Kurd Laßwitz: Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond 10. Sternentau Die beiden Botaniker ſchritten durch den Wirtſchaftsgarten nach den Anlagen, wo hohe Buchen wohltuenden Schatten verbreiteten. Öfter blieb Eynitz ſtehen, wenn ſeine Demonſtrationen eifriger wurden. Er holte einige Zeichnungen aus der Taſche und erläuterte daran, was er berichtete. „Zunächſt alſo,“ wiederholte er, „hat ſich meine Annahme vollſtändig beſtätigt, daß es ſich bei den Pflänzchen des Sternentaus um Sporenbildung auf ungeſchlechtlichem Wege handelt. Die glänzenden kleinen Erhebungen unter den ſilbernen — richtiger ſeidenartig ſchimmernden — Fädchen, wonach Sie der Pflanze den bezeichnenden Namen Sternentau gaben, erzeugen in ſich Sporen. Die wuchſen in der Tat wie bei manchen Kryptogamen ſogleich in der Kapſel weiter aus, wobei die Fäden eine ſelbſtändige Rolle ſpielten — es war mir das ganz neu. Es wuchs nämlich jede der Sporen mit mehreren Fäden zuſammen. Hierbei zeigte ſich nun, daß die bisher überall in den Zellen vorhandenen Doppelkerne ſich trennten. Die neu entſtandenen Gebilde enthielten nur Zellen mit einem Kern. Dieſe Reduktion der Kerne beweiſt, daß hier eine ganz andere Generation im Entſtehen begriffen iſt. Entſchuldigen Sie, aber ich muß da etwas ausführlicher ſein —“ „Sie brauchen ſich nicht zu entſchuldigen, Herr Doktor, ich bin auf akademiſche Vorträge vorbereitet,“ ſagte Harda lächelnd. „Habe ich Ihnen nicht mitgeteilt, daß ich das Reifezeugnis eines Real-Gymnaſiums beſitze?“ „Sie haben — ach, gnädiges Fräulein — Sie ſprachen allerdings von dem Wunſche, Botanik zu ſtudieren — ich habe das nicht ſo formell verſtanden —“ „Es iſt ganz ernſtlich gemeint. Vater konnte mich nur bis jetzt nicht entbehren. Aber bitte, fahren Sie fort. Sie wollen jedenfalls ſagen, daß eine Trennung der Geſchlechter auftritt, männliche und weibliche Sporen.“ „Ganz richtig. Nur paßt eben die Bezeichnung Sporen nicht mehr, man müßte da neue Fachausdrücke einführen. Es bilden ſich nämlich nicht etwa gleich Keimzellen, die ausſchwärmen und dann durch ihre Vereinigung den neuen Pflanzenkeim erzeugen, ſondern die Sache verläuft viel komplizierter. Und — um es gleich zu ſagen — ich habe ſie bisher leider nicht bis zu Ende verfolgen können. Aus den Sporenbechern erhebt ſich ein verwickelter eigenartiger Organismus, zu dem die Fäden ſich vereinigen, und zwar zeigt dieſes Wachstum in den hellblauen und den dunkelblauen Bechern etwas verſchiedene Formen, woraus ich auf einen Geſchlechtsunterſchied der beiden Bildungen ſchließe. Nun iſt aber dabei noch etwas ganz Unerklärliches.“ Eynitz machte eine Pauſe. Harda ging ſchweigend neben ihm in ungeduldiger Spannung. Aber ſie wagte keine Frage zu ſtellen. Endlich begann Eynitz wieder: „Es wird Ihnen vielleicht ſehr gleichgültig ſein und nebenſächlich vorkommen, aber als Biologe muß ich Ihnen ſagen, wenn ich es nicht durch wiederholte Prüfungen feſtgeſtellt hätte, würde ich es nicht glauben. Leider konnte ich keine Photographien ausführen, jedoch hier ſind die Zeichnungen. Die neuen Bildungen