Kurd Laßwitz: Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond Die Erſtausgabe erſchien 1909. 1. Harda Auf dem breiten Gartenwege vor der Villa Kern hielt das Automobil zur Abfahrt bereit. Der Fahrer ſtand daneben, ſeinen Auftrag erwartend. Hermann Kern ſtreckte ſeine zierliche Figur nach Möglichkeit in die Höhe. Er blickte ſuchend hinüber, wo ein Fußweg im Gebüſche verſchwand. „Wo bleiben denn die Mädel?“ ſagte er ungeduldig vor ſich hin. Und dann zum Diener gewendet, der mit dem Staubmantel im Arm hinter ihm ſtand: „Sie haben doch den Damen melden laſſen, daß ich reiſe?“ „Gewiß, Herr Direktor, vor zehn Minuten.“ Kern zuckte mit den Schultern und wandte ſich dem Wagen zu. In dieſem Augenblick erſchien ein helles Kleid zwiſchen den Büſchen. Ein junges Mädchen im Tennisanzuge, den Schläger in der Hand, trat auf den Weg. Als ſie das Auto vor der Tür ſtehen ſah, begann ſie zu laufen. Mit leichten, behenden Sprüngen näherte ſie ſich dem Vater, aus deſſen Geſicht der unzufriedene Zug ſchon verſchwunden war. Sie ſchlang die Arme um ſeinen Hals und küßte ihn. „Du willſt fort, Vater?“ rief ſie. „Beim Kaffee ſagteſt du doch noch nichts. Wo willſt du denn hin?“ „Ich mußte mich ganz plötzlich entſchließen. Es geht nur nach Berlin. Morgen in der Nacht komme ich zurück.“ „Aber jetzt iſt doch gar keine Abfahrtszeit. Und im Auto —“ „Ich will den Blitzzug in Liebenau erreichen.“ „Da hätteſt du auch noch eine Stunde Zeit.“ „Will ich auch haben, aber in Liebenau. Ich muß dort noch mit Krakauer konferieren.“ „Wohl wegen des Patents?“ „Jetzt habe ich keine Zeit mehr, Kind. Wo bleibt denn Sigi?“ Kern lüftete ſeine Mütze und ſtrich das Haar von der Seite nach vorn über die kahle Stirn. Da rief Harda: „Ich glaube, jetzt kommt ſie. Ich höre ſie ſchon da hinten ſingen.“ „So leb wohl, Harda, mein Herzel! Kurbeln Sie an, Pätzold.“ Er küßte Harda. Sie hielt ihn feſt. „Vater,“ ſagte ſie, „nimm mich mit!“ „Es wird zu ſpät. Ich kann dich diesmal wirklich nicht brauchen.“ Ihre braunen Augen ruhten mit einem langen, forſchenden Blicke in denen des Vaters. Er wandte ſich ab, als ſähe er nach Sigi aus. „Vater!“ ſagte Harda wie warnend. Über die kleinen Fältchen in dem energiſchen feinen Geſicht zuckte ein nervöſes Lächeln, als er es Harda wieder zuwendete. „Sei unbeſorgt, Dummköppel! Grüße Sigi! Wenn ſie ſo langſam daherſtolziert, kann ſie das Nachſehen haben.“ „Aber Vater, ich habe deinen Koffer ſeit vorgeſtern nicht revidiert. Du haſt inzwiſchen doch nichts herausgenommen?“ „Ich hab' ihn gar nicht geöffnet.“ „Willſt mich nicht mitnehmen?“ Kern ſchüttelte den Kopf. „Aber ein Stückchen fahr' ich mit,“ rief Harda. „Kind, du haſt ja keine Zeit! Frickhoff hat ſich zum Abend angeſagt.“ „Sigi iſt doch da und Anna und Tante Minna.“ „Minna wollte ſich zu Bett legen. Sie bekam Kopfſchmerzen.“ Harda blickte wieder fragend zum Vater hin. Er war eifrig damit beſchäftigt, den Staubmantel anzuziehen. Leiſe ſummte der Motor. Soeben ſetzte Kern einen Fuß auf den Wagentritt; doch zwei jugendliche kräftige Arme zogen ihn zurück. Sigi war herangekommen. „Reiſt man ſo ab, Vater?“ ſagte ſie entſchieden. „Haſt mich aus meinem beſten Spiel herausgerufen.“ „Und du haſt mich mindeſtens fünf Minuten warten laſſen.“ „Hier bin ich doch. Da haſt du zwei Abſchiedsküſſe. Aber ich will auch was.“ „Einen Sonnenſchirm oder eine Reitpeitſche?“ „Tielen und Randsberg —“ „Gleich alle beide?“ Der Vater und Harda lachten fröhlich. Sigi machte eine Handbewegung gegen Harda und ſagte mit unerſchütterlichem Ernſte: „Wir ſind ja auch zwei. Ich habe ſie eingeladen, zu abend zu bleiben. Biſt du böſe?“ „Schöpſel! Iſt mir ganz recht. Frickhoff will nämlich kommen. Da hole dir nur auch noch einen Herren dazu, Harda? Wie wär' es mit dem langen Doktor? Dem bin ich's eigentlich ſchuldig. Zwei ſind immer beſſer als einer.“ „Vater, reis' ab,“ lachte Sigi. „Du biſt unausſtehlich.“ „Amüſiert euch gut, Kinder.“ „Adieu, ich muß zum Tennis.“ Sigi warf dem Vater noch eine Kußhand zu und ging gravitätiſch von dannen. „Los!“ rief Kern. „Ich fahre doch mit,“ erklärte Harda. Sie ſprang in den Wagen, der eben in Bewegung kam, indem ſie über des Vaters Füße hinwegturnte. „Daß dich!“ rief der Vater lachend. „Wo willſt du denn hin? Ich habe Eile und werde gleich ſchnell fahren. An der Brücke mußt du hinaus.“ „Nur noch den Berg hinauf bis zur Ausſicht. Du fährſt doch am Hellkamm entlang?“ „Daß dir's nicht zu weit wird. Und in dem Anzug!“ „Ich bin ſchon zur rechten Zeit zu Hauſe, direkt durch den Wald.“ „Bei der Ausſicht halten Sie,“ rief Kern dem Chauffeur zu. Das Auto hatte inzwiſchen das Gartentor paſſiert. Auf der breiten Straße, die rechts nach den Hellbornwerken führte, bog es links ab und nahm mit mäßiger Geſchwindigkeit die große Kehre, durch die der Weg ans Flußufer hinab gelangte. Jenſeits der Brücke teilte ſich die Straße wieder. Der Wagen fuhr am linken Ufer der Helle bergan, um in langgeſtreckten Windungen die Höhe zu gewinnen, die hier das weite Wiesberger Tal nach Nordweſten begrenzte. „Vater,“ begann Harda mit einem ängſtlichen Blick, „kommſt du auch wirklich morgen nacht wieder?“ „Kind, du weißt ja, abſolut ſicher iſt nichts bei uns. Mir liegt ſehr viel daran, hier zu ſein. Übermorgen ſoll die Zwölfhundertpferdige fertig montiert ſein. Aber wenn mir Krakauer Schwierigkeiten macht, muß ich vielleicht noch nach Hildenführ reiſen, oder wenn die Berliner Vertretung der Nordbank nicht genügend inſtruiert iſt, muß ich noch nach Hamburg, oder es kommt ſonſt eine neue Nachricht —“ „Nun ja, alſo Abſchluß „H“ und Abſchluß „N“, und dann vielleicht noch „X“, „Y“ und „Z“. Das kann lange dauern.“ „Mit dem „Z“ kannſt du recht haben, das kommt vielleicht noch. Aber erſt kehre ich zurück. Ich habe die beſte Hoffnung.“ „Ja?“ rief Harda fröhlich. „Mit beiden?“ Kern nickte. Er ſprach jetzt leiſer in Hardas Ohr. „Hildenführ wird nachgeben, denn ich habe das Patent auf das Härtungsverfahren ſicher und ohne das nutzt ihnen das Kochverfahren nichts. Das werde ich jetzt Krakauer ſagen, dann wird er auf Hildenführ drücken. Sobald wir aber das Kochpatent beſitzen, haben wir einen ſolchen Vorſprung, Reſinit im Großen herzuſtellen, daß uns kein anderes Werk einholen kann. Und dann wird auch die Nordbank ſich beeilen. Denn unſre Gebäude ſtehen, die Kocher werden in vierzehn Tagen fertig. Frickhoff weiß das ſehr genau, und der gibt doch den Ausſchlag; das weißt du ja.“ „Acht Millionen,“ ſagte ſie bedenklich. „Soviel brauchen wir. Aber das wird bald wieder verdient ſein. Die Kautſchukeinfuhr kann den Bedarf nicht decken, und das Reſinit iſt das vollſtändige Erſatzmittel. Wir werden es viel billiger liefern — — und es hat noch in andrer Hinſicht eine große Zukunft, falls es ſpezifiſch leicht genug wird —“ Kern verfiel in Nachdenken. Harda fragte nicht weiter. Sie wußte auch, warum er Frickhoff erwähnt hatte. So ſaßen Vater und Tochter ſchweigend neben einander, beide mit ihren Gedanken beſchäftigt. Harda ſchrak auf, als der Vater plötzlich ſeine Hand auf die ihre legte und fragte: „Nun, Herzel, wo denkſt du denn noch hin? Wir ſind ſofort da.“ „Ich wollte, du nähmſt mich mit.“ „Du kannſt ganz ruhig ſein, Harda. Für alle Fälle weißt du ja —“ „Ach Vater, ich möchte überhaupt fort, weit fort.“ „Kind, du weißt doch, es geht nicht, jetzt nicht. Und ſpäter —“ Harda ſchüttelte den Kopf. In dieſem Augenblick hielt der Wagen. Harda war ſofort herausgeſprungen. „Adieu, Vater!“ „Adieu! — Nun aber vorwärts!“ ſagte Kern zum Fahrer und griff nach ſeiner Schutzbrille. * Harda ſtand auf dem Fußwege, der hier von der Straße links ab in den Wald führte, und blickte dem Wagen nach, der bald ihren Augen entſchwunden war. Oberhalb der Straße am Waldrande befand ſich ein Tiſch mit zwei Bänken. Der Platz hieß die „Ausſicht“, und mit Recht. Der Blick ſchweifte nach Oſten über die geſamte Ebene des fruchtbaren Tales von Wiesberg, über weite Getreidefelder, unterbrochen durch die dunkelgrünen Obſtgärten der Dörfer, die mit ihren weißen Häuſern und roten Dächern freundlich hervorlugten. Am Fuße der Waldberge ſah man die Gebäudemaſſen, Kirchen und Schornſteine der verkehrsreichen Kreisſtadt, deren Vorſtädte ſich bis nahe an den Abhang heranzogen, von dem Harda herabſchaute. Hier bezeichneten Rauchwolken das Gebiet, wo ſich die Induſtrie angeſiedelt hatte und die Bodenſchätze ausnützte, die der Abſturz des Gebirges darbot. Harda blickte weiter rechts in den nächſten Vordergrund. Daſelbſt trat der Fluß, die waſſerkräftige Helle, durch eine kurze Schlucht von ſeinem Oberlaufe im Gebirge hervor, um durch das Wiesberger Tal einem größeren Strome zuzueilen. Gerade vor ihr, etwas tiefer, am berganſteigenden Ufer der Helle, leuchtete die ſtattliche Villa Kern mit ihren Nebengebäuden aus den parkartigen Anlagen. Die Entfernung war nicht groß, denn die Fahrſtraße hatte ſich in einer langen Kehre an der Berglehne dem Fluſſe wieder genähert, und hier, wo ſie aufs neue zurückbog, lag die „Ausſicht“. Harda konnte hinter der Villa auf dem höhergelegenen Tennisplatz die Figuren der Spieler ſehen und glaubte ſogar Sigi herauszuerkennen. Sie warf noch einen Blick hinüber nach den Fabrikgebäuden, unter denen die hohen Neubauten ihre Aufmerkſamkeit anzogen. Sie beobachtete eine Weile die Bahngeleiſe, wo eben ein langer Laſtzug hereindampfte; dann wandte ſie ſich entſchloſſen um und trat in den Schatten des Waldes. Der Fußweg ſenkte ſich allmählich. Harda nahm ſich Zeit. Unter die dunklen Fichten miſchten ſich breitäſtige Buchen, dazwiſchen bedeckte ſich der Boden mit Gras und Kräutern, einzelne moosbewachſene Felstrümmer ragten hervor. Je weiter ſie ſchritt, um ſo mehr ſchwanden die Falten zwiſchen ihren Augenbrauen, und die Wangen röteten ſich wieder jugendlich. Das volle aſchblonde Haar über der Stirne glänzte in dem gebrochenen Lichte des Waldes in grünlichem Schimmer. Hier und da bückte ſie ſich nach einer Blume oder einer frühen Erdbeere, die gerade auf dem nach Süden abfallenden Berghang ein ſonniges Plätzchen gefunden hatte. Jetzt bog der Weg nach rechts. Harda blieb ſtehen und blickte in ſeiner Richtung. Ihre Augen ruhten wie in weiter Ferne, obwohl der ſich windende Weg bald wieder im Walde verſchwand. Sie ſeufzte leiſe. „Wozu erſt das Haus ſehen,“ dachte ſie. „Es iſt ja niemand da.“ Sie bog von dem Wege ab und ſtieg einen ſchmalen Pfad hinunter, der an der Kante des abfallenden Bergriegels hinführte. Dichter und wilder wurde der Wald. Über Steintrümmer, Baumäſte und Wurzeln mußte ſie ihren Weg ſuchen, und jetzt, an einer kleinen Waldwieſe, hörte er ganz auf. Aber Harda wußte Beſcheid. Sie ſchritt auf die gegenüberliegende Ecke der Wieſe zu, nach einer Lücke im Unterholz, und gelangte wieder in Hochwald, wo mächtige Buchen über grünem Raſenboden einen weiten Dom bildeten. Der Bergrücken ſelbſt verengte ſich mehr und mehr und endete jetzt mit einem gewaltigen Felsblock, um den ſich Harda auf ſchmalem Stege abſteigend herumwand, und nun befand ſie ſich auf einem kleinen Plateau in völlig abgeſchloſſener Waldeinſamkeit. Hinter ihr erhob ſich der überhangende Fels und bildete eine Art Grotte, die von einer breitäſtigen Buche, einem alten Waldrieſen, überſchattet war. An den drei andern Seiten blickte man direkt in die Wipfel hoher Fichten und Buchen; denn die Felſen ſtürzten ſteil ab, und es gab nur eine Stelle, an der man mit Hilfe einiger Stufen und einer Holztreppe, die in den Felsſpalt geklemmt war, hinabſteigen konnte. Dies war die Fortſetzung des Pfades, auf dem Harda von oben herab gekommen war. Unten aber im Grunde umrauſchten die Waſſer der Helle die Felsecke und belebten mit ihrem gleichmäßigen Gurgeln und Plätſchern die Stille des abgeſchiedenen Platzes. Dicke Moospolſter bedeckten die Felstrümmer und den Boden. Vor der dunklen Grotte zog ſich junges, eigenmächtig aufgeſchoſſenes Buchengebüſch um den Felſen und bildete mit ſeinem hellen Grün eine froh anmutende Pforte, als gäbe es dort einen Ausweg zum Lichte. Die große Buche ſtand ſoweit von der Felswand ab, daß ihre machtvolle Krone nicht an der Ausbreitung behindert war, und ihr Wipfel ragte weit über die Felſen empor. Ihr Stamm und ein großer Teil ihrer Äſte war von dichtem Efeu umſchlungen, der an ihr hinauf zum Lichte ſtrebte. Unter der Buche, von Hardas Standpunkt aus noch nicht ſichtbar, befand ſich eine Bank mit einem einfachen Holztiſche davor. Sie war nach der Seite gerichtet, durch die man an einzelnen Stellen zwiſchen den Baumwipfeln hindurch den Blick ins freie Land mehr erraten als gewinnen konnte. Die Abgeſchloſſenheit blieb erhalten, aber man wußte, daß dort die lebendige Welt mit Himmelsblau und Sonnenſchein lag. Auf dieſer Bank gedachte Harda ſich niederzulaſſen. Hier war ihre Zuflucht in allen ſtürmiſchen Stunden, die ihr Herz freudig oder traurig bewegten. Hierhin floh ſie, wenn ihr drüben in der Villa die Geſellſchaft zu groß oder zu laut war, hierhin, wenn ſie ſich nicht mehr Rat wußte, wie ſie ſich durch andringende Fragen hindurchfinden ſollte. Hier war ihre Waldkapelle, hieran knüpfte ſich alles Tiefſte und Innigſte ihres jungen Lebens, Frieden und Sehnſucht. Und hier — — Nun ja, es wird auch wieder ſein! Und ſie bog das junge Buchengebüſch beiſeite, das ſie noch von dem Ruheplatz trennte. 2. Am Rieſengrab Beim erſten Blicke, den Harda durch die Zweige warf, zuckte ſie zuſammen. Es ſaß jemand auf der Bank. Ein Name wollte ihren Lippen entfliehen — wer auch ſonſt konnte hier — aber nein, es war nicht möglich, ihn hätte ſie ſogleich erkannt — es mußte ein Fremder ſein. Wer hatte hier etwas zu ſuchen? Wollte man ſie auch hier ſtören? Wie ärgerlich! Es war ein einziger Augenblick, worin ihr dieſe Gefühle aufſtiegen. Ohne Zögern trat ſie auf den Platz und ſah nun, wer der Eindringling war. Ein leichtes Lächeln ſpielte um ihren Mund. Der würde ihr jedenfalls keine Schwierigkeiten machen. Auf dem Tiſche befanden ſich ein Strohhut, einige mit ihren Wurzeln ausgelöſte Pflanzen, Meſſerchen, Schere und zwei Glasfläſchchen. Der Inhaber dieſer Utenſilien aber war ſo eifrig beſchäftigt, daß er Hardas Kommen nicht einmal bemerkt hatte. Er betrachtete mit tief herabgebeugtem Kopfe durch die Lupe aufmerkſam ein mit der Pinzette gehaltenes Blättchen. Erſt als Harda dem Tiſche ſich näherte, und er ihre Schritte vernahm, blickte er auf, und es dauerte noch kurze Zeit, ehe er ſeine Brille zurechtgeſchoben und die Augen der Entfernung akkomodiert hatte. Dann ſprang er auf und verbeugte ſich höflich. „Fräulein Kern!“ ſagte er überraſcht. „O, da muß ich gewiß ſehr um Entſchuldigung bitten. Ich fürchte, ich bin hier ohne Erlaubnis auf Ihrem Grund und Boden eingedrungen. Aber, gnädiges Fräulein, ich kann verſichern, ich bin mir deſſen in keiner Weiſe bewußt geweſen.“ „Fürchten Sie gar nichts, Herr Doktor,“ antwortete Harda freundlich. „Der Grundbeſitz der Hellbornwerke reicht hier nur bis ans rechte Ufer der Helle. Aber aus meinem Anzuge könnten Sie freilich ſchließen, daß ich noch innerhalb der Parkgrenzen umherliefe.“ „O bitte —“ „Es iſt aber ganz gleich, ich geniere mich nicht und ſetze mich ein wenig her. Aber Sie dürfen ſich auch nicht ſtören laſſen, nehmen Sie wieder Platz und — Ach!