Kurd Laßwitz: Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond 6. Geſpenſter Die Tafel war programmäßig verlaufen. Der Wagen fuhr zum Gartentor hinaus und die Gäſte winkten noch mit den Tüchern. Der Geheimrat verſicherte dem Landrat, daß die Kernſchen Damen entzückend liebenswürdig ſeien und die Weine vortrefflich. Die Werke ſchienen ja geradezu impoſant. Das beſtätigte der Landrat aufs eifrigſte. Harda war ſehr müde. Sie trat in ihr Zimmer mit der Abſicht, ſich auf ein Stündchen hinzulegen. Aber als ſie die Tür öffnete, ſprangen ihr zwei junge Mädchen mit Jubelrufen entgegen und umarmten ſie. „Wir warten ſchon lange!“ „Wir wollten uns unten nicht ſehen laſſen.“ „Kinder, was bringt ihr denn?“ „Wir ſind ja das Komitee, wir beide und du ſind gewählt.“ Es waren Gerda Wellmut und Annemi von Ratuch, die Töchter des Bürgermeiſters und des Oberſten. Sie erklärten, die Erholungs-Geſellſchaft hätte beſchloſſen, ein großes ländliches Feſt zu veranſtalten, und ſie drei müßten ſeitens der jungen Mädchen einige Überraſchungen vorbereiten. Damit umfaßten ſie Harda und alle drei tanzten vor Vergnügen im Zimmer herum. Die Müdigkeit war verſchwunden. Die Beratung war ſehr eingehend. Dann ging man zum Kaffee hinunter in die Veranda, Sigi und Tante Minna kamen hinzu, und es war ſechs Uhr geworden, ehe es die Mädchen merkten. Nun war es ja höchſte Zeit, zur Tennispartie zu gehen. Sie hatten ſich von der Tante verabſchiedet und begannen eben im Scherze einen Wettlauf nach dem Spielplatz, als Harda einen Telegraphenboten bemerkte, der ſein Rad an das Gartentor ſtellte. Sie rief den Mädchen zu, daß ſie warten ſollten und ging dem Boten entgegen. Die Depeſche war an ſie perſönlich. Sie wußte, was darin ſtehen würde. Der Vater telegraphierte aus Breslau: „Bin auf dem Wege nach Nikolai wegen Maſchine. Komme beſtimmt bis Sonnabend früh zurück. Teile dies Minna, Milke, Frickhoff mündlich mit.“ „Was iſt denn los?“ rief Sigi. „Geht nur, ich kann erſt ſpäter kommen, ich muß noch mit Tante ſprechen. Der Vater bleibt zwei Tage länger fort.“ „Komm nur bald nach.“ Hardas Übermut war vorüber. Sie ging zunächſt auf ihr Zimmer, um die Depeſche fortzulegen. „Teile dies mündlich mit.“ Sie wußte, warum. Es brauchte niemand zu wiſſen, wo ihre Nachricht den Vater erreicht hatte. Sie ſchloß die Depeſche in ihren Schreibtiſch und ſtützte den Kopf in ihre Hände. Jetzt fühlte ſie wieder, daß ſie müde war. Wie zufällig richtete ſich ihr Blick auf den Efeu hinter der Büſte. Dann ſchloß ſie auf einen Augenblick die Augen. Da war es ihr, als wenn ein kühler, beruhigender Hauch um ihr Haar wehte, alles wurde ganz ſtill in ihr; ſtatt des Efeus in ihrem Zimmer ſah ſie draußen die Buche am Rieſengrab in ihrem dichten, dunklen Efeukleide. Und es ſtieg in ihr auf wie eine Botſchaft, die vom Walde käme: „Arme Harda, warum ſorgſt du dich unter den Haſtenden? Wache auf und blühe mit uns unter den Wurzelnden! Groß und lebendig und dauernd iſt das Reich der Werdewelt. Wir haſten nicht, wir wachſen nach unſerm Geſetze. Ich will dir von meiner Seele geben, daß du nur der Macht folgſt, die dich zur Eigenblüte bildet im großen Walde des Lebendigen.