zeigten Formen, wie ſie bei Pflanzen bisher überhaupt niemals beobachtet worden ſind — die Zeichnungen werden Ihnen ja nichts ſagen — die Sache iſt die, daß ſich der ganze Charakter des neuen Organismus verändert hat, auch chemiſch, ſoweit ich dies feſtſtellen konnte. Wenn man eine entſprechende Bildung in der Natur ſucht, ſo kann man ſie nur im Tierreich finden, in den Zellen der nervöſen Subſtanz, im Gehirn des Menſchen. Und nun, als ich ſo weit war, daß über dieſe vollkommen neue Tatſache kein Zweifel mehr beſtehen konnte, da wurde jede weitere Unterſuchung unmöglich. Die Präparate verſchwanden einfach unter dem Mikroſkop, das heißt, es gelang durch kein Mittel, irgend eine Einzelheit ſichtbar zu machen.“ „Sie mußten die Verſuche aufgeben?“ „Sagen wir, vorläufig abbrechen. Denn es kommt noch etwas ganz Seltſames. Denken Sie ſich, in dieſer Nacht —“ „In dieſer Nacht —“ ſtieß Harda unwillkürlich hervor und blieb ſtehen. „Ja,“ fuhr Eynitz fort, „ich wurde gerufen zu den armen Sands — Sie wiſſen — Bei meiner Wiederkehr blickte ich, gewiſſermaßen zufällig oder ſpieleriſch, während das Zimmer vollſtändig dunkel war, in das Mikroſkop, und was ſehe ich? Die bei Beleuchtung unſichtbaren Zellen zeigten ſich jetzt in einem matten Eigenlichte, das bei Belichtung wieder verſchwand.“ „War das Licht der Subſtanz ſo — ſo phosphoreszenzartig?“ fragte Harda mit erregter Stimme. „Ja. Ich muß noch etwas ergänzen. Sie können ſich denken, daß die Exemplare, die ich bisher unterſucht hatte, durch meine Eingriffe in ihrer Entwicklung geſtört wurden. Ich ſah nun zum erſten Mal den, wie es ſcheint, letzten Prozeß der ſichtbaren Entfaltung, der außerordentlich raſch vor ſich geht. Als ich das letzte Präparat entnahm, waren zwei der Sporenbecher in dieſem höchſten Stadium, die Fäden bildeten eine ſtark hervorgequollene Wölbung. Als ich nach meiner Rückkehr danach ſah, war der ganze Inhalt vollſtändig verſchwunden — es war nichts mehr zu entdecken als die vertrockneten Kapſeln, und weder in dieſen noch irgend in der Umgebung konnte ich Spuren von zerſtreuter oder zerſtörter Subſtanz auffinden. Die ganze Maſſe muß direkt unſichtbar geworden ſein.“ „Oder davongeflogen,“ ſagte Harda leiſe. „Wie?“ fragte Eynitz. Harda ſchüttelte nur den Kopf. Sie waren bis nahe zur Grenze des Parkes gekommen. Vor einer Bank ſtand ein Naturtiſch. Hinter einem Geländer blickte man durch Baumwipfel in die Schlucht, auf deren andrer Seite das Rieſengrab anſtieg. Unten rauſchte die Helle. Harda ſetzte ſich. Sie mußte erſt verſuchen, ſich klar zu machen, was das alles bedeute. Sollte ſie von ihrer Beobachtung erzählen? Wenn er ſie bloß für einen Traum hielt? „Es iſt nun eine ſehr wichtige Frage,“ hub Eynitz wieder an, „wie Sie, gnädiges Fräulein, ſich zu meiner Entdeckung ſtellen. Freilich iſt das Ganze für eine Veröffentlichung noch nicht reif, darüber kann noch längere Zeit vergehen, man muß vorſichtig ſein. Auf der andern Seite liegen aber hier Probleme, über deren Konſequenzen ich mich gar nicht recht auszuſprechen wage — die jedenfalls von der Wiſſenſchaft verfolgt werden müſſen und denen ich allein nicht gewachſen bin — weder nach Zeit noch nach Mitteln der Unterſuchung.