“ unterbrach ſie ſich faſt heftig, „da haben Sie ja meinen Sternentau!“ „Was habe ich? Wie nennen Sie die Pflanze? Sie kennen ſie? Sternentau?“ fragte der Doktor lebhaft. „Nein, nein,“ beruhigte Harda. „Ich nenne die blauen Blumenſterne nur ſo für mich wegen der runden Erhebung im Innern, die wie ein Tautropfen glänzt. Es iſt bloß ein Privatname zu meiner ſtillen Freude. Die Pflanze findet ſich nämlich ſonſt nirgends als hier in der Nähe des Rieſengrabs, und ſie ſcheint überhaupt noch nicht entdeckt. Ach, ich drücke mich wohl ſehr dumm aus. Sie ſteht in keiner Flora. Nun haben Sie die Blumen entdeckt und ich habe ſie nicht mehr für mich. Aber das mußte ja doch einmal kommen.“ „Ich bitte Sie, Fräulein Kern,“ ſagte der Doktor mit ganz erſchrockenem Geſicht, „wenn es ſich wirklich ſo verhalten ſollte, daß die Pflanze noch nicht beſtimmt iſt — mir iſt ſie allerdings völlig fremd, auch fremdartig — wenn ſie bisher nur Ihnen bekannt war, ſo werde ich ſelbſtverſtändlich Ihr Entdeckerrecht achten. Die Unterſuchung wäre ja freilich ſehr intereſſant, ja eine wiſſenſchaftliche Pflicht — aber ohne Ihren ausdrücklichen Wunſch, das verſpreche ich Ihnen, werde ich nichts bekannt geben.“ Harda ſah ihn dankbar an, daß ihm ganz merkwürdig zumute wurde, und ſprach lächelnd: „Es iſt doch wahr, was unſre Leute von Ihnen ſagen: Der Doktor Eynitz iſt ein guter Mann.“ „Hm — bitte —“ ſagte Eynitz verlegen, und ein leichtes Erröten lief über ſein freundliches Geſicht — „Das braucht nicht immer ein Lob zu ſein, es kann auch eine Schwäche bedeuten.“ „Wenn Sie es lieber wollen, tun Sie mir einen Gefallen aus Schwäche. Eine Schwäche iſt's ja auch, wenn ich das Pflänzchen noch eine Weile für mich behalten möchte. Aber die Pflanzen ſind mir nun mal überhaupt ans Herz gewachſen. Die ſind doch nicht einfach eine Sache, ſie leben und fühlen ja, und jede einzelne iſt was für ſich. Ich bilde mir immer ein, wenn ich ſo ein Pflänzchen recht lieb habe, müßte mich's auch wieder gern haben.“ Sie nickte dem Blümchen, mit dem ihre Hand ſpielte, unwillkürlich vertraulich zu. Eynitz nickte ebenfalls. „Ja, Herr Doktor,“ fuhr Harda fort, „Ihr freundliches Anerbieten kann ich natürlich nicht ganz annehmen, aber wir könnten uns einigen. Sie ſtudieren den Sternentau und beſtimmen ihn und werden Ihr Reſultat veröffentlichen, aber den Fundort, nicht wahr, den Fundort geben Sie nicht an, damit wir hier nicht von Botanikern überlaufen werden. Oder geht das nicht?“ „Nun“ — Eynitz drehte bedenklich an ſeinem braunen Schnurrbärtchen und ließ die Augen zwiſchen Harda und dem Walde hin und hergehen, als lauerten dort ſchon Pflanzenjäger — „verſchweigen kann man ja den Fundort freilich nicht — aber es ließe ſich wohl ein Ausweg finden. Hat denn dieſe Felsgruppe einen offiziellen Namen?“ „Wir nennen ſie das Rieſengrab, weil die Leute behaupten, hier läge ein Rieſe begraben, aber ich glaube nicht, daß der Name auf einer Karte ſteht. Wo haben Sie denn den Sternentau überhaupt gefunden?“ „Hier unter dem Efeu und — ja, und dann auch ganz verſteckt abſeits zwiſchen den Felstrümmern am Wege hier herauf — d. h. Weg iſt ja nicht da — ebenfalls unter Efeublättern.“ „Sonſt nirgends? Nun ja, er wächſt auch ſonſt nirgends. Aber dann genügt doch, wenn Sie ſagen: „Weſtlich von Wiesberg, Ufer der Helleſchlucht, unter Efeu. Dann können die Leute ſuchen. Und daß ſie nicht hier heraufkommen, dafür will ich ſchon ſorgen. Das Plateau hier oben, das muß eingezäunt werden — unauffällig. Die Gegend iſt überhaupt nicht mehr ganz ſicher vor Touriſten. Iſt's Ihnen ſo recht?“ „Mir iſt alles recht, wie Sie's wünſchen. Aber ich denke, dieſes Terrain gehört nicht zu Ihrem Beſitztum.“ „Allerdings nicht, aber ich kenne den Beſitzer gut, und ich weiß, das tut er mir ſicher zu Gefallen.“ „So ſind wir hier auf Privatbeſitz? Wem gehört denn dieſer Wald?“ „Ach, es iſt nur ein mäßiges Stückchen Fels, Wald, Wieſe und ein umgebautes ehemaliges Bauernhäuschen. Solves heißt der Beſitzer. Sie werden den Namen kennen.“ „Geo Solves etwa?“ „Freilich.“ „Ach gewiß! Jetzt erinnere ich mich ja, daß er ſich vor einigen Jahren hier angekauft hat. Und das iſt ein guter Freund von Ihnen?“ „Jetzt unſer Nachbar. Aber ich kenne ihn freilich von Jugend auf. Er iſt mein Pate.“ „Geo Solves Ihr Pate? Das iſt intereſſant. Da ſind Sie ja zu beneiden.“ „Ich beneide mich ja auch — Aber bitte, für was erklären Sie nun das Blümchen? Iſt es nicht reizend mit den fünf glockenförmig nach außen gebogenen Blättchen, über die es von der Mitte her, von dem glänzenden Köpfchen, wie ein leichter, ſilberglitzernder Schleier von ſeidenen Fäden fällt! Und dieſes feine Spitzengewebe der Ranken und Blätter! Eigentlich ſieht's wie ein kletterndes Farnkraut aus, wenn's ſo was gibt. Aber dieſe offene Blüte? Man möchte an eine Akelei denken.“ „Ein Blümchen iſt's nicht, gnädiges Fräulein. Ich habe ſchon mit der Lupe geſehen, daß kein Samen vorhanden iſt, und die Fäden, die Sie wohl für Staubblätter halten, ſind irgend ein anderes Organ. Und hier ganz im Innern, was Sie ſehr bezeichnend mit einem Tautropfen verglichen, das iſt kein Stempel. Das möchte ich für ein Sporangium halten, für eine Kapſel, darin die Sporen reifen. Ob man aber die Pflanze zu den Farnen rechnen darf, oder ob ſie eine ganz neue Gattung von Kryptogamen vorſtellt, das läßt ſich nur mit Hilfe des Mikroſkopes entſcheiden, wenn man die weitere Entwicklung im Generationswechſel beobachtet.“ Harda ſann einen Augenblick nach, dann begann ſie wieder: „Mag's auch keine Blütenpflanze ſein, ſo kann ich doch ruhig weiter Sternentau ſagen. Das iſt ein neutraler Name. Ich will Ihnen noch etwas Seltſames mitteilen, Herr Doktor. Die Pflanze iſt nämlich erſt ſeit vorigem Jahre hier aufgetreten. Das wird Ihnen erklären, warum ſie noch nicht wiſſenſchaftlich unterſucht iſt. Ich habe nun verſucht, ſie durch Ableger zu verpflanzen, ſie iſt aber nur an zwei Stellen fortgekommen, nämlich wo ſie auch unter Efeu ſteht. Und dann habe ich aufs genaueſte aufgepaßt, ob das Pflänzchen denn keine Früchte trägt, aber ich habe nie etwas finden können. Das würde ja mit dem ſtimmen, was Sie ſagen. Von dem Generationswechſel habe ich geleſen, aber ſehr klar iſt es mir gegenwärtig nicht.“ „Wenn Sie geſtatten — ein etwas groteskes Beiſpiel wird den Ausdruck ſogleich klar machen. Nehmen Sie an: Eine Henne legt ein Ei, daraus kröche aber nicht wieder ein Hühnchen heraus, ſondern es wüchſe zunächſt ein Strauch hervor. Der Strauch bilde zweierlei Blüten, weibliche und männliche; und eines ſchönen Tages löſen ſie ſich ab und fliegen als kleine Hühnchen und Hähnchen davon. Wenn ſie erwachſen ſind, finden ſie ſich zuſammen, und die Hühnchen legen wieder Eier, aus denen dann Sträucher hervorwachſen. So löſen ſich immer Strauch und Vogel in der Nachkommenſchaft ab. Das wäre ein richtiger Generationswechſel.“ Harda lachte. „Ja wohl,“ rief ſie lebhaft, „jetzt erinnere ich mich wieder. Der Vorgang iſt gar nicht ſo abenteuerlich, wie er ſich in dieſer Form von Hühnern und Sträuchern anhört. Denn die Quallen, die ſo ſchön ſchillernd im Meere ſchwimmen, machen es tatſächlich ähnlich.“ „Ganz richtig,“ ſagte Eynitz. „Eine Qualle bringt ein Ei hervor, daraus entwickelt ſich aber nicht eine frei ſchwimmende Qualle, ſondern zunächſt ein Weſen, das mehr Pflanze als Tier ſcheint, ein Polyp, der am Boden feſtſitzt. Aus ihm wachſen erſt durch Knoſpung die Quallen heraus, die ſich dann loslöſen und fortſchwimmen. Nun, unter den Pflanzen zeigen die Kryptogamen meiſt etwas Ähnliches. Nehmen wir an, unſer Sternentau hielte es auch ſo, dann würden aus den Sporen dieſer blauen Becher nicht wieder die Sternentaupflänzchen entſprießen, ſondern irgend ein ganz andres Gewächs, vielleicht mikroſkopiſch klein, oder wenigſtens unſcheinbar, wie z. B. die grünen Täfelchen beim Farnkraut, die man den Vorkeim nennt. Erſt an dieſen Vorkeimen würden ſich ſpäter Bildungen von zwei getrennten Geſchlechtern zeigen, die Hühnchen und Hähnchen unſeres Beiſpiels. Es könnte auch ſein, daß die ganze Entwicklung ſich ſchon innerhalb der Kapſeln vollzöge und die Jungen Hühnchen und Hähnchen gleich fertig herausflögen. Und erſt, wenn nachher die Hühner Eier legen, will ſagen, wenn die betreffende zweite Generation ihrerſeits Sporen hervorbringt, ſo wächſt aus dieſen durch Sproſſung die grüne Sternentaupflanze heraus. Aber — ich langweile Sie — entſchuldigen Sie, ich komme ſo leicht ins Dozieren.“ „Nein, nein, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Wenn ſich's ſo verhält, ſo iſt's ja ganz klar, warum ich keine Früchte finden konnte. Wer ſagt uns denn, wie dieſes Zwiſchengeſchlecht beim Sternentau beſchaffen iſt? Es iſt vielleicht ein ganz anderes Weſen, ein höheres — gar keine Pflanze mehr! Vielleicht iſt's ein Elfchen, ein richtiges Geiſtchen, natürlich auch mit einem richtigen Körperchen. Sie lachen — ganz recht — was ich rede, iſt wohl ſehr dumm. Aber ſchön wär's doch, wir ſelbſt hätten auch ſolchen Generationswechſel, natürlich nach Willkür, wie es Menſchen geziemt, und man könnte manchmal aus ſeiner Haut heraus als ein freieres Weſen ſchweben — —“ Sie ſah mit einem leichten Anhauch von Wehmut in die Ferne. Eynitz lachte nicht. Er ſah ganz ernſthaft aus, als er ſagte: „Wenn man nur ſicher wäre, daß die eine Generation ſich auch noch der andern erinnerte. Aber, gnädiges Fräulein, wer ſo glücklich iſt wie Sie —“ Harda ſah ihn fragend an. „Ich meine, nach dem, was ich heute an Ihnen kennen lernte, da haben Sie ja das freie Weſen immer in ſich. Sie brauchen nicht aus ſich herauszugehen, Sie ziehen ſich nur in Ihre Perſönlichkeit zurück. Wenn Sie vom Haus oder der Fabrik oder dem Tennis in dieſen Wald treten und mit den Pflanzenſeelen leben, da wandeln Sie ſchon in dem höheren, in Ihrem eignen Reiche —“ „Ach bitte, nein,“ rief Harda aufſpringend, „philoſophieren Sie nicht über mich, es lohnt ſich wirklich nicht. Sehen Sie nur einmal dieſen Efeu an, wie er an der Buche emporſtrebt, und in welcher Fülle, immer höher und höher.“ Eynitz reckte ſeine lange Geſtalt empor. „Er will zum Lichte,“ ſagte er, „denn nur dort kann er blühen.“ „Und er will blühen, das glaube ich. Sehen Sie — wenn wir nun ein Generationswechſel vom Efeu wären? Wenn unſer Bewußtſein von Zeit zu Zeit einmal durch die Efeuſeele hindurchginge? Warum wächſt der Efeu ſo oft auf Gräbern?“ „Weil wir ihn dort hinpflanzen.“ Harda bog die Blätter des Efeus beiſeite. „Und ſehen Sie, wie unſer Sternentau ſich ganz dicht an den Efeu ſchmiegt? Ich glaube, die haben etwas zuſammen, die hecken etwas aus.“ „Ich habe mit der Lupe geſehen, der Sternentau beſitzt ganz feine Faſern, die ſich an den Efeu heften. Man muß das noch näher unterſuchen.“ „Das tun Sie nur. Aber hier will ich Ihnen noch etwas zeigen, Sie müſſen mir nur verſprechen, das wirklich nicht weiter zu ſagen — nur Ihnen als Botaniker verrat' ich's.“ Sie ging nach dem Felſen zu. „Bitte, hier drüben müſſen Sie ein paar Schritte hineinkriechen, und dann blicken Sie hinunter in den breiten Spalt des Felſens. Bücken Sie ſich aber tüchtig — bitte hier.“ Harda drängte die Buchenzweige vor dem Grotteneingang beiſeite und ſchlüpfte in die Höhlung. Eynitz folgte. „Warten wir, bis ſich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat.“ Es war ganz ſtill; draußen hörte man die Inſekten ſummen. „So!“ ſagte Harda. „Und nun — da unten — das ſind die Schätze des Rieſens, der hier begraben liegt.“ Sie ſtanden ſchweigend vor der dunkeln Höhlung. Da drunten aber funkelte es grüngelb wie Gold und Edelſteine aus dem Geheimnis des Berginnern. „Ein Märchen,“ ſprach Eynitz bewundernd. „So fühlt man's, nicht wahr? Und das ſoll nicht mitfühlen? Sollte gar nichts merken, daß es mitſtrebt, wie wir nach dem großen Gotte, dem Lichte?“ „[Schizostega osmundacea]“, ſagte Eynitz leiſe vor ſich hin. „Ja, Leuchtmoos,“ bemerkte Harda. „Ich weiß es. Lichtbrechende Zellen beleuchten ſich ihr eignes Blattgrün. Aber Sie haben den Zauber gelöſt — gehen wir, Sie müſſen vorankriechen.“ Und draußen fragte ſie: „Sie ſind doch Mediziner, woher haben Sie Ihre botaniſchen und biologiſchen Kenntniſſe?“ „Aber, gnädiges Fräulein, woher haben Sie die Ihren?“ „Ich habe keine. Ich habe nur hier und da etwas aufgeſchnappt und habe mir manches erklären laſſen können. Ich leſe auch gern — ich hoffte ja, Botanik zu ſtudieren.“ Ihre Augenbrauen zogen ſich zuſammen und ſie ſchwieg. Eynitz wagte nicht zu fragen. Er begann: „Ich habe nun wirklich Biologie ſtudiert, ich bin eigentlich Biologe, oder ich wollte es werden. Mein „Doktor“ iſt philosophioae, nicht medicinae. Dann mußte ich leider mein Studium aufgeben, als mein Vater plötzlich ſtarb. Ich war gezwungen, ein Brotſtudium zu ergreifen, und meine biologiſchen Vorkenntniſſe ermöglichten mir, in verhältnismäßig kurzer Zeit das mediziniſche Staatsexamen zu beſtehen. Jetzt habe ich kaum noch Zeit zu meinen Lieblingsarbeiten. Ein Kaſſenarzt, Sie wiſſen, iſt mehr als vollauf beſchäftigt. Aber —“ und er machte ſich daran, ſeine Utenſilien und Pflanzen zuſammen zu packen — „für den Sternentau muß ſich doch noch Zeit finden.“ „Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Doktor. Nun ſagen Sie mir bloß noch — ich bin wohl ſehr neugierig — wie und woher ſind Sie eigentlich hier heraufgekommen?“ „Ich botaniſierte am linken Helle-Ufer aufwärts und geriet dabei mehr und mehr in Dickicht und Felstrümmer. Die wenigen Exemplare Ihres Pflänzchens, die ich fand, lockten mich immer höher, und ſchließlich ſah ich, daß ich nicht mehr zurück konnte. Ich kroch alſo weiter, und auf einmal treffe ich auf richtige Steinſtufen und dann auf eine Holztreppe. Das iſt jedenfalls der Weg, den Sie heraufgekommen ſind?“ „Nein, ich komme von oben. Da gibt es auch noch einen Weg, der aber zuletzt abſichtlich vom Beſitzer für den Fremden unkenntlich gemacht iſt. Aber den von Ihnen gefundenen Weg werden wir dann hinabgehen.“ „Wo kommt der heraus?“ „An einem Laufſtege über die Helle, der drüben mit einem Gatter verſchloſſen iſt. Und den Schlüſſel zu dieſem Gatter habe ich hier.“ Sie holte mit einiger Mühe aus ihrer Taſche einen Schlüſſel, den ſie triumphierend vorwies. „Und wo führt der Steg hin?“ „In den Park der Villa Kern, die Ihnen bekannt ſein dürfte. Wie ſpät iſt es denn überhaupt? Ich habe keine Uhr bei mir.“ „Sieben Uhr und zwanzig Minuten,“ ſagte Eynitz. „Ach, da haben wir aber wirklich keine Zeit mehr. Ich glaubte, es wäre erſt ſo weit nach ſechs Uhr. „Wir“ ſage ich, entſchuldigen Sie, denn ich muß Sie mitnehmen. Erſtens wegen des Schlüſſels, denn ſonst finden Sie keinen gangbaren Weg. Und zweitens — ich habe nämlich den offiziellen Auftrag von meinem Vater, Herrn Doktor Eynitz zum Abendeſſen einzuladen. Was hiermit geſchieht.“ Sie knickſte mutwillig. Eynitz machte ein verblüfftes Geſicht „Mich? Ja, aber Sie konnten doch nicht wiſſen, daß Sie mich hier treffen würden.“ Harda lachte übermütig. „Nein, Herr Doktor, ſo ſchlau war ich nicht. Aber da ich's nun ſo gut getroffen habe, ſo konnte ich's gerade perſönlich ausrichten. Sonſt hätte ich ſchon früher nach Hauſe laufen müſſen, um Sie telephoniſch einzuladen. Entſchuldigen Sie die Formloſigkeit, es handelt ſich natürlich um keine Geſellſchaft.