“ Harda fuhr empor. Vor ihren Augen hatte ſie wieder den dunkeln Efeu mit der weißen Büſte davor. Sie konnte nicht ſagen, daß ſie eigentlich Worte gehört hatte, aber die Gedanken waren ganz deutlich in ihrem Bewußtſein. Wie ein troſtvoller Ruf zum eignen Wollen. Hatte ſie denn geträumt? Nein, nein! Es war wohl ein Mahnruf des geliebten, fernen Freundes, der ihr durch das Nachbild der Büſte erweckt war. Der kühle Hauch um ihr Haar war verſchwunden, aber ſie fühlte ſich wieder friſch und mutig, wie von der Kraft einer andern Welt erfüllt. Sie ſtand auf. Jetzt wollte ſie ihre Botſchaft an die Tante ausrichten, und dann — dann mußte ſich Zeit finden. — Tante Minna ſaß mit einem Buche im Garten, als Harda herantrat. „Du biſt es?“ ſagte Minna erſtaunt aufblickend. „Ich denke, du biſt beim Tennis?“ „Ich war im Begriff, hinzugehen, da kam eine Depeſche vom Vater.“ „Wann kommt er?“ „Übermorgen, mit dem Nachtzug.“ „Erſt übermorgen? Nicht heute? Warum denn? Wo iſt die Depeſche?“ „Sie war an mich, ich — ich habe ſie nicht hier. Vater hat ſich entſchloſſen, noch nach Nikolai zu fahren, um die Ankunft der Maſchinen zu beſchleunigen.“ „So ſo, — nach Nikolai,“ ſagte Minna nervös. „Da muß er ja wohl über Breslau.“ Harda nickte. „Und da braucht er zwei ganze Tage.“ „Aber Tante, er muß ſich doch in Nikolai aufhalten, da kann er ſich die Zeit auch nicht ausſuchen, in der er die Herren gerade in der richtigen Stimmung trifft.“ „Das konnte er doch überhaupt telegraphiſch machen.“ „Das hat eben nichts geholfen. Du weißt, wenn Vater ſelbſt kommt, das iſt etwas ganz anderes.“ „Nun ſo eilig iſt die Sache wohl nicht.“ „Sie iſt äußerſt eilig, beſonders wegen der neuen Maſchine —“ „Das konnte ja Hermann gar nicht wiſſen, er war ſchon unterwegs —“ „Hm, — vielleicht hatte Milke noch eine Adreſſe.“ „Du haſt immer eine Entſchuldigung für den Vater. Zeig mir doch mal die Depeſche.“ „Ich ſagte dir ja, ich habe ſie nicht hier.“ „So hole ſie doch einmal. Wo war ſie denn aufgegeben?“ „Aber Tante, das iſt ja ganz gleichgültig. Es ſtand nichts drin, als was ich dir geſagt habe, und daß ich es dir, Milke und Frickhoff mitteilen ſoll. Und das will ich jetzt tun.“ Harda wandte ſich zum Fortgehen. Sie wollte das Telephon im Hauſe benutzen. „Harda!“ rief Minna heftig. „Ich will wiſſen, woher die Depeſche war! Warum ſagſt du's nicht? Aber ich weiß ſchon. Sie war aus Breslau!“ Harda zuckte mit den Achſeln. „O, ich weiß ſchon!“ ſprach Minna immer aufgeregter. „Das war wieder eine abgekartete Sache mit Breslau! Nikolai iſt ein Vorwand. O ja! Und ihr ſteckt alle zuſammen! Alle gegen mich im Komplott! Ich arme, arme —“ Harda trat an die Schluchzende heran und legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. Minna wies ſie zurück. „Geh nur, geh!“ rief ſie. „Ich will nichts von dir wiſſen. Du biſt ebenſo ſchlecht wie dein Vater! Ihr betrügt mich alle!“ „Tante!“ ſagte Harda entſchieden. „Ich bitte dich, mäßige dich. Ich kann das nicht hören. Du weißt es.“ „So lauf' nur fort! Allein iſt mir am wohlſten. Geh nur! Du wollteſt ja lange ſchon auf die Univerſität. Kannſt ja auch nach Breslau gehen! Viel Vergnügen zur Geſellſchaft! Hahaha!