat einen {glorreichen} Sieg errungen!?“ „Weil — ich wiederhole es — der Kriegsgeiſt und der patriotiſche Egoismus {die Verneinung aller Gerechtigkeit iſt}.“ So kam es — ich ſehe es aus allen unſeren in den roten Heften eingetragenen Geſprächen aus jenen Tagen —, daß wir an gar nichts anderes dachten, denken konnten, als an den Verlauf des gegenwärtigen Völkerduells. Unſer Glück, unſer armes Glück — wir {hatten} es, aber wir durften es nicht genießen. Ja, alles beſaßen wir, was uns einen lieblichen Himmel auf Erden ſchaffen konnte: grenzenloſe Liebe, Reichtum, Rang, den herrlich ſich entwickelnden Knaben Rudolf, unſer Herzenspüppchen Sylvia, Unabhängigkeit, reges Intereſſe an der Welt des Geiſtes … aber das alles war wie hinter einen Vorhang geſtellt. Wie durften, wie konnten wir an unſeren Freuden uns laben, während um uns alles litt und zitterte, ſchrie und tobte? Das iſt, als wollte man es ſich recht gütlich thun an Bord eines ſturmgepeitſchten Schiffes. „Ein theatraliſcher Menſch, dieſer Trochu,“ berichtete mir Friedrich eines Tages — es war am 25. Auguſt — „Was wurde heute für ein Effekt-Coup ausgeführt? Darauf verfällſt Du nimmer.“ „Die Frauen zum Militärdienſt einberufen?“ riet ich. „Um Frauen handelt es ſich wohl, aber ſie ſind nicht einberufen — im Gegenteil.“ „Alſo die Marketenderinnen abgeſchafft — oder die barmherzigen Schweſtern?“ „Noch immer nicht erraten. Abſchaffung iſt zwar dabei — und Marketenderinnen, inſofern ſie den Becher der Luſt reichen, und barmherzig — in gewiſſem Sinn — ſind die Abgeſchafften auch; kurz — ohne weitere Charade: die Demimonde wird ausgewieſen.“ „Und das hat der Kriegsminiſter verfügt? Welcher Zuſammenhang?“ — „Ich finde auch keinen, aber die Leute ſind über die Maßregel entzückt. Einmal ſind ſie immer froh, wenn {etwas geſchieht}: von jeder neuen Verordnung erwarten ſie eine Wendung, wie manche Kranke, die jedes angewandte Mittel als mögliches Heilmittel begrüßen. Wenn das Laſter aus der Stadt getrieben iſt — meinen die Frommen — wer weiß, ob dann der offenbar erzürnte Himmel nicht wieder ſeine Huld über die Bewohner ergießt? Und jetzt, da man ſich auf die ernſte, entbehrungsvolle Zeit der Belagerung vorbereitet, was ſollen da die tollen, verſchwenderiſchen Hetären? So erſcheint den meiſten — die Betroffenen ausgenommen — die Maßregel als eine würdevolle, moraliſche und nebſtbei noch eine patriotiſche, da eine große Anzahl dieſer Frauen Fremde ſind. Engländerinnen, Südländerinnen, ja ſogar Deutſche — vielleicht Spioninnen darunter! „Nein, nein, jetzt hat die Stadt nur Platz für ihre eigenen Kinder und nur für ihre tugendhaften Kinder!“ Am 28. Auguſt kam es noch ſchlimmer. Wieder eine Ausweiſung: binnen drei Tagen hatten {alle Deutſche} Paris zu verlaſſen. Das Gift, das tötliche, langwirkende, welches in {dieſer} Maßregel lag, davon hatten die Rezeptſchreiber wohl keine Ahnung: damit war der Deutſchenhaß geweckt. Wie lange dieſes Unglück noch über den Krieg hinaus furchtbare Früchte tragen ſollte — das weiß ich heute. Von da ab waren Frankreich und Deutſchland — dieſe zwei großen, blühenden, herrlichen Länder nicht mehr zwei Nationen, deren Heere einen ritterlichen Zweikampf ausfochten: in das {ganze} Volk drang der Haß für das ganze gegneriſche Volk. Die Feindſchaft ward zu einer Inſtitution erhoben, die ſich nicht auf die Dauer des Krieges beſchränkt, ſondern als „Erbfeindſchaft“ ihren Beſtand unter kommenden Geſchlechtern ſichert. Ausgewieſen — binnen drei Tagen die Stadt verlaſſen müſſen —: ich hatte Gelegenheit zu ſehen, wie hart, wie unmenſchlich hart dieſer Befehl manche brave, harmloſe Familie traf. Unter den Geſchäftsleuten, welche uns zu der Ausſtattung unſeres Heims Waren lieferten, befanden ſich mehrere Deutſche: ein Wagenfabrikant, ein Tapezierer und ein Kunſttiſchler. Seit zehn bis zwanzig Jahren in Paris niedergelaſſen, wo ſie einen häuslichen Herd gegründet, wo ſie ſich durch Heirat mit Pariſern verſchwägert hatten, wo ſie alle ihre geſchäftlichen Verbindungen beſaßen — und jetzt mußten ſie fort, binnen drei Tagen fort, ihr Haus verſchließen; alles verlaſſen, was ihnen lieb und gewohnt war; ihr Vermögen, ihre Kundſchaft, ihren Erwerb einbüßen — — Beſtürzt kamen die armen Wichte zu uns gerannt und teilten uns das Unglück mit, das ſie betroffen; auch die Arbeit, die ſie eben für uns zu liefern im Begriffe waren, mußte eingeſtellt, die Werkſtätte geſchloſſen werden. Händeringend und mit Thränen in den Augen klagten ſie uns ihr Leid: „Ich habe einen kranken alten Vater,“ ſagte der Eine, „und meine Frau ſieht täglich ihrer Niederkunft entgegen und in drei Tagen müſſen wir fort? — „Ich habe keinen Sou im Hauſe,“ jammerte der Andere, „alle meine Kunden, die mir Geld ſchulden, werden nicht ſo ſchnell ihre Verpflichtungen einhalten, und ich ſelbſt kann nun meine Arbeiter, welche Franzoſen ſind, nicht auszahlen — noch acht Tage und ich hätte eine große Beſtellung erledigt, die mich zum wohlhabenden Mann gemacht hätte — und jetzt muß ich alles im Stiche laſſen …“ Und warum, {warum} war Alles das über die Armen hereingebrochen? Weil ſie einer Nation angehörten, deren Heer erfolgreich ſeine Pflicht that, oder weil — um in die Urſachenkette weiter zurückzugreifen — weil ein Hohenzollern vielleicht in Zukunft einen angetragenen ſpaniſchen Thron anzunehmen ſich einfallen laſſen könnte … Nein, auch dieſes „weil“ iſt nicht bei der letzten Urſache angelangt, dasſelbe deckt nur den Vorwand, nicht die Urſache zu jenem Kriege. — Sedan! „Kaiſer Napoleon hat ſeinen Degen übergeben.“ Die Nachricht überwältigte uns. Da war denn richtig eine große, geſchichtliche Kataſtrophe eingetreten. Die franzöſiſche Armee geſchlagen — ihr Führer ſchwach und matt, ſo war die Partie denn aus — von Deutſchland glänzend gewonnen. „Aus, aus!“ jubelte ich; „gäbe es ſchon Leute, die das Recht hätten, ſich Weltbürger zu nennen, die könnten heute ihre Fenſter beleuchten; gäbe es ſchon Tempel der Humanität, aus {dieſem} Anlaß müßten [Tedeums] geſungen werden — die Schlächterei iſt aus!“ „Frohlocke nicht zu früh, mein Schatz,“ mahnte Friedrich. „Dieſer Krieg hat ſchon lange nicht mehr den Charakter einer auf dem Brette der Schlachtfelder gekämpften Partie — die ganze Nation kämpft mit. Für {eine} vernichtete Armee werden zehn neue aus dem Boden geſtampft.“ „Wäre denn das gerecht? Es ſind doch nur deutſche Soldaten ins Land gedrungen, nicht das deutſche Volk — alſo kann man ihnen nur wieder franzöſiſche Soldaten gegenüberſtellen.“ „Daß Du immer wieder an Gerechtigkeit und Vernunft appellierſt — Du Unvernünftige — einem Raſenden gegenüber. Frankreich raſt vor Schmerz und Zorn, und vom Standpunkt der Vaterlandsliebe iſt ſein Schmerz heilig, ſein Zorn gerechtfertigt. Was ſie nun auch verzweifeltes thun — perſönliche Ichſucht iſt nicht dabei, ſondern höchſter Opfermut. Wenn nur die Zeit ſchon da wäre, wo die Tugendkraft, die dem Menſchenverbande innewohnt, von der Vernichtungsarbeit ab- und der Beglückungsarbeit zugewendet würde! Aber dieſer unſelige Krieg hat uns von dieſem Ziele wieder ein gutes Stück zurückgeſchleudert.“ „Nein, nein — ich hoffe, der Krieg iſt jetzt zu Ende.“ „Wenn auch (was ich übrigens bezweifle), es ſind die Saaten zu künftigen Kriegen geſtreut — und wäre es nur die Haſſesſaat, welche die Ausweiſung der Deutſchen enthält. So etwas wirkt weit über das lebende Geſchlecht hinaus.“ Der 4. September. Wieder ein Gewaltakt, ein Leidenſchaftſausbruch — und zugleich wieder ein Heilmittel zur Rettung des Vaterlandes: der Kaiſer wird abgeſetzt. Frankreich erklärt ſich als Republik. Was Napoleon Ⅲ. und ſeine Armee gethan: es gilt nicht. Fehltritte, Verrat, Feigheit — das Alles haben einige Perſonen — der Kaiſer und ſeine Generäle — verbrochen; das hat nicht Frankreich gethan, dafür iſt es nicht verantwortlich. Indem der Thron geſtürzt ward, hat man die Blätter, worauf Metz und Sedan verzeichnet ſtehen, einfach aus dem Buche von Frankreichs Geſchichte herausgeriſſen. Jetzt erſt wird das {Land} ſelber Krieg führen, wenn anders Deutſchland es wagt, die verruchte Invaſion fortzuſetzen … „Wie aber, wenn Napoleon geſiegt hätte?“ fragte ich, als mir Friedrich obige Mitteilungen gemacht. „Dann hätten ſie ſeinen Sieg und ſeinen Ruhm als des Landes Sieg und Ruhm aufgefaßt.“ „Iſt das gerecht?“ „Kannſt Du Dir dieſe Frage denn nicht abgewöhnen?