“ Eynitz ſah höchſt bekümmert aus. Nach kurzer Überlegung ſagte er: „Haben Sie herzlichſten Dank, gnädiges Fräulein, aber ſagen Sie Ihrem Herrn Vater —“ „Mein Vater mußte freilich plötzlich verreiſen, aber Sie finden noch einige Herren bei uns, die wir auch erſt nachmittags gebeten haben — Herrn Kommerzienrat Frickhoff, Leutnant von Randsberg, Leutnant Thielen.“ „Es tut mir ganz außerordentlich leid, ich kann die Einladung nicht annehmen, ich habe noch einige unumgängliche Beſuche zu machen, die bis neun Uhr erledigt ſein müſſen. Nebenbei, ich müßte vorher auch erſt nach Hauſe, denn nach dieſer Kletterei kann ich unmöglich in ſolchem Aufzuge — und dann würde es doch zu ſpät werden —“ „Das iſt ja ſchade,“ bemerkte Harda nach einem prüfenden Blick auf Eynitz gleichmütig. „Nun, vielleicht kommen Sie noch nach Ihren Beſuchen, vor elf gehen die Herren nicht.“ „Sehr liebenswürdig. Ich kann nur nichts verſprechen. Sie wiſſen, der Arzt kann nicht über ſeine Zeit verfügen.“ „Sehen Sie zu. Ich gehe voran.“ Eynitz warf ſeine Expeditionstaſche über die Schulter und folgte langſam. Er kannte den Weg nicht wie Harda, und ſo war ihre geſchmeidig Geſtalt auf dem buſchigen Zickzackwege ihm bald entſchwunden. Er beeilte ſich auch nicht, denn erſtens erforderte der kaum gebahnte Pfad Aufmerkſamkeit, und zweitens waren ſeine Gedanken damit beſchäftigt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, die unerwartete Einladung anzunehmen. Er hatte ja im Hauſe des Direktors der Hellbornwerke, das einen geſellſchaftlichen Mittelpunkt von Wiesberg und Umgegend bildete, nur in den formellſten Grenzen verkehrt, zumal ihm weder ſeine Zeit geſtattete, noch ſeine Neigung ihn drängte, lebhaftere Geſelligkeit zu ſuchen. So kannte er auch die Töchter hauptſächlich vom Hörenſagen als gefeierte Tänzerinnen und umworbene gute Partieen. Nur mit Harda war er bei Krankenbeſuchen in den Familien der Beamten und Arbeiter und im Krankenhaus einige Male zuſammengetroffen und hatte ſie dort in ihrer teilnehmenden Fürſorge ſchätzen gelernt. Und nun hatte er hier am Rieſengrabe im Banne der Pflanzenſeelen noch etwas ganz anderes erfahren — — Das Geheimnis des Sternentaus mußte ſie notwendig wieder zuſammenführen. Und dieſer Verkehr hatte ſo viel Verlockendes! Es war in Wiesberg wirklich kein Überfluß an anregenden Perſönlichkeiten — ſollte er dieſe erſte familiäre Einladung ablehnen? Komiſch, wie war nur der Direktor gerade heute darauf gekommen? Sollte Harda improviſiert haben? Dann mußte er doch hin, wenn er ſie nicht verletzen wollte. Aber nein — wie konnte er ſich ſo etwas einbilden. Er ärgerte ſich über ſich ſelbſt. Da erblickte er den Steg dicht vor ſich. Harda ſtand ſchon am andern Ufer, wo ſich die Tür des Gatters befand, das am ganzen rechten Ufer hinlief und den Park der Villa abgrenzte. Sie hatte die Tür geöffnet. Auf dem weißen Kleide ſpielten rötliche Strahlen der niedergehenden Sonne, grünlich ſchimmerten dagegen Haar und Schultern unter dem Widerſchein des breiten Buchenlaubes, und die braunen Augen leuchteten ungeduldig aus dem mit der Hand beſchatteten Geſicht, als ſie ihm entgegenrief: „Kommen Sie endlich, Herr Doktor? Hier müſſen Sie noch hinüber, drüben an Ihrem Ufer geht kein Weg.“ Da ſtand ſie wie eine lebendig gewordene Blume. Das Tor des Zaubergartens war geöffnet. Jetzt ſchloß es ſich hinter dem Eingetretenen. Einen Augenblick verharrte er unentſchieden. Sollte er ſeine Ablehnung unter irgend einem Vorwande widerrufen? „Wollen Sie direkt in die Kolonie?“ fragte Harda. „Da gehen Sie am nächſten mit mir hier herauf an der Villa vorbei.“ „Nein,“ antwortete Eynitz. „Ich muß zuerſt in meine Wohnung.“ „Dann wandern Sie hier am Zaune entlang, aber langſam bergauf, da kommen Sie auf den Fahrweg, das Tor iſt ja immer offen. Alſo —“ „Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein, herzlichſten Dank. Über den Sternentau berichte ich, ſobald ich klarer ſehe.“ Harda reichte ihm die Hand und nickte mit dem Kopf. „Adieu!“ ſagte ſie und ſprang den ſteilen Weg in den Park hinauf. Er ſah ihr nach, bis ſie hinter den Bäumen verſchwand. Dann ging er ſeinen Weg in Gedanken verloren. Es kam ihm vor, als wäre Harda nach ſeiner Ablehnung zurückhaltender geworden. War er ungeſchickt geweſen? Als er aus dem Gartentor herausſchritt, rollte der Wagen des Kommerzienrats hinein. Eynitz grüßte, dann warf er den Kopf in die Höhe und ſprach bei ſich: „Nein, es wäre Torheit. Ich gehe nicht hin.“ 3. Ebah, der Efeu Am Rieſengrabe ſpielte der Abendwind leicht in den Blättern der hohen Buche, unter ihr ſchwirrten kleine Fliegen und Käfer, Spinnen arbeiteten an Silberfäden, über den Boden raſchelte eine Eidechſe und im Graſe zirpten die Grillen. Das war alles, was der Menſchen ſtumpfe Sinne vernehmen konnten. Aber zwiſchen Licht und Luft, Waſſer und Erdreich beſtrahlten, benetzten, berührten ſich die zahlloſen Zellen der Pflanzen in unerſchöpflichen Einwirkungen. Alle bergen ſie ihre Wurzeln und Würzelchen im gemeinſamen Bodenreich der Mutter Erde. Aus ihrer großen Einheit, wo aller Kräfteaustauſch zuſammenfließt, ſtrömen die feinen Wandlungen der Stoffe zurück und werden wieder geſpürt von Zellen und Blättern, von Kraut und Baum als die Regungen des gemeinſamen Urſprungs. In dieſem weiten Felde von Wechſelwirkung chemiſcher, elektriſcher, mechaniſcher Spannungen pflanzt ſich jede organiſche Veränderung geſetzlich fort, und jedes Organ nimmt nach ſeiner Eigenart die gebotenen Energien auf. Da werden die Gewächſe ihres Lebens inne. Die Seele des Planeten, die im Genius der Menſchheit ſpricht wie im Flattern des werbenden Falters, wacht verbindend auch in den Pflanzen und leiht ihnen eine Sprache, die freilich für Menſchenſinne unverſtändlich bleibt. Eine ganz leichte Änderung der Spannung in den Kletterwurzeln, womit der Efeu ſich an die Rinde der Buche klammert, macht dem Baume den Zuſtand der Schlingpflanze unmittelbar verſtändlich. Dadurch ſind beide Gewächſe direkt verbunden und befreundet. Im übrigen verkehren alle Pflanzen mit einander durch Vermittlung des Erdreiches, und die Organe ihres Bewußtſeinsaustauſches ſind die Wurzeln. Aber natürlich, auch die Pflanzen ſind ſehr verſchiedenartig entwickelt und geſtimmt; nicht alle verſtehen ſich und können ſich mit einander verſtändigen. Ebah, die Efeupflanze, die ſich an der Buche emporrankte, hatte ſehr aufmerkſam all die leiſen Einwirkungen aufgenommen, die durch Licht und Schall, Luft und Boden von der Anweſenheit Hardas zu ihr drangen. Durch das ſanfte Berührungsſpiel ihrer Haftwurzeln fragte ſie die Buche: „Die Treter ſind wohl fort? Merkſt du ſie noch?“ „Nicht mehr, liebe Ebah,“ antwortete die Buche in ihrer Art. „Sie ſtreifen ſchon unten an den jungen Fichten vorüber.“ „Es war einer dabei, den ich noch nie geſehen habe,“ bemerkte Ebah. „Ich auch noch nicht. Aber Harda kannte ihn. Du wirſt leicht erfahren können, wie die Menſchen ihn nennen, wenn du mit deinen Sproſſen ſprichſt.“ „Um Hardas willen möcht' ich's wiſſen,“ ſagte Ebah. „Sonſt käme nicht viel darauf an. Ich wundre mich immer, daß ſich die Treter ſo von einander unterſcheiden; und man ſagt doch, daß es ihrer ſo viele gibt.“ „Freilich. Wenn auch nicht ſo viele wie Buchen, aber doch ſehr viele. Es waren aber auch Zeiten, da es erſt wenige und andre gab, die wohnten bei uns im Walde.“ „Haſt du die gekannt?“ „Ich bitte dich! Du weißt doch, daß wir Buchen nicht ſo alt werden. Schon viele Geſchlechter von Buchen ſind hier entſproſſen und zertrümmert, ſeit der Gott entſchlummerte und die alte Eiche ſtürzte.“ „Erzähle mir doch mehr von der alten Kunde. Wann höre ich alles?“ „Jetzt nicht, Ebah. Noch lacht die Sonne länger von Tag zu Tag, noch wacht der Wald im jungen Grün. Gedulde dich, bis die Tage ſich kürzen. Lange wirſt du nicht mehr zu warten brauchen.“ Ebah ſchwieg eine Weile, dann begann ſie leiſe: „Vernimmſt du's, Schattende? Unten erzählen die Kräuter, der Treter habe viele von ihnen abgeſchnitten und ausgegraben. Auch von der fremden Pflanze, meinem ſtummen Schützling, nahm er einige. Wir ſahen ſie ja auf dem Tiſche liegen. Sollen wir das dulden?“ „Kind, wir können's doch nicht hindern.“ „Ich begreif's nicht, daß den Tretern das erlaubt iſt. Sie ſind doch dazu da, uns zu dienen.“ „Das gehört auch dazu, daß ſie Nutzen von uns ziehen, wie wir von ihnen. Du ſollteſt nicht immer ſo verächtlich von „Tretern“ reden. Sie ſelbſt nennen ſich Menſchen, und das halten ſie für etwas ſehr Gutes.“ „Was Gutes! Ohne uns könnten ſie überhaupt nicht leben, ſo gut wie die andern Treter und Kriecher und Flieger, die ſie Tiere nennen.“ „Freilich, aber ſie könnten auch uns nicht dienen, wenn ſie nichts von uns nehmen dürften.“ „Meinetwegen! Nur töten dürften ſie uns nicht, ausreißen, daß wir ſterben müſſen wie die Pflänzchen dort auf dem Tiſche.“ „Sterben? Was heißt das für uns, Ebah? Der Menſch wohl kann getötet werden, weil er keine Dauerſeele hat wie wir. Wir aber, wir ſproſſen doch weiter, wenn auch große Teile von uns zerfallen, ja wenn der ganze Einzelbaum hinſinkt. Was wir webten und fühlten im Sonnenlicht, das wirkt weiter im großen Wald und im dauernden Erdreich und in ſeiner Seele, zu der wir gehören.“ „Dann begreif' ich's erſt recht nicht,“ ſagte Ebah, „daß dem Menſchen ſo viel Gewalt über uns gegeben iſt. Oder — manchmal denke ich ja ſelbſt, es muß etwas Beſonderes ſein, ſo für ſich zu wachſen und zu wandern, ohne ſich zu kümmern, wie die andern fühlen und gedeihen im Walde. Das muß wohl ſtark machen — vielleicht aber auch feindlich. Vielleicht iſt der Menſch darum unſer Feind? Denn er verfolgt uns doch, er tritt uns, er haßt uns. Soll ich ihn da nicht wieder haſſen?“ „Auch Harda?“ „Nein, nein! Das iſt freilich etwas anderes. Harda iſt gut, iſt kein Feind. Ich wünſchte, ſie gehörte nicht zu den Tretern — Menſchen, wollte ich ſagen. Ich nenne ſie auch nicht ſo, ich nenne ſie, wie ſie ſich ſelbſt nennt, Harda.“ „Siehſt du, daß du den Menſchen vielleicht unrecht tuſt? Ich glaube, du haſt manchmal zu viel auf das Geſchwätz der unzufriedenen Fichten gehört. Gerade der Menſch, den du wirklich näher kennſt, iſt gut. Und wieviel Menſchen kennſt du überhaupt?“ „Gleichviel, um Hardas willen muß es mir leid tun, daß ſie ein Menſch iſt. Denn ſo hat ſie doch keine Seele — ich meine, ſie kann nicht weiterleben wie wir im unſterblichen Reiche Urd. Das kennen doch wohl die Menſchen gar nicht?“ „Sie kennen es ſchon, ſie nennen's Natur, aber ſie halten es für tot, für unbeſeelt.“ „Wie dumm! Das kann Harda unmöglich glauben. Oder ſie muß es beſſer lernen! Sie iſt ſo gut — weißt du noch, Schattende, als der Treter mit der Axt in mich einſchlug?“ „Freilich, meine arme Ebah, du weinteſt ja —“ „Nun, das war ſicher ein ſchlechter Menſch, nicht wahr? Ein Feind, den ich haſſen muß! Doch Harda kam zum Glück dazu. Wie ſie den Treter ſchalt, wie ſie ihn fortſchickte! Sie hat mich gerettet. Aber eine tiefe Wunde hatte ich weg, und ein Zweig war mir abgehackt.“ „Die Wunde iſt wieder geheilt, und der Zweig —“ „Ach ja, meine Hedo, meine liebe Hedo. Der Zweig wurde mein größtes Glück, und das danke ich auch Harda. Sie nahm den Zweig mit hinüber nach dem Garten, wo die vielen Zypreſſen ſtehen, drüben hinter dem Fluß. Dort pflanzte ſie ihn auf einen kleinen Hügel, da ſchlug er Wurzel und wuchs, mein ſtarker Sproß. Hedo nannte ich ihn, und mit den Jahren hat er den ganzen Hügel bedeckt und eingehüllt mit ſeinen Blättern. Hedo hat mir alles erzählt, ſobald ſie durch die Wurzeln ſprechen konnte. Oftmals kommt Harda hin und iſt traurig, wenn ſie aber meine Tochter genetzt und den Hügel mit friſchen Blumen geſchmückt hat, da wird ſie wieder froh.“ „Daran ſollteſt du doch denken, Ebah! Was dir ein großes Übel erſchien, das der Menſch tat, durch den Menſchen wurde es zu deinem Glück, du haſt eine Tochter —“ „Zwei habe ich ja! Auch die zweite, meine Kitto, verdanke ich Harda. Das war ſpäter. Wie lange iſt es denn her? Zwei Sommer. Da war ſie glücklich und fröhlich. Selbſt ſuchte ſie ſich einen Zweig aus und ſchnitt ihn ab, und ich freute mich. Singend ſprang ſie mit dem Zweige davon. Den pflanzte ſie ein, aber leider nicht draußen im Erdreich, ſondern in einen Kaſten in ihrem Zimmer, und als er wuchs, zog ſie ihn um einen weißen Stein, der dort ſtand und ausſieht wie der Kopf eines Menſchen. Und Kitto kann nun Harda alle Tage ſehen.“ „Wie glücklich biſt du alſo!“ „Dankbar bin ich, denn ich ſelbſt — ich habe ja noch nicht geblüht —“ „Um ſo beſſer für dich, daß du Sproſſen beſitzeſt.“ „Ach ja — aber blühen — es muß doch ganz etwas anderes ſein, wenn man aus Samen herauswächſt? Nicht wahr, ich bin aus Samen gewachſen? Du weißt es?“ „Ich weiß es, Ebah. Ich weiß es noch genau. Weiter oben im Walde, über dem Tale, liegt eine graue Ruine, ganz mit altem Efeu umwachſen. Dort ſteht deine Mutter. In jedem Herbſte blüht der Efeu, und im Frühjahr trägt er ſchwarze Beeren. Und an einem ſonnigen Frühlingsmorgen kam eine kleine Grasmücke, ein luſtiges Vögelein, das trug eine Efeubeere im Schnäbelchen. Sie ſetzte ſich auf einen meiner Zweige und knabberte. Der Samen aber fiel zwiſchen meine Wurzeln. Und daraus biſt du hervorgeſproſſen und haſt dich ausgedehnt, bis du mich ganz umſponnen haſt, meine liebe Ebah. Und nun kannſt du bald hinausſehen ins Freie.“ „Und blühen! Ja, Schattende, ich will blühen! Bin ich denn noch nicht hoch genug? Ich bin doch ſchon ſo alt. Nicht wahr, dieſen Herbſt, da werde ich blühen? Mir iſt's ſo, als wüchſen mir oben ſchon ſpitzige Blätter, und ich fühle, die Sonne ſcheint darauf.“ „Du biſt wacker heraufgekommen in den letzten Jahren, wir wollen hoffen, daß du's in dieſem Jahre erreichſt.“ „Und blühen, blühen!“ Ebah rief's ſo recht aus innerſter Tiefe heraus. „Na, na, na! Bitte, etwas weniger lebhaft,“ murrte die alte Fichte am Abhang. „Wenn du deiner Schattenden Geſtändniſſe machſt, ſo ſchreie nicht ſo, daß wir's hier unten hören.“ Von Schreien reden die Pflanzen, wenn die Unterhaltung über die Wahrnehmung der nächſt Beteiligten hinausdringt, und das gilt für unanſtändig. Bei Ebahs Erregung hatten ſich nicht nur die Haftwurzeln, ſondern auch die Erdwurzeln beteiligt. „Entſchuldige, liebe Fichte,“ ſagte Ebah, „ich wollte dich nicht ſtören.“ „Ach was, ſtören! Meinetwegen blüh' du jedes Jahr dreizehnmal wie der Mond! Wenn dir's nur bekommt. Aber davon macht man kein Aufhebens.“ „Das glaub' ich dir,“ miſchte ſich die Buche ein. „Es iſt auch danach bei euch nacktſamigen Nadelhölzern! Wenn man keine Fruchtblätter hat —“ „Na, mit deinen grünen Kätzchen iſt's auch nicht weit her! Übrigens, man wird ja ſehen, wer's weiter bringt! Wir drängeln euch immer weiter zurück, ihr Laubbäume!“ „Und wir fürchten uns nicht vor euch, ihr Raubbäume! Aber wir wollen nicht ſtreiten.“ „Mir iſt's recht,“ ſagte die Fichte. „Ich will dir ſogar einen guten Rat geben. Wenn du's mit dem Efeu gut meinſt, ſo treib' ihn nicht zum Blühen. Warum hat er's denn ſo eilig damit?“ „Warum biſt du denn unten erſt ſo ſeitwärts gewachſen und haſt dich gekrümmt, ehe du in die Höhe kamſt?