“ Sie lachte krampfhaft. „Tante,“ ſagte Harda ruhiger, „ich will dir etwas ſagen. So geht das nicht. Ich habe mir's immer und immer wieder überlegt — ich halte das nicht mehr aus. Den ganzen Tag in Unruhe, und dann von dir dieſe Beleidigungen. Ich weiß ja, es tut dir nachher wieder leid, aber es kehrt auch immer wieder. Ja, ich gehe auf die Univerſität, wenn auch nicht gerade nach Breslau. Sobald Vater hier iſt, werde ich es ihm ſagen. Noch nächſte Woche gehe ich fort.“ „Geh nur, geh! Wenn du mir nur aus den Augen kommſt!“ Harda ſchritt langſam auf das Haus zu. Sie klingelte dem Fräulein und ſchickte es mit einer Erfriſchung zu Minna. Dann trat ſie ans Telephon und benachrichtigte nach dem Auftrage des Vaters den ſtellvertretenden Direktor und den Kommerzienrat. Als ſie durch den Hausflur ging, um ſich in ihr Zimmer zu begeben, kam ihr Sigi eilig entgegen. „Was iſt denn?“ fragte ſie. „Warum kommſt du nicht? Und Tante ſitzt im Garten und ſieht aus, als wenn ſie geweint hätte. Es iſt doch dem Vater nichts paſſiert?“ „Nein, nein, gar nichts. Er iſt noch wegen der Maſchinen nach Nikolai gefahren, und ich — ich habe einen kleinen Streit mit der Tante gehabt.“ Sigi ſah der Schweſter tief in die Augen. „Harda,“ ſagte ſie ernſt, „der Vater iſt geſund, wahrhaftig?“ „Ja, Schöpſel,“ antwortete Harda und küßte Sigi zärtlich. „Nun denn,“ ſagte Sigi wieder in ihrem gleichmütigen Tone, „dann iſt kein Grund, hier Trübſal zu blaſen. Gleich kommſt du mit hinüber und machſt kein Aufſehen.“ Sie zog Harda vor das Haus und wies hinüber nach dem Wege, wo im Schatten des Gebüſches die weißen Anzüge zweier Herren ſchimmerten. „Da iſt meine Eskorte!“ „Randsberg und Tielen, natürlich. Da muß ich dich freilich bemuttern.“ „Nun endlich! Ich bringe ſie!“ rief Sigi hinüber und zog die Schweſter mit ſich fort. * Es war ſchon ſpät, als die Mädchen nach Hauſe kamen; denn man mußte die ſchönen hellen Abende zum Spiel ausnützen. Harda hatte, um weiteren Erörterungen vorzubeugen, ihre Freundin Anna Reiner, eine entfernte Couſine, mitgebracht. Es wäre gar nicht nötig geweſen, denn ſie fanden ſchon Beſuch vor. Der Kommerzienrat Frickhoff war gekommen und fragte mit Intereſſe nach den unerwarteten Gäſten aus Hildenführ. Als es dunkel geworden war, luſtwandelte man an dem herrlichen Sommerabend durch Garten und Park. Frickhoff hatte ſich zu Harda geſellt, Minna ging mit den beiden andern Mädchen, von denen jedoch Sigi nach einiger Zeit verſchwunden war. „Wenn wir mit Hildenführ zur Einigung kommen, Fräulein Harda,“ ſagte der Kommerzienrat, „dann werden Sie ſicher ein ganz weſentliches Verdienſt darum haben. Der Landrat war ganz neidiſch, ſo liebenswürdig ſollen Sie gegen ſeinen Freund geweſen ſein.“ „Glauben Sie wirklich, daß der Geheimrat ſo großen Einfluß hat?“ fragte Harda. „Ausſchlaggebend iſt natürlich die techniſche und geſchäftliche Erwägung, und die iſt uns jedenfalls günſtig. Es iſt aber doch bei jeder ſolchen großen Sache ein Riſiko, und da kommt es auch darauf an, mit welcher Stimmung die entſcheidenden Perſönlichkeiten an den Entſchluß gehen. Außerdem haben wir Mitbewerber. Ich bin überzeugt, daß Brunnhauſen nur hier war, um einen — ſozuſagen — lokalen Eindruck zu gewinnen. Nun, einen beſſern konnte er nicht finden. Solche Tiſchnachbarin —“ „Sagen Sie weiter nichts, ſonſt verlange ich Proviſion, wenn der Abſchluß „H“ perfekt wird.