“ Meine Hoffnung, daß die Kataſtrophe von Sedan den Feldzug zu ſeinem Ende gebracht, mußte ich bald ſchwinden ſehen. Alles um uns geberdete ſich kriegeriſcher als je. Die Luft war mit wildem Groll und heißer Rachgier geladen. Groll gegen den Feind und beinahe ebenſo gegen die geſtürzte Dynaſtie. Die Schmähreden, die Pamphlete, die jetzt auf Kaiſer und Kaiſerin und auf die unglücklichen Feldherren regneten, die Verdächtigungen und Verleumdungen, der Schimpf, der Spott —: es war ekelerregend. Damit glaubte die rohe Menge die ganze Niederlage vom Lande auf ein paar Menſchen abzuwälzen; und nun dieſe Menſchen zu Boden lagen, bewarf man ſie mit Kot und Steinen — und jetzt erſt würde das Land es zeigen, daß es unüberwindlich ſei. Die Vorbereitungen zur Verſchanzung von Paris werden eifrig fortgeſetzt. Die Gebäude in dem Gefechtsbereich der Haupt-Enceinte werden geräumt oder gar eingeriſſen. Die Umgebung wird zur Einöde. Truppen von Menſchen ziehen von draußen mit ihrem Haushalt in die Stadt. O dieſen traurigen Züge von Wagen und Packpferden und beladenen Menſchen, die da die Trümmer ihrer aufgeſtörten Herde durch die Straßen wälzen! Das hatte ich ſchon einmal in Böhmen geſehen, wo das arme Landvolk vor dem ſiegenden Feinde floh, und nun mußte ich in der fröhlichen, glänzenden Weltſtadt das gleiche Jammerbild erſchauen — es waren dieſelben ängſtlichen, trüben Mienen, dieſelbe Mühſeligkeit und Haſt, dasſelbe Weh. Endlich, Gottlob, wieder einmal eine gute Nachricht: Durch engliſche Vermittelung angeregt, wird in Ferrières eine Zuſammenkunft zwiſchen Jules Favre und Bismarck veranſtaltet. Da würde man doch zu einer Einigung, zu einem Friedensſchluß gelangen! Im Gegenteil! Die Kluft wird jetzt erſt recht offenbar. Schon ſeit einiger Zeit wird von den deutſchen Zeitungen die Beſitznahme von Elſaß-Lothringen befürwortet. Man will das ehemals deutſche Land ſich wieder einverleiben. Das hiſtoriſche Argument für den Anſpruch auf dieſe Provinzen zeigt ſich nur teilweiſe haltbar, daneben wird das {ſtrategiſche} Argument vorgebracht: „als Bollwerk bei vorausſichtlichen, zukünftigen Kriegen unentbehrlich.“ Und bekanntlich ſind ja die ſtrategiſchen Gründe die hochwichtigſten, die unumſtößlichſten — daneben darf ſich ein ethiſcher Grund erſt in zweiter Linie geltend machen. — Andererſeits: die Kriegspartie war von Frankreich verloren worden; war es nicht billig, daß dem Gewinner ein Preis zufiel? Hätten im Falle {ihres} Erfolges die Franzoſen nicht die Rheinprovinzen ſich aneignen wollen? Wenn der Ausgang eines Krieges nicht für den einen oder den anderen Teil Gebietserweiterung zur Folge haben ſoll, wozu wird dann überhaupt Krieg geführt? Unterdeſſen läßt das ſiegreiche Heer im Vormarſche ſich nicht abhalten: die Deutſchen ſind ſchon vor den Thoren von Paris. Die Abtretung Elſaß-Lothringens wird offiziell verlangt. Dagegen erhebt ſich der bekannte Ausſpruch: „Keinen Zoll unſeres Territoriums — keinen Stein unſerer Feſtungen“ — [(pas un pouce — pas une pierre)]. Ja, ja — tauſend Leben — nur keinen Zoll Erde. Das iſt der Grundgedanke des patriotiſchen Geiſtes. „Man will uns demütigen,“ riefen die franzöſiſchen Patrioten, „eher wird ſich das erbitterte Paris unter ſeinen Trümmern begraben.“ Fort, fort!! entſcheiden wir jetzt. Wozu ohne Notwendigkeit in einer belagerten fremden Stadt verbleiben, wozu unter Leuten leben, die von keinen anderen als Haß- und Rachegedanken erfüllt ſind, die uns mit ſcheelen Blicken und oft mit geballten Fäuſten betrachten, wenn ſie uns deutſch reden hören? Freilich, ohne Schwierigkeiten konnten wir jetzt nicht mehr aus Paris, aus Frankreich hinaus; man hatte überall Gefechtsgebiete zu paſſieren, der Eiſenbahnverkehr war für Privatreiſende häufig verſchloſſen; unſeren Neubau im Stiche laſſen, war auch nicht angenehm, aber gleichviel: unſeres Bleibens war nicht mehr. — Eigentlich waren wir ſchon viel zu lange dageblieben; die Erregungen die ich in letzter Zeit durchgemacht, hatten mich ſo ſtark erſchüttert, daß meine Nerven darunter litten. Ich wurde häufig von Schüttelfroſt und ein paarmal auch von Weinkrämpfen befallen. Schon waren unſere Koffer verpackt und Alles zur Abfahrt bereit, als ich wieder einen Anfall bekam, diesmal ſo heftig, daß ich ins Bett gebracht werden mußte. Der herbeigeholte Arzt erklärte, daß ein Nervenfieber oder gar eine Gehirnentzündung im Anzug ſei und man vorläufig nicht daran denken dürfe, mich den Strapazen einer Reiſe auszuſetzen. — Ich lag lange, lange Wochen darnieder. Nur eine ſehr traumhafte Erinnerung iſt mir von dieſer ganzen Zeit geblieben. Und ſonderbar: eine ſüße Erinnerung. Ich war doch ſchwer krank und Trauriges und Schauriges trug in dem Orte meines Aufenthaltes — eine belagerte Stadt — unaufhörlich ſich zu, und dennoch, wenn ich daran zurückdenke: es war eine eigentümlich freudenvolle Zeit. Freuden, ja, ſo recht intenſive Freuden, wie Kinder ſie zu empfinden pflegen. Die Gehirnkrankheit, die ich durchgemacht, die faſt immerwährende Abweſenheit oder doch nur halbe Anweſenheit des Bewußtſeins machte, daß alles Denken und Urteilen, alles Erwägen und Überlegen aus meinem Kopf geſchwunden war und nur ein vager Daſeinsgenuß zurückblieb, wie ſolcher — wie geſagt — von Kindern, namentlich von zärtlich gewarteten Kindern, empfunden wird … An zärtlicher Wartung fehlte es mir nicht. Der Gatte, beſorgt und liebend, unermüdlich, war Tag und Nacht um mich. Auch die Kinder brachte er häufig an mein Lager. Was mein Rudolf mir alles vorerzählte! Ich verſtand es meiſt nicht, aber ſeine liebe Stimme erklang mir wie Muſik; und das Zwitſchern unſerer kleinen Sylvia, unſerer Herzenspuppe, wie ſüß beluſtigte mich erſt das. Da gab es hundert kleine Scherze und Einverſtändniſſe zwiſchen Friedrich und mir über das Gebahren unſerer Tochter … Worin dieſe Scherze beſtanden, das weiß ich auch nicht mehr; aber ich weiß, daß ich lachte und mich freute — ganz unbändig. Jeder der gewohnten Späße ſchien mir der Gipfel der Witzigkeit und je öfter wiederholt, deſto witziger und köſtlicher. Und mit welcher Wonne ich die gereichten Tränkchen ſchlürfte: da bekam ich täglich zur beſtimmten Stunde eine Limonade — {ſo} etwas göttertrunkähnliches habe ich während meines ganzen geſunden Lebens nicht gekoſtet — und allabendlich eine opiumhaltige Arznei, deren ſanfteinſchläfernde, in {bewußten} Schlummer wiegende Wirkung mich mit einem Gefühle ſeliger Ruhe durchrieſelte. Dabei wußte ich, daß der geliebte Mann an meiner Seite war, mich hütend und wahrend als ſeines Herzens teuerſter Schatz. Der Krieg, der draußen vor den Thoren wütete, von dem wußte ich beinahe nichts mehr; und wenn mir doch zuweilen eine Erinnerung davon aufblitzte, ſo betrachtete ich das Ding als etwas ſo fern liegendes, ſo mich durchaus nicht berührendes, als ſpielte es ſich in China oder auf einem anderen Planeten ab. Meine Welt war hier in dieſem Krankenzimmer — in dieſem Rekonvalescentenzimmer vielmehr, denn ich fühlte mich geneſen — dem Glück entgegen. * * * Dem Glücke? Nein. Mit der Geneſung kam auch das Verſtändnis wieder und die Auffaſſung des gräßlichen, das uns umgab. Wir waren in einer belagerten, hungernden, frierenden, jammererfüllten Stadt. Der Krieg wütete noch fort. Inzwiſchen war der Winter hereingebrochen, eiſigkalt. Jetzt erfuhr ich erſt, was während meiner langen Bewußtloſigkeit alles vorgefallen. Die Hauptſtadt des „Bruderlandes“, Straßburg, die „wunderſchöne“, die „echt deutſche“, die „kerndeutſche Stadt“ iſt beſchoſſen worden; ihre Bibliothek zerſtört, im Ganzen fielen 193 722 Schüſſe — vier oder fünf in der Minute. Straßburg iſt {genommen}. — Das Land gerät in wilde Verzweiflung — jene Verzweiflung, welche in Raſerei und Wahnſinn ausartet. Man ſchlägt im Noſtradamus nach, um darin Prophezeiungen der jetzigen Ereigniſſe zu finden, und neue Seher laſſen ſich mit Weisſagungen vernehmen. Ärger noch: {Beſeſſene} treten auf: es iſt wie ein Rückfall in mittelalterliche, höllenfeuer-durchzuckte Geiſtesnacht … „Könnte ich zu den Beduinen!“ rief Guſtav Flaubert. „Könnte ich in das halbbewußte Traumland meiner Krankheit zurück!“ ſo klagte ich. Jetzt war ich wieder geſund und mußte all das erfahren und erfaſſen, was Grauenvolles um uns vorging. Da begannen wieder die Eintragungen in die roten Hefte und ich finde folgende Notizen vor: {1. Dezember}. Trochu ſetzt ſich auf den Höhen von Champigny feſt. {2. Dezember}. Hartnäckiges Gefecht um Brie und Champigny. {5. Dezember}. Die Kälte wird immer ſtrenger. Ach, die zitternden, blutenden, armen Wichte, die draußen im Schnee gebettet — {ſterben}. Auch hier in der Stadt wird furchtbar an Kälte gelitten. Der Verdienſt iſt auf Null geſunken. Kein Feuerungsmaterial zu beſchaffen. Was gäbe Mancher drum, wenn er {nur} ein paar Stückchen Holz da hätte — und wäre es der gewiſſe Thron von Spanien … {21. Dezember}. Ausfall aus Paris. {25. Dezember}. Eine kleine Abteilung preußiſcher Kavallerie wird aus den Häuſern der Ortſchaften Troo und Sougé mit Flintenſchüſſen begrüßt (das iſt Patriotenpflicht). General Kraatz befiehlt die Züchtigung dieſer Ortſchaften (das iſt Kommandantenpflicht) und läßt brennen. „Anzünden“ lautet das Kommandowort, und die Leute — vermutlich ſanfte, gutmütige Burſche — gehorchen (das iſt Soldatenpflicht) und legen den Brand an. Die Flammen ſchlagen zum Himmel und die armen Heimſtätten ſtürzen krachend ein über Mann und Weib und Kind — über fliehende, weinende, brüllende und brennende Menſchen und Tiere. O du fröhliche, o du ſelige, o du heilige Weihnachtszeit! 