“ antwortete der Efeu direkt. „Weil ich zum Lichte will, vorlauter Efeu, und das Felsſtück hier am Abhang mich daran hinderte. Aber ich kam darüber hinweg und brauche keine fremde Hilfe dazu, wie andere Leute.“ „Und warum wollteſt du denn zum Lichte,“ ſagte die Buche. „Doch eben, weil du wachſen und blühen wollteſt.“ „Was denkſt du denn, was du daran beſonderes haben wirſt?“ wandte ſich die Fichte fragend an Ebah. „Ich weiß es ja nicht recht. Aber ich meine, dann beginnt ein andres Leben, dann hält mich die Stelle nicht mehr hier, dann flieg' ich hinaus in den Raum und ſuche andre Orte, von denen mir hier nur berichtet wird.“ „Du fliegſt hinaus?“ rief die Fichte. „Täuſche dich nicht, Efeu. Du bleibſt hier wurzeln, nur die Früchtchen, die du etwa hervorbringſt, die können dann wandern.“ „Sollt' ich da nicht ſelbſt mit darin ſein? Wo iſt denn der Teil von mir, worin nicht meine ganze Seele iſt? Stehen wir nicht überall im ſelben Zuſammenhang? In jedem Zellchen leb' ich weiter, das ich erzeugt habe.“ „Eben darum, liebe Ebah,“ bemerkte die Buche freundlich, „bedürfen wir auch nicht ſo unbedingt der Blüten und Früchte. Eben darum können wir uns gedulden, weil wir die Dauerſeele haben.“ „Nein, nein, Schattende. Es iſt noch etwas anderes, das ich fühle, wenn ich's auch wohl noch nicht recht verſtehe. Es muß eine andre Seele geben, die ich ganz für mich habe. Und die, ſo denke ich, die werde ich gewinnen, wenn die Samenknoſpe in mir wächſt, wenn die Blüte aufbricht, wenn die Weſpe kommt und die Beere reift.“ „Gewinnen magſt du ſie,“ ſagte die Buche nachdenklich, „aber ob du nicht um ſo mehr dadurch verlierſt? Ob es nicht überhaupt beſſer für die Pflanzen wäre, das Blühen und Fruchtbringen einſchränken, was uns alle mehr und mehr von einander trennt? Jetzt ſchon müſſen wir mit den Inſekten uns gut ſtellen, ſchließlich kommt's dazu, daß wir wie Tiere und Menſchen alles darauf einrichten, daß Männchen und Weibchen ſich anlocken und finden. Und das haben wir doch gar nicht nötig, wir können uns ohne dieſe überflüſſige Bemühung reichlich genug vermehren.“ „Da haſt du einmal recht, alte Buche,“ rief die Fichte herüber. „Die Blüte iſt ein Luxus, und weiter nichts. Immer mehr und mehr hat man ſie übertrieben, dieſe ariſtokratiſche Feintuerei!“ Unten am Boden regte ſich's und wiſperte zwiſchen den Pflänzchen im Mooſe. Der Waldmeiſter fing an zu reden, und der Sauerklee ſtimmte ihm bei. „Was wollt ihr denn eigentlich, ihr Kleinen?“ fragte die Buche gutmütig. „Um Verzeihung,“ ſprach der Waldmeiſter, „aber ich höre, daß der Efeu noch nicht geblüht hat. Da ſcheint es mir doch nicht ſchicklich, in Gegenwart und unter Teilnahme ſolcher Kinder über derartige Themata wie Blühen und Fruchttragen zu ſprechen.“ „Und überhaupt,“ rief der Sauerklee, „es iſt ſchon ſpät. Ich lege eben meine Blätter zuſammen und möchte nicht gern im Schlafe geſtört werden.“ „Schlaft nur, ihr Kleinen,“ ſagte Ebah beluſtigt. „Was fällt euch denn ein? Kaum zwei Monde ſeid ihr alt, und ihr werdet hier mich ſchulmeiſtern wollen, der ich ſchon Dutzende von euern Generationen habe aus der Erde kriechen und wieder verdorren ſehen?“ „Aber du haſt noch nicht geblüht!“ rief der Waldmeiſter. „Du haſt noch nicht geblüht!“ ſchalt der Sauerklee. „Er hat noch nicht geblüht, und ich habe ſchon Früchte angeſetzt,“ höhnte ein Leberblümchen in der Nähe. „Seid ſtill, ihr Kleinen, und ſchlaft, wenn ihr könnt,“ ſagte die Buche. „Allerdings hat Ebah noch nicht geblüht, denn ſie braucht eine andere Vorbereitung dazu als ihr Kurzlebigen. Aber ich will euch Großen etwas ſagen, ihr Dauernden im Walde! Es ſcheint, daß die Zeit für Ebah gekommen iſt, mitzuſprechen unter uns älteren; denn ihre oberſten Blätter ſpitzen ſich zu, und der Lichttrieb bildet ſich heraus. Da ſchlage ich vor, daß mein Schützling von nun ab berechtigt ſein ſoll, teilzunehmen, wenn wir über das Geheimnis des Waldes reden. Und die Bäume hier am Rieſengrab bitte ich um ihre Zuſtimmung.“ Da war kein Baum ringsum, der nicht bereitwillig ſich gefügt hätte, und auch die Sträucher und Stauden und viele andere Pflanzen, die gar nicht gefragt waren, hielten es für richtig, der Buche und dem Efeu ihre Reverenz zu machen. Es ging eine Bewegung durch den Wald über den ganzen Berg und über die Wieſen, daß man denken mochte, der Wind rauſche dahin und beuge gewaltſam Wipfel und Halme. Es waren aber die Pflanzen ſelbſt, die durch die Erde miteinander und zur Luft ſprachen; da wirkte der Wind zuſammen mit dem Willen der Pflanzen nach Bewegung. Da wallte der Wald, da rauſchte das Laub, da atmete die Erde — — Natur, die unendliche, ſegnete eines ihrer Kinder. 4. Das weiſe Moos Ebah drängte ſich enger an die Buche und ſagte dankbar: „O Schattende, du gute, große! Nun fühl' ich tief das Glück, dir ſo nahe ſein zu dürfen, der Mächtigſten des Waldes, der Hüterin am Rieſengrab.“ „Und ich freue mich, daß du nun immermehr vernehmen und verſtehen wirſt, was an Pflanzenleid und Pflanzenhoffnung lebt und zittert im Reiche Urd und was wir erflehen vom Schickſal des Planeten.“ Die Buche ſchwieg. Nun regte ſich's unten am Boden, hier und da, nicht ein einzelnes Pflänzchen, ein allgemeines Gemurmel war's von zahlloſen Blättchen und Fäſerchen der Wurzeln, von Stengelchen und Becherchen, und doch eine deutliche Stimme, gemeinſam dem dicken, weichen Teppich, der Fels und Erdreich und Baumwurzeln umzog. Durch den Wald ringsum vernehmbar ſprachen die Mooſe. „Es iſt recht, ihr Kinder da oben, und du, Schattende, die du weiſer biſt als die andern, es iſt recht, daß ihr Ebah aufgenommen habt in die Rede des Waldes.“ „‚Ihr Kinder‘ nennt uns das Moos?“ fragte Ebah heimlich die Buche. „Das tut es immer. Der Wald iſt ſein großes Kind, ſo ſagt es. Und es iſt ja wahr, das Moos war vor uns da. Wenn es jetzt auch unſeres Schattens bedarf, ſo konnten doch wir alle nur dadurch den feſten Boden gewinnen und als Blütenpflanzen emporwachſen, weil uns das Moos die Erdkrume bereitet hat; von Meer und Sumpf zu Berg und Fels. Darum ehren wir's.“ „Das habe ich wohl gemerkt, nur konnte ich's bisher nie richtig verſtehen, wenn es zu dir ſprach.“ „Weil es dich eben noch nicht für mündig erachtete und daher nicht verſtanden ſein wollte. Das Moos iſt etwas altväteriſch, aber es iſt ſehr weiſe.“ „Doch warum iſt es ſo klein geblieben?“ „Ach, Ebah, was iſt klein? Was in uns wirkt und mächtig wird, das iſt ja doch lebendig im allerkleinſten, in der Keimzelle, die das Geſetz des Wachstums birgt. Und das Moos ward klein, weil wir groß wurden. Aber höre, es ſpricht.“ „Das Tiefſte bin ich im Wald,“ ſagte das Moos langſam, „das Niedrigſte, aber das Älteſte, das, was am engſten verſchlungen iſt und verwachſen der Mutter Erde. Wie ich ihre Stoffe umwandle in meinem zierlichen grünen Zellenleibe, ſo fließen von ihr zu mir ihre weiten großen Gefühle, und ich ſpinne ſie für mich zu ſeinen, lockeren Seelenfädchen. Ihr mögt ſie dann zu euern großen Gefäßbündeln und Stämmen verarbeiten und umwandeln in grobe Gedanken und törichte Wünſche, wie jeder kann und will. Ich aber ſage euch, was ich mag.“ „Wir hören gern auf dich, weiſes Moos,“ ſagte die Buche. „Ihr ſpracht vorhin mit der Fichte, Richtiges und Falſches.“ „Vorhin? Vorhin?“ fragte die Buche leiſe den Efeu. „Was mag es damit meinen? Das Moos iſt ein bischen langſam.“ „Wir ſprachen vom Blühen; ich ſehnte mich danach und die Fichte nannte es Luxus,“ ſagte Ebah. „Sie macht ihn aber mit.“ „Durchaus nicht jedes Jahr und niemals vor dem fünfzigſten,“ rief die Fichte unwillig hinüber. „Pſt!“ erwiderte die Buche. „Was ſagten wir Richtiges, weiſes Moos?“ „Von der Blüte. Sie iſt ein Fehler, aber da er einmal gemacht worden iſt, ſo iſt ſie nun kein Luxus, ſondern ein notwendiges Übel. Das iſt eine ſchwierige Frage, eine lange Geſchichte. Ja, in der guten alten Zeit, als es nur Kryptogamen gab, da hielten wir noch alle zuſammen mit der Mutter Erde. Aber jetzt ſpaltet ſich mehr und mehr ab, und eine Blüte möchte ſich benehmen wie ein Schmetterling.“ „Verzeihe, weiſes Moos,“ ſagte die Buche, „aber du haſt uns doch gelehrt, daß der erſte Fehler der Spaltung ſchon von den Kryptogamen gemacht worden iſt.“ „Ja, das iſt richtig, leider. Das war wohl ein Irrtum der Mutter Erde ſelbſt, den ſie oft bereut hat, damals die Spaltung von Tier und Pflanze. Das hätte nicht ſein ſollen, das iſt das Tragiſche in der ganzen Erdentwicklung. Ich rede nicht gern davon, denn niemand weiß, wie da zu helfen iſt.“ „Aber erzähle doch noch einmal, wie es geſchah. Ebah hat das noch nicht gehört.“ „Wir auch nicht, wir auch nicht,“ klang es auf allen Seiten von den jüngeren Gewächſen her. „Im Anfang, als unſere Mutter Erde noch jung war,“ ſo begann das Moos bedächtig, „da waren alle lebendigen Weſen auf ihr nur ſolche kleine einzelne Pflanzenzellen, wie ſie auch jetzt noch zahllos in Luft und Waſſer umherirren; jede wirtſchaftete für ſich und vermehrte ſich immer nur durch Spaltung in zwei Zellen. Die edlen und feinen Säfte aber, aus denen ſie ſich aufbauten, die mußten ſie mühſam ſich ſelbſt herſtellen; denn Mutter Erde bot ihnen ihre Stoffe noch nicht fertig für ſie bereitet. Sie hatte ihnen aber die Kunſt mitgegeben, wenn der Lichtſtrahl auf ſie ſchien, in ſich die Stoffe zu fügen zu den leuchtenden Kernen des Blattgrüns. Da hatten ſie ein machtvolles Werkzeug, die Luft zu ſpalten und ihre Zellen immer neu und kräftig herzuſtellen. Das war eine Mühe, das wißt ihr; denn ſo machen wir's alle noch heute. Na, ihr braucht nicht zu murren da drinnen, ihr Schmarotzer; euch päppeln wir eben auf, weil wir euch anderweitig zu Dienern brauchen. Aber der große Abfall, die Raubſtaatengründung, das war das Unheil. Es kamen nämlich einmal ſchlimme Zeiten, da fehlte es an Licht, und vielen Lebendigen war es ſchwer, ſich ihren Leib ſelber zu bereiten. Da verfielen einige darauf, die fertigen Nährſtoffe den andern fortzunehmen, ſie überfielen ihre Mitzellen und ſogen ſie in ſich auf. So hatten ſie's freilich bequemer und konnten leicht ſtärker werden als die andern.“ „Aber warum hat man das geduldet?“ fragte Ebah empört. „Das iſt doch ungerecht. Man mußte ſich nicht freſſen laſſen.“ „Sie waren eben die Stärkeren,“ beruhigte ſie die Buche. „Man konnte ſich doch vereinigen —“ „Pſt!“ „Ja,“ ſagte das Moos, „bei dieſer Gelegenheit wurde es auch üblich, daß ſich die einzelnen Zellen immer mehr und mehr zu ganzen Verbänden zuſammenſchloſſen und die Arbeit unter ſich teilten. Da ſtreckten wir Wurzeln aus in den Boden und Blättchen in die Luft, aber die Gegner machten es auch ſo, die bildeten einen Sack mit einer Öffnung, da zogen ſie nun die lebendigen fertigen Weſen hinein. Das nannten ſie eſſen. Ihr müßt bedenken, daß wir damals faſt alle im Waſſer lebten. Und ſo wurden die immer kräftiger, die ſich bloß von den andern Geſchöpfen nährten und gar nicht mehr von der Erde ſelbſt ihre Nahrung nahmen. Allmählich hatten ſie überhaupt verlernt, wie man die Rohſtoffe in Lebensſaft verwandeln kann, und ſo iſt es gekommen, daß nur wir Pflanzen unmittelbar von der Erde zehren. Die andern aber, die Stopfſäcke, die Lebensräuber, wurden das, was wir Tiere nennen, und ſie können auch nur exiſtieren, wenn ſie Pflanzen finden, die ihnen die Nahrung ſchon zur Lebensgeſtalt bereitet haben. Und das iſt die Urſache, weshalb ſie den engern Zuſammenhang mit der Erde verloren haben. Die Pflanzen ſetzten ſich feſt, denn ſie brauchten den Boden für ihre Wurzeln, und Luft und Waſſer kamen zu ihnen. Da verbreiteten wir uns in mächtigen Vereinen über die Erde in Wald und Wieſe, in Steppe, Moor und Waſſer. Langſam und bedächtig iſt unſer Tun, aber ſicher und dauernd lebt unſre Seele in der großen Mutter, die uns umfaßt. Die Tiere aber mußten ſich die Nahrung ſuchen, wo ſie wuchs oder umherlief (denn ſie freſſen ſich ja auch untereinander), und ſo mußten ſie ſich bewegen über den Boden oder durch das Waſſer oder die Luft. Da wurden ſie ein umherirrendes Geſchlecht, eilig und unſtet, flüchtig und gewaltſam. Und ſo verloren ſie ihre Dauerſeele. Freilich, in den einzelnen Tieren und in den Menſchen, die ja die klügſten Tiere ſind, da wohnt ein Reſt der großen Erdſeele, der aber iſt ſeinen eigenen Weg gegangen; geſchieden und abgegrenzt von der ewigen Mutter lebt die vergängliche Einzelſeele. Wie ſie die Nahrung ſuchen mußten, ſchweifende Geſchöpfe, ſo müſſen ſie auch ewig ſuchen nach dem Zuſammenhange des Erdbewußtſeins, und in ihrem trümmerhaften Geiſte bleibt für ſie alles ein dunkles, fremdes Geheimnis. Das eben iſt das große Unglück des Planeten, dem ich das erſte Kleid gewoben habe um die ſtarren Glieder. Zerriſſen iſt das Seelenband zwiſchen ſeinen Organen. Wir verſtehen nicht mehr die Haſtenden, und ſie verſtehen uns nicht. Wir wiſſen nur von den Menſchen, daß ſie ſich abſchieden vom Reiche Urd und es für ſchlummernd halten und ſeelenlos. Sie ſelber aber ſind die Geſchiedenen.“ „Arme Harda,“ ſeufzte Ebah im Stillen. Die Pflanzen ſchwiegen und ſannen nach über die Rede des Mooſes. Da begann die Fichte: „Wie aber hängt das alles zuſammen mit dem Blühen, wovon das weiſe Moos doch zuerſt geſprochen hat? Warum ſoll das Blühen kein Luxus ſein, ſondern ein notwendiges Übel?“ „Richtig, richtig!“ ſagte das Moos. „Das iſt nämlich eine neue Spaltung, die innerhalb der Pflanzenwelt eingetreten iſt, freilich nicht eine Spaltung in feindliche Lager, ſondern nur in der Anſicht darüber, wie wir Pflanzen es am beſten weiterbringen, nachdem einmal die Tiere ihren eigenen Weg gegangen ſind. Das iſt aber eine ſehr ſchwierige Frage, die auch mit der erſten Spaltung zuſammenhängt. Und ich ſtehe da auf meinem feſten Standpunkt, den ihr Bäume und alle ihr Offenblütigen für altmodiſch haltet.“ „Altmodiſch bin ich nun nicht, und Blüten trage ich auch,“ ſagte die Fichte. „Aber ich hätte gar nichts dagegen, wenn das Blühen wieder abgeſchafft würde.“ „Das iſt ja Unſinn,“ klang es unten vom Hügel her, wo ſich eine Roßkaſtanie vom Park aus hinverirrt hatte. „Das haben wir alles ſo fein ausgearbeitet mit dem Blühen, und das iſt das Schönſte und Vornehmſte an uns. Das iſt die äſthetiſche Kultur, wie die Menſchen ſagen, das iſt Verfeinerung, das verbindet uns Tier und Menſch. Wenn man das abſchaffte, würde man immer mehr in die Maſſe verſinken. Aber es geht auch gar nicht.“ „Es ginge ſchon,“ brummte der Nachtſchatten, „wenn man's anfinge wie meine Verwandten auf dem Felde draußen, die Kartoffeln. Dann bildet ihr Blüten und Früchte zurück und legt alle eure Kraft auf die Knollen. Ja wohl! Wenn ihr lieber ein Kartoffelfeld habt als eine Wieſe, lieber eine Fichtenpflanzung als einen gemiſchten Laubwald, da agitiert nur gegen die Blütenverfeinerung und werdet die richtigen Proletarier.“ „Das will ja eben die Fichte,“ rief die Roßkaſtanie. „Mit der Maſſe will ſie die Herrſchaft im Walde gewinnen.“ „Schweigt,“ rief die Buche. „Das Moos will uns noch etwas ſagen.“ „Zankt euch nicht, Kinder!