“ „Verlangen Sie nur, ich garantiere Ihnen perſönlich.“ „Ich will mir's überlegen, Herr Kommerzienrat.“ „Ach, geraten Sie nicht ſchon wieder ins Formelle. Ich war doch ſo artig.“ „Meinetwegen. Alſo, Onkel Frickhoff.“ „Sie ſind ſchrecklich! Sagen Sie mir lieber, was Sie ſich wünſchen.“ „Wünſchen — ach — das würde Ihnen auch nicht gefallen. Eigentlich wiſſen Sie's ja längſt. Aber im Ernſte — ich kann dieſe fortwährende Unruhe hier nicht gut vertragen. Ich werde Vater bitten, daß er nun ſein altes Verſprechen einlöſt und mich ſtudieren läßt. Ich ſage es Ihnen ganz offen, damit Sie ſich nicht wundern, wenn ich nächſte Woche abreiſe.“ „Harda! Nein — nun erſchrecken Sie mich wirklich. Ich glaubte, Sie hätten endlich dieſe — dieſen alten Wunſch glücklich überwunden. Sie haben doch hier eine Tätigkeit gefunden, wie Sie ſich keine ſchönere, größere, einflußreichere denken können. Sie haben ſich einen gemeinnützigen Wirkungskreis geſchaffen, in unſern ſozialen Einrichtungen und in unſern repräſentativen Verpflichtungen. Was wollen Sie dafür eintauſchen? Ein Verſchwinden in beengten Verhältniſſen, ein Studium, von dem ſie nicht einmal wiſſen, ob es Ihnen Befriedigung gewähren wird.“ „Das wird es, das weiß ich. Und hier finde ich eben die Befriedigung nicht. Ich werde hin und her geworfen in tauſend Dingen, von denen mich keines zu innerer Ruhe kommen läßt. Ich möchte Sammlung und — Freiheit!“ „Die würden Sie dort nicht finden. Und warum ſo plötzlich? Iſt irgend etwas vorgekommen —“ „Es iſt der alte Gedanke, der mich nicht verläßt. Hier finde ich keine Zeit, meine Kenntniſſe zu vertiefen, und ich kann nicht länger warten, wenn mir nicht das verloren gehen ſoll, was ich mit der Reifeprüfung erworben habe. Und, ſehen Sie, wenn Sie mein Freund ſind, ſo ſollten Sie mich darin unterſtützen.“ „Daß ich Ihr Freund bin, Harda, von ganzem Herzen, das wiſſen Sie. Aber gerade darum bitte ich Sie, überlegen Sie noch. Übrigens würden Sie ja jetzt mitten in das Semeſter hineinkommen — doch das iſt Nebenſache. Ich bin überzeugt, Ihr Glück liegt auf andrer Seite. Sie brauchen nicht erſt zu ſuchen, was Ihre Aufgabe iſt. Sie können andre glücklich machen, das weiß ich. Sehen Sie, Harda, Sie gehören in einen großen Wirkungskreis, und Sie wollen Freiheit. Das läßt ſich vereinigen. Wenn Sie die Freiheit hier nicht finden, ich könnte mir eine Stellung für Sie denken, ja ich wünſchte nichts ſehnlicher —“ „Nein, nein, Herr Kommerzienrat, bitte, laſſen Sie mich jetzt in meinem Traum — in meiner Freiheit — machen Sie mir nicht alles ſchwerer — jetzt nicht —“ Sie blieb ſtehen und ſah ſich nach den andern um. Frickhoff blickte ſie von der Seite an mit überwältigendem Verlangen. Aber er wagte im Augenblick nichts weiter zu ſagen. Minna und Anna näherten ſich, Harda lief ihnen entgegen, Frickhoff kam langſam nach. „Sigi!“ rief Harda halb ſingend in die Nacht hinaus. Ganz von weitem klang eine ſignalartige Antwort. „Wir gehen nach Haus!