Kurd Laßwitz: Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond 2. Am Rieſengrab Beim erſten Blicke, den Harda durch die Zweige warf, zuckte ſie zuſammen. Es ſaß jemand auf der Bank. Ein Name wollte ihren Lippen entfliehen — wer auch ſonſt konnte hier — aber nein, es war nicht möglich, ihn hätte ſie ſogleich erkannt — es mußte ein Fremder ſein. Wer hatte hier etwas zu ſuchen? Wollte man ſie auch hier ſtören? Wie ärgerlich! Es war ein einziger Augenblick, worin ihr dieſe Gefühle aufſtiegen. Ohne Zögern trat ſie auf den Platz und ſah nun, wer der Eindringling war. Ein leichtes Lächeln ſpielte um ihren Mund. Der würde ihr jedenfalls keine Schwierigkeiten machen. Auf dem Tiſche befanden ſich ein Strohhut, einige mit ihren Wurzeln ausgelöſte Pflanzen, Meſſerchen, Schere und zwei Glasfläſchchen. Der Inhaber dieſer Utenſilien aber war ſo eifrig beſchäftigt, daß er Hardas Kommen nicht einmal bemerkt hatte. Er betrachtete mit tief herabgebeugtem Kopfe durch die Lupe aufmerkſam ein mit der Pinzette gehaltenes Blättchen. Erſt als Harda dem Tiſche ſich näherte, und er ihre Schritte vernahm, blickte er auf, und es dauerte noch kurze Zeit, ehe er ſeine Brille zurechtgeſchoben und die Augen der Entfernung akkomodiert hatte. Dann ſprang er auf und verbeugte ſich höflich. „Fräulein Kern!“ ſagte er überraſcht. „O, da muß ich gewiß ſehr um Entſchuldigung bitten. Ich fürchte, ich bin hier ohne Erlaubnis auf Ihrem Grund und Boden eingedrungen. Aber, gnädiges Fräulein, ich kann verſichern, ich bin mir deſſen in keiner Weiſe bewußt geweſen.“ „Fürchten Sie gar nichts, Herr Doktor,“ antwortete Harda freundlich. „Der Grundbeſitz der Hellbornwerke reicht hier nur bis ans rechte Ufer der Helle. Aber aus meinem Anzuge könnten Sie freilich ſchließen, daß ich noch innerhalb der Parkgrenzen umherliefe.“ „O bitte —“ „Es iſt aber ganz gleich, ich geniere mich nicht und ſetze mich ein wenig her. Aber Sie dürfen ſich auch nicht ſtören laſſen, nehmen Sie wieder Platz und — Ach!“ unterbrach ſie ſich faſt heftig, „da haben Sie ja meinen Sternentau!“ „Was habe ich? Wie nennen Sie die Pflanze? Sie kennen ſie? Sternentau?“ fragte der Doktor lebhaft. „Nein, nein,“ beruhigte Harda. „Ich nenne die blauen Blumenſterne nur ſo für mich wegen der runden Erhebung im Innern, die wie ein Tautropfen glänzt. Es iſt bloß ein Privatname zu meiner ſtillen Freude. Die Pflanze findet ſich nämlich ſonſt nirgends als hier in der Nähe des Rieſengrabs, und ſie ſcheint überhaupt noch nicht entdeckt. Ach, ich drücke mich wohl ſehr dumm aus. Sie ſteht in keiner Flora. Nun haben Sie die Blumen entdeckt und ich habe ſie nicht mehr für mich. Aber das mußte ja doch einmal kommen.“ „Ich bitte Sie, Fräulein Kern,“ ſagte der Doktor mit ganz erſchrockenem Geſicht, „wenn es ſich wirklich ſo verhalten ſollte, daß die Pflanze noch nicht beſtimmt iſt — mir iſt ſie allerdings völlig fremd, auch fremdartig — wenn ſie bisher nur Ihnen bekannt war, ſo werde ich ſelbſtverſtändlich Ihr Entdeckerrecht achten. Die Unterſuchung wäre ja freilich ſehr intereſſant, ja eine wiſſenſchaftliche Pflicht — aber ohne Ihren ausdrücklichen Wunſch, das verſpreche ich Ihnen, werde ich nichts bekannt geben.