“ hob das Moos wieder an. „Es kommt jetzt gar nicht darauf an, was man möchte, ſondern wie es geworden iſt. Unſre einzelligen Vorfahren haben ſich immer ſo vermehrt, daß eine Zelle, wenn ſie zu groß geworden war, ſich teilte und die Kinder getrennt fortwuchſen. Aber die Nachkommen wurden da gar zu gleichartig, eintönig, ſchablonenhaft, es gab keinen Fortſchritt. Da haben ſich denn zwei verſchiedene Zellen, eine große und eine kleine, vereinigt und verſchmolzen, und wenn die ſich dann wieder teilten, ſo waren die neuen Zellen auch wirklich neue Weſen, die von beiden Eltern etwas an Eigenſchaften mitgebracht hatten. Als nun aber ſich die Zellgenoſſenſchaften der größeren Pflanzen und Tiere gebildet hatten, da wuchſen dieſe maſſigen Körper jeder für ſich heran, indem immer Zelle auf Zelle ſich teilte; nur unter beſondern Umſtänden, von Zeit zu Zeit, konnten zwei Geſchöpfe gleicher Art Zellen zur Verſchmelzung ausſenden, wie ihr's in euern Blüten tut. Das iſt ja nun ganz gut, nur darf man den Zuſammenhang mit der Mutter Erde nicht verlieren. Und deswegen halten wir Kryptogamen daran feſt, daß wir immer zwei Generationen wechſeln laſſen. Die eine wurzelt in der Erde und vermehrt ſich nur durch die Spaltung der Zellen, erzeugt aber dabei beſondere Organe, unſre Sporen. Dieſe entſenden Zellen, die erſt weiter wachſen, wenn ſich zwei verſchiedene, männliche und weibliche, verſchmolzen haben. Das iſt die zweite Generation, die ſich vervollkommnen kann, weil jeder Nachkomme an den Eigenſchaften beider Eltern teilnimmt. Ihre Kinder aber kehren nun erſt wieder zur Erde zurück und wachſen aus ihr hervor. So bleiben wir immer im Zuſammenhang mit der großen Mutter bei unſrer Vermehrung durch Sproſſung und verfeinern und ſtärken uns doch durch die Vermählung.“ „Aber, weiſes Moos,“ ſagte die Buche, „das machen wir ja gerade ſo, nur haben wir dieſe zweite Generation abgekürzt auf die Entwicklung in der Blüte.“ „Drum meine ich eben, daß die Blüte ein notwendiges Übel iſt, die Vermählung dürfen wir nicht entbehren. Den Fehler ſehe ich nur darin, wie ihr die Sache eingerichtet habt. Die meiſten von euch haben ſich ſchon ganz von den Tieren abhängig gemacht, und wie ihr ſie anlockt durch Honig oder Duft oder glänzendes Äußere, das wird euch ſchließlich das Wichtigſte im Leben. Das ſcheint mir nicht der richtige Pflanzenſtolz auf unſre Erdwurzelung.“ „Wir werden darum unſern Zuſammenhang mit der Dauerſeele nicht aufgeben,“ meinte die Buche. „Aber das ſcheint mir doch ein großer Fortſchritt, daß wir uns Wind und Waſſer und vor allem die Tiere und den Menſchen dienſtbar machen, unſern Blütenſtaub von Ort zu Ort zu ſchaffen und unſer Gedeihen zu fördern.“ „Und es iſt doch nichts Rechtes mit den Blüten,“ ſchalt die Fichte. „Nichtstuer ſind ſie, denen ihr alles Beſte an Nahrung abgeben müßt, und vor dem Regen ducken ſie und fürchten ſich, 's iſt lächerlich.“ „Ich aber,“ rief die Roßkaſtanie wieder herüber, „ich finde es lächerlich, ſich mit ſo ſchuppig-ſchäbigen Blüten zu begnügen. Wir tun ſehr Unrecht, die Geſellſchaft der Haſtenden nicht lebhafter zu ſuchen. In der Ausbildung der Blüte ſehe ich einen Weg, ganz beſonders dem Menſchen uns zu nähern. Ich kenne dieſe Obertiere beſſer als ihr hier im Walde, denn meine Mutter ſteht drüben nahe an der Haustür. Sie müſſen für die große Mutter Erde doch einen Nutzen haben, den wir nicht verſtehen.“ „Ach was,“ ſagte die Fichte. „Eben um unſertwillen ſind ſie da. Wozu ſollte die Erde ſie ſonſt brauchen, da ſie doch in uns ihre Organe hat.“ „Sie werden aber die Dinge von mehr Seiten betrachten können als wir feſtſtehenden,“ bemerkte die Buche. „Gewiß,“ rief die Kaſtanie. „Ihr ſolltet nur ſehen, wie ſie bald von dieſer, bald von jener Seite kommen und was für wunderbare Dinge ſie zu machen verſtehen.“ „Aus uns!“ höhnte die Fichte. „Ja, aber dafür pflegen ſie uns auch. Und ſie kennen und unterſcheiden uns viel beſſer als wir ſie. Ihr Fichten ſolltet ihnen beſonders dankbar ſein!“ „Egoismus! Sie nützen uns aus.“ Ebah hatte eifrig der Unterhaltung gelauſcht. Jetzt, da von den Menſchen die Rede war, richteten ſich alle ihre Gedanken auf Harda, und ſie ſagte ſchüchtern: „Es gibt doch auch ſehr gute Menſchen, die uns gern helfen. Sollten wir nicht auch denen zu helfen ſuchen? Das weiſe Moos beklagt, daß die Haſtenden und die Wurzelnden getrennt ſind im großen Erdenleben, daß ſie ſich nicht mehr verſtehen. Könnten wir nun nicht alle danach ſtreben, daß wir uns wieder verſtehen lernen? Daß die Menſchen wieder teilnehmen an der Dauerſeele, und daß auch wir nach dem trachten, was das Moos die Einzelſeele nannte? Dann müßten wir uns doch recht bemühen um das Blühen, weil wir dabei für uns ſelbſt etwas werden und fühlen. Vielleicht iſt da ein Weg, wie Menſchen und Planetenſeele wieder ſich vereinen können?“ „Was haſt du für Gedanken,“ flüſterte die Buche zu Ebah. „Ich habe dir doch geſagt, daß wir uns durch das Blühen mehr und mehr von einander trennen.“ „Ich meine eben, daß das nötig iſt, damit uns die Menſchen verſtehen. Unſre gemeinſame Dauerſeele iſt ihnen zu fremd und groß; aber wenn wir ihnen ähnlicher werden in unſerm Weſen als einzelne, wenn ein Menſch und eine Pflanze eine gemeinſame Sprache finden könnten, dann würden vielleicht vom einzelnen aus die Menſchen wieder zum Ganzen der Erde zurückgeführt werden können. Vielleicht ſuchen die Menſchen von oben her auch einen ſolchen Weg, die Pflanzenwelt zu verſtehen, und wir könnten ihnen von unten her begegnen.“ „Phantaſtin!“ brummte das Moos. „Quäle dich doch nicht damit, Ebah,“ beruhigte die Buche. „Du wirſt erſt ſpäter hören, wie wir es uns denken, daß die Pflanzen wieder die Herrſchaft der Erde gewinnen, die der Menſch jetzt erſtrebt. Vielleicht iſt auch etwas Richtiges in deinen Gedanken. Aber nimm dir Zeit!“ „Ach, Schattende, ich möchte ſo gern, daß die Menſchen nicht ſo ſchnell hinſchwinden, ſondern teilnehmen an unſrer Dauerſeele. Was wird mit den Menſchen, wenn ſie ſterben?“ „Weg ſind ſie!“ rief die Fichte grob. „Dann wiſſen ſie nichts mehr, dann fühlen ſie nichts mehr, dann ſind ſie tot. Tot wie der Stein, der hinabrollt, oder das Harz, das eingetrocknet iſt.“ „Woher weißt du das, daß ſie tot ſind?“ ließ ſich das Moos wieder hören. „Braucht ſie die Erde nicht zu immer neuen Geſtalten? Freilich ſinken ſie zurück in den Boden der Erdmutter. Da ſtürzen ſich unſre kleinſten Genoſſen darauf, die Spaltpilze, und zerlegen die künſtlich aufgebauten Stoffe ihres Leibes wieder in einfachere. Das gilt von den Menſchen wie von den Tieren allen. Würmer und andre Geſchöpfe wühlen ſie durch den Boden, die Fadenpilze verknüpfen die Stoffe zu neuen Verbindungen, und nun erſt iſt für die grünen Pflanzen wieder der Grund geſchaffen, darin und darauf ſie wachſen können. Weißt du noch nicht, daß die grüne Pflanze der niedern Pflanze bedarf, und dieſe wieder — das iſt nun durch die Abtrennung der Tiere leider ſo gekommen — dieſe vermag nur zu leben auf dem Boden, der durch den lebendigen Leib des Tieres gegangen iſt. Das Tier aber und der Menſch müſſen wieder die Pflanze haben. Der ewige Kreislauf iſt da, der iſt nicht zerriſſen auf der Erde. Aber davon wiſſen die nichts, die nicht zur wurzelnden Pflanze gehören. Sie dienen wohl der großen Mutter, aber nur als ihre Werkzeuge. Die Menſchen fühlen, ſie wiſſen vielleicht im Augenblick, was mit ihnen geſchieht, aber nicht, wozu es geſchieht. Und wenn es geſchehen iſt, wiſſen ſie nichts vom Zuſammenhang mit den andern. Sie haben eben keine Dauerſeele. — Nun hab' ich's dir geſagt, neue Waldgenoſſin, nun merke dir's und ſchlafe wohl. Ich will jetzt ruhen.“ Das Moos ſchwieg. „Arme Harda!“ ſeufzte Ebah zur Buche gewandt. „Wie unglücklich muß ſie ſein! Aber weißt du — ich kann's doch nicht glauben, daß die Menſchen ſo verloren ſein ſollten. Sie machen ſich doch Mitteilungen unter einander, das merken wir ja. Sie können ſich gegenſeitig verſtändigen, ſie handeln gemeinſam, es gehen tauſend Wirkungen hin und her zwiſchen ihnen und uns. Warum ſollte es nicht einmal möglich ſein, zu Harda zu ſprechen?“ „Meine gute Ebah! Die Menſchen ſprechen untereinander, das iſt keine Frage, aber wer ſoll unſre Sprache in die ihrige überſetzen? Sorge dich nicht, es iſt gut, daß du Harda nicht ſagen kannſt, was ihr fehlt, denn ſie weiß es jedenfalls nicht und wird ihre Dauerſeele nicht vermiſſen.“ Ebah ſchwieg betrübt, dann ſagte ſie entſchieden: „Und ich bleibe doch dabei!“ „Was willſt du?“ „Blühen will ich! Alles will ich, was zur Einzelſeele hinführt. Dann komme ich vielleicht Harda näher, dann kann ich ſie vielleicht retten und ihr von meiner Dauerſeele geben, daß ſie mit uns zuſammenlebt im heiligen Reiche Urd.“ „Ruhe jetzt, Ebah, ſchlafe. Der Wald iſt ſtill.“ 5. Die Haſtenden „Ja, ſehen Sie nu, Fräulein, da konnt' ich doch nicht dafür, weil ich halt drüben am Friedhof in den Graben gefallen bin, und ich mußte doch oben an dem Park lang gehen, da konnt' ich die Uhr halt nicht ſtechen —“ „Aber, Gelimer,“ ſagte Harda zu dem alten Nachtwächter der Villa, der den königlichen Namen Gelimer führte, „das iſt nun ſchon das dritte Mal in den acht Tagen, ſeit der Vater verreiſt iſt, daß Sie die Kontrolluhr nicht geſtochen haben —“ „Ich mußte mir doch mein Bein verbinden, ſehen Sie, Fräulein, hier unten, da iſt die ganze Hoſe zerriſſen, weil ich doch in den Graben gefallen bin —“ „Und warum ſind Sie in den Graben gefallen? Das wiſſen Sie ganz genau! Weil Sie wieder betrunken waren —“ „Wegen dem Biſſel Schnaps, Fräulein Kern, das werden Sie doch nicht erſt dem Herrn Direktor melden. Denn, ſehen Sie, Fräulein, der Herr Direktor hat doch geſagt —“ „Wenn Sie wieder den Dienſt verſäumen, daß Sie nicht länger Wächter ſein können —“ „Ja, das hat er ſchon vielemal geſagt — aber wegen dem Biſſel Schnaps — ich will Ihnen mal erzählen, Fräulein —“ „Nein, nein, ich weiß ſchon, ich habe gar keine Zeit! Aber das muß ich Ihnen ſagen, Gelimer, wenn Sie wieder nicht zur rechten Zeit ſtechen, kann ich kein gutes Wort für Sie einlegen. Adieu!“ Ohne weiter auf den Alten zu hören, der ſie vor der Haustür abgepaßt hatte, ſprang Harda die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie kam von der jungen Frau des Chemikers, Doktor Emmeyer, der das Häuschen am Eingang zu den Hellbornwerken bewohnte. Ihr Kindchen war Hardas Patchen. Die Mutter mußte das Bett hüten und auf das junge Dienſtmädchen war wenig Verlaß. Da lief Harda alle Vormittage hinüber, ſah nach dem Rechten und badete das Kleine, nachdem ſie die eigne umfangreiche Wirtſchaft kontrolliert hatte. Nun endlich hoffte ſie eine Stunde für ſich zu haben. Denn ſeit der Abreiſe des Vaters war ſie noch weniger zur Ruhe gekommen als ſonſt. Kern war nicht, wie er ſich vorgenommen hatte, in der zweiten Nacht nach ſeiner Abreiſe zurückgekehrt. Er hatte von Berlin aus durchs Telephon gemeldet, daß er noch einige Tage bleiben müſſe. Das war Freitag. Am Sonntag kamen von Hamburg ausführliche Inſtruktionen an die Werke und die Nachricht, daß er noch in Hamburg und dann in Hildenführ zu tun habe; er hoffe aber beſtimmt, am Mittwoch wieder in Wiesberg einzutreffen. Das war heute. Inzwiſchen gab es fortwährend Beſuche, geſellſchaftliche Verpflichtungen, Fürſorgen in den gemeinnützigen Einrichtungen der Fabrik. Am meiſten aber machte ihr Tante Minna zu ſchaffen, die um ſo nervöſer wurde, je länger Kern ausblieb. Da hatte Harda ſtets zu beruhigen und den Vater zu verteidigen. Wenn ſie darauf rechnete, ſich einmal zu ihren Büchern zu ſetzen oder Briefe zu ſchreiben, da ließ ſie gewiß die Tante herunterbitten, die in ihrer unglücklichen Stimmung das Bedürfnis fühlte, ſich von ihr tröſten zu laſſen. Harda trat vor ihren Schreibtiſch. Durch das große Fenſter zu ihrer Linken überblickte ſie dann einen Teil des Weges, der vom Gartentor nach der Villa führte, und darüber hinaus ein anmutiges Stück der Landſchaft. An der Seitenwand zur Rechten ſtand ein Diwan und in der Ecke zwiſchen dieſem und dem Schreibtiſch ein Korbgeſtell, das dicht mit dunkelgrünem Efeu überzogen war. Das war Kitto, der Ableger von Ebah unter der Buche am Rieſengrab. Vor dieſem Hintergrund, noch mit anderen Pflanzen umgeben, hob ſich wirkungsvoll die Porträtbüſte von Geo Solves ab. Unter dem Schutze des Efeus hatte Harda auch einen Ableger des Sterntaus aufgezogen, der einige der ſchönen blauen Blümchen, oder, wie ſie jetzt ſagte, einige Sporenträger entwickelt hatte. Die ſeltſame neue Pflanze beſaß für Harda außer dem äſthetiſchen Gefallen, das ſie daran hatte, das perſönliche Intereſſe des eigenſten Beſitzes. Es war etwas, wovon niemand in der Welt etwas wußte und was ihr ganz allein gehörte, wie ihre geheimſten und liebſten Gedanken, und damit hatte ſie auch den Sternentau verknüpft. Und nun war ihr das Geheimnis geſtört worden! Aber der lange Doktor war ein artiger und beſcheidner Mann. Sie hatte den Eindruck, daß ſie ihm vertrauen könne. Und ſo fühlte ſie ſich eigentlich nicht geſtört in ihrem Beſitze, ſondern die Pflanze hatte ein neues Intereſſe für ſie gewonnen durch die Aufklärung, die ihr Eynitz über die Eigentümlichkeiten des Sternentaus gegeben hatte. Was ſie an botaniſchen Lehrbüchern und Nachſchlagwerken beſaß, hatte ſie ſchon hervorgeſucht, es war freilich nicht viel und konnte ihr nur geringe Anleitung zum Studium der Pflanze geben. Sie hatte, wenn auch mit ſchwerem Herzen, eines der Blümchen geopfert, um es zu zerſchneiden und mit der Lupe, die ſie noch vom naturwiſſenſchaftlichen Unterricht im Realgymnaſium her beſaß, die Struktur des Sporangiums zu ſtudieren. Aber ſie konnte nichts damit erreichen. Und ſie hatte ja auch keine Ruhe — auch nicht zum Leſen — heute früh war ſie wieder mitten in dem ſchwierigen Kapitel über den Generationswechſel der Mooſe unterbrochen worden. Sie nahm das Buch in die Hand, als ihr einfiel, noch einmal nach ihren Pflanzen zu ſehen. Denn ſie hatte bemerkt, daß die Blümchen des Sternentaus ſich in den letzten Tagen zu verändern anfingen, indem ſie ſich weiter öffneten und die weißen Fäden ſich ſtärker entwickelten. Beſonders das eine hatte geſtern am Tage den Eindruck gemacht, als ob die Fäden ſich geradezu wie ein Büſchel herausdrängten. Als ſie die Blätter des Efeus auseinanderbog, fand ſie zu ihrem Schrecken ſtatt ihrer fünf Sporenbecher nur noch vier vor. Das Blümchen mit der vorgeſchrittenen Entwicklung hing mit vertrockneter Hülle herab. Von den ſilberglänzenden Fäden aber war jede Spur verſchwunden. Vergeblich ſuchte Harda unter dem Efeu nach dem fehlenden Inhalt der Kapſel. Sie ſagte ſich, das alles müßte ſich wohl in unſichtbar kleine Sporen aufgelöſt haben. Aber vielleicht würden doch noch Reſte davon in der Hülle oder an den Blättern in der Nähe zu entdecken ſein. Wenn ſie nur ein Mikroſkop hätte! Mußte ſie nicht Eynitz benachrichtigen? Aber wie? Er war weder an dem Abend gekommen, wozu ſie ihn eingeladen hatte, noch hatte er ſich ſonſt ſehen laſſen. Ihm telephonieren oder ſchreiben? Das wollte ihr nicht gefallen. Sie mußte ſchon warten, bis er ſich ſelbſt meldete, dann würde ſie ihm ihre Beobachtungen mitteilen. Vielleicht war es auch gar nicht ſo wichtig. Aber hübſch wäre es doch, wenn ſie ſelbſt etwas finden könnte. Und — — warum war ihr das noch nicht eingefallen — drüben im Laboratorium hatten ſie ja mehrere gute Mikroſkope, da konnte ſie ſich eines entleihen. Freilich, der Vater hatte es nicht gern, wenn ſie ſich dort etwas holte, aber der war ja nicht da, die Herren würden es ihr nicht abſchlagen, und bis zum Abend — eher kam der Vater keinesfalls — da hatte ſie das Inſtrument wieder hinübergeſchickt. Mit den feinen Methoden, mit Präparieren, Färben und ſo weiter bei ſtarken Vergrößerungen, damit wußte ſie nicht Beſcheid, darauf konnte und wollte ſie ſich ja auch nicht einlaſſen. Aber einen einfachen Schnitt machen, unter das Deckgläschen bringen und einſtellen, das hatte ſie gelernt — vielleicht reichte das aus — jedenfalls wollte ſie es probieren. Alſo ſchnell den Sonnenſchirm genommen und hinüber! Schon war ſie aus dem Hauſe. „Nein, nein, Diana! Du bleibſt hier!