“ ſang Harda hellſtimmig. Vor der Haustür trafen ſie auf Sigi. Da ſtand auch der Wagen Frickhoffs. Er bot ſich an, Anna Reiner nach Hauſe zu bringen. Bei der Verabſchiedung hielt er lange Hardas Hand feſt und fragte dann ſcherzend: „Zum Geſellſchaftsfeſt ſind Sie doch noch hier?“ „Vielleicht,“ antwortete Harda lächelnd. „Ich gehe ſchlafen,“ ſagte Minna kurz, als der Wagen fortgefahren war. „Gute Nacht.“ „Ich auch,“ fügte Sigi hinzu. „Gute Nacht.“ Beide traten ins Haus. Harda rief ihnen neckend einen freundlichen Gruß nach. Sie ſelbſt konnte ſich von der ſtillen, milden Nacht noch nicht trennen. Sie rief Diana und ging, von dem treuen Hunde begleitet, noch einmal langſam die breite Straße oberhalb des Parkes entlang. Der junge Mond war im Untergange begriffen. Die zwiſchen hohen Bäumen hinlaufende Straße wurde nur in der Mitte ſchwach von der Dämmerung der Sommernacht im Norden erhellt. Die Seiten lagen in tiefem Schatten. Zur Linken erſtreckte ſich jetzt die alte niedrige Friedhofsmauer. Schwerer, ſüßer Fliederduft zog herüber. Harda ſog tiefatmend den Nachthauch ein. Solche reich blühende Büſche ſtanden auch drüben am Grabe der Mutter, wo unter dem Efeu der Sternentau ſeine blauen Kapſeln geöffnet hatte. Dort mußte ja inzwiſchen die Entwicklung ebenfalls vorgeſchritten ſein, dort wollte ſie nachſehen — freilich, jetzt ging das nicht, aber nächſtens, am Tage. Und nun waren ihre Gedanken wieder bei der Frage — Wie weit mochte inzwiſchen der Botaniker gekommen ſein? Da war es ihr plötzlich, als wehe es ihr wieder leiſe kühlend um die Stirn, ſie ſah die efeuumzogene Buche, ihr Bewußtſein zerfloß in einem ſeltſam wonnigen, allgemeinen Gefühle, das ſich aus eigner Kraft zu einem mutigen Wollen verdichtete — — Aber auf einmal ſchrak ſie zuſammen. Diana gab Laut. Der große Leonberger richtete ſich auf, er wurde durch irgend etwas beunruhigt, das ſich über Hardas Haupte befinden mußte. Zugleich war die wunderſame Stimmung entflohen. Der Hund bellte noch ein paar Mal in die Luft und rannte ein Stück auf der Straße vorwärts, als wenn er dort einen Gegenſtand verfolgte, dann kam er wie beſchämt zurück. Harda ſann verwundert über die ſeltſame Erregung nach. Gerade ſo hatte die Stimmung eingeſetzt, als ſie am Nachmittage vor ihrem Schreibtiſch ſaß und den Waldefeu vor ſich zu ſehen glaubte; aber dann hatte ſich das Gefühl zu deutlichen Gedanken ausgebildet. Diesmal war Dianas Gebell dazwiſchen gekommen. War's nicht wirklich ſo ein kleiner Traumanſatz im Moment des Einſchlummerns? Sie war eine Meiſterin darin, im Sitzen einzuſchlafen, warum nicht auch im langſamen Gehen? Und die Vorſtellungs-Aſſoziation war ja ſehr natürlich, der Fliederduft und der Friedhof hatte ſie an das Grab der Mutter und den Efeu, dieſer an den Sternentau und den Efeu im Walde und die Begegnung erinnert — Aber wozu grübeln? Die Nacht war ſo ſchön! Doch es war wohl Zeit umzukehren, die Müdigkeit meldete ſich. Sie war ſchon ein ganzes Stück hinaus über den Friedhof und in den eigentlichen Bergwald hineingekommen. Harda ging zurück. Bald ſchien es ihr, als höre ſie Schritte eines Entgegenkommenden. Der Hund ſtutzte und eilte ihr dann in großen Sätzen voraus, wo er eine dunkle Geſtalt mit Freudeſprüngen begrüßte. Es war der alte Nachtwächter Gelimer. „Gott ſei Dank und Lob! Sie ſind's, Fräulein Kern,“ rief er aufgeregt. „Hatt' ich doch einen Schreck, als ich ſo 'ne weiße Geſtalt ſah! Iſt Ihnen nichts paſſiert, Fräulein?