“ „Aber was ſoll dabei auf mich ankommen?“ fragte Harda. „Sie haben die Pflanze zuerſt gefunden und gezogen, Sie haben mich auf den Zuſammenhang mit dem Efeu aufmerkſam gemacht, Sie waren auch ſo gütig, mir die Veröffentlichung zu geſtatten. Nun hat ſich aber etwas ergeben, das ganz über alle Erwartung hinausgeht. Es handelt ſich vorausſichtlich um einen Generationswechſel zwiſchen organiſchen Formen, von denen man noch gar nichts weiß. Ich kann das Wunderbare nicht beſſer verdeutlichen als mit dem Bilde, das ich ſchon einmal gebraucht habe, von dem Strauche, der Hühnchen und Hähnchen trägt, aus deren Eiern erſt wieder der Strauch wächſt — nur daß wir die Hühnchen und Hähnchen noch nicht ſelbſt geſehen haben — hm, ja — wie dem auch ſein mag — Eines iſt unbedingt nötig: Das Material der Unterſuchung muß der Wiſſenſchaft zugänglich gemacht werden. In meinen Augen ſind Sie die einzige Herrin —“ Harda ſah ihn mit einem leichten Lächeln an. Er gefiel ihr doch wirklich ſehr in ſeinem Eifer, die Augen glänzten ihm entſchloſſen und er war ſo ganz bei der Sache, er hatte gewiß gar nicht den Doppelſinn ſeiner Worte gemerkt. Und doch ſtockte er bei Hardas Blick momentan. „Ich meine, Sie haben über das Material zu verfügen — wenn ich Mitarbeiter in der gelehrten Welt finde, wird die Sache Aufſehen erregen, und dann kann ich doch Näheres über die Auffindung, wohl auch Ihren Namen nicht verſchweigen. Der Platz wird aufgeſucht werden, es handelt ſich nicht mehr um eine Spezialität für Liebhaber, ſondern um einen Typus, der auf ganz neue Anſchauungen führen kann — und gegen Ihren Wunſch tue ich ſelbſtverſtändlich nichts.“ Eynitz hatte ſeinen Hut auf den Tiſch geſtellt neben Hardas Blumen. Sie ſah vor ſich nieder und ſpielte mit ihrem Schirm. Dann ſagte ſie nachdenklich: „Halten Sie mich nicht für unbeſcheiden oder neugierig —“ Eynitz machte eine Bewegung des Entſetzens, als hätte er die größte Läſterung vernommen. „Ich habe einen ganz beſtimmten Grund zu fragen. An was dachten Sie wohl, als Sie von Konſequenzen ſprachen, über die Sie ſich nicht äußern wollten? Darf ich davon nichts hören? Bitte, ſetzen Sie ſich doch.“ „O, Fräulein Kern, Ihnen gegenüber darf ich vielleicht etwas ſagen, was mir vor meinem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen ſelbſt noch zu phantaſtiſch ſcheint. Aber der Gedanke beſchäftigt mich. Man muß ſich doch ſagen: Wenngleich die Individuen der neuen Generation unſern bisherigen Forſchungsmitteln vorläufig entſchwunden ſind, es muß immerhin etwas aus ihnen geworden ſein. Wo ſind die Fädengeſpinſte hingekommen? Mögen ſie auch für unſre Sinne unſichtbar geworden ſein, irgendwo und wie müſſen ſie noch exiſtieren, denn ſonſt könnte ſich der Sternentau nicht durch Sporen fortpflanzen, alſo auch nicht hier ſo unvermittelt aufgetreten ſein. Es muß ſein Keim irgendwoher gekommen ſein, und dieſer Keim muß einer ſolchen Generation entſtammen, wie ſie unſern Augen entſchwunden iſt. Und das letzte, was ich von dieſer geſehen habe, das waren keine pflanzlichen Gebilde, es war etwas nach unſerm bisherigen Wiſſen auf Erden überhaupt Neues wie der Sternentau ſelbſt. Nun — was ſoll man da denken? Ich kann mir nicht helfen! Beſtehen jene unbekannten Organismen aus Zellen nicht bloß tieriſchen, ſondern geradezu nervöſen Gefüges, ſo — man möchte meinen — ſind es bewußte, vielleicht intelligente Weſen, deren Körper uns unſichtbar ſind.