“ Der große Hund ging gekränkt nach ſeinem Platze zurück. „Fräulein, Fräulein!“ rief eine rundliche Frau aus der Waſchküche. „Sind denn das hier die Sachen, die noch zurückbleiben ſollen?“ Harda lief hin und ſah in den Korb. „Ja, ja! Ich komme übrigens gleich wieder.“ Das Laboratorium lag in dem älteren Teile der Fabrik. Sie mußte an den Kreisſägen vorüber, die in voller Arbeit heulten. Es war ein hölliſcher Lärm, aber ſie konnte nicht vorbei, ohne einen Augenblick zuzuſehen. Wenn das Kreiſchen nicht geweſen wäre, wie ein kurzer Schmerzensſchrei der ſterbenden Baumſtämme, man hätte geglaubt, nur ein Spiel vor ſich zu ſehen. Denn die Rundhölzer glitten durch die Sägen ebenſo ſchnell hindurch wie vorher durch die bloße Luft und fielen in Stücke geſchnitten herab in die Transportwagen. Die blanken Sägeblätter aber rotierten ſo raſch, daß ſie ſtill zu ſtehen ſchienen. Es war wie ein Zauber. Oben über dem Wagen ſtand ein Werkmeiſter. Er grüßte Harda und rief ihr etwas zu. Gerade heulten die Sägen auf, ſie konnte kein Wort verſtehen, aber ihr Blick folgte der Armbewegung des Mannes. Sie ſah gleich, was er meinte. Drüben aus dem Schornſtein des neuen Maſchinenhauſes kam Rauch. „Die neue Maſchine?“ ſchrie Harda. „Ja wohl, Fräulein. Es wird wohl gleich losgehn“, ſchrie der Werkmeiſter. Richtig! Faſt hatte ſie das vergeſſen! Der Vater hatte ja angeordnet, daß man nicht auf ihn warten ſollte. Die neue zwölfhundertpferdige Dampfmaſchine war montiert, heute ſollte ſie probeweiſe in Betrieb geſetzt werden. Da mußte ſie dabei ſein. Harda bog von der bisherigen Richtung ab und wandte ſich nach dem neuen Teil der Werke. Hier wurde noch viel gebaut, die Straßen waren zerfahren, trotz des ſchönen Sommertages waren die ſchmutzigen Spuren des geſtrigen Gewitterregens noch ſehr merklich. Vorſichtig wand ſich Harda zwiſchen Fuhrwerken und Sandhaufen, karrenden Arbeitern und Kalkgruben hindurch. Jetzt nur noch über einen aufgeweichten Platz, dann war ſie am neuen Maſchinenhaus. Plötzlich ſchrak ſie zurück. Ein lauter Knall, darauf ein heftiges Ziſchen, Pfeifen, Geſchrei von Menſchen. Einen Augenblick ſtutzte alles, in der Erwartung, was noch geſchehen würde. Dann ſtürzten die in der Nähe Befindlichen herbei und drängten nach der Tür. Aber von innen trat ihnen ein Vorarbeiter entgegen und rief: „Niemand nötig! Niemand herein!“ Harda hatte ihre Kleider rückſichtslos zuſammengenommen und war durch den Schmutz des Platzes geſprungen. „Ein Unglück paſſiert?“ rief ſie atemlos. „Nicht ſchlimm. Ein Rohr geplatzt.“ „Jemand verletzt?“ „Der Blomann wird wohl was verbrüht ſein. Der dumme Kerl iſt ganz allein ſchuld, er muß doch wiſſen, welchen Hahn er nicht zudrehen darf. Es iſt ſchon nach dem Krankenwagen telephoniert, Fräulein.“ „Laſſen Sie mich hinein. Verbandzeug iſt doch drin?“ „Selbſtverſtändlich. Sie ſind ſchon beim Verbinden.“ Harda trat ein. Man brachte eben den Verwundeten in beſſere Lage. Der eine Arm war verbrüht, die Stirn blutete. Harda wuſch vorſichtig das Blut von der Stirn. Der Mann öffnete die Augen und ſtöhnte. Dann ſagte er: „Das mit der Stirn iſt nichts, ich bin nur angerannt, als ich im Schreck zurückſprang. Aber der Arm tut hölliſch weh.“ Harda legte einen Verband um die Stirn, während ein Werkführer den Ärmel vorſichtig aufſchnitt. Da rief der Arbeiter von draußen herein: „Hier kommt zufällig der Herr Doktor. Soll ich ihn vielleicht holen?“ Er wartete keine Antwort ab, ſondern lief hinaus. Vorſichtig ſteckte Harda die Sicherheitsnadel in die Binde und richtete ſich dann auf. Sie nickte allen freundlich zu, wünſchte baldige Beſſerung und ging hinaus. Vor der Tür traf ſie auf Eynitz. Da hatte ſie ihn nun, aber jetzt war keine Zeit für Sternentau. Er zog den Hut. Einen Augenblick ſchien er in ſeinem eiligen Schritt zu zögern, aber er fragte nur: „Iſt es ſchlimm?“ „Ich hoffe, nicht lebensgefährlich.“ Da war er auch ſchon in dem Raume verſchwunden. Harda ging langſam am Maſchinenhauſe entlang. Sie überlegte. Sollte ſie nicht hier warten, bis Eynitz ſeine ärztlichen Anordnungen getroffen hatte? Dann war es doch natürlich, daß ſie ihn befragte, und daran hätte ſich dann das Übrige geknüpft. Sie drehte um und ging langſam zurück. Ehe ſie noch die Tür wieder erreicht hatte, ſah ſie den Maſchineningenieur heraustreten und ihr entgegenkommen. Er ſah beſtürzt aus. „Wie ſteht es?“ fragte ſie. Er zögerte mit der Antwort, er war offenbar ganz mit ſeinen Gedanken beſchäftigt. „Mit dem Blomann?“ fragte ſie weiter. „Ach, der kann von Glück ſagen, daß er ſo davon gekommen iſt,“ antwortete jetzt der Ingenieur. „Aber —“ „Aber?“ rief Harda erſchrocken, „die Maſchine?“ „Der Blomann iſt dran ſchuld, dreht den Hahn zu — Es war ein Waſſerſchlag. Alles konnte zum Teufel gehn. Das geplatzte Rohr hat nicht viel zu ſagen, aber —“ „Nun was denn?“ „Ach, gnädiges Fräulein, ich glaube, die Kolbenſtange iſt verbogen.“ „O weh!“ „Ja, das kann lange dauern, ehe wir das wieder erſetzen können. Und wir brauchen die Maſchine ſo nötig. Auch die zweite neue Maſchine iſt noch nicht da. Sie behaupten ja in Nikolai, daß ſie fertig ſei und verladen werde, aber wer weiß, ob das nicht eine Ausrede iſt. Und nun iſt Herr Direktor nicht hier, aus Hamburg iſt er ſchon abgereiſt — wenn ihn ein Telegramm unterwegs treffen könnte, würde er ſelbſt noch disponieren können, aber auch Herr Milke weiß keine weitere Adreſſe.“ Milke war der ſtellvertretende Direktor. „Was wollen Sie telegraphieren?“ fragte Harda. „Den Tatbeſtand. Ich glaube, dann würde Herr Kern ſofort ſelbſt nach Oberſchleſien fahren, und dann bekommen wir die Sachen gleich hierher. Ja, gnädiges Fräulein, ſie wiſſen ja, ſo iſt es immer geweſen. Wenn Ihr Herr Vater den Herren auf die Bude rückt, da iſt auf einmal alles fix und fertig.“ Harda lächelte. Dann verfinſterte ſich ihre Stirn, ſie dachte nach. „Es iſt ſehr wichtig?“ fragte ſie noch einmal. „Das ſehen Sie ſelbſt. Wir können Wochen verlieren, und ſo reichen vielleicht wenige Tage aus.“ „Dann, bitte, ſetzen Sie mir das Telegramm auf. Ich habe noch eine Adreſſe, allerdings nur für Privatangelegenheiten. Aber ich will es in dieſem Falle verantworten. Vielleicht erreicht ihn dort noch das Telegramm.“ Der Ingenieur verſchwand im Hauſe, und kam nach wenigen Minuten mit einem Blatt Papier zurück, das er Harda überreichte. „Ich werde die Depeſche ſofort ſelbſt aufgeben,“ ſagte ſie. Denn ſie wollte die Adreſſe nicht mitteilen. Als ſich der Ingenieur unter Dankſagungen entfernt hatte, blickte ſich Harda wieder um. Von dem Doktor war nichts zu ſehen. Länger durfte ſie nicht warten. Sie eilte nach dem Bureau, dort übermittelte ſie die Depeſche telephoniſch nach dem Telegraphenamt. Jetzt gedachte ſie, ſich noch einmal nach dem Befinden des Verwundeten zu erkundigen, aber ſie war nicht weit gekommen, als ein Schreiber ſie einholte, der ihr eiligſt nachgeſchickt worden war. Eben hätte Fräulein Blattner aus der Villa herübergeſprochen und gefragt, ob Fräulein Kern vielleicht in der Fabrik ſei. Sie möchte ſo freundlich ſein und ſogleich nach Hauſe kommen, es hätten ſich Gäſte angemeldet. Harda ſeufzte. Aber was wollte ſie tun? Sie konnte die Tante nicht im Stich laſſen. Alſo nach Hauſe. Auf der Veranda erkannte ſie bald den Landrat von Spachtel in lebhaftem Geſpräch mit der Tante. Der alte Herr ſprang auf und kam ihr entgegen. „Ach, mein liebes gnädiges Fräulein,“ ſagte er unter vielem Händeſchütteln, „ich bin ganz unglücklich, daß ich die unſchuldige Urſache bin, wenn Sie in Ihrem Vergnügen geſtört worden ſind —“ „O bitte —“ „Doch, doch! Junge Damen ſind immer vergnügt; waren wir auch als junge Mädchen! Ha, ha! Na — ſehen Sie mal das Telegramm — ſagt ſich da ein alter Studienfreund bei mir an, Brunnhauſen, war früher Geheimer Regierungsrat, iſt jetzt Aufſichtsrat bei den Pechwerken in Hildenführ, A.-G. —“ Harda warf der Tante einen Blick zu. „Ja, ja,“ fuhr der Landrat fort, „klingt bischen klebrig, was? Aber großartige Firma. Mein Freund fährt zufällig hier durch, war mit ſeiner Frau auf einer Erholungsreiſe, meldet ſich bei mir an, heute, zu Tiſch. Ja, und nun, meine Frau, gerade großes Reinemachen!“ „Aber lieber Herr Landrat,“ unterbrach ihn Minna, „das verſteht ſich doch ganz von ſelbſt. Sie ſind mit Ihrer lieben Frau bei uns zu Tiſch eingeladen, ganz einfach, in Familie, und da bringen Sie Ihre Gäſte mit, da iſt doch kein Wort weiter zu verlieren.“ „Nun ja, ich habe ja ſchon angenommen, aber daß ich nun Fräulein Harda inkommodieren ſoll —“ „Nicht doch,“ ſagte Harda. „Ich mußte ſo wie ſo jetzt einmal nach der Küche ſehen.“ „Bitte, daß Sie ja keine Umſtände machen!“ „Gar nicht,“ ſagte die Tante. „Nur eins dürfen wir zufügen, Herr Landrat, Ihre Lieblingsſpeiſe.“ „Doch nicht etwa Ihre berühmte Pfirſichtorte?“ „Selbſtverſtändlich, wird gemacht,“ rief Harda. „Nein, meine Damen, Sie ſind zu liebenswürdig. Aber ich darf Sie nicht länger aufhalten, es geht auf zwölf Uhr. Um ein Uhr kommt der Zug, ich muß ſehen, daß ich noch einen Wagen bekomme, mein Freund kommt auf dem Oſtbahnhof an.“ „Sie nehmen natürlich unſern Wagen. Um halb eins iſt er vor Ihrer Tür. Oder am beſten, Sie warten hier noch ein Viertelſtündchen — Harda, du ſagſt es wohl einmal draußen —“ Spachtel machte abwehrende Bewegungen. „Ich glaube, Tante“, ſagte Harda, „Heinrich wird heute Schwierigkeiten machen mit den Rappen — — Wiſſen Sie, Herr Landrat, wir ſchicken Ihnen das Automobil, da geht die ganze Sache ſchneller. Ich will's gleich beſtellen. Alſo auf Wiederſehen!“ Harda reichte ihm die Hand und eilte fort. Man lebte in der Familie Kern ſehr einfach, beſonders wenn der Vater verreiſt war. Es waren alſo doch einige Anordnungen und plötzliche Änderungen im Küchenzettel notwendig. Sigi war mit dem Fräulein in die Stadt gefahren, um Beſorgungen zu erledigen, ſo mußte Harda ſelbſt Hand anlegen, und es war ein Uhr, ehe ſie an ihre Toilette denken konnte. Als ſie herabkam, fand ſie Sigi bei der Tante in der Veranda. Sie hatten eben erſt von dem Unglücksfall in der Fabrik gehört. Minna erklärte, ſie wolle nach Tiſch ſelbſt nach dem Verwundeten ſehen. Dann ſagte ſie: „Aber während die Gäſte da ſind, Kinder, wollen wir nicht davon reden. Dieſer plötzliche Beſuch bei Landrats iſt mir nicht recht geheuer. Der gute Spachtel tut ja freilich, als wäre er ganz überraſcht. Er wußte übrigens nicht, daß Hermann noch nicht zurück iſt.“ „Der Landrat iſt vielleicht auch harmlos, aber Brunnhauſen kommt ganz ſicher her, um zu kundſchaften, nur ſo im allgemeinen; denn er weiß gewiß, daß Vater noch nicht zurück ſein kann. Man wird ihm von Hildenführ telegraphiert haben, er möchte ſich einmal zufällig hier umſehen.“ „Wenn Vater nicht hier iſt, kommt er nicht in die Werke,“ bemerkte Sigi. „Nein, das dürfen wir nicht ohne Vaters Erlaubnis zulaſſen,“ meinte Harda, „aber andererſeits müſſen wir ihn ſehr ſchonend behandeln. Deshalb wollte ich jetzt den Wagen nicht geben, da wir die Pferde nachmittags brauchen werden.“ „Da haſt du ganz recht, Harda,“ ſtimmte Minna bei. „Wir müſſen ihn beſchäftigen. Aber wir hätten ja auch nachmittags das Automobil nehmen können.“ „Das können wir immer noch, wenn du mitfahren willſt, Tante, oder Sigi.“ Beide wehrten ab. „Ich dachte mir, daß Ihr keine Luſt haben würdet, deshalb brauchen wir eben den Wagen. Wenn Landrats und die Fremden darin ſitzen, ſo iſt er gefüllt und wir bedürfen keiner Entſchuldigung. Das wird bei Tiſch gleich feſtgemacht, um drei Uhr fährt der Wagen vor — ſie können ja nach der Wilhelmsburg fahren — und abends werden ſie doch bei Landrats ſein.“ „Abends reiſen ſie ſchon weiter,“ ſagte die Tante. „Um ſo beſſer, ſo kommen wir hoffentlich über die Frage hinweg.“ „Redet nur nichts von Geſchäften,“ ſagte Sigi. „Sei du nur möglichſt liebenswürdig,“ neckte Harda. „Kennſt du mich anders?“ antwortete Sigi. „Aber bitte, für den Landrat gleich den ſchweren Rotwein. Dann fängt er an Geſchichten zu erzählen, und wir ſind entlaſtet.“ „Übrigens müſſen ſie jeden Augenblick kommen.“ „Gut prophezeit!“ rief Sigi. „Ich habe nämlich die Huppe gehört.“ Die beiden Mädchen ſprangen auf und liefen den Gäſten entgegen. 6. Geſpenſter Die Tafel war programmäßig verlaufen. Der Wagen fuhr zum Gartentor hinaus und die Gäſte winkten noch mit den Tüchern. Der Geheimrat verſicherte dem Landrat, daß die Kernſchen Damen entzückend liebenswürdig ſeien und die Weine vortrefflich. Die Werke ſchienen ja geradezu impoſant. Das beſtätigte der Landrat aufs eifrigſte. Harda war ſehr müde. Sie trat in ihr Zimmer mit der Abſicht, ſich auf ein Stündchen hinzulegen. Aber als ſie die Tür öffnete, ſprangen ihr zwei junge Mädchen mit Jubelrufen entgegen und umarmten ſie. „Wir warten ſchon lange!“ „Wir wollten uns unten nicht ſehen laſſen.“ „Kinder, was bringt ihr denn?“ „Wir ſind ja das Komitee, wir beide und du ſind gewählt.“ Es waren Gerda Wellmut und Annemi von Ratuch, die Töchter des Bürgermeiſters und des Oberſten. Sie erklärten, die Erholungs-Geſellſchaft hätte beſchloſſen, ein großes ländliches Feſt zu veranſtalten, und ſie drei müßten ſeitens der jungen Mädchen einige Überraſchungen vorbereiten. Damit umfaßten ſie Harda und alle drei tanzten vor Vergnügen im Zimmer herum. Die Müdigkeit war verſchwunden. Die Beratung war ſehr eingehend. Dann ging man zum Kaffee hinunter in die Veranda, Sigi und Tante Minna kamen hinzu, und es war ſechs Uhr geworden, ehe es die Mädchen merkten. Nun war es ja höchſte Zeit, zur Tennispartie zu gehen. Sie hatten ſich von der Tante verabſchiedet und begannen eben im Scherze einen Wettlauf nach dem Spielplatz, als Harda einen Telegraphenboten bemerkte, der ſein Rad an das Gartentor ſtellte. Sie rief den Mädchen zu, daß ſie warten ſollten und ging dem Boten entgegen. Die Depeſche war an ſie perſönlich. Sie wußte, was darin ſtehen würde. Der Vater telegraphierte aus Breslau: „Bin auf dem Wege nach Nikolai wegen Maſchine. Komme beſtimmt bis Sonnabend früh zurück. Teile dies Minna, Milke, Frickhoff mündlich mit.“ „Was iſt denn los?“ rief Sigi. „Geht nur, ich kann erſt ſpäter kommen, ich muß noch mit Tante ſprechen. Der Vater bleibt zwei Tage länger fort.“ „Komm nur bald nach.“ Hardas Übermut war vorüber. Sie ging zunächſt auf ihr Zimmer, um die Depeſche fortzulegen. „Teile dies mündlich mit.