“ Harda ſah ihn dankbar an, daß ihm ganz merkwürdig zumute wurde, und ſprach lächelnd: „Es iſt doch wahr, was unſre Leute von Ihnen ſagen: Der Doktor Eynitz iſt ein guter Mann.“ „Hm — bitte —“ ſagte Eynitz verlegen, und ein leichtes Erröten lief über ſein freundliches Geſicht — „Das braucht nicht immer ein Lob zu ſein, es kann auch eine Schwäche bedeuten.“ „Wenn Sie es lieber wollen, tun Sie mir einen Gefallen aus Schwäche. Eine Schwäche iſt's ja auch, wenn ich das Pflänzchen noch eine Weile für mich behalten möchte. Aber die Pflanzen ſind mir nun mal überhaupt ans Herz gewachſen. Die ſind doch nicht einfach eine Sache, ſie leben und fühlen ja, und jede einzelne iſt was für ſich. Ich bilde mir immer ein, wenn ich ſo ein Pflänzchen recht lieb habe, müßte mich's auch wieder gern haben.“ Sie nickte dem Blümchen, mit dem ihre Hand ſpielte, unwillkürlich vertraulich zu. Eynitz nickte ebenfalls. „Ja, Herr Doktor,“ fuhr Harda fort, „Ihr freundliches Anerbieten kann ich natürlich nicht ganz annehmen, aber wir könnten uns einigen. Sie ſtudieren den Sternentau und beſtimmen ihn und werden Ihr Reſultat veröffentlichen, aber den Fundort, nicht wahr, den Fundort geben Sie nicht an, damit wir hier nicht von Botanikern überlaufen werden. Oder geht das nicht?“ „Nun“ — Eynitz drehte bedenklich an ſeinem braunen Schnurrbärtchen und ließ die Augen zwiſchen Harda und dem Walde hin und hergehen, als lauerten dort ſchon Pflanzenjäger — „verſchweigen kann man ja den Fundort freilich nicht — aber es ließe ſich wohl ein Ausweg finden. Hat denn dieſe Felsgruppe einen offiziellen Namen?“ „Wir nennen ſie das Rieſengrab, weil die Leute behaupten, hier läge ein Rieſe begraben, aber ich glaube nicht, daß der Name auf einer Karte ſteht. Wo haben Sie denn den Sternentau überhaupt gefunden?“ „Hier unter dem Efeu und — ja, und dann auch ganz verſteckt abſeits zwiſchen den Felstrümmern am Wege hier herauf — d. h. Weg iſt ja nicht da — ebenfalls unter Efeublättern.“ „Sonſt nirgends? Nun ja, er wächſt auch ſonſt nirgends. Aber dann genügt doch, wenn Sie ſagen: „Weſtlich von Wiesberg, Ufer der Helleſchlucht, unter Efeu. Dann können die Leute ſuchen. Und daß ſie nicht hier heraufkommen, dafür will ich ſchon ſorgen. Das Plateau hier oben, das muß eingezäunt werden — unauffällig. Die Gegend iſt überhaupt nicht mehr ganz ſicher vor Touriſten. Iſt's Ihnen ſo recht?“ „Mir iſt alles recht, wie Sie's wünſchen. Aber ich denke, dieſes Terrain gehört nicht zu Ihrem Beſitztum.“ „Allerdings nicht, aber ich kenne den Beſitzer gut, und ich weiß, das tut er mir ſicher zu Gefallen.“ „So ſind wir hier auf Privatbeſitz? Wem gehört denn dieſer Wald?“ „Ach, es iſt nur ein mäßiges Stückchen Fels, Wald, Wieſe und ein umgebautes ehemaliges Bauernhäuschen. Solves heißt der Beſitzer. Sie werden den Namen kennen.“ „Geo Solves etwa?“ „Freilich.“ „Ach gewiß! Jetzt erinnere ich mich ja, daß er ſich vor einigen Jahren hier angekauft hat. Und das iſt ein guter Freund von Ihnen?