“ Er drückte die Hand an ſeine Stirn. „Fräulein Kern, halten Sie mich für keinen Phantaſten, ich weiß nur nicht —“ Er ſah ganz verzweifelt aus. Harda mußte ihn anblicken. Sie verſtand ihn. So ſteht ein ernſter, gewiſſenhafter Forſcher vor dem Naturgeheimnis — faſt durchſichtig war der Schleier geworden, der ihn davon trennte, aber er traute ſeinen Augen nicht. Denn er wußte, er befand ſich an einer Grenze, jenſeits deren ſeine Mittel keine Macht mehr hatten. Und ſie, ſie hatte Teil daran, ſie wußte noch mehr — — „Aber vielleicht irre ich mich,“ ſagte er tonlos. „Sie irren ſich nicht!“ rief Harda. Sie erſchrak faſt über das Wort, aber ſie hatte es geſagt. Er ſah ſie erſtaunt an, freudig erſtaunt. „Ich darf es Ihnen nicht länger verſchweigen,“ ſprach ſie lebhaft weiter. „Ich habe auch eine Beobachtung gemacht. Nur hatte ich nicht den Mut, ſie für wirklich zu halten. Unter dem Efeu in meinem Zimmer habe ich ebenfalls Sternentau gezogen, der eine Anzahl Sporenkapſeln entwickelt hat. Die eine war beſonders weit vorgeſchritten, wie ein weißes Spitzen-Häubchen kam es heraus —“ Eynitz nickte eifrig beiſtimmend. „Sehr zutreffend!“ „Und am andern Morgen, als ich nachſah, — alles fort, die Kapſeln leer und vertrocknet! Eigentlich wollte ich es Ihnen gleich mitteilen — es war am Mittwoch — aber Sie waren ſehr eilig — doch das gehört nicht hierher. Machen Sie kein ſo bekümmertes Geſicht, Herr Doktor. Ich habe etwas viel Wichtigeres zu ſagen, etwas Ernſtes, wie mir jetzt ſcheint, von der Nacht zu heute. Ich lag ſchlaflos auf dem Diwan, die Becher waren meinem Geſicht ſo nahe, daß ich ſie faſt mit der Hand erreichen konnte. Zwei von ihnen hatten wieder dieſe Häubchen angeſetzt, das hatte ich ſchon am Tage bemerkt. Nun war es ganz finſter. Da ſah ich, daß die Becher bläulich leuchten, und zwar ging das Licht von dem Fadengeſpinſt aus, ſo daß man die blauen Blätter erkannte. Auf einmal nahm die Entwicklung lebhafteren Fortgang, wie ſchwach leuchtende Wölkchen und ſchleierhafte Geſtalten wuchs es heraus. Ich machte Licht, da ſah man nichts; im Dunkeln war alles wieder da. Ich fing an mich zu ängſtigen. Vor meinen Augen wurden dieſe Gebilde etwa handgroß, leicht hin und her wehend; ſie löſten ſich von den Kapſeln ab, ſie ſtreiften wie mit feinen Ärmchen an ſich herum und hüllten ſich ein; ſo ſchwebten ſie durch das Zimmer wie Elfen im Reigen, auf mich zu — da verlor ich das Bewußtſein. Als ich aufwachte, war es Tag, alles iſt verſchwunden — wie Sie wiſſen. Sie können ſich denken, daß ich annehmen mußte, ich hätte nur geträumt.