“ Sie wußte, warum. Es brauchte niemand zu wiſſen, wo ihre Nachricht den Vater erreicht hatte. Sie ſchloß die Depeſche in ihren Schreibtiſch und ſtützte den Kopf in ihre Hände. Jetzt fühlte ſie wieder, daß ſie müde war. Wie zufällig richtete ſich ihr Blick auf den Efeu hinter der Büſte. Dann ſchloß ſie auf einen Augenblick die Augen. Da war es ihr, als wenn ein kühler, beruhigender Hauch um ihr Haar wehte, alles wurde ganz ſtill in ihr; ſtatt des Efeus in ihrem Zimmer ſah ſie draußen die Buche am Rieſengrab in ihrem dichten, dunklen Efeukleide. Und es ſtieg in ihr auf wie eine Botſchaft, die vom Walde käme: „Arme Harda, warum ſorgſt du dich unter den Haſtenden? Wache auf und blühe mit uns unter den Wurzelnden! Groß und lebendig und dauernd iſt das Reich der Werdewelt. Wir haſten nicht, wir wachſen nach unſerm Geſetze. Ich will dir von meiner Seele geben, daß du nur der Macht folgſt, die dich zur Eigenblüte bildet im großen Walde des Lebendigen.“ Harda fuhr empor. Vor ihren Augen hatte ſie wieder den dunkeln Efeu mit der weißen Büſte davor. Sie konnte nicht ſagen, daß ſie eigentlich Worte gehört hatte, aber die Gedanken waren ganz deutlich in ihrem Bewußtſein. Wie ein troſtvoller Ruf zum eignen Wollen. Hatte ſie denn geträumt? Nein, nein! Es war wohl ein Mahnruf des geliebten, fernen Freundes, der ihr durch das Nachbild der Büſte erweckt war. Der kühle Hauch um ihr Haar war verſchwunden, aber ſie fühlte ſich wieder friſch und mutig, wie von der Kraft einer andern Welt erfüllt. Sie ſtand auf. Jetzt wollte ſie ihre Botſchaft an die Tante ausrichten, und dann — dann mußte ſich Zeit finden. — Tante Minna ſaß mit einem Buche im Garten, als Harda herantrat. „Du biſt es?“ ſagte Minna erſtaunt aufblickend. „Ich denke, du biſt beim Tennis?“ „Ich war im Begriff, hinzugehen, da kam eine Depeſche vom Vater.“ „Wann kommt er?“ „Übermorgen, mit dem Nachtzug.“ „Erſt übermorgen? Nicht heute? Warum denn? Wo iſt die Depeſche?“ „Sie war an mich, ich — ich habe ſie nicht hier. Vater hat ſich entſchloſſen, noch nach Nikolai zu fahren, um die Ankunft der Maſchinen zu beſchleunigen.“ „So ſo, — nach Nikolai,“ ſagte Minna nervös. „Da muß er ja wohl über Breslau.“ Harda nickte. „Und da braucht er zwei ganze Tage.“ „Aber Tante, er muß ſich doch in Nikolai aufhalten, da kann er ſich die Zeit auch nicht ausſuchen, in der er die Herren gerade in der richtigen Stimmung trifft.“ „Das konnte er doch überhaupt telegraphiſch machen.“ „Das hat eben nichts geholfen. Du weißt, wenn Vater ſelbſt kommt, das iſt etwas ganz anderes.“ „Nun ſo eilig iſt die Sache wohl nicht.“ „Sie iſt äußerſt eilig, beſonders wegen der neuen Maſchine —“ „Das konnte ja Hermann gar nicht wiſſen, er war ſchon unterwegs —“ „Hm, — vielleicht hatte Milke noch eine Adreſſe.“ „Du haſt immer eine Entſchuldigung für den Vater. Zeig mir doch mal die Depeſche.“ „Ich ſagte dir ja, ich habe ſie nicht hier.“ „So hole ſie doch einmal. Wo war ſie denn aufgegeben?“ „Aber Tante, das iſt ja ganz gleichgültig. Es ſtand nichts drin, als was ich dir geſagt habe, und daß ich es dir, Milke und Frickhoff mitteilen ſoll. Und das will ich jetzt tun.“ Harda wandte ſich zum Fortgehen. Sie wollte das Telephon im Hauſe benutzen. „Harda!“ rief Minna heftig. „Ich will wiſſen, woher die Depeſche war! Warum ſagſt du's nicht? Aber ich weiß ſchon. Sie war aus Breslau!“ Harda zuckte mit den Achſeln. „O, ich weiß ſchon!“ ſprach Minna immer aufgeregter. „Das war wieder eine abgekartete Sache mit Breslau! Nikolai iſt ein Vorwand. O ja! Und ihr ſteckt alle zuſammen! Alle gegen mich im Komplott! Ich arme, arme —“ Harda trat an die Schluchzende heran und legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. Minna wies ſie zurück. „Geh nur, geh!“ rief ſie. „Ich will nichts von dir wiſſen. Du biſt ebenſo ſchlecht wie dein Vater! Ihr betrügt mich alle!“ „Tante!“ ſagte Harda entſchieden. „Ich bitte dich, mäßige dich. Ich kann das nicht hören. Du weißt es.“ „So lauf' nur fort! Allein iſt mir am wohlſten. Geh nur! Du wollteſt ja lange ſchon auf die Univerſität. Kannſt ja auch nach Breslau gehen! Viel Vergnügen zur Geſellſchaft! Hahaha!“ Sie lachte krampfhaft. „Tante,“ ſagte Harda ruhiger, „ich will dir etwas ſagen. So geht das nicht. Ich habe mir's immer und immer wieder überlegt — ich halte das nicht mehr aus. Den ganzen Tag in Unruhe, und dann von dir dieſe Beleidigungen. Ich weiß ja, es tut dir nachher wieder leid, aber es kehrt auch immer wieder. Ja, ich gehe auf die Univerſität, wenn auch nicht gerade nach Breslau. Sobald Vater hier iſt, werde ich es ihm ſagen. Noch nächſte Woche gehe ich fort.“ „Geh nur, geh! Wenn du mir nur aus den Augen kommſt!“ Harda ſchritt langſam auf das Haus zu. Sie klingelte dem Fräulein und ſchickte es mit einer Erfriſchung zu Minna. Dann trat ſie ans Telephon und benachrichtigte nach dem Auftrage des Vaters den ſtellvertretenden Direktor und den Kommerzienrat. Als ſie durch den Hausflur ging, um ſich in ihr Zimmer zu begeben, kam ihr Sigi eilig entgegen. „Was iſt denn?“ fragte ſie. „Warum kommſt du nicht? Und Tante ſitzt im Garten und ſieht aus, als wenn ſie geweint hätte. Es iſt doch dem Vater nichts paſſiert?“ „Nein, nein, gar nichts. Er iſt noch wegen der Maſchinen nach Nikolai gefahren, und ich — ich habe einen kleinen Streit mit der Tante gehabt.“ Sigi ſah der Schweſter tief in die Augen. „Harda,“ ſagte ſie ernſt, „der Vater iſt geſund, wahrhaftig?“ „Ja, Schöpſel,“ antwortete Harda und küßte Sigi zärtlich. „Nun denn,“ ſagte Sigi wieder in ihrem gleichmütigen Tone, „dann iſt kein Grund, hier Trübſal zu blaſen. Gleich kommſt du mit hinüber und machſt kein Aufſehen.“ Sie zog Harda vor das Haus und wies hinüber nach dem Wege, wo im Schatten des Gebüſches die weißen Anzüge zweier Herren ſchimmerten. „Da iſt meine Eskorte!“ „Randsberg und Tielen, natürlich. Da muß ich dich freilich bemuttern.“ „Nun endlich! Ich bringe ſie!“ rief Sigi hinüber und zog die Schweſter mit ſich fort. * Es war ſchon ſpät, als die Mädchen nach Hauſe kamen; denn man mußte die ſchönen hellen Abende zum Spiel ausnützen. Harda hatte, um weiteren Erörterungen vorzubeugen, ihre Freundin Anna Reiner, eine entfernte Couſine, mitgebracht. Es wäre gar nicht nötig geweſen, denn ſie fanden ſchon Beſuch vor. Der Kommerzienrat Frickhoff war gekommen und fragte mit Intereſſe nach den unerwarteten Gäſten aus Hildenführ. Als es dunkel geworden war, luſtwandelte man an dem herrlichen Sommerabend durch Garten und Park. Frickhoff hatte ſich zu Harda geſellt, Minna ging mit den beiden andern Mädchen, von denen jedoch Sigi nach einiger Zeit verſchwunden war. „Wenn wir mit Hildenführ zur Einigung kommen, Fräulein Harda,“ ſagte der Kommerzienrat, „dann werden Sie ſicher ein ganz weſentliches Verdienſt darum haben. Der Landrat war ganz neidiſch, ſo liebenswürdig ſollen Sie gegen ſeinen Freund geweſen ſein.“ „Glauben Sie wirklich, daß der Geheimrat ſo großen Einfluß hat?“ fragte Harda. „Ausſchlaggebend iſt natürlich die techniſche und geſchäftliche Erwägung, und die iſt uns jedenfalls günſtig. Es iſt aber doch bei jeder ſolchen großen Sache ein Riſiko, und da kommt es auch darauf an, mit welcher Stimmung die entſcheidenden Perſönlichkeiten an den Entſchluß gehen. Außerdem haben wir Mitbewerber. Ich bin überzeugt, daß Brunnhauſen nur hier war, um einen — ſozuſagen — lokalen Eindruck zu gewinnen. Nun, einen beſſern konnte er nicht finden. Solche Tiſchnachbarin —“ „Sagen Sie weiter nichts, ſonſt verlange ich Proviſion, wenn der Abſchluß „H“ perfekt wird.“ „Verlangen Sie nur, ich garantiere Ihnen perſönlich.“ „Ich will mir's überlegen, Herr Kommerzienrat.“ „Ach, geraten Sie nicht ſchon wieder ins Formelle. Ich war doch ſo artig.“ „Meinetwegen. Alſo, Onkel Frickhoff.“ „Sie ſind ſchrecklich! Sagen Sie mir lieber, was Sie ſich wünſchen.“ „Wünſchen — ach — das würde Ihnen auch nicht gefallen. Eigentlich wiſſen Sie's ja längſt. Aber im Ernſte — ich kann dieſe fortwährende Unruhe hier nicht gut vertragen. Ich werde Vater bitten, daß er nun ſein altes Verſprechen einlöſt und mich ſtudieren läßt. Ich ſage es Ihnen ganz offen, damit Sie ſich nicht wundern, wenn ich nächſte Woche abreiſe.“ „Harda! Nein — nun erſchrecken Sie mich wirklich. Ich glaubte, Sie hätten endlich dieſe — dieſen alten Wunſch glücklich überwunden. Sie haben doch hier eine Tätigkeit gefunden, wie Sie ſich keine ſchönere, größere, einflußreichere denken können. Sie haben ſich einen gemeinnützigen Wirkungskreis geſchaffen, in unſern ſozialen Einrichtungen und in unſern repräſentativen Verpflichtungen. Was wollen Sie dafür eintauſchen? Ein Verſchwinden in beengten Verhältniſſen, ein Studium, von dem ſie nicht einmal wiſſen, ob es Ihnen Befriedigung gewähren wird.“ „Das wird es, das weiß ich. Und hier finde ich eben die Befriedigung nicht. Ich werde hin und her geworfen in tauſend Dingen, von denen mich keines zu innerer Ruhe kommen läßt. Ich möchte Sammlung und — Freiheit!“ „Die würden Sie dort nicht finden. Und warum ſo plötzlich? Iſt irgend etwas vorgekommen —“ „Es iſt der alte Gedanke, der mich nicht verläßt. Hier finde ich keine Zeit, meine Kenntniſſe zu vertiefen, und ich kann nicht länger warten, wenn mir nicht das verloren gehen ſoll, was ich mit der Reifeprüfung erworben habe. Und, ſehen Sie, wenn Sie mein Freund ſind, ſo ſollten Sie mich darin unterſtützen.“ „Daß ich Ihr Freund bin, Harda, von ganzem Herzen, das wiſſen Sie. Aber gerade darum bitte ich Sie, überlegen Sie noch. Übrigens würden Sie ja jetzt mitten in das Semeſter hineinkommen — doch das iſt Nebenſache. Ich bin überzeugt, Ihr Glück liegt auf andrer Seite. Sie brauchen nicht erſt zu ſuchen, was Ihre Aufgabe iſt. Sie können andre glücklich machen, das weiß ich. Sehen Sie, Harda, Sie gehören in einen großen Wirkungskreis, und Sie wollen Freiheit. Das läßt ſich vereinigen. Wenn Sie die Freiheit hier nicht finden, ich könnte mir eine Stellung für Sie denken, ja ich wünſchte nichts ſehnlicher —“ „Nein, nein, Herr Kommerzienrat, bitte, laſſen Sie mich jetzt in meinem Traum — in meiner Freiheit — machen Sie mir nicht alles ſchwerer — jetzt nicht —“ Sie blieb ſtehen und ſah ſich nach den andern um. Frickhoff blickte ſie von der Seite an mit überwältigendem Verlangen. Aber er wagte im Augenblick nichts weiter zu ſagen. Minna und Anna näherten ſich, Harda lief ihnen entgegen, Frickhoff kam langſam nach. „Sigi!“ rief Harda halb ſingend in die Nacht hinaus. Ganz von weitem klang eine ſignalartige Antwort. „Wir gehen nach Haus!“ ſang Harda hellſtimmig. Vor der Haustür trafen ſie auf Sigi. Da ſtand auch der Wagen Frickhoffs. Er bot ſich an, Anna Reiner nach Hauſe zu bringen. Bei der Verabſchiedung hielt er lange Hardas Hand feſt und fragte dann ſcherzend: „Zum Geſellſchaftsfeſt ſind Sie doch noch hier?“ „Vielleicht,“ antwortete Harda lächelnd. „Ich gehe ſchlafen,“ ſagte Minna kurz, als der Wagen fortgefahren war. „Gute Nacht.“ „Ich auch,“ fügte Sigi hinzu. „Gute Nacht.“ Beide traten ins Haus. Harda rief ihnen neckend einen freundlichen Gruß nach. Sie ſelbſt konnte ſich von der ſtillen, milden Nacht noch nicht trennen. Sie rief Diana und ging, von dem treuen Hunde begleitet, noch einmal langſam die breite Straße oberhalb des Parkes entlang. Der junge Mond war im Untergange begriffen. Die zwiſchen hohen Bäumen hinlaufende Straße wurde nur in der Mitte ſchwach von der Dämmerung der Sommernacht im Norden erhellt. Die Seiten lagen in tiefem Schatten. Zur Linken erſtreckte ſich jetzt die alte niedrige Friedhofsmauer. Schwerer, ſüßer Fliederduft zog herüber. Harda ſog tiefatmend den Nachthauch ein. Solche reich blühende Büſche ſtanden auch drüben am Grabe der Mutter, wo unter dem Efeu der Sternentau ſeine blauen Kapſeln geöffnet hatte. Dort mußte ja inzwiſchen die Entwicklung ebenfalls vorgeſchritten ſein, dort wollte ſie nachſehen — freilich, jetzt ging das nicht, aber nächſtens, am Tage. Und nun waren ihre Gedanken wieder bei der Frage — Wie weit mochte inzwiſchen der Botaniker gekommen ſein? Da war es ihr plötzlich, als wehe es ihr wieder leiſe kühlend um die Stirn, ſie ſah die efeuumzogene Buche, ihr Bewußtſein zerfloß in einem ſeltſam wonnigen, allgemeinen Gefühle, das ſich aus eigner Kraft zu einem mutigen Wollen verdichtete — — Aber auf einmal ſchrak ſie zuſammen. Diana gab Laut. Der große Leonberger richtete ſich auf, er wurde durch irgend etwas beunruhigt, das ſich über Hardas Haupte befinden mußte. Zugleich war die wunderſame Stimmung entflohen. Der Hund bellte noch ein paar Mal in die Luft und rannte ein Stück auf der Straße vorwärts, als wenn er dort einen Gegenſtand verfolgte, dann kam er wie beſchämt zurück. Harda ſann verwundert über die ſeltſame Erregung nach. Gerade ſo hatte die Stimmung eingeſetzt, als ſie am Nachmittage vor ihrem Schreibtiſch ſaß und den Waldefeu vor ſich zu ſehen glaubte; aber dann hatte ſich das Gefühl zu deutlichen Gedanken ausgebildet. Diesmal war Dianas Gebell dazwiſchen gekommen. War's nicht wirklich ſo ein kleiner Traumanſatz im Moment des Einſchlummerns? Sie war eine Meiſterin darin, im Sitzen einzuſchlafen, warum nicht auch im langſamen Gehen? Und die Vorſtellungs-Aſſoziation war ja ſehr natürlich, der Fliederduft und der Friedhof hatte ſie an das Grab der Mutter und den Efeu, dieſer an den Sternentau und den Efeu im Walde und die Begegnung erinnert — Aber wozu grübeln? Die Nacht war ſo ſchön! Doch es war wohl Zeit umzukehren, die Müdigkeit meldete ſich. Sie war ſchon ein ganzes Stück hinaus über den Friedhof und in den eigentlichen Bergwald hineingekommen. Harda ging zurück. Bald ſchien es ihr, als höre ſie Schritte eines Entgegenkommenden. Der Hund ſtutzte und eilte ihr dann in großen Sätzen voraus, wo er eine dunkle Geſtalt mit Freudeſprüngen begrüßte. Es war der alte Nachtwächter Gelimer. „Gott ſei Dank und Lob! Sie ſind's, Fräulein Kern,“ rief er aufgeregt. „Hatt' ich doch einen Schreck, als ich ſo 'ne weiße Geſtalt ſah! Iſt Ihnen nichts paſſiert, Fräulein?“ „Mir? Warum? Sie dachten wohl, ich wär' ein Geſpenſt?“ ſagte Harda lachend. „Lachen Sie nicht, Fräulein,“ ſprach Gelimer geheimnisvoll. „Es iſt was nicht geheuer. Es iſt gut, daß ich bei Ihnen bin. Wir wollen machen, daß wir ſchnell hier vorbeikommen. Wiſſen Sie, Fräulein,“ flüſterte er, „auf dem Friedhof ſpukt's.“ Jetzt lachte Harda laut auf. „Gelimer, Sie werden doch nicht —“ „Nein, nein, Fräulein. Ich bin ganz nüchtern, aber ich hab's wirklich geſehen. Es ſind Lichter zwiſchen den Bäumen, das ſind Seelen, die dort 'rumfliegen! Sie können mir's glauben.“ „Es werden Glühwürmchen geweſen ſein.“ „Nee, das kenn' ich doch. Sie waren viel größer und viel weniger hell, nur ſo ganz matt ſchimmernd, man konnt's nicht deutlich erkennen. Wiſſen Sie, Fräulein, ſo wie kleine Puppen — wir werden's gleich ſehen, wenn ſie noch da ſind. Ruhig, Diana!“ Nach einigen weiteren Schritten blieb Gelimer ſtehen. „Nu ganz leiſe,“ flüſterte er. „Sie ſind jetzt weiter drüben. Dort in dem Baume, ſehen Sie nicht, Fräulein?“ Harda blickte aufmerkſam in das Dunkel. Seltſam, da ſchimmerte es wirklich gelblich — — „Ach!“ rief ſie plötzlich. „Das iſt ja Goldregen! Das iſt weiter nichts als die langen Blütendolden, die herüberſchimmern.“ „Aber Fräulein, vorhin waren ſie weiter vorn und bewegt haben ſie ſich auch.