84. Sechſtes Buch. 1870/71. // 7. Abſchnitt Soll Paris nun ausgehungert werden, oder auch beſchoſſen? Gegen letztere Annahme ſträubt ſich das Kulturgewiſſen. Dieſe [„ville-lumière“], dieſer Anziehungspunkt aller Völker, dieſe glänzende Stätte, der Künſte — mit ihren unerſetzlichen Reichtümern und Schätzen bombardieren wie die erſte beſte Citadelle? Nicht denkbar; die ganze neutrale Preſſe (ſo erfuhr ich ſpäter) proteſtiert dagegen. Die Preſſe der Kriegspartei in Berlin hingegen ermuntert dazu: das ſei das einzige Mittel, den Krieg zu Ende zu führen und die Seineſtadt {erobern} — welcher Ruhm! Die Proteſte übrigens ſind es gerade, welche gewiſſe Kreiſe in Verſailles beſtimmen, dieſe ſtrategiſche Maßregel — weiter iſt ja eine Beſchießung doch nichts — zu ergreifen. Und ſo geſchah es, daß ich unterm 28. Dezember mit zitternden Zügen niederſchrieb: „Es iſt da … Wieder ein dumpfer Schlag … Eine Pauſe — und wieder —“ Weiter ſchrieb ich nicht. Aber ich erinnere mich genau der Empfindungen jenes Tages. In dem „Es iſt da“ lag neben dem Schrecken eine gewiſſe Befreiung, eine Erleichterung, ein Nachlaſſen der beinah ſchon unerträglich gewordenen Nervenanſpannung. Was man ſo lange teils erwartet und befürchtet, teils für menſchenunmöglich gehalten — es war nun da. Wir ſaßen beim Gabelfrühſtück (das heißt wir aßen Brot und Käſe — die Lebensmittel waren ſchon karg), Friedrich, Rudolf, der Hofmeiſter und ich, als der erſte Schlag erdröhnte. Wir Alle erhoben betroffen die Köpfe und wechſelten Blicke. Sollte dies? … Aber nein — es war vielleicht ein zugefallenes Hausthor oder ſonſt etwas. Nun war ja Alles ſtill. Wir nahmen das vorhin unterbrochene Geſpräch wieder auf, ohne nur des Gedankens zu erwähnen, welchen jener Ton in uns erweckt hatte. Da — nach drei bis vier Minuten — kam es wieder. Friedrich ſprang auf: „Das iſt die Beſchießung,“ ſagte er, und eilte ans Fenſter. Ich folgte ihm. Von der Straße drang ein Gemurmel herauf, Gruppen hatten ſich gebildet: die Leute ſtanden und horchten oder wechſelten erregte Worte. Jetzt kam unſer Kammerdiener in das Zimmer geſtürzt — zugleich erklang eine neue Salve. [„Oh monsieur et madame — c’est le bombardement!“] Zu der offenen Thür herein drängten nunmehr ſämtliche anderen Diener und Dienerinnen bis herab zum Küchenjungen. Bei ſolchen Kataſtrophen — Kriegs-, Feuer- oder Waſſernot — da fallen alle geſellſchaftlichen Schranken, da laufen alle Bedrohten zuſammen. Viel mehr als vor dem Geſetze, mehr noch als vor dem Tode — der in ſeinen Beſtattungsceremonien ſolche Standesunterſchiede kennt — fühlen ſich Alle gleich vor der {Gefahr}. [„C’est le bombardement — c’est le bombardement!“] Jeder, der zu uns in das Zimmer herbeigeeilt kam, ſtieß dieſen ſelben Ruf aus. Es war entſetzlich — und dennoch, ich erinnere mich genau meiner Empfindung: ein gewiſſes bewunderndes Erſchauern, eine Art Genugthuung, etwas ſo Gewaltiges zu erleben, mitten drin zu ſein in dieſer ſchickſalsſchweren Begebenheit und vor der eigenen Lebensgefahr dabei {nicht} zu erbeben. Die Pulſe ſchlugen mir, ich fühlte etwas wie — wie ſoll ich’s nennen? — Stolz des Mutes. 85. Sechſtes Buch. 1870/71. // 8. Abſchnitt Das Ding war übrigens weniger ſchauervoll, als es im erſten Augenblick geſchienen. Keine brennenden Gebäude, keine angſtſchreienden Menſchenhaufen, keinen unaufhörlich die Luft durchſchwirrenden Bombenhagel — ſondern immer nur dieſes dumpfe, ferne, von langen und längeren Zwiſchenräumen getrennte Rollen. Man fing nach einiger Zeit beinahe an, ſich daran zu gewöhnen. Die Pariſer wählten als Spaziergangsziel ſolche Punkte, von welchen aus man die Kanonenmuſik beſſer hören konnte. Hier und da fiel ein Geſchoß auf die Straße und platzte, aber wie ſelten kam Einer dazu, zufällig in der Nähe zu ſein. Zwar fielen manche tötliche Bomben herab, aber in der Millionenſtadt hörte man von dieſen Fällen nur ſo vereinzelt, wie man auch ſonſt gewohnt iſt, unter den Lokalnachrichten ſeiner Zeitung verſchiedene Unglücksfälle zu vernehmen, ohne daß es einem beſonders nahe ginge: „Ein Maurer von einem vierſtockhohen Gerüſt gefallen“ oder „eine anſtändig gekleidete Frauensperſon ſich über das Brückengeländer in den Fluß geſtürzt“ u. dgl. m. Der eigentliche Kummer, der eigentliche Schrecken der Bevölkerung, das war nicht das Bombardement: das waren der Hunger, die Kälte, die Not. Aber {eine} ſolche Nachricht von einem unheilbringenden Geſchoß hat mich tief erſchüttert. Dieſelbe kam in Form einer ſchwarzumrandeten Traueranzeige ins Haus: „Herr und Frau N. geben Nachricht von dem Tode ihrer zwei Kinder [François] (8 Jahre alt) und [Amélie] (4 Jahre), welche eine durch das Fenſter fliegende Bombe erſchlagen hat. Um ſtille Teilnahme wird gebeten.“ „Stille“ Teilnahme! Ich ſtieß einen lauten Schrei aus, nachdem ich das Blatt überflogen. Ein Gedanke, ein mit Blitzesſchnelle vor meinem inneren Auge erſcheinendes Bild zeigte mir den ganzen Jammer, der in dieſer ſchlichten Traueranzeige lag… ich ſah {unſere} beiden Kinder, Rudolf und Sylvia — nein, es war nicht auszudenken! Die Nachrichten, die man erhält, ſind ſpärlich; alle Poſtkommunikation natürlich unterbrochen; nur durch Brieftauben und Luftballons wird mit der Außenwelt verkehrt. Die Gerüchte, die allenthalben auftauchen, ſind der widerſprechendſten Art. Man meldet ſiegreiche Ausfälle, oder man verbreitet die Kunde, daß der Feind ſchon im Begriffe ſei, Paris zu erſtürmen, um es an allen Ecken anzuzünden und dem Erdboden gleich zu machen; oder man verſichert, daß, ehe man einen einzigen Deutſchen in die Mauern dringen ließe, die Kommandanten der Forts ſich ſelber und ganz Paris in die Luft ſprengen würden. Es wird erzählt, daß die ſämtliche Bevölkerung des Landes, namentlich aus dem Süden ([„le midi se lève“]) über die Belagerer im Rücken herfällt, um ihnen den Rückzug abzuſchneiden und ſie bis auf den letzten Mann zu vernichten. Neben den falſchen Nachrichten gelangen auch einige wahre — deren Richtigkeit ſich ſpäter beſtätigte — bis zu uns. So von einer auf der Straße von Grand Luce dicht an Le Mans ausgebrochenen Panik, wobei Greuelthaten ſich zutrugen: außer Rand und Band gekommene Soldaten warfen Verwundete aus den bereitſtehenden Eiſenbahnwaggons, um an deren Stelle Platz zu nehmen. Von Tag zu Tag wird es ſchwerer, Lebensmittel zu beſchaffen. Die Fleiſchvorräte ſind erſchöpft; es gibt ſchon längſt keine Rinder und Schafe mehr in den angelegten Viehparks; bald ſind auch alle Pferde verzehrt, und es beginnt die Periode, wo die Hunde und Katzen, die Ratten und Mäuſe, ſchließlich auch die Tiere des [jardin des plantes], ſelbſt der ſo beliebte, arme Elephant als Speiſe dienen müſſen. Brot iſt beinah nicht mehr zu erlangen. Stunden- und ſtundenlang müſſen die Leute vor den Bäckerläden in der Reihe harren, um ihre kleine Ration zu bekommen, doch die meiſten gehen leer aus. Erſchöpfung und Krankheiten machen reiche Todesernte. Während gewöhnlich in der Woche 1100 Menſchen ſtarben, weiſen die pariſer Sterbeliſten jetzt wöchentlich 4—5000 auf. Täglich alſo ungefähr 400 unnatürliche Todesfälle — das heißt alſo {Morde}. Wenn auch der Mörder kein Einzelner war, ſondern ein unperſönliches Ding, nämlich der {Krieg}, ſo ſind es darum nicht minder Morde. Wen traf die Verantwortung? Etwa jene parlamentariſchen Großſprecher, welche in ihren Hetzreden mit ſtolzem Pathos erklärten — wie dies Girardin in der Sitzung vom 15. Juli gethan — daß ſie „die Verantwortung eines Krieges vor der Geſchichte auf ſich nähmen“? Können denn eines Menſchen Schultern ſtark genug ſein, ſolche Verbrechenlaſt zu tragen? Gewiß nicht. Es fällt auch Niemandem ein, die Prahler nachträglich beim Wort zu nehmen. Eines Tages, es war um den 20. Januar herum, kam Friedrich, von einem Gang durch die Stadt heimgekehrt, mit erregter Miene in mein Zimmer. „Nimm Dein Eintragebuch zur Hand, meine eifrige Geſchichtsſchreiberin!“ rief er mir zu. „Heute gibt es einen wichtigen Poſten.“ Und er warf ſich in einen Seſſel. „Welches meiner Bücher?“ fragte ich. „Das Friedensprotokoll?“ Friedrich ſchüttelte den Kopf: „O, mit dem iſt’s wohl für lange Zeit vorbei. Der Krieg, der jetzt gefochten wird, iſt zu gewaltiger Natur, um nicht kriegeriſch fortzuwirken. Auf der Seite der Beſiegten hat er einen ſolchen Vorrat von Haß- und Racheſaaten ausgeſtreut, daß daraus eine künftige Kampfernte hervorwachſen muß; und andererſeits hat er für den Sieger ſolche großartige umwälzende Erfolge zu ſtande gebracht, daß dort eine gleich große Saat von kriegeriſchem Stolze aufgehen wird.“ „Was iſt denn ſo Bedeutendes geſchehen?