“ Eynitz ſaß noch eine Weile mit weiten Augen in tiefem Nachdenken. Dann fuhr er auf. „Nein, nein! So iſt es! Was Sie ſagen, erklärt mir vieles. Als ich in mein verdunkeltes Zimmer trat, ſah ich etwas ſchwach Leuchtendes, das durchs offene Fenſter hinausſchwebte; ich glaubte an eine Täuſchung und legte dem kein Gewicht bei, da ich an gar keinen Zuſammenhang dachte. Aber die Fäden waren fort. Nein, Fräulein Kern, Sie haben nicht geträumt. Es kann nicht anders ſein, ich ſehe den Zuſammenhang. Die Individuen der zweiten Generation des Sternentaus, botaniſch wären ſie als „Gametophyten“ zu bezeichnen, ſind offenbar durchſcheinend wie Luft, im Tageslicht nicht ſichtbar, können aber Eigenlicht entwickeln, ſo daß ſie im Dunkeln wahrnehmbar werden. Bei der Reife löſen ſie ſich von den Kapſeln des Sternentaus ab und ſchweben frei in der Luft, wie die Quallen vom Korallenſtock im Waſſer ſchweben — Sagten Sie nicht auch etwas von Ärmchen? — Gleichviel! Es paßt alles zuſammen! O, wie danke ich Ihnen! So iſt doch ein Sinn darin, überraſchend, neu, aber doch nicht wunderbar, nicht mehr unerklärlich.“ Harda ſtand erregt auf. „Dann dürfen wir uns wohl gratulieren?“ ſagte ſie lebhaft und ſtreckte ihm die Hand entgegen. Auch ihr glänzten die Augen freudig. „Sehen Sie,“ ſagte ſie heiter, „da habe ich in meiner Dummheit ganz recht gehabt, wenn ich meinte, die neue Generation werden richtige Elfen ſein, Blumengeiſter, die aus den Blüten in die Lüfte ſchweben.“ Eynitz lächelte erſt glücklich, dann wurde ſein Geſicht wieder ernſt. Nachdenklich ſah er vor ſich hin und ſchwieg. Auch Harda hielt an. Sie hatte ſagen wollen: „Wer weiß, welche Geheimniſſe ſie uns noch verraten.“ Da kam ihr die geheimnisvolle Stimmung in den Sinn, die ſchon zweimal an ſie herangetreten war, und der Gedanke war ihr unheimlich, daß hier vielleicht wirklich ein Zuſammenhang ſein könnte. „Glauben Sie denn,“ fragte ſie faſt ſchüchtern, „daß dieſe Individuen der zweiten Generation, wie Sie ſagen, wirklich auch geiſtige Fähigkeiten haben könnten, ein gewiſſes Verſtändnis für das, was ſie wahrnehmen? Wenn ſie doch tierähnlich organiſiert ſind —“ „Ja,“ ſagte Eynitz, „beſteht die organiſche Verwandtſchaft, ſo wird auch die pſychiſche mindeſtens denkbar. Aber — hier liegt überhaupt das Bedenken, was alle unſre ſchönen Ergebniſſe in Frage ſtellt. Aus Pflanzen können keine hochſtehenden Tiere, mit Gehirn und Intelligenz, hervorgehen. Das iſt unmöglich, einfach unmöglich. Es widerſpricht dem Geſetze der Entwicklung, wonach die Trennung zwiſchen Pflanze und Tier ganz unten im Stammbaum der Organismen, bei den Protiſten, ein für allemal eingetreten iſt. Und daran ſcheitert unſre Hypotheſe. Eine höhere Pflanze und ein intelligentes Geſchöpf, ſagen wir auch nur ein tierartiges Weſen, als gegenſeitige Geſchlechtsfolge, das iſt auf der Erde nicht denkbar.“ „Die Erde iſt nicht die Welt!“ Harda wußte ſelbſt nicht, wie ihr der Ausruf auf einmal in die Gedanken kam. Es war wohl in Erinnerung an ein Geſpräch mit Geo. Eynitz ſah ſie groß an. Er nickte. „Schon wahr, ſchon wahr,“ ſagte er. „Aber wir ſind auf der Erde. Und wo führt das hin? Wir dürfen nur verwenden, was wir beweiſen können.