“ „Jetzt unſer Nachbar. Aber ich kenne ihn freilich von Jugend auf. Er iſt mein Pate.“ „Geo Solves Ihr Pate? Das iſt intereſſant. Da ſind Sie ja zu beneiden.“ „Ich beneide mich ja auch — Aber bitte, für was erklären Sie nun das Blümchen? Iſt es nicht reizend mit den fünf glockenförmig nach außen gebogenen Blättchen, über die es von der Mitte her, von dem glänzenden Köpfchen, wie ein leichter, ſilberglitzernder Schleier von ſeidenen Fäden fällt! Und dieſes feine Spitzengewebe der Ranken und Blätter! Eigentlich ſieht's wie ein kletterndes Farnkraut aus, wenn's ſo was gibt. Aber dieſe offene Blüte? Man möchte an eine Akelei denken.“ „Ein Blümchen iſt's nicht, gnädiges Fräulein. Ich habe ſchon mit der Lupe geſehen, daß kein Samen vorhanden iſt, und die Fäden, die Sie wohl für Staubblätter halten, ſind irgend ein anderes Organ. Und hier ganz im Innern, was Sie ſehr bezeichnend mit einem Tautropfen verglichen, das iſt kein Stempel. Das möchte ich für ein Sporangium halten, für eine Kapſel, darin die Sporen reifen. Ob man aber die Pflanze zu den Farnen rechnen darf, oder ob ſie eine ganz neue Gattung von Kryptogamen vorſtellt, das läßt ſich nur mit Hilfe des Mikroſkopes entſcheiden, wenn man die weitere Entwicklung im Generationswechſel beobachtet.“ Harda ſann einen Augenblick nach, dann begann ſie wieder: „Mag's auch keine Blütenpflanze ſein, ſo kann ich doch ruhig weiter Sternentau ſagen. Das iſt ein neutraler Name. Ich will Ihnen noch etwas Seltſames mitteilen, Herr Doktor. Die Pflanze iſt nämlich erſt ſeit vorigem Jahre hier aufgetreten. Das wird Ihnen erklären, warum ſie noch nicht wiſſenſchaftlich unterſucht iſt. Ich habe nun verſucht, ſie durch Ableger zu verpflanzen, ſie iſt aber nur an zwei Stellen fortgekommen, nämlich wo ſie auch unter Efeu ſteht. Und dann habe ich aufs genaueſte aufgepaßt, ob das Pflänzchen denn keine Früchte trägt, aber ich habe nie etwas finden können. Das würde ja mit dem ſtimmen, was Sie ſagen. Von dem Generationswechſel habe ich geleſen, aber ſehr klar iſt es mir gegenwärtig nicht.“ „Wenn Sie geſtatten — ein etwas groteskes Beiſpiel wird den Ausdruck ſogleich klar machen. Nehmen Sie an: Eine Henne legt ein Ei, daraus kröche aber nicht wieder ein Hühnchen heraus, ſondern es wüchſe zunächſt ein Strauch hervor. Der Strauch bilde zweierlei Blüten, weibliche und männliche; und eines ſchönen Tages löſen ſie ſich ab und fliegen als kleine Hühnchen und Hähnchen davon. Wenn ſie erwachſen ſind, finden ſie ſich zuſammen, und die Hühnchen legen wieder Eier, aus denen dann Sträucher hervorwachſen. So löſen ſich immer Strauch und Vogel in der Nachkommenſchaft ab. Das wäre ein richtiger Generationswechſel.“ Harda lachte. „Ja wohl,“ rief ſie lebhaft, „jetzt erinnere ich mich wieder. Der Vorgang iſt gar nicht ſo abenteuerlich, wie er ſich in dieſer Form von Hühnern und Sträuchern anhört. Denn die Quallen, die ſo ſchön ſchillernd im Meere ſchwimmen, machen es tatſächlich ähnlich.