“ „König Wilhelm wurde in Verſailles zum deutſchen Kaiſer ausgerufen. Es gibt jetzt {ein} Deutſchland — ein einiges Reich — und ein mächtiges Reich. Das gibt einen neuen Abſchnitt in der ſogenannten Weltgeſchichte. Und Du kannſt Dir denken, wie aus dem neuen, aus Waffenarbeit hervorgegangenen Reiche dieſe Arbeit hoch in Ehren gehalten ſein wird. Die beiden vorgeſchrittenſten Kulturländer des Feſtlandes ſind es alſo hinfort, welche den Kriegsgeiſt pflegen werden — das eine, um den erhaltenen Schlag zurückzugeben; das andere, um die errungene Machtſtellung zu bewahren; hier aus Haß, dort aus Liebe; hier aus Vergeltungsſucht, dort aus Dankbarkeit — gleichviel: klappe Dein Friedensprotokoll nur zu — auf lange Zeit hinaus ſtehen wir unter dem blutigen und eiſernen Zeichen des Mars.“ „Deutſcher Kaiſer!“ rief ich — „das iſt wahrlich großartig.“ Und ich ließ mir die Einzelheiten dieſes Ereigniſſes erzählen. „Ich kann doch nicht umhin, Friedrich,“ ſagte ich, „mich über dieſe Nachricht zu freuen. So iſt die ganze Schlachtarbeit doch nicht verloren geweſen, wenn daraus ein neues großes Reich hervorgegangen.“ „Vom franzöſiſchen Standpunkt aber doppelt verloren … Und wir beide hätten wohl das Recht, dieſen Krieg nicht einſeitig — von der deutſchen Seite — zu betrachten. Nicht nur als Menſchen, ſogar nach engerem, nationalem Begriffe hätten wir das Recht, die Erfolge unſerer Feinde und Unterwerfer von 1866 zu beklagen. Und dennoch, ich gebe mit Dir zu, daß die erreichte Vereinigung des zerſtückelten Deutſchlands eine {ſchöne} Sache iſt; daß dieſe Bereitwilligkeit der übrigen deutſchen Fürſten, dem greiſen Sieger die Kaiſerkrone zu reichen, etwas Begeiſterndes, Bewundernswertes hat. Es iſt nur ſchade, daß eine ſolche Vereinigung nicht aus friedlichem, ſondern aus kriegeriſchem Werke hervorgegangen iſt. Wie alſo, wenn Napoleon Ⅲ. die Herausforderung des 19. Juli nicht abgeſendet hätte, wäre da in den Deutſchen nicht genug Vaterlandsliebe, nicht genug Volkskraft, nicht genug Einigkeit gelegen, um aus ſich heraus dasjenige zu bilden, worauf ſie jetzt ihren Nationalſtolz ſetzen werden: „Ein einig Volk von Brüdern?“ — Jetzt werden ſie jubeln — des Dichters Wunſch iſt erfüllt. Daß ſie vor kurzen vier Jahren einander in den Haaren gelegen, daß es für Hannoveraner, Sachſen, Frankfurter, Naſſauer und ſo weiter keinen ärgeren Haßbegriff gab als „Preußen“ — das wird zum Glück vergeſſen ſein. Dafür aber der Deutſchenhaß, hier zu Lande, wie wird der nunmehr gedeihen!“ Mir ſchauderte. „Das bloße Wort Haß“ begann ich — „Iſt Dir verhaßt? Du haſt recht. So lange dieſes Gefühl nicht recht- und ehrlos gemacht wird, ſo lange gibt es keine menſchliche Menſchheit. Der Religionshaß iſt überwunden, aber der Völkerhaß bildet noch einen Teil der bürgerlichen Erziehung. Und doch gibt es nur ein veredelndes, ein beglückendes Gefühl hienieden — das iſt die Liebe. Nicht wahr, Martha, davon wiſſen {wir} etwas zu erzählen?“ Ich lehnte meinen Kopf an ſeine Schulter und blickte zu ihm auf, während er mir zärtlich das Haar aus der Stirne ſtrich. „Wir wiſſen,“ fuhr er fort, „wie ſüß es iſt, wenn im Herzen ſo viel Liebe wohnt — füreinander, für unſere Kleinen, für alle Brüder der großen Menſchenfamilie, denen man {ſo} gern, ſo gern das drohende Leid erſparen wollte … Aber ſie wollen nicht.“ „Nein, mein Friedrich — ſo umfaſſend iſt mein Herz doch nicht. Die Haſſenden alle kann ich nicht lieben.“ „Aber doch bemitleiden?“ In dieſer Weiſe plauderten wir lange weiter. Ich weiß es noch heute ſo genau, weil ich damals öfters — neben den kriegeriſchen Ereigniſſen — auch Bruchſtücke unſerer daran geknüpften Geſpräche in die roten Hefte eintrug. An jenem Tage haben wir auch wieder einmal von der Zukunft geſprochen: jetzt würde Paris kapitulieren müſſen, der Krieg hatte ein Ende — und dann konnten wir wieder mit gutem Gewiſſen glücklich ſein. Da überſchauten wir die Gewährleiſtungen unſeres Glücks. In den acht Jahren unſerer Ehe nicht ein hartes, nicht ein unfreundliches Wort — ſo viel mit einander durchgelitten und durchgenoſſen — ſo war unſere Liebe, unſer Einsſein derart befeſtigt, daß eine Abnahme nicht mehr zu fürchten war. Im Gegenteile: — nur ſtets inniger würden wir uns aneinander ſchließen — jedes neue gemeinſchaftliche Erlebnis gäbe zugleich ein neues Band ab. Wenn wir erſt ein paar weißhaarige alte Leutchen geworden — mit welcher Freude konnten wir da auf die ungetrübte Vergangenheit zurückblicken, welch’ goldig-milder Lebensabend lag dann noch vor uns! … Dieſes Bild von dem glücklichen alten Pärchen, das wir einſt abgeben ſollten, hatte ich mir ſo oft und lebhaft vorgeſtellt, daß es ſich mir ganz deutlich eingeprägt und ſogar im Traum ſich wiederholte, wie etwas wirklich Geſchehenes. Mit verſchiedenen Einzelheiten: Friedrich mit einem Sammtkäppchen und einer Gartenſcheere … ich weiß ſelber nicht warum, denn niemals hatte er Luſt zur Gärtnerei gezeigt, und von einem Hauskäppchen war ſchon gar nie die Rede geweſen; — {ich} mit einem ſehr kokett geſteckten ſchwarzen Spitzentuche auf dem ſilberweißen Haar, und als Umgebung eine vor der untergehenden Sommerſonne warm erleuchtete Parkpartie; dazu lächelnd getauſchte freundliche Blicke und Worte wie: „Weißt Du noch? … Erinnerſt Du Dich, damals als —“ 86. Sechſtes Buch. 1870/71. // 9. Abſchnitt Viele der vorangehenden Blätter habe ich mit Schaudern und mit Überwindung geſchrieben. Nicht ohne inneres Entſetzen vermochte ich die Auftritte zu ſchildern, die ich auf meiner Fahrt nach Böhmen und während der Cholerawoche in Grumitz mitgemacht. Ich habe es gethan, um einer Pflichtmahnung zu gehorchen. Ein geliebter Mund hat mir einſt den feierlichen Befehl erteilt: „Falls ich früher ſterbe, mußt Du meine Aufgabe übernehmen, für das Friedenswerk zu wirken.“ — Wäre mir dieſes bindende Geheiß nicht geworden, nimmer hätte ich es über mich gebracht, die Schmerzenswunden meiner Erinnerungen ſo ſchonungslos aufzureißen. Jetzt bin ich aber bei einem Erlebnis angelangt, das ich berichten, nicht aber ſchildern will — nicht kann. Nein ich kann nicht, kann nicht! Ich habe es verſucht: zehn halbgeſchriebene, zerriſſene Blätter liegen auf dem Boden neben meinem Schreibtiſch — ein Herzkrampf befiel mich — die Gedanken ſtockten oder kreiſten wild in meinem Hirn — — ich mußte die Feder wegwerfen und weinen, bitter, heftig, kläglich weinen, wie ein Kind. Jetzt, einige Stunden ſpäter, nehme ich meine Aufgabe wieder vor. Aber auf die Beſchreibung der Einzelheiten nachſtehenden Geſchehniſſes, auf Mitteilung deſſen, was ich dabei empfunden — muß ich verzichten. Die Thatſache genügt: Friedrich — mein Einziger! — ward — infolge eines bei ihm gefundenen berliner Briefes der Spionage verdächtigt … von einer fanatiſchen Rotte umringt [„à mort — à mort le Prussien!“] — vor ein Patriotentribunal geſchleppt — — am 1. Februar 1871 — — — — — — — — ſtandrechtlich erſchoſſen. 87. Epilog. 1889. // 1. Abſchnitt Als ich zum erſtenmale wieder zu Bewußtſein gelangte, war der Friede geſchloſſen — die Kommune überſtanden. Monatelang hatte ich — von meiner treuen Frau Anna gepflegt — in einer Krankheit dahingelebt, ohne zu wiſſen, daß ich lebe. Und was es für eine Krankheit war — ich weiß es heute noch nicht. Meine Umgebung nannte es zartſinnig: Typhus; ich glaube aber, daß es einfach — Wahnſinn war. So ganz dunkel erinnerte ich mich, daß die letzte Zeit mit Vorſtellungen von knatternden Schüſſen und lodernden Bränden gefüllt war; vermutlich vermengte ſich da mit meinen Phantaſien die in meiner Gegenwart beſprochenen Ereigniſſe der Wirklichkeit, nämlich die Kämpfe zwiſchen Verſaillern und Kommunarden, die Brandlegungen der Petroleuſen. — Daß — als ich meine Vernunft wieder erlangte und mit dieſer auch das Verſtändnis meines tiefen Unglücks: daß ich da mir kein Leid angethan oder daß der Schmerz mich nicht tötete, das lag wohl an dem Beſitze meiner Kinder. Durch dieſe konnte, für dieſe {mußte} ich leben. Noch vor meiner Krankheit — an dem Tage ſelber, an dem das ſchreckliche über mich hereingebrochen — hat mich Rudolf am Leben erhalten. Ich war laut jammernd auf die Knie geſunken, indem ich wiederholte: „Sterben — ſterben! … Ich muß ſterben!“ Da umfaßten mich zwei Arme und ein bittendes, ſchmerzhaft-ernſtes, wunderliebes Knabengeſicht ſah mich an: „Mutter!“ Bis dahin hatte mich mein Kleiner nie anders als „Mama“ genannt. Daß er in dieſem Augenblick — zum erſtenmale — das Wort „Mutter“ gebraucht, das ſagte mir in zwei Silben: „Du biſt nicht allein — du haſt einen Sohn, der deinen Schmerz teilt — der dich über alles liebt und ehrt, der Niemand hat auf dieſer Welt, als dich — verlaß dein Kind nicht, Mutter!“ Ich preßte das teure Weſen an mein Herz; — und ihm zu zeigen, daß ich verſtanden hatte, ſtammelte auch ich: „Mein Sohn, mein Sohn!