“ „Mir? Warum? Sie dachten wohl, ich wär' ein Geſpenſt?“ ſagte Harda lachend. „Lachen Sie nicht, Fräulein,“ ſprach Gelimer geheimnisvoll. „Es iſt was nicht geheuer. Es iſt gut, daß ich bei Ihnen bin. Wir wollen machen, daß wir ſchnell hier vorbeikommen. Wiſſen Sie, Fräulein,“ flüſterte er, „auf dem Friedhof ſpukt's.“ Jetzt lachte Harda laut auf. „Gelimer, Sie werden doch nicht —“ „Nein, nein, Fräulein. Ich bin ganz nüchtern, aber ich hab's wirklich geſehen. Es ſind Lichter zwiſchen den Bäumen, das ſind Seelen, die dort 'rumfliegen! Sie können mir's glauben.“ „Es werden Glühwürmchen geweſen ſein.“ „Nee, das kenn' ich doch. Sie waren viel größer und viel weniger hell, nur ſo ganz matt ſchimmernd, man konnt's nicht deutlich erkennen. Wiſſen Sie, Fräulein, ſo wie kleine Puppen — wir werden's gleich ſehen, wenn ſie noch da ſind. Ruhig, Diana!“ Nach einigen weiteren Schritten blieb Gelimer ſtehen. „Nu ganz leiſe,“ flüſterte er. „Sie ſind jetzt weiter drüben. Dort in dem Baume, ſehen Sie nicht, Fräulein?“ Harda blickte aufmerkſam in das Dunkel. Seltſam, da ſchimmerte es wirklich gelblich — — „Ach!“ rief ſie plötzlich. „Das iſt ja Goldregen! Das iſt weiter nichts als die langen Blütendolden, die herüberſchimmern.“ „Aber Fräulein, vorhin waren ſie weiter vorn und bewegt haben ſie ſich auch.“ „Das wird ein andrer Strauch geweſen ſein, den Sie da geſehen haben. Vielleicht hat ſie ein leichter Wind bewegt, oder eine Katze iſt in den Äſten geweſen.“ „Nee, nee, Fräulein! Und ſehen Sie, jetzt ſind ſie auch weg.“ In dieſem Augenblick heulte der Hund kurz auf und ſchnappte in die Luft. Erſt auf Gelimers Zuruf beruhigte er ſich wieder. Harda ſpähte ſcharf hinüber zwiſchen die Bäume. „Allerdings,“ ſagte ſie, „ich kann ſie jetzt nicht mehr erkennen, aber es iſt eben auch dunkler geworden. Es ſcheint, daß Wolken heraufziehen. Wir können ja von hier nur ein kleines Stück Himmel ſehen. Kommen Sie nur, Gelimer. Was Sie geſehen haben, waren ſicher keine Geſpenſter.“ „Fräulein,“ begann Gelimer vorſichtig, „es gibt ſolche Sachen. Ob es Seelen ſind, das weiß ich ja nicht ſicher. Auf dem Friedhof, da denkt man eben daran. Aber im Walde, als ich noch beim Förſter Gabling war, da hab' ich einmal geſehen, im Mondſchein, wiſſen Sie, mitten auf der Wieſe, da ſtand ein Diſtelſtrauch, und da guckte etwas Helles heraus —“ „Ach, Gelimer, da aus Ihrer Taſche guckt auch was Helles! Da haben Sie vielleicht ſchon zu tief hineingeguckt.“ „Fräulein, das iſt noch gar nicht aufgemacht. Das iſt nur für den Morgen, wenn's kalt wird.“ „Daß Sie nur nicht wieder in den Graben fallen! Gute Nacht, Gelimer.“ Harda lief leichtfüßig die Straße entlang, in fröhlichen Sprüngen folgte ihr der Hund. Sie wollte allein ſein. Bald war das Haus erreicht. Diana lagerte ſich im Hausflur. Leiſe ſtieg Harda die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. „Nein,“ ſagte ſie dabei entſchloſſen zu ſich, „Geſpenſter wollen wir nicht ſehen, aber den Sternentau auf dem Friedhof, den wollen wir doch morgen aufſuchen.“ 7. Der Vater