“ „Ganz richtig,“ ſagte Eynitz. „Eine Qualle bringt ein Ei hervor, daraus entwickelt ſich aber nicht eine frei ſchwimmende Qualle, ſondern zunächſt ein Weſen, das mehr Pflanze als Tier ſcheint, ein Polyp, der am Boden feſtſitzt. Aus ihm wachſen erſt durch Knoſpung die Quallen heraus, die ſich dann loslöſen und fortſchwimmen. Nun, unter den Pflanzen zeigen die Kryptogamen meiſt etwas Ähnliches. Nehmen wir an, unſer Sternentau hielte es auch ſo, dann würden aus den Sporen dieſer blauen Becher nicht wieder die Sternentaupflänzchen entſprießen, ſondern irgend ein ganz andres Gewächs, vielleicht mikroſkopiſch klein, oder wenigſtens unſcheinbar, wie z. B. die grünen Täfelchen beim Farnkraut, die man den Vorkeim nennt. Erſt an dieſen Vorkeimen würden ſich ſpäter Bildungen von zwei getrennten Geſchlechtern zeigen, die Hühnchen und Hähnchen unſeres Beiſpiels. Es könnte auch ſein, daß die ganze Entwicklung ſich ſchon innerhalb der Kapſeln vollzöge und die Jungen Hühnchen und Hähnchen gleich fertig herausflögen. Und erſt, wenn nachher die Hühner Eier legen, will ſagen, wenn die betreffende zweite Generation ihrerſeits Sporen hervorbringt, ſo wächſt aus dieſen durch Sproſſung die grüne Sternentaupflanze heraus. Aber — ich langweile Sie — entſchuldigen Sie, ich komme ſo leicht ins Dozieren.“ „Nein, nein, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Wenn ſich's ſo verhält, ſo iſt's ja ganz klar, warum ich keine Früchte finden konnte. Wer ſagt uns denn, wie dieſes Zwiſchengeſchlecht beim Sternentau beſchaffen iſt? Es iſt vielleicht ein ganz anderes Weſen, ein höheres — gar keine Pflanze mehr! Vielleicht iſt's ein Elfchen, ein richtiges Geiſtchen, natürlich auch mit einem richtigen Körperchen. Sie lachen — ganz recht — was ich rede, iſt wohl ſehr dumm. Aber ſchön wär's doch, wir ſelbſt hätten auch ſolchen Generationswechſel, natürlich nach Willkür, wie es Menſchen geziemt, und man könnte manchmal aus ſeiner Haut heraus als ein freieres Weſen ſchweben — —“ Sie ſah mit einem leichten Anhauch von Wehmut in die Ferne. Eynitz lachte nicht. Er ſah ganz ernſthaft aus, als er ſagte: „Wenn man nur ſicher wäre, daß die eine Generation ſich auch noch der andern erinnerte. Aber, gnädiges Fräulein, wer ſo glücklich iſt wie Sie —“ Harda ſah ihn fragend an. „Ich meine, nach dem, was ich heute an Ihnen kennen lernte, da haben Sie ja das freie Weſen immer in ſich. Sie brauchen nicht aus ſich herauszugehen, Sie ziehen ſich nur in Ihre Perſönlichkeit zurück. Wenn Sie vom Haus oder der Fabrik oder dem Tennis in dieſen Wald treten und mit den Pflanzenſeelen leben, da wandeln Sie ſchon in dem höheren, in Ihrem eignen Reiche —“ „Ach bitte, nein,“ rief Harda aufſpringend, „philoſophieren Sie nicht über mich, es lohnt ſich wirklich nicht. Sehen Sie nur einmal dieſen Efeu an, wie er an der Buche emporſtrebt, und in welcher Fülle, immer höher und höher.“ Eynitz reckte ſeine lange Geſtalt empor. „Er will zum Lichte,“ ſagte er, „denn nur dort kann er blühen.“ „Und er will blühen, das glaube ich. Sehen Sie — wenn wir nun ein Generationswechſel vom Efeu wären? Wenn unſer Bewußtſein von Zeit zu Zeit einmal durch die Efeuſeele hindurchginge? Warum wächſt der Efeu ſo oft auf Gräbern?“ „Weil wir ihn dort hinpflanzen.