“ Zugleich erinnerte ich mich meines Mädchens — {ſeines} Mädchens, und mein Entſchluß, zu leben, war gefaßt. Aber der Schmerz war zu unerträglich: ich verfiel in geiſtige Nacht. Und nicht nur dieſes eine mal. Im Lauf der Jahre — in immer längeren Zwiſchenräumen — blieb ich Rückfällen von Tiefſinn unterworfen, von welchen mir dann in geneſenem Zuſtande gar keine Erinnerung blieb. Jetzt, ſeit mehreren Jahren, bin ich ſchon ganz frei davon. Frei von der {bewußtloſen} Schwermut heißt das, nicht aber von bewußten Anfällen bitterſten Seelenſchmerzes. Achtzehn Jahre ſind ſeit dem 1. Februar 1871 vergangen, aber der tiefe Groll und die tiefe Trauer, welche die Tragödie jenes Tages mir eingeflößt — die kann keine Zeit — und lebte ich hundert Jahre — verwiſchen. Wenn auch in letzter Zeit die Tage immer häufiger ſich einſtellen, da ich, von den Begebenheiten der Gegenwart eingenommen, an das vergangene Unglück nicht denke, da ich ſogar die Freude meiner Kinder ſo lebhaft mitempfinde, daß mich ſelber noch etwas wie Lebensfreude durchwallt, ſo vergeht doch keine Nacht — {keine} — in der mich mein Elend nicht erfaßte. Das iſt etwas ganz eigentümliches, das ich ſchwer beſchreiben kann, und das nur ſolche verſtehen werden, welche ähnliches an ſich erfahren haben. Es deutet wie auf ein Doppelleben der Seele. Wenn auch das {eine} Bewußtſein, im wachen Zuſtande, von den Dingen der Außenwelt ſo eingenommen ſein kann, daß es zeitweilig {vergißt}, ſo gibt es in der Tiefe meiner Perſönlichkeit noch ein zweites Bewußtſein, welches jene ſchreckliche Erinnerung immer mit dem gleichen treuen Schmerz bewahrt; und dieſes Ich — wenn das andere eingeſchlafen — macht ſich dann geltend, rüttelt das andere gleichſam auf, um ihm ſein Leid mitzuteilen. Allnächtlich — es dürfte immer um dieſelbe Stunde ſein — erwache ich mit einem unſäglichen Wehgefühl … Das Herz krampft ſich zuſammen und mir iſt, als ſollte ich bitter weinen, kläglich ſchluchzen. Das dauert ſo einige Sekunden, ohne daß das aufgeweckte Ich noch weiß, warum jenes andere unglückliche gar ſo unglücklich iſt … Das nächſte Stadium iſt dann ein weltumfaſſendes Mitleid, ein voll ſchmerzlichſten Erbarmens geſeufztes: „O ihr armen, armen Menſchen!“ Da nun ſehe ich unter hageldichten Mordgeſchoſſen aufſchreiende Geſtalten zuſammenbrechen — und jetzt erſt erinnere ich mich, daß auch {mein} Liebſtes ſo zuſammenbrach … Aber im Traume, ſonderbar: da weiß ich nie etwas von meinem Verluſt. Da geſchieht es häufig, daß ich mit Friedrich ſpreche und verkehre, als wäre er noch am Leben. Ganze Auftritte aus der Vergangenheit — aber keine trüben — ſpielen ſich da ab: das Wiederſehen nach Schleswig-Holſtein; die Scherze an Sylvias Wiege; unſere Fußtouren in den ſchweizer Bergen; unſere Studienſtunden über geliebten Büchern und hier und da jenes gewiſſe Bild im Abendſonnenſchein, wo mein weißhaariger Mann mit ſeiner Gartenſcheere die Roſenzweige ſtutzt — — „Nicht wahr,“ lächelt er mir zu, „wir ſind ein glückliches altes Paar?“ — — — Meine Trauerkleider habe ich niemals abgelegt — ſelbſt am Hochzeitstage meines Sohnes nicht. Wer einen ſolchen Mann geliebt, beſeſſen und verloren — {ſo} verloren — deſſen Liebe muß auch „ſtärker ſein als der Tod“, deſſen Rachegroll kann nimmer erkalten. Aber wen trifft dieſer Zorn? An wem ſollte ich Rache üben? Die Menſchen, welche die That vollbracht, trifft nicht die Schuld. Der allein Schuldige iſt der {Geiſt} des Krieges und dieſem nur könnte mein — allzuſchwaches — Verfolgungswerk gelten. Mein Sohn Rudolf ſtimmt mit meinen Geſinnungen überein — was ihn aber nicht hindert, natürlich, alljährlich die Waffenübungen mitzumachen und was ihn nicht hindern kann, wenn morgen der über unſeren Häuptern ſchwebende europäiſche Rieſenkrieg ausbricht, an die Grenze zu marſchieren. Und dann werde ich es vielleicht noch einmal ſehen müſſen, wie mein Teuerſtes auf der Welt dem Moloch hingeopfert — wie ein liebegeſegneter Herd, an welchem meinem Alter Ruhe und Friede winkt, in Trümmer geſchlagen wird. Werde ich {das} noch erleben müſſen und dann unwiederbringlich dem Wahnſinn verfallen, oder werde ich den Triumph der Gerechtigkeit und Menſchlichkeit noch ſehen, der jetzt, gerade jetzt in weitverzweigten Bündniſſen und in allen Schichten der Völker ſo ſehnſuchtskräftig nach Bethätigung ringt? Die roten Hefte — mein Tagebuch — weiſen keine weiteren Eintragungen auf. Unter das Datum 1. Februar 1871 habe ich ein großes Kreuz gemacht, und damit ſchloß auch meine Lebensgeſchichte ab. Nur das ſogenannte Protokoll — ein blaues Heft — welches Friedrich mit mir angelegt und in das wir die Phaſen der Friedensidee aufgezeichnet haben, iſt ſeither mit einigen Notizen bereichert worden. In den erſten Jahren, welche dem deutſch-franzöſiſchen Krieg folgten, hätte ich — abgeſehen von meinem geiſteskranken Zuſtande — kaum Gelegenheit gehabt, eine Friedenskundgebung zu verzeichnen. Die zwei einflußreichſten Nationen des Feſtlandes ſchwelgten in Kriegsgedanken: die eine im ſtolzen Rückblick auf die errungenen Siege, die andere in ſehnender Erwartung einer bevorſtehenden Revanche. Allmählich legte ſich der Wogengang dieſer Gefühle. Diesſeits des Rheins wurden die Standbilder der Germania etwas weniger angejubelt und jenſeits diejenigen der Stadt Straßburg mit weniger Trauerfloren geſchmückt. Da, nach zehn Jahren, konnte die Stimme der Friedensjünger wieder gehört werden. Bluntſchli, der große Völkerrechts-Gelehrte — derſelbe, mit welchem mein Verlorener ſich in Verbindung geſetzt — war es, der bei verſchiedenen Würdenträgern und Regierungen ſich deren Anſicht über den Völkerfrieden einholte. Damals fiel des ſchweigſamen „Schlachtendenkers“ bekannter Ausſpruch: „Der ewige Frieden iſt ein Traum — und nicht einmal ein ſchöner Traum.“ „Je nun: wenn Luther den Pabſt gefragt hätte, was er von einem Abfall von Rom hält, die Antwort würde da auch nicht reformationsfreundlich ausgefallen ſein,“ ſchrieb ich damals neben Moltkes Worte in das blaue Heft. Heute gibt es faſt Niemand mehr, der dieſen Traum nicht träumte oder der deſſen Schönheit nicht zugeben wollte. Und auch Wache gibt es — ganz helle Wache, — welche die Menſchheit aus dem langen Schlaf der Barbarei erwecken wollen und thatkräftig, zielbewußt ſich zuſammenſchaaren, um die {weiße Fahne} aufzupflanzen. Ihr Schlachtruf iſt: „Krieg dem Kriege“; ihr Loſungswort — das einzige Wort, welches noch im ſtande wäre, das dem Ruin entgegenrüſtende Europa zu erlöſen — heißt: „Die Waffen nieder!“ Allerorts — in England und Frankreich, in Italien, in den nordiſchen Ländern, in Deutſchland, in der Schweiz, in Amerika — haben ſich Vereinigungen gebildet, deren Zweck es iſt, durch den Zwang der öffentlichen Meinung, durch den gebieteriſchen Druck des Volkswillens die Regierungen zu bewegen, ihre zukünftigen Streitigkeiten einem — durch ſie ſelber vertretenen — internationalen Schiedsgericht zu übermitteln und ſo ein für allemal an Stelle der rohen Gewalt {das Recht} einzuſetzen. Daß dies kein Traum keine „Schwärmerei“ iſt, beweiſen die Thatſachen: Alabama, die Karolineninſeln und mehrere andere „Fragen“ wurden auf dieſe Art ſchon beigelegt. Und nicht nur Leute ohne Macht und Stellung — wie einſt der arme Grobſchmied — ſind es nunmehr, welche ſich zu dieſem Friedenswerk zuſammenthun, nein: Parlamentsmitglieder, Biſchöfe, Gelehrte, Senatoren, Miniſter ſtehen auf den Liſten. Dazu noch jene Partei, deren Anhänger ſchon nach Millionen zählen, die Partei der Arbeiter, des {Volkes}, auf deren Programm unter den wichtigſten Forderungen der „Völkerfrieden“ obenanſteht. — Mir iſt das alles bekannt (die Mehrzahl der Leute erfährt es nicht), weil ich mit jenen Perſönlichkeiten im Verkehr geblieben bin, mit welchen Friedrich im Hinblick auf ſein edles Ziel Verbindungen angeknüpft hatte. Was ich durch dieſe über die Erfolge und Pläne der Friedensgeſellſchaften erfahren, das ward getreulich in das „Protokoll“ eingetragen. Die letzte dieſer Eintragungen iſt folgender Brief, den auf eine diesbezügliche Anfrage der Präſident der in London ihren Hauptſitz habende Liga an mich geſchrieben hat: [International Arbitration and Peace // Association. London 41, Outer Temple // July 1889. Madame, You have honoured me by inquiring as to the actual position of the great question to which you have devoted your life. Here is my answer: At no time, perhaps, in the history of the world, has the cause of peace and goodwill been more hopeful. It seems that, at last, the long night of death and destruction will pass away: and we who are on the mountain top of humanity, think that we see the first streaks of the dawn of the kingdom of Heaven upon earth. It may seem strange, that we should say this at a moment, when the world has never seen so many armed men and such frightful engines of destruction ready for their accursed work: — but when things are at their worst, they begin to mend. Indeed, the very ruin which these armies are bringing in their train, produces universal consternation and soon the oppressed Peoples must rise and with {one} voice say to their rulers: „Save us, and save our children from de famine which awaits us, if these things continue; — Save Civilisation and all the triumphs which the efforts of wise and great men have accomplished in its name; save the world from a return to barbarism, rapine and terror!