“ Harda ſeufzte. „Übrigens,“ bemerkte Eynitz tröſtend, „warum ſollen denn dieſe ſchwebenden Blaſen, die Gametophyten des Sternentaus, gerade höhere Organismen, womöglich gar Intelligenzen ſein? Es war das ein voreiliger Einfall von mir. Der morphologiſche Befund, ſoweit er bis jetzt reicht, ließe wohl noch andere Deutungen zu. Naturwiſſenſchaftlich geht uns das ja gar nichts an, ob ſie bewußte Weſen ſind oder nicht. Vielleicht ſind's bloß mit Luftballons, ich meine mit Gasblaſen, ſegelnde Vorkeime von bisher unbekannter Bildung. Wir haben nur Bau, Wachstum, Funktionen ihres Körpers feſtzuſtellen. Und damit haben wir vorläufig noch genug zu tun. „Sie haben ganz recht, Herr Doktor, wir wollen weiter beobachten. Jeder auf ſeine Weiſe. Und teilen wir uns alles ehrlich mit.“ „Ich hoffe, recht bald wieder vorzuſprechen. Darf ich noch fragen, wie lange wohl die ganze Entwicklung gedauert hat von dem lebhaften Hervorquellen an bis zur Loslöſung?“ „Genau kann ich es nicht ſagen, aber es war drei Uhr vorüber, als ich mich niederlegte, und um vier Uhr ſchlief ich ſchon, denn die erſte Dampfpfeife habe ich nicht mehr gehört. Ich glaube, mehr wie eine halbe Stunde nahm der Vorgang nicht in Anſpruch.“ „Dann wäre es auch erklärlich, daß ich nichts davon bemerkte. Der Prozeß muß ſich gerade in der Stunde abgeſpielt haben, in der ich abberufen war. Und da das Fenſter offen ſtand, konnten die Geſpenſter davonfliegen.“ „Das nächſte Mal müſſen wir ſie feſthalten. Aber wie?“ rief Harda. „Wenn ich nur wüßte, wo noch genügend entwickelte Kapſeln ſind. Ich werde verſuchen, heute nachmittag von oben her den Weg zum Rieſengrabe zu finden.“ „Das können Sie von unten her bequemer haben,“ lachte Harda. „Mit Hilfe unſeres Schlüſſels.“ Harda unterbrach ſich. Sie überlegte. Es fiel ihr ein, daß ja vor allem auf dem Friedhof die Unterſuchung zu machen wäre, dort gab es gewiß Ausbeute. Und auf einmal erſchienen ihr die Geſpenſter des Wächters Gelimer in anderm Lichte. Nach dem, was ſie geſtern geſehen hatte, wäre es doch nicht undenkbar, daß es ſich um die Gametophyten des Sternentaus handelte — ach, „Elfen“ iſt hübſcher und kürzer, ſagen wir „Elfen“, dachte ſie. Und hinüber mußte ſie endlich. Aber ſie konnte doch den Doktor nicht zu einem Stelldichein auf den Friedhof einladen? Sollte ſie überhaupt von ihrem eigenſten Erlebnis etwas ſagen? Alles das ging ihr blitzſchnell durch den Kopf. Sie begann. „Es fällt mir ein, ich habe noch eine Stelle, wo Sternentau reichlich wächſt. Es iſt freilich — am Grabe meiner Mutter. Aber wir haben ja einen ernſten Zweck, ich kann keine Pietätloſigkeit darin finden, wenn Sie dort einige Pflänzchen entnehmen. Ich gebe Ihnen die ausdrückliche Erlaubnis. Es iſt ganz nahe von hier.“ „Das iſt ſehr liebenswürdig, ich würde gern davon Gebrauch machen, aber — Fräulein Kern, für mich allein würde ich mir das nicht erlauben. Das dürfte nur durch Ihre eigene Hand geſchehen.“ Das gefiel ihr. Ohne weiteres Beſinnen ſagte ſie: „Nun gut, im Intereſſe der Wiſſenſchaft. Wann haben Sie heute nachmittag Zeit?