“ Harda bog die Blätter des Efeus beiſeite. „Und ſehen Sie, wie unſer Sternentau ſich ganz dicht an den Efeu ſchmiegt? Ich glaube, die haben etwas zuſammen, die hecken etwas aus.“ „Ich habe mit der Lupe geſehen, der Sternentau beſitzt ganz feine Faſern, die ſich an den Efeu heften. Man muß das noch näher unterſuchen.“ „Das tun Sie nur. Aber hier will ich Ihnen noch etwas zeigen, Sie müſſen mir nur verſprechen, das wirklich nicht weiter zu ſagen — nur Ihnen als Botaniker verrat' ich's.“ Sie ging nach dem Felſen zu. „Bitte, hier drüben müſſen Sie ein paar Schritte hineinkriechen, und dann blicken Sie hinunter in den breiten Spalt des Felſens. Bücken Sie ſich aber tüchtig — bitte hier.“ Harda drängte die Buchenzweige vor dem Grotteneingang beiſeite und ſchlüpfte in die Höhlung. Eynitz folgte. „Warten wir, bis ſich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat.“ Es war ganz ſtill; draußen hörte man die Inſekten ſummen. „So!“ ſagte Harda. „Und nun — da unten — das ſind die Schätze des Rieſens, der hier begraben liegt.“ Sie ſtanden ſchweigend vor der dunkeln Höhlung. Da drunten aber funkelte es grüngelb wie Gold und Edelſteine aus dem Geheimnis des Berginnern. „Ein Märchen,“ ſprach Eynitz bewundernd. „So fühlt man's, nicht wahr? Und das ſoll nicht mitfühlen? Sollte gar nichts merken, daß es mitſtrebt, wie wir nach dem großen Gotte, dem Lichte?“ „[Schizostega osmundacea]“, ſagte Eynitz leiſe vor ſich hin. „Ja, Leuchtmoos,“ bemerkte Harda. „Ich weiß es. Lichtbrechende Zellen beleuchten ſich ihr eignes Blattgrün. Aber Sie haben den Zauber gelöſt — gehen wir, Sie müſſen vorankriechen.“ Und draußen fragte ſie: „Sie ſind doch Mediziner, woher haben Sie Ihre botaniſchen und biologiſchen Kenntniſſe?“ „Aber, gnädiges Fräulein, woher haben Sie die Ihren?“ „Ich habe keine. Ich habe nur hier und da etwas aufgeſchnappt und habe mir manches erklären laſſen können. Ich leſe auch gern — ich hoffte ja, Botanik zu ſtudieren.“ Ihre Augenbrauen zogen ſich zuſammen und ſie ſchwieg. Eynitz wagte nicht zu fragen. Er begann: „Ich habe nun wirklich Biologie ſtudiert, ich bin eigentlich Biologe, oder ich wollte es werden. Mein „Doktor“ iſt philosophioae, nicht medicinae. Dann mußte ich leider mein Studium aufgeben, als mein Vater plötzlich ſtarb. Ich war gezwungen, ein Brotſtudium zu ergreifen, und meine biologiſchen Vorkenntniſſe ermöglichten mir, in verhältnismäßig kurzer Zeit das mediziniſche Staatsexamen zu beſtehen. Jetzt habe ich kaum noch Zeit zu meinen Lieblingsarbeiten. Ein Kaſſenarzt, Sie wiſſen, iſt mehr als vollauf beſchäftigt. Aber —“ und er machte ſich daran, ſeine Utenſilien und Pflanzen zuſammen zu packen — „für den Sternentau muß ſich doch noch Zeit finden.“ „Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Doktor. Nun ſagen Sie mir bloß noch — ich bin wohl ſehr neugierig — wie und woher ſind Sie eigentlich hier heraufgekommen?“ „Ich botaniſierte am linken Helle-Ufer aufwärts und geriet dabei mehr und mehr in Dickicht und Felstrümmer. Die wenigen Exemplare Ihres Pflänzchens, die ich fand, lockten mich immer höher, und ſchließlich ſah ich, daß ich nicht mehr zurück konnte. Ich kroch alſo weiter, und auf einmal treffe ich auf richtige Steinſtufen und dann auf eine Holztreppe. Das iſt jedenfalls der Weg, den Sie heraufgekommen ſind?