“ „What indications“, do you ask, „are there of such a dawn of a better day?“ Well, let me ask in reply is not the recent meeting at Paris of the Representatives of one {hundred} Societies for de declaration of international concord, for the substitution of a state of law and justice for that of force and wrong, an event unparalleled in history? Have we not seen men of many nations assembled on this occasion and of elaborating with enthusiasm and unanimity, practical schemes for this great end? Have we not seen, for the first time in history, a Congress of Representatives of the parliaments of free nations declaring in favour of treaties being signed by all civilised States, whereby they shall bind themselves to defer their differences to the arbitrament of equity, pronounced by an authorised tribunal instead of a resort to wholesale murder. Moreover, these representatives have pledged themselves to meet every year in some city of Europe, in order to considor every case of misunderstanding or conflict, and to exercise their influence upon Governments in the cause oft just and pacific settlements. Surely, the most hopeless pessimist must admit that these are signs of a future, when war shall be regarded as the most foolish and most criminal blot upon man’s record? Dear Madam accept the expression of my profound esteem. Yours truly // Hodgson Pratt.] *) *) Gnädige Frau. Sie haben mich mit einer Anfrage über die gegenwärtige Lage der großen Sache beehrt, der Sie Ihr Leben geweiht haben. Hier iſt meine Antwort: Zu keiner Zeit in der Weltgeſchichte ſtand die Sache des Friedens ſo hoffnungsvoll wie heute. Es will ſcheinen, daß nun endlich die lange Nacht des Totſchlags und der Zerſtörung aufhören ſoll, und wir, die wir auf der Bergeshöhe der Menſchheit ſtehen, glauben, daß wir die erſten Strahlen des Himmelreichs auf Erden ſehen. Es mag ſonderbar klingen, daß wir dies zu einer Zeit ſagen, da die Welt wie nie zuvor mit bewaffeten Männern angefüllt iſt und mit Schreckensmaſchinen, die zu ihrem fluchwürdigen Werke bereit ſtehen; — aber wenn die Dinge zum ſchlimmſten gelangt ſind, beginnen ſie, ſich zum beſſern zu wenden. In der That, der Ruin, den dieſe Rieſenheere nach ſich ziehen, bringt allgemeine Konſternation hervor: und bald müſſen die bedrückten Völker ſich erheben und mit {einer} Stimme ihren Lenkern zurufen: „Rettet uns und rettet unſere Kinder vor der Hungersnot, die uns droht, wenn die Dinge ſo fortgehen; — Rettet die Civiliſation und alle Errungenſchaften, welche in ihren Namen von großen und weiſen Männern vollbracht worden ſind; rettet die Welt vor einem Rückfall in Barbarei, Raub und Schrecken. „Welche Anzeichen gibt es, fragen Sie, daß ſolche beſſere Zeiten herankommen?“ Nun denn, frage ich als Erwiderung, iſt nicht die eben in Paris ſtattgehabte Begegnung der Delegierten von mehr als {hundert} Geſellſchaften behufs Erklärung internationaler Eintracht und Einſetzung eines Zuſtandes der Gerechtigkeit und Geſetzlichkeit an Stelle des Gewaltzuſtandes iſt dies nicht ein in der Geſchichte noch nie dageweſenes Ereignis? Haben wir da nicht Männer aus allen Nationen verſammelt geſehen, die mit Begeiſterung und Einſtimmigkeit praktiſche Vorſchläge zu dem großen Ziele durchgearbeitet haben? Haben wir nicht auch — zum erſtenmale in der Geſchichte — einen Kongreß von Parlamentsmitgliedern verſchiedener Staaten geſehen, welche ſich zu Gunſten von Verträgen erklärten, denen ſich alle ziviliſierten Staaten anzuſchließen hätten und durch welche ſie ſich verbindlich machten, die Schlichtung ihrer Streitigkeiten dem Schiedsſpruch eines autoriſierten Tribunals zu überantworten, ſtatt ihre Zuflucht zu Maſſenmord zu nehmen. Überdies: Dieſe Parlamentarier haben ſich verpflichtet, alljährlich in irgend einer europäiſchen Stadt zuſammenzutreten, um jeden zu Mißverſtändniſſen oder Konflikten Anlaß gebenden Fall zu unterſuchen, und ihren Einfluß auf die Regierungen zu gunſten von gerechten und friedlichen Löſungen geltend zu machen. Das ſind doch — dies muß der ärgſte Peſſimiſt auch zugeben — Anzeichen einer Zukunft, in welcher der Krieg als die verbrecheriſcheſte Thorheit betrachtet werden wird, welche die Menſchheitsgeſchichte aufzuweiſen hat. Genehmigen Sie, gnädige Frau, die Verſicherung meiner tiefſten Verehrung. Ihr ergebener // Hodgson Pratt. Die interparlamentariſche Konferenz, auf welche Hodgson Pratt anſpielt — die erſte derartige Verſammlung, welche die Geſchichte aufweiſt — ward von {Jules Simon} präſidiert. Hier ein Bruchſtück aus ſeiner Eröffnungsrede: Ich bin glücklich, in dieſen Räumen die autoriſierten Vertreter der Friedensfreunde verſchiedener Nationen gegenwärtig zu ſehen. Eine gewiſſe Anzahl hat ſich eingefunden. Ich wollte, es wäre eine Menge, oder ich wollte auch, die Zahl wäre kleiner, aber es wäre dies, ſtatt eines freiwilligen — ein offizieller diplomatiſcher Kongreß. Aber was wir nicht mit Geſetzeskraft verfügen können, dazu können wir doch wirkſam beitragen. Als Vertreter der verſchiedenen Staaten können wir von der größten Gewalt, die es gibt — nämlich die Gewalt, die uns von unſern Wählern übertragen iſt — den vortrefflichſten Gebrauch machen. Sie ſollen es wiſſen, meine Herren, die {Majorität} unſeres Landes iſt friedensfreundlich. Laſſen Sie mich denn in Übereinſtimmung mit den Franzoſen Sie Alle aus tiefſtem Herzensgrunde willkommen heißen etc. etc. Die bei dieſer Konferenz anweſenden Mitglieder der däniſchen, ſpaniſchen und italieniſchen Parlamente haben beſchloſſen, im Verlauf der nächſten Seſſionen ihren betreffenden Regierungen den Antrag auf Einſetzung internationaler Schiedsgerichte vorzubringen. Die nächſte interparlamentariſche Konferenz ſoll im Juli 1890 in London zuſammentreten. Auch ein Fürſtenmanifeſt findet ſich in dem blauen Heft — datiert März 1888 — ein Manifeſt, aus welchem endlich — mit altem Herkommen brechend — ſtatt des kriegeriſchen, ein friedlicher Geiſt hervorleuchtete. Aber der Edle, der jene Worte an ſein Volk erlaſſen, der Sterbende, der mit dem Aufwand ſeiner letzten Kraft nach dem Szepter griff, das er handhaben wollte, als wär’s einen Palmenzweig — der blieb machtlos an das Schmerzenslager gefeſſelt, und nach kurzer Friſt war Alles vorbei … Ob ſein Nachfolger — der begeiſterungsglühende, der großes wollende — ſich für das Friedensideal begeiſtern wird?? Nichts iſt’s unmöglich. 88. Epilog. 1889. // 2. Abſchnitt „Mutter, willſt Du übermorgen Deine Trauerkleidung nicht ablegen?“ Mit dieſen Worten trat heute morgens Rudolf in mein Zimmer. Für übermorgen nämlich — 30. Juli 1889 — iſt die Taufe ſeines erſtgebornen Sohnes angeſetzt. „Nein, mein Kind,“ antwortete ich. „Aber bedenke, an einem ſolchen Freudenfeſte wirſt Du doch nicht traurig ſein — warum alſo das äußere Zeichen der Trauer beibehalten?“ „Und Du wirſt doch nicht abergläubiſch ſein und fürchten, das ſchwarze Kleid der Großmutter könne dem Enkel Unglück bringen?“ „Das wohl nicht — aber es ſtimmt nicht zu der umgebenden Fröhlichkeit. Haſt Du denn einen Eid geſchworen?“ „Nein — es iſt nur ein gefaßter Vorſatz. Aber ein Vorſatz, der an ein {ſolches} Andenken ſich knüpft — Du weißt, was ich meine — der nimmt die Unverbrüchlichkeit eines Eides an.“ Mein Sohn neigte das Haupt und beharrte nicht weiter. „Ich habe Dich in Deiner Beſchäftigung geſtört … Du ſchreibſt?“ „Ja — meine Lebensgeſchichte. Ich bin gottlob zu Ende. Das war das letzte Kapitel. —“ „Wie willſt Du den Schluß Deiner Geſchichte geben? Du lebſt ja noch — und ſollſt noch viele Jahre, viele glückliche Jahre unter uns verbringen, Mutter! Mit der Geburt meines kleinen Friedrich, den ich dazu erziehen werde, die Großmama anzubeten, beginnt ja wieder ein neues Kapitel für Dich.“ „Du biſt ein gutes Kind, mein Rudolf. Ich müßte undankbar ſein, wenn ich an Dir nicht Stolz und Freude hätte … und ebenſo ſtolze Freude macht mir meine — {ſeine} holde Sylvia: ja, ich gehe einem geſegneten Alter entgegen. Ein milder Abend — aber die Geſchichte des Tages iſt doch aus, wenn die Sonne untergegangen, nicht wahr?