“ „Um halb fünf habe ich einen Gang durchs Krankenhaus zu machen, es iſt Gott ſei Dank faſt leer, von fünf an bin ich frei. Beſtimmen Sie über mich.“ Harda antwortete nicht gleich. Sie war doch zu ſchnell geweſen. Sie wollte Zeit gewinnen. Es wurde ihr klar, daß ſich dieſes Geheimnis des Sternentaus zu zweien unmöglich fortſpinnen ließ, wenn ſie ſich über die weiteren Unterſuchungen von Eynitz wollte auf dem Laufenden halten laſſen. Inzwiſchen ſchritten ſie auf dem Parkwege langſam nebeneinander fort. Eynitz bewegte das Gehörte lebhaft in Gedanken. Es war ſo überraſchend. Und dabei neben ihm die ſchlanke Geſtalt, das Antlitz leicht gerötet, an den Schläfen dieſe loſe ſich hervordrängenden Löckchen. Wie die braunen Augen bei ihrem Bericht geleuchtet hatten! So erzählt man keinen Traum. Das war volle, erlebte Wirklichkeit. Ein Traum war nur das Glück — — Sie waren bis in die Nähe des Hauſes zurückgekommen. Plötzlich blieb Harda ſtehen. „Wiſſen Sie, Herr Doktor,“ ſagte ſie, „kommen Sie heute abend zu uns. Sonntags finden Sie immer Bekannte bei uns. Den Sternentau vom Friedhof werde ich Ihnen ſelbſt beſorgen, Sie können ihn heute abend mitnehmen, ich werde alles ſorgfältigſt verpacken. Und dann — Sie wollen und können doch die weiteren Unterſuchungen nicht geheim halten — ich kann auch nicht immer hier Verſteck ſpielen. Die Meinigen wiſſen bis jetzt nichts, als daß ich merkwürdige blaue Blümchen ziehe, alles das Theoretiſche, was daran hängt, würde ſie auch kaum intereſſieren, aber das müſſen ſie doch erfahren, daß Sie, Herr Doktor, an dieſer Pflanze einige botaniſche Studien machen möchten. Es iſt das Beſte, ich ſpreche mit meinem Vater. Sie können mir das getroſt überlaſſen.“ „Sie ſind zu gütig. Ich hätte mir das ja ſelbſt ſagen müſſen — Ihre Mitteilung hat mich ſo überraſcht — Freilich weiß ich nicht, ob Ihrem Herrn Vater dieſe Studien bei mir gerade ſehr ſympathiſch ſein werden.“ „O, Sie kennen ihn nicht. Die Sache wird ihn ſehr intereſſieren, wenn er auch nicht Zeit hat, ſich darum zu kümmern. Aber er kann Ihnen ganz andre Mittel zur Verfügung ſtellen, als Sie bisher hatten. Drüben im Laboratorium haben ſie ja für Photographie, auch für Mikrophotographie die beſten Apparate. Wenn der Vater mir einen Wunſch erfüllen kann, ſo tut er's gewiß. Alſo ſind Sie einverſtanden?“ „Ich kann nur darum bitten.“ „Nur —“ Harda zögerte ein wenig — „um eines möchte ich Sie bitten, wenn vom Sternentau geſprochen wird, erzählen Sie nur, was Sie ſelbſt geſehen haben.“ „Aber ſelbſtverſtändlich. Und auch da werde ich äußerſt zurückhaltend ſein, denn es muß ja alles noch beſtätigt werden. Haben Sie nochmals herzlichſten Dank. Meine ergebenſten Empfehlungen —“ „Auf Wiederſehen,“ ſagte Harda, ihm die Hand reichend. Nachdenklich ging ſie dem Hauſe zu, während Eynitz mit ſchnellen Schritten durch das Gartentor eilte. Gleich darauf begegnete er dem Kernſchen Wagen, der den Direktor mit Sigi und Anna Reiner in raſcheſter Fahrt nach Hauſe führte. Kern winkte dem Arzte jovial zu. 11. Unſichtbare Früchte