“ „Nein, ich komme von oben. Da gibt es auch noch einen Weg, der aber zuletzt abſichtlich vom Beſitzer für den Fremden unkenntlich gemacht iſt. Aber den von Ihnen gefundenen Weg werden wir dann hinabgehen.“ „Wo kommt der heraus?“ „An einem Laufſtege über die Helle, der drüben mit einem Gatter verſchloſſen iſt. Und den Schlüſſel zu dieſem Gatter habe ich hier.“ Sie holte mit einiger Mühe aus ihrer Taſche einen Schlüſſel, den ſie triumphierend vorwies. „Und wo führt der Steg hin?“ „In den Park der Villa Kern, die Ihnen bekannt ſein dürfte. Wie ſpät iſt es denn überhaupt? Ich habe keine Uhr bei mir.“ „Sieben Uhr und zwanzig Minuten,“ ſagte Eynitz. „Ach, da haben wir aber wirklich keine Zeit mehr. Ich glaubte, es wäre erſt ſo weit nach ſechs Uhr. „Wir“ ſage ich, entſchuldigen Sie, denn ich muß Sie mitnehmen. Erſtens wegen des Schlüſſels, denn ſonst finden Sie keinen gangbaren Weg. Und zweitens — ich habe nämlich den offiziellen Auftrag von meinem Vater, Herrn Doktor Eynitz zum Abendeſſen einzuladen. Was hiermit geſchieht.“ Sie knickſte mutwillig. Eynitz machte ein verblüfftes Geſicht „Mich? Ja, aber Sie konnten doch nicht wiſſen, daß Sie mich hier treffen würden.“ Harda lachte übermütig. „Nein, Herr Doktor, ſo ſchlau war ich nicht. Aber da ich's nun ſo gut getroffen habe, ſo konnte ich's gerade perſönlich ausrichten. Sonſt hätte ich ſchon früher nach Hauſe laufen müſſen, um Sie telephoniſch einzuladen. Entſchuldigen Sie die Formloſigkeit, es handelt ſich natürlich um keine Geſellſchaft.“ Eynitz ſah höchſt bekümmert aus. Nach kurzer Überlegung ſagte er: „Haben Sie herzlichſten Dank, gnädiges Fräulein, aber ſagen Sie Ihrem Herrn Vater —“ „Mein Vater mußte freilich plötzlich verreiſen, aber Sie finden noch einige Herren bei uns, die wir auch erſt nachmittags gebeten haben — Herrn Kommerzienrat Frickhoff, Leutnant von Randsberg, Leutnant Thielen.“ „Es tut mir ganz außerordentlich leid, ich kann die Einladung nicht annehmen, ich habe noch einige unumgängliche Beſuche zu machen, die bis neun Uhr erledigt ſein müſſen. Nebenbei, ich müßte vorher auch erſt nach Hauſe, denn nach dieſer Kletterei kann ich unmöglich in ſolchem Aufzuge — und dann würde es doch zu ſpät werden —“ „Das iſt ja ſchade,“ bemerkte Harda nach einem prüfenden Blick auf Eynitz gleichmütig. „Nun, vielleicht kommen Sie noch nach Ihren Beſuchen, vor elf gehen die Herren nicht.“ „Sehr liebenswürdig. Ich kann nur nichts verſprechen. Sie wiſſen, der Arzt kann nicht über ſeine Zeit verfügen.“ „Sehen Sie zu. Ich gehe voran.