“ Er antwortete nur mit einem ſtummen, mitleidsvollen Blick. „Ja, das Wort ‚Ende‘ unter meiner Biographie iſt berechtigt. Als ich den Entſchluß faßte, dieſelbe zu ſchreiben, beſchloß ich zugleich, beim 1. Februar 1871 abzubrechen. Nur, wenn Du mir auch noch durch den Krieg entriſſen worden wäreſt, was ja ſo leicht hätte geſchehen können — zum Glück warſt Du zur Zeit des bosniſchen Feldzuges noch nicht wehrpflichtigen Alters — nur dann hätte ich mein Buch noch verlängern müſſen. Doch ſo wie es iſt, war es ſchon ſchmerzlich genug zu ſchreiben.“ „Und wohl auch — zu leſen …“ bemerkte Rudolf, in der Handſchrift blätternd. „Das hoffe ich. Wenn dieſer Schmerz nur in einigen Herzen thatkräftigen Abſcheu gegen die Quelle des hier geſchilderten Unglücks weckt, ſo werde ich nicht vergebens mich gequält haben.“ „Haſt Du aber auch alle Seiten der Frage beleuchtet, alle Argumente erſchöpft, den Wurzelkomplex des Kriegsgeiſtes analiſiert, die wiſſenſchaftlichen Grundlagen genügend aufgebaut? Haſt Du —“ „Mein Lieber, wo denkſt Du hin? Ich habe ja nur ſagen können, was ſich in {meinem} Leben — in meinen beſchränkten Erfahrungs- und Empfindungskreiſen abgeſpielt. Alle Seiten der Frage beleuchtet? Gewiß nicht! Was weiß ich z. B. — ich, die reiche, hochgeſtellte — von den Leiden, die der Krieg über die Maſſen des Volkes verhängt? Was kenne ich von den Plagen und böſen Einflüſſen des {Kaſernenlebens}? Und die wiſſenſchaftlichen Grundlagen? Wie komme ich dazu, in ökonomiſch-ſozialen Fragen bewandert zu ſein, und dieſe ſind es — ſo viel weiß ich nur — welche ſchließlich alle Umbildungen beſtimmen … Keine Geſchichte des vergangenen und zukünftigen Völkerrechts ſtellen dieſe Blätter dar — eine Lebensgeſchichte nur.“ „Fürchteſt Du nicht eins? Man merkt die Abſicht und —“ „Verſtimmt wird man doch nur durch eine durchſchaute Abſicht, die der Urheber ſchlau zu verbergen meinte. Die Meinige aber liegt unverhohlen zu Tage — iſt ſie doch mit drei Worten ſchon auf dem Titelblatt verkündet.“ 89. Epilog. 1889. // 3. Abſchnitt Die Taufe hat nun geſtern ſtattgefunden. Dieſe Feier geſtaltete ſich zu einer doppelt glückverheißenden, denn meine Tochter Sylvia und ihres kleinen Neffen Taufpate — den wir ſchon lange heimlich im Herzen trugen —: Graf Anton Delnitzky — haben ſich bei dieſer Gelegenheit verlobt. So bin ich durch meine Kinder rings von glücklichen Verhältniſſen umgeben. Rudolf, ſeit ſechs Jahren in den Beſitz des Dotzkiſchen Majorats gelangt und ſeit vier Jahren mit der ihm von Kindheit an beſtimmt geweſenen Beatrix, geborenen Griesbach — dem wunderlieblichſten Geſchöpft, das man ſich vorſtellen kann — verheiratet, ſieht nur durch die Geburt eines Erben ſeinen ſehnlichſten Wunſch erfüllt. Kurz: beneidenswerte, glänzende Loſe. Ein im Gartenſaal eingenommenes Diner verſammelte die Taufgäſte. Die Glasthüren ſtanden offen und die Luft des herrlichen Sommernachmittags ſtrömte roſenduftend herein. Neben mir, an unſerer Tafelrunde, ſaß Gräfin Lori Griesbach, Beatrixens Mutter. Dieſelbe iſt nunmehr Witwe. Ihr Mann fiel in der bosniſchen Expedition. Sie hat ſich den Verluſt nicht ſtark zu Herzen genommen. Keinesfalls trägt {ſie} ewige Trauer. Im Gegenteile: diesmal iſt ſie mit granatrotem Brocat und brillantenem Geſchmeide angethan. Sie iſt gerade ſo oberflächlich geblieben, wie ſie es in ihrer Jugend war. Toilettenfragen, ein paar franzöſiſche und engliſche Moderomane, Geſellſchaftsklatſch: das genügt noch immer, ihren Horizont zu füllen. Selbſt das Kokettieren hat ſie nicht ganz gelaſſen. Auf junge Leute hat ſie es zwar nicht mehr abgeſehen, aber ältere, hohen Rang oder hohes Amt bekleidende Perſönlichkeiten ſind vor ihren Eroberungsgelüſten nicht ſicher. Gegenwärtig, ſcheint mir, hat ſie Miniſter Allerdings aufs Korn genommen. Dieſer hat übrigens ſeinen Namen gewechſelt: wir nennen ihn jetzt, eines neu angenommenen Ausdruckes halber „Miniſter Andererſeits.“ „Ich muß Dir ein Geſtändnis machen,“ ſagte mir Lori, nachdem ich mit ihr auf des Täuflings Geſundheit angeſtoßen. „Bei dieſer feierlichen Gelegenheit, da wir unſeren beiderſeitigen Enkel getauft haben, muß ich Dir gegenüber mein Gewiſſen entlaſten. Ich war ganz ernſtlich in Deinen Mann verliebt.“ „Das haſt Du mir ſchon öfters geſtanden, liebe Lori.“ „Er blieb aber ſtets ganz gleichgültig.“ „Auch das iſt mir bekannt.“ „Du hatteſt doch einen goldtreuen Mann, Martha! Dasſelbe kann ich von dem meinigen nicht behaupten. Aber nichts deſtoweniger: es hat mir ſehr leid gethan um Griesbach. Nun — er ſtarb eines glorreichen Todes, das iſt mein Troſt … Freilich iſt das eine langweilige Exiſtenz als Witwe. Beſonders wenn man älter wird … ſo lange man Freier und Kourmacher hat, iſt die Witwenſchaft nicht ohne … aber jetzt, ich verſichere Dich, es wird einem in der Einſamkeit ganz melachoniſch … Bei Dir iſt das etwas Anderes: Du lebſt bei Deinem Sohn — aber ich verlange mir gar nicht, bei der Beatrix zu bleiben … Sie verlangt es ſich übrigens auch nicht: Schwiegermutter im Haus, das thut nicht gut; denn man will doch im Hauſe die Herrin ſein … Zwar ärgert man ſich mit den Dienſtboten, das iſt ſchon wahr; aber wenigſtens kann man über ſie befehlen. Du darfſt es mir glauben: ich wäre gar nicht abgeneigt, noch einmal zu heiraten. Natürlich eine Vernunftheirat mit irgend einem geſetzten —“ „Miniſter oder ſo etwas —“ unterbrach ich lächelnd. „O Du Schlau — Du durchblickſt mich ſchon wieder! Du — ſchau dorthin: bemerkſt Du denn nicht, wie der Toni Delnitzky in Deine Sylvia hineinredet? Das iſt ja kompromettant.“ „Laß gut ſein. Die Beiden ſind auf dem Wege von der Kirche hierher einig geworden. Sylvia hat es mir anvertraut — morgen wird der junge Mann bei mir um ihre Hand anhalten.“ „Was Du nicht ſagſt? Nun, dann kann man ja gratulieren! Soll zwar mitunter ein leichter Vogel geweſen ſein, der ſchöne Toni … aber das ſind ſie ja Alle — das geht ſchon nicht anders und wenn man bedenkt, welche prächtige Partie er iſt“ … „Das hat meine Sylvia nicht bedacht: ſie liebt ihn.“ „Nun, deſto beſſer — das iſt eine ſchöne Zugabe in die Ehe.“ „Zugabe? Es iſt das Um und Auf.“ Einer der Gäſte, ein k._u._k. Oberſt a._D., klopfte an ſein Glas und: „oh weh — ein Toaſt!“ dachten wohl die meiſten, indem ſie ihre Sondergeſpräche unterbrachen und ſich ſeufzend anſchickten, dem Redner zu lauſchen. Es war aber auch zum ſeufzen; dreimal blieb der Unglückliche ſtecken und die Wahl ſeiner vorgebrachten Wünſche war nicht minder unglücklich. Der Täufling wurde geprieſen, in einer Zeit geboren worden zu ſein, in der das Vaterland bald Söhne brauchen werde … „Möge er einſt ruhmreich wie ſein mütterlicher Urgroßvater, wie ſein väterlicher Großvater das Schwert führen … möge er ſelbſt viele Söhne zeugen, die ihrerſeits dem Vater und den Vätern Ehre machen, und wie ſo viele der auf den Feldern der Ehre gebliebenen Väter … Väter — für die Ehre des Landes ihrer Väter — ihrer Väter und Vatersväter ſiegen oder — kurz: Friedrich Dotzky lebe hoch!“ Die Gläſer klirrten, aber die Rede hatte nicht gezündet. Daß dieſes kaum ins Daſein getretene Leben jetzt ſchon auf die Totenliſte kommender Schlachten geſetzt wurde, machte keinen freundlichen Eindruck. Um dieſes düſtere Bild zu verſcheuchen, fühlte ſich einer der Anweſenden veranlaßt, die tröſtliche Bemerkung vorzubringen, daß die gegenwärtigen Konjunkturen einen längeren Frieden verbürgten, daß der Dreibund — Damit war das allgemeine Geſpräch wieder glücklich auf das politiſche Gebiet gebracht und Miniſter Andererſeits ergriff das Wort. „In der That (Lori Griesbach hing an ſeinem Munde), es liegt zu Tage: die Wehrtüchtigkeit, welche wir erreicht haben, iſt etwas Großartiges und dürfte alle Friedensbrecher abſchrecken. Das Landſturmgeſetz, welches alle tauglichen Staatsbürger vom 19. bis 42., die einſtigen Offiziere ſogar bis zum 60. — Lebensjahre zum Kriegsdienſt verpflichtet, erlaubt uns, beim erſten Aufgebot allein 4 800 000 Soldaten aufzuſtellen. Andererſeits läßt ſich nicht leugnen, daß das wachſende Mehrerfordernis, welches von der Heeresverwaltung in Anſpruch genommen wird, ſchwer auf der Bevölkerung laſtet, und daß die zur ausgiebigen Schlagfertigkeit des Reiches erforderlichen Maßnahmen im umgekehrten Verhältnis zur Frage der Regelung der Finanzlage ſtehen; es iſt aber andererſeits erhebend, mit welchem opferfreudigen Patriotismus die Volksvertreter ſtets und allerorts die von dem Kriegsminiſterium geforderte Mehrbelaſtung bewilligen; ſie erkennen die von allen einſichtigen Politikern zugegebene, durch die Wehrhaftigkeitsentfaltung der Nachbarſtaaten und durch die politiſche Situation bedingte Notwendigkeit, alle anderen Rückſichten dem eiſernen Zwang der militäriſchen Kräftigung unterzuordnen.“ „Der leibhaftige Leitartikel!“ bemerkte Jemand halblaut. „Andererſeits“ fuhr aber fort: „Umſomehr, als dadurch ja eine Bürgſchaft geſchaffen wird für die Erhaltung des Friedens. Denn, indem wir in traditionellem Patriotismus zur Sicherung der Grenzen es der unausgeſetzten Steigerung der Wehrkraft unſerer Nachbarſtaaten gleichthun, erfüllen wir eine erhabene Pflicht und hoffen, etwa drohende Gefahren auch fernerhin zu bannen. So erhebe ich denn dieſes Glas auf dasjenige Prinzip, welches, wie ich weiß, unſerer Baronin Martha ſo ſehr am Herzen liegt — ein Prinzip, das auch die Signatarmächte der mitteleuropäiſchen Friedensliga hochhalten, und ich fordere Sie auf, mit mir anzuſtoßen: Es lebe der Frieden! Möge ſeine Wohlthat uns noch recht lange erhalten bleiben!“ „Darauf trinke ich nicht,“ ſagte ich. „Der bewaffnete Friede iſt {keine} Wohlthat … und nicht {lange} ſoll uns der Krieg verhütet bleiben, ſondern {immer}. Wenn man ſich auf die Meerfahrt macht, ſoll die Zuſicherung nicht genügen, daß recht lange das Schiff an keiner Klippe zerſchelle. Daß die {ganze} Fahrt glücklich überſtanden werden, {darnach} wird der ehrliche Kapitän trachten.“ Doktor Breſſer, noch immer unſer beſter Hausfreund, kam mir zu Hilfe: „In der That, Excellenz, können Sie an den ehrlichen, aufrichtigen Friedenswillen Jener glauben, die mit Leidenſchaft, mit Begeiſterung — Soldaten ſind? Die alles, was {den Krieg gefährdet} — nämlich Abrüſtung, Staatenbund, Schiedsgericht — nicht nennen hören wollen? Könnte denn die Freude an Arſenalen und Feſtungen und Manövern und dergleichen beſtehen, wenn dieſe Dinge wirklich nur als das betrachtet würden, wofür man ſie ausgibt: als Vogelſcheuchen? Alſo, {damit} man ſie niemals brauche, der ganze Koſtenaufwand ihrer Herſtellung! Die Völker müſſen ihr ganzes Geld hergeben, um an den Grenzen Befeſtigungen zu machen, in der Abſicht, ſich über die Grenzen hin Kußhändchen zuzuwerfen? Zu einer bloßen Friedens-Aufrechterhaltungs-Gendarmerie läßt ſich das Militär nicht herabdrücken — der oberſte Kriegsherr wird doch nicht einem Heer von ewigen Kriegsvermeidern vorſtehen ſollen? Hinter dieſer Maske — der [„si vis pacem“]-Maske — blinzeln die einverſtändlichen Blicke, und die jedes Kriegsbudget bewilligenden Abgeordneten blinzeln mit.“ „Die Volksvertreter?“ unterbrach der Miniſter. „Man kann den Opfermut doch nur loben, deſſen dieſe in ernſten Zeiten niemals ermangeln und welcher in der einhelligen Votierung der entſprechenden Geſetze erhebenden Ausdruck findet.“ „Verzeihen Sie, Excellenz, dieſen einhelligen Stimmabgebern wollte ich einem nach dem andern zurufen: Dein Ja wird jener Mutter ihr einziges Kind rauben; — deines bohrt jenem armen Wicht die Augen aus; — deines ſchießt eine unerſetzliche Bücherei in Brand; — deines zerſtampft das Hirn eines Dichters, der deines Landes Ruhm geweſen wäre … Aber ihr habt dieſes „Ja“ votiert, um nur ja nicht feige zu ſcheinen — als ob man gerade nur für ſich die Aſſentierung fürchten müßte. — Seid ihr denn nicht da, um des Volkes Willen zur Geltung zu bringen? Und das Volk {will} die produktive Arbeit, will die Entlaſtung, will den Frieden …“ „Ich hoffe, lieber Doktor,“ bemerkte der Oberſt bitter, „daß Sie niemals Abgeordneter werden; das ganze Haus würde Sie auspfeifen.“ „Mich dem auszuſetzen, würde ſchon beweiſen, daß ich nicht feige bin. {Gegen} den Strom zu ſchwimmen erfordert die ſtählerne Kraft.“ „Wenn aber der Ernſtfall einträte und man ſtände unvorbereitet da?“ „Man bereite einen Rechtszuſtand vor, der den Eintritt des „Ernſtfalles“ unmöglich mache. Denn was {dieſer} Fall ſein wird, Herr Oberſt, von dem kann heutzutage kein Menſch einen klaren Begriff faſſen. Bei der Furchtbarkeit der gegenwärtig erreichten und noch immer ſteigenden Waffentechnik, bei der Maſſenhaftigkeit der Streitkräfte wird der nächſte Krieg wahrlich kein „ernſter“, ſondern ein — es giebt gar kein Wort dafür — ein Rieſenjammer-Fall ſein … Hilfe und Verpflegung unmöglich … Die Sanitätsvorkehrungen und Proviantvorkehrungen werden den Anforderungen gegenüber als die reine Ironie ſich erweiſen; der nächſte Krieg, von welchem die Leute ſo geläufig und gleichmütig reden, der wird nicht Gewinn für die Einen und Verluſt für die Anderen bedeuten, ſondern {Untergang für Alle}. Wer hier unter uns ſtimmt für dieſen Ernſtfall?“ „Ich allerdings nicht,“ ſagte der Miniſter; „Sie auch nicht, lieber Doktor — aber die Menſchen im Allgemeinen … Auch unſere Regierung nicht, dafür kann ich gutſtehen — aber die anderen Staaten.“ … „Mit welchem Rechte halten Sie andere Leute für ſchlechter und unvernünftiger als ſich und mich? Da will ich Ihnen ein kleines Märchen erzählen: Vor der geſchloſſenen Pforte eines ſchönen Gartens, gar ſehnſüchtig hineinſchauend, ſtand ein Haufen Menſchen, tauſendundeiner an der Zahl. Der Pförtner hatte den Auftrag, die Leute hereinzulaſſen, falls die Mehrzahl unter ihnen den Einlaß wünſchte. — Er rief den Einen herbei: „Sag’ — aber aufrichtig — möchteſt Du herein?“ — „O ja, ich ſchon, aber die andern Tauſend ſicher nicht.“ Dieſe Antwort ſchrieb der kluge Pförtner in ſein Notizbuch. Dann rief er einen Zweiten. Der ſagte dasſelbe. Wieder trug der Kluge unter die Rubrik „ja“ die Ziffer 1, unter die Rubrik „nein“ die Ziffer 1000 ein. Das ging ſo bis zum letzten Mann. Dann addierte er die Zahlen. Das Ergebnis war: 1001 „ja“, über eine Million „nein“. So blieb das Thor verſchloſſen, denn das „nein“ hatte eine erdrückende Majorität. Und das kam daher, weil Jeder, ſtatt nur für ſich, auch für die Anderen antworten zu müſſen glaubte.“ „Allerdings,“ ſprach der Miniſter nachdenklich, und wieder ſchlug Lori Griesbach bewundernde Augen zu ihm auf — „es wäre allerdings eine ſchöne Sache, wenn die einſtimmige Votierung einer Entwaffnungsvorlage ſtattfinden würde; — aber andererſeits, welche Regierung wird es wagen, den Anfang zu machen? Allerdings gibt es nichts Wünſchenswerteres als Eintracht: aber andererſeits: wie kann man, ſo lange menſchliche Leidenſchaften, Sonderintereſſen u._ſ._w. beſtehen, {dauernde} Eintracht für möglich halten?“ „Erlauben Sie,“ nahm jetzt mein Sohn Rudolf das Wort. „Vierzig Millionen Einwohner eines Staates bilden ein Ganzes. Warum alſo nicht mehrere hundert Millionen? Soll das mathematiſch und logiſch beweisbar ſein: ſo lange menſchliche Leidenſchaften, Sonderintereſſen u._ſ._w. beſtehen, können wohl 40 Millionen Leute darauf verzichten, ſich untereinander zu bekriegen — drei Staaten ſogar, wie gegenwärtig der Dreibund, können ſich verbünden und eine „Friedensliga“ bilden — aber fünf Staaten können dies nicht, dürfen dies nicht? Wahrlich, wahrlich: unſere heutige Welt gibt ſich für ungeheuer klug aus und belächelt die Wilden — und doch: in manchen Dingen können auch wir nicht bis fünf zählen.“ Einige Stimmen erhoben ſich: „Was? Wild? — Das {uns} — mit unſerer überfeinerten Kultur? Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?“ Rudolf ſtand auf: „Ja, wild — ich nehme das Wort nicht zurück. Und ſo lange wir uns an die Vergangenheit klammern, werden wir Wilde bleiben. Aber ſchon ſtehen wir an der Pforte einer neuen Zeit — die Blicke ſind nach vorwärts gerichtet, Alles drängt mächtig zu anderer, zu höherer Geſtaltung … Die Wildheit mit ihren Götzen und ihren Waffen — ſchon ſchleuderten ſie Viele von ſich. Wenn wir der Barbarei auch noch näher ſind als die Meiſten glauben, ſo ſind wir vielleicht auch der Veredlung näher als Viele hoffen. {Schon lebt vielleicht der Fürſt oder der Staatsmann}, der die in aller künftigen Geſchichte als die ruhmreichſte, leuchtendſte der Thaten geltende That vollbringen wird, der die allgemeine Abrüſtung durchſetzt. Schon ſtürzt jener Wahn zuſammen, kraft deſſen der Staatsegoismus einen ſo täuſchenden Anſchein von Berechtigung hat — der Wahn, daß der Schaden des Einen den Nutzen des Anderen befördere … Schon dämmert die Erkenntnis, daß die {Gerechtigkeit} als Grundlage alles ſozialen Lebens dienen ſoll … und aus ſolcher Erkenntnis wird die Menſchlichkeit hervorblühen, die Edelmenſchlichkeit, wie Friedrich Tilling zu ſagen pflegte … Mutter, hier dieſes Glas trinke ich dem Andenken Deines ewig unvergeſſen Geliebten und Betrauerten, dem auch ich Alles verdanke, was ich denke und was ich bin. Und aus dieſem Glaſe“ — er warf es an die Wand, wo es zerſchellte — „wird kein anderer Trunk mehr gemacht und heute — zu des Neugeborenen Tauffeſt wird kein anderer Toaſt mehr geſprochen, als dieſer: es lebe die Zukunft! {Ihre} Aufgaben zu vollbringen, dazu wollen wir uns ſtählen — nicht: unſerer Vatersväter — wie die alte Phraſe lautet — wollen wir trachten, uns würdig zu zeigen — nein: unſerer Enkelsſöhne! … Mutter — was iſt Dir?“ unterbrach er ſich. „Du weinſt? … Was ſiehſt Du dort?“ Mein Blick war nach der offenen Glasthür gerichtet. Die Strahlen der untergehenden Sonne umwoben einen Roſenſtock mit zittergoldigem Dunſt und davon ſich abhebend — in lebenswahrer Deutlichkeit — mein Traumbild: Ich ſehe die Gartenſcheere flimmern — das weiße Haupthaar glänzen … „Nicht wahr“ — lächelt er zu mir herüber — „wir ſind ein glückliches altes Paar?“ Weh’ mir! — — — {Ende.}