“ Eynitz warf ſeine Expeditionstaſche über die Schulter und folgte langſam. Er kannte den Weg nicht wie Harda, und ſo war ihre geſchmeidig Geſtalt auf dem buſchigen Zickzackwege ihm bald entſchwunden. Er beeilte ſich auch nicht, denn erſtens erforderte der kaum gebahnte Pfad Aufmerkſamkeit, und zweitens waren ſeine Gedanken damit beſchäftigt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, die unerwartete Einladung anzunehmen. Er hatte ja im Hauſe des Direktors der Hellbornwerke, das einen geſellſchaftlichen Mittelpunkt von Wiesberg und Umgegend bildete, nur in den formellſten Grenzen verkehrt, zumal ihm weder ſeine Zeit geſtattete, noch ſeine Neigung ihn drängte, lebhaftere Geſelligkeit zu ſuchen. So kannte er auch die Töchter hauptſächlich vom Hörenſagen als gefeierte Tänzerinnen und umworbene gute Partieen. Nur mit Harda war er bei Krankenbeſuchen in den Familien der Beamten und Arbeiter und im Krankenhaus einige Male zuſammengetroffen und hatte ſie dort in ihrer teilnehmenden Fürſorge ſchätzen gelernt. Und nun hatte er hier am Rieſengrabe im Banne der Pflanzenſeelen noch etwas ganz anderes erfahren — — Das Geheimnis des Sternentaus mußte ſie notwendig wieder zuſammenführen. Und dieſer Verkehr hatte ſo viel Verlockendes! Es war in Wiesberg wirklich kein Überfluß an anregenden Perſönlichkeiten — ſollte er dieſe erſte familiäre Einladung ablehnen? Komiſch, wie war nur der Direktor gerade heute darauf gekommen? Sollte Harda improviſiert haben? Dann mußte er doch hin, wenn er ſie nicht verletzen wollte. Aber nein — wie konnte er ſich ſo etwas einbilden. Er ärgerte ſich über ſich ſelbſt. Da erblickte er den Steg dicht vor ſich. Harda ſtand ſchon am andern Ufer, wo ſich die Tür des Gatters befand, das am ganzen rechten Ufer hinlief und den Park der Villa abgrenzte. Sie hatte die Tür geöffnet. Auf dem weißen Kleide ſpielten rötliche Strahlen der niedergehenden Sonne, grünlich ſchimmerten dagegen Haar und Schultern unter dem Widerſchein des breiten Buchenlaubes, und die braunen Augen leuchteten ungeduldig aus dem mit der Hand beſchatteten Geſicht, als ſie ihm entgegenrief: „Kommen Sie endlich, Herr Doktor? Hier müſſen Sie noch hinüber, drüben an Ihrem Ufer geht kein Weg.“ Da ſtand ſie wie eine lebendig gewordene Blume. Das Tor des Zaubergartens war geöffnet. Jetzt ſchloß es ſich hinter dem Eingetretenen. Einen Augenblick verharrte er unentſchieden. Sollte er ſeine Ablehnung unter irgend einem Vorwande widerrufen? „Wollen Sie direkt in die Kolonie?“ fragte Harda. „Da gehen Sie am nächſten mit mir hier herauf an der Villa vorbei.“ „Nein,“ antwortete Eynitz. „Ich muß zuerſt in meine Wohnung.“ „Dann wandern Sie hier am Zaune entlang, aber langſam bergauf, da kommen Sie auf den Fahrweg, das Tor iſt ja immer offen. Alſo —“ „Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein, herzlichſten Dank. Über den Sternentau berichte ich, ſobald ich klarer ſehe.“ Harda reichte ihm die Hand und nickte mit dem Kopf. „Adieu!“ ſagte ſie und ſprang den ſteilen Weg in den Park hinauf. Er ſah ihr nach, bis ſie hinter den Bäumen verſchwand. Dann ging er ſeinen Weg in Gedanken verloren. Es kam ihm vor, als wäre Harda nach ſeiner Ablehnung zurückhaltender geworden. War er ungeſchickt geweſen? Als er aus dem Gartentor herausſchritt, rollte der Wagen des Kommerzienrats hinein. Eynitz grüßte, dann warf er den Kopf in die Höhe und ſprach bei ſich: „Nein, es wäre Torheit. Ich gehe nicht hin.“ 3. Ebah, der Efeu