“ „Das wird ein andrer Strauch geweſen ſein, den Sie da geſehen haben. Vielleicht hat ſie ein leichter Wind bewegt, oder eine Katze iſt in den Äſten geweſen.“ „Nee, nee, Fräulein! Und ſehen Sie, jetzt ſind ſie auch weg.“ In dieſem Augenblick heulte der Hund kurz auf und ſchnappte in die Luft. Erſt auf Gelimers Zuruf beruhigte er ſich wieder. Harda ſpähte ſcharf hinüber zwiſchen die Bäume. „Allerdings,“ ſagte ſie, „ich kann ſie jetzt nicht mehr erkennen, aber es iſt eben auch dunkler geworden. Es ſcheint, daß Wolken heraufziehen. Wir können ja von hier nur ein kleines Stück Himmel ſehen. Kommen Sie nur, Gelimer. Was Sie geſehen haben, waren ſicher keine Geſpenſter.“ „Fräulein,“ begann Gelimer vorſichtig, „es gibt ſolche Sachen. Ob es Seelen ſind, das weiß ich ja nicht ſicher. Auf dem Friedhof, da denkt man eben daran. Aber im Walde, als ich noch beim Förſter Gabling war, da hab' ich einmal geſehen, im Mondſchein, wiſſen Sie, mitten auf der Wieſe, da ſtand ein Diſtelſtrauch, und da guckte etwas Helles heraus —“ „Ach, Gelimer, da aus Ihrer Taſche guckt auch was Helles! Da haben Sie vielleicht ſchon zu tief hineingeguckt.“ „Fräulein, das iſt noch gar nicht aufgemacht. Das iſt nur für den Morgen, wenn's kalt wird.“ „Daß Sie nur nicht wieder in den Graben fallen! Gute Nacht, Gelimer.“ Harda lief leichtfüßig die Straße entlang, in fröhlichen Sprüngen folgte ihr der Hund. Sie wollte allein ſein. Bald war das Haus erreicht. Diana lagerte ſich im Hausflur. Leiſe ſtieg Harda die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. „Nein,“ ſagte ſie dabei entſchloſſen zu ſich, „Geſpenſter wollen wir nicht ſehen, aber den Sternentau auf dem Friedhof, den wollen wir doch morgen aufſuchen.“ 7. Der Vater Die Wolken, von denen Harda auf ihrem nächtlichen Spaziergange geſprochen hatte, waren wirklich aufgezogen, der ganze Donnerstag verlief regneriſch und erſt am Freitag klarte das Wetter auf. Gegen Abend konnte dann Harda ihr Vorhaben ausführen, nach dem Sternentau zu ſehen, den ſie unter dem Efeu auf dem Friedhof angepflanzt hatte. Zu ihrem großen Erſtaunen fand ſie, daß hier eine Anzahl von Sporenbechern bereits verwelkt waren wie der eine in ihrem Zimmer, daß aber auch noch zahlreiche jüngere in der Entwicklung begriffen waren. Das Leben in der Villa und in den Werken war an beiden Tagen ſo unruhig wie gewöhnlich. Die Tante ſchwankte zwiſchen Liebenswürdigkeit und Verſtimmung, der Haushalt erforderte mehrfach Hardas Eingreifen, Beſuche kamen und gingen, und die Mitglieder des weiblichen „Vergnügungskomitees“ hielten jeden Nachmittag einige Stunden lang ihre Sitzung auf Hardas Zimmer ab. So war ſie auch nicht dazu gekommen, ihren Studienplan auszuführen und ſelbſt am Sternentau etwas zu entdecken. Vom Vater war keine Nachricht mehr gekommen. Eigentlich beabſichtigte Harda, ihn in der Nacht vom Freitag zu Sonnabend zu erwarten, aber ſie ſah wieder davon ab, da es der Vater nicht liebte, wenn ſie ſeiner Ankunft wegen ihre Ruhe aufgab. Dafür war ſie am Sonnabend Morgen ſchon um halb ſechs Uhr am Frühſtückstiſche; ſie hatte Gelimer beauftragt, ſie rechtzeitig zu wecken, falls der Vater in der Nacht zurückgekehrt ſei. Und pünktlich wie immer erſchien der Vater um dreiviertel auf ſechs Uhr zum Frühſtück, das im Sommer in der Veranda eingenommen wurde. Da pflegte es ſehr haſtig herzugehen; denn um ſechs Uhr zeigte ſich Kern mit abſoluter Sicherheit irgendwo in den Werken und machte ſeinen Rundgang durch die Fabrik. Er freute ſich ſehr, daß Harda da war, und begrüßte ſie aufs herzlichſte, konnte aber doch nur flüchtige Worte mit ihr wechſeln. Mit dem Erfolg ſeiner Reiſe war er ſehr zufrieden, die Maſchinen ſeien unterwegs. „Ich hoffe, in acht Tagen laufen ſie. Dieſer Waſſerſchlag war eine dumme Geſchichte. Wie geht's dem Blomann? Alſo der Geheimrat Brunnhauſen war ſchon hier? Famos. Das habt ihr recht gemacht, daß ihr ſo nett wart. Was macht denn der Ponny? Wie, ein großes Waldfeſt wollt ihr loslaſſen? Na, immer zu!“ Dazwiſchen nur kurze Auseinanderſetzungen von Harda. Da hatte er ſchon in großer Eile, aber ſorgfältigſt, mit der Serviette ſeinen Schnurrbart geputzt und ſeine Fabrikmütze ergriffen. „Laß dir's gut gehen, Herzel!“ Ein flüchtiger Kuß und ſchon war er im Garten. Von dort rief er noch zurück. „Eure Pakete ſind im Koffer. Nimm ſie bald heraus und ſeht zu, ob ich's richtig mit den Farben getroffen habe.“ Nach einigen häuslichen Beſorgungen ging Harda in das Zimmer des Vaters, um den Koffer auszupacken und wieder friſch zu füllen. Es war eine ſtehende Aufgabe für ſie, die Sachen, die der Vater zu einer ſeiner plötzlichen Reiſen bedurfte, ſtets gebrauchsfertig vorbereitet zu halten, und das überließ ſie keiner Bedienung; auch gegen Minna verteidigte ſie ihr Gewohnheitsrecht ſtandhaft. Eben betrachtete Harda mit mädchenhaftem Entzücken die beiden prächtigen Bluſen, die der Vater für die Töchter ausgeſucht hatte, als ſie abgerufen wurde. Es galt erſt eine lebhafte Meinungsdifferenz über die Güte von Salat und Erdbeeren zwiſchen der Köchin und dem Gärtner zu ſchlichten, dann im Hühnerhofe eine Entſcheidung zu treffen und ein entbehrliches Kleidungsſtück für eine arme Frau herauszuſuchen, ſo daß längere Zeit verſtrich, ehe Harda in das Zimmer des Vaters zurückkehrte. Als ſie die Tür öffnete, fand ſie zu ihrem Erſtaunen Minna in dem Zimmer. „Guten Morgen, Tante,“ ſagte Harda freundlich. „Schon ſo früh auf?“ „Ich wollte nur ſehen, ob Hermann dieſe Nacht gekommen iſt,“ antwortete Minna. Damit wandte ſie ſich ſchnell an Harda vorüber. „Haſt du denn die reizende Broſche geſehen, die Vater dir mitgebracht hat?“ Sie hielt das geöffnete Etui der Tante entgegen. Dieſe warf einen unwilligen Blick darauf, ohne die Hand danach auszuſtrecken, zuckte mit den Schultern, drehte ſich um und verſchwand eilend durch die Tür. Harda ſah ihr erſchrocken nach. „Da iſt wieder etwas paſſiert,“ ſagte ſie ſich. „Sie hat irgend etwas gefunden. Das wird ſchlimm.“ Seufzend ging ſie daran, ihr Werk zu vollenden und den Kofferinhalt zu ordnen. Da merkte ſie gleich, daß ſich die Tante inzwiſchen damit beſchäftigt hatte. Sorgfältig prüfte Harda ſämtliche Taſchen der Anzüge; denn der Vater war darin ſehr zerſtreut und ließ manchmal wichtige Briefe ſtecken. Sie fand aber nichts Bemerkenswertes. Am Vormittage hatte Harda dringend in der Stadt zu tun und ſah die Ihrigen erſt wieder, als ſie im letzten Momente zu Tiſche kam. Sie bedankte ſich herzlich beim Vater für das ſchöne Geſchenk, Sigi ſcherzte, der Vater erzählte allerlei von Hildenführ, Hamburg und Oberſchleſien. Man unterhielt ſich ſehr eifrig. Aber Harda ſah es am nervöſen Zittern der Hand des Vaters und an den rotgeweinten Augen der Tante, daß eine heftige Szene ſtattgefunden haben mußte. Als Harda gegen Abend allein zum Tennisplatze ging — denn Sigi war immer ſchon bedeutend früher verſchwunden — trat ihr im Park die ſchlanke Geſtalt des Vaters haſtig entgegen. „Kind,“ ſagte er, „ich will's nur geſtehen, ich hab' dich abgepaßt. Du haſt's ja doch ſchon gemerkt. Ich muß mit dir reden.“ „Ja, Vater,“ antwortete ſie leiſe, „ich hab's gemerkt.“ Er faßte Harda, gegen die er klein erſchien, unter dem Arm und führte ſie nach einem abgelegenen Plätzchen des Parkes; hier ließen ſie ſich auf einer Bank nieder. Harda ſah zu Boden und ſpielte mit ihrem Racket. Kern hatte ſeinen Strohhut neben ſich gelegt, er preßte ſeine ſeinen Hände zuſammen und ſtarrte geradeaus. Da er weiter ſchwieg, wendete Harda beſorgt den Kopf nach ihm. Sie ſah, wie ſich die kleinen Falten in ſeinem energiſchen Geſicht vertieft hatten, die Enden ſeines Schnurrbarts zuckten, und in ſeinem Auge ſtand eine Träne. Harda konnte den Anblick nicht ertragen, wie der ſtarke Mann mit ſich kämpfte. Sie ſchlang die Arme um ſeinen Hals und lehnte ſich an ihn. Er faßte ihre Hand und ſtreichelte ſie. „Herzel,“ ſagte er mit erzwungener Stimme, „kannſt du nicht hierbleiben? Du willſt durchaus fort, behauptet ſie.“ „Ja, Vater. Ich kann's hier nicht mehr ertragen. Und es iſt auch Zeit. Du haſt mir's doch verſprochen.“ „Ich habe ja nicht gewußt, daß es mit Minna ſo ſchlimm werden würde. Heute wieder —“ „Ach Vater! Ich kann mir's denken. Die Depeſche aus Breslau, ſie hat den Ort erraten. Aber Vater, warum mußteſt du auch — du haſt die — die Perſon doch wieder geſehn?“ „Mein liebes gutes Kindel! Es iſt mir ſchrecklich, zu dir davon zu ſprechen. Ja — ich mußte — aber gegen meinen Willen. Sie hat mich gezwungen, ſie läßt mich nicht los. Und ich, ich bin ſchwach. Ich bin ja doch ſchuld daran — ihr gegenüber. Es iſt eine ſchwere Laſt — jetzt nur Laſt, eine fortwährende Aufſaugung. Doch man würde wohl ſchließlich einmal fertig damit — wenn nicht das andre wäre! Nein, Harda, du darfſt mich nicht verlaſſen!“ „Vater, ich hab' dich ja ſo lieb, ich — wenn es ſein muß, ſo müßte ich eben auf meinen innigſten Wunſch verzichten —“ die Tränen traten ihr in die Augen — „aber zuſammen mit der Tante, bei all der Unruhe, die ich ſonſt durchmachen muß, auch noch dieſe Qual — nein, Vater, das mußt du nicht verlangen. Alſo laß mich fort, oder veranlaſſe die Tante, fortzugehen.“ „Das tut ſie nicht.“ „Die Tante dauert mich gewiß von Herzen, ſie leidet ſelbſt ſo darunter. Aber Vater, ſchließlich biſt du Herr in deinem Hauſe und mußt es ſein. Wenn ſie ſo eiferſüchtig iſt, das iſt doch krankhaft. Sie muß eben anderswohin ziehn. Mit uns beiden erwachſenen Töchtern geht das nicht mehr. Soll ich hierbleiben, ſo darf mir nicht immer noch jemand hineinreden wollen.“ „Ja, liebes Kindel, ich wünſchte mir ja gar nichts anderes, als dich und Sigi für mich zu haben, aber das gibt ſie nie zu.“ „Sie muß.“ „Ach, Harda, du weißt ja nicht —“ „Vater, ich weiß es, ſie will, daß du ſie heirateſt — ſie ſchreit es ja heraus, wenn ſie ihren Anfall hat. Aber das eben, meine ich, iſt doch nur eine bedauernswerte krankhafte Einbildung, ſie verliert ſich vielleicht in einer Heilanſtalt —“ „Harda, du weißt nicht, wie unglücklich ich bin — unglücklich um euretwillen. Du haſt ſchon ein gut Teil deiner Jugend verloren, und Sigi — nein, nein, ſie ſoll nicht auch darunter leiden.“ „Sie ſoll nichts erfahren, ſo lange ich hier bin. Aber eben darum mußt du dafür ſorgen, daß Tante ſich zu einem andern Aufenthalt entſchließt, wenigſtens zeitweiſe.“ Der Vater ſchüttelte traurig den Kopf: „Du Armes, du opferſt dich auf. Das iſt der Vorwurf, der mich quält, daß ich durch meinen Leichtſinn euch unglücklich mache —“ „So entſchließe dich doch.“ „Ja, ich muß dir's ſagen. Ich hatte mir's ſchon öfter vorgenommen, nur fand ich nicht den Mut. Aber da du geſtern ſo beſtimmt erklärteſt, fortzugehen, ſo mußt du wiſſen, warum ich gegen Minna nichts vermag, ganz abgeſehen von aller Teilnahme. Ich bin ihr gegenüber nicht frei. Ich habe — eine Schuld auf mich geladen.“ Harda ſah den Vater erſchrocken an, ſie wußte gar nicht, was ſie denken ſollte. Leiſe fuhr er fort: „Ich habe ihr die Ehe verſprochen.“ „Du, Vater, du haſt — — Wann?“ „Ihr wart beide in der Penſion. Sigi war eben hingekommen, du trateſt gerade ins Gymnaſium ein — vor ſieben Jahren etwa. Wir lebten allein hier. Es waren ſchwere Jahre voller Sorgen. Minna war ſo teilnehmend, ſo gut und lieb — wir — Kind, ich kann nicht davon reden! Kurzum, ich gab ihr das Verſprechen, ſie zu heiraten, ſobald die geſchäftliche Gefahr vorüber ſei — es war damals eine große Kriſis. Nachher kam die Überlegung zurück, ich ſchob die Erfüllung hinaus — immer wieder. Ich konnte mich nicht entſchließen, ich genierte mich, vor den Menſchen, vor euch — — und jetzt — — Verzeihe mir, Harda!“ Er war aufgeſprungen. Sie ſtand ſchweigend auf und küßte ihn. „Armer, armer Vater,“ ſagte ſie dann. „Du konnteſt einmal nicht anders, du biſt ſo. Es iſt gut, daß ich nun alles weiß.“ Sie gingen ſchweigend ein Stück neben einander her. Dann blieb Harda ſtehen und legte den Arm um ſeine Schulter. „Vater,“ ſagte ſie, „ſei ruhig, es wird Rat werden. Aber eins muß ſogleich geſchehen, unbedingt, es koſte, was es wolle. Oder haſt du etwa auch dort — —“ „Nein, nein, niemals.“ „Dieſe Sache in Breslau muß aus der Welt. Übergib ſie deinem Anwalt. Haſt du nicht genügend flüſſig, nimm es von mir, ich weiß, du gibſt mir's wieder —“ „Herzel, ich danke dir, aber ſoviel Kredit habe ich jetzt, daß ich nicht von dir zu borgen brauche. Du haſt recht. Es ſoll geſchehen. Und du, du denkſt nicht ſchlecht von mir, du —?“ „Wir wollen beide unſre Pflicht tun. Ich will mich zuſammennehmen. Aber auch du, Vater — Verſprechen iſt Verſprechen —“ „Du weißt ja, wie ich Minna zu ſchätzen weiß, ja, wie lieb ich ſie habe. Doch unter den jetzigen Umſtänden iſt es unmöglich.“ „Wenn du in Breslau frei biſt, wird es beſſer werden. Und wir — nun — — leb wohl, Vater!“ Sie küßte ihn nochmals und ſchritt dann langſam weiter, während Kern den Weg nach der Fabrik nachdenklich einſchlug. Noch einmal blieb Harda ſtehen, ihre Stirn faltete ſich. Dann richtete ſie ſich energiſch in die Höhe und eilte dem Tennisplatz zu. Als ſie ſichtbar wurde, ſtürzten ihr Aſſeſſor Ingeling und Leutnant von Randsberg entgegen. „Ich bitte um den Vorzug —“ „Nein ich — ich bin um eine Naſenlänge voran!“ rief Randsberg. „Was gibt's denn?“ fragte Harda. „Zur großen Waldpolonaiſe natürlich.“ „Da wird überhaupt nicht engagiert. Das iſt alles Überraſchung.“ „Vorwärts doch,“ rief Sigi herüber, „wir warten!“ 8. Geſtörte Nacht Die großen Fenſter in Hardas Zimmer ſtanden weit offen. Durch die herabgelaſſenen Jalouſien drang der würzige Odem der warmen Nacht. Er durchhauchte den Raum mit dem feinen Dufte der blühenden Gartenſträucher. Die brennende Lampe über dem Bett beleuchtete nur die nächſte Umgebung, während der roſige Schimmer ihres Schirms alles Übrige in ein ſchwaches Dämmerlicht hüllte. Auf dem Teppich vor dem Bett lag ein Buch, aufgeſchlagen, wie es herabgefallen war. Es war jetzt ſtill, ganz ſtill im Hauſe. Man konnte das ferne Rauſchen der Helle vernehmen. Unhörbar öffnete ſich die Tür und lautlos trat Harda herein. Das lange volle Haar hing aufgelöſt über dem weißen Nachtgewand. Sie ſchloß und verriegelte die Tür und lauſchte noch einmal ängſtlich. Als alles ſtill blieb, ging ſie langſam nach dem Bett zu und hob mechaniſch das Buch auf. Sie ſetzte ſich auf den Bettrand und hielt es in den Händen, aber ihre Augen ſtarrten in die Ferne. So ſaß ſie lange regungslos. Dann ſchauerte ſie zuſammen, ſprang auf, ſchleuderte das Buch auf das Bett und drehte die Lampe aus. Im Dunkeln ſchritt ſie auf den Diwan zu, der an der gegenüberliegenden Wand nahe am Fenſter ſtand. Hier warf ſie ſich hin und hüllte ſich in die Decke, mit der ſie ein leiſes Schluchzen erſtickte. Oh, ſie hatte es ja gefürchtet — dieſe Nacht wird wieder eine von den ſchlimmen. Sie war es geworden. Als Harda mit Sigi vom Tennisſpiel nach Hauſe kam, fand ſie wieder Beſuch vor, der ziemlich lange ſitzen blieb. Nach dem Aufbruch der Gäſte hatte ſich die geſamte Familie ſofort zurückgezogen. Ermüdet ſuchte Harda ihr Bett auf, und nur, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, hatte ſie ein Buch ergriffen, das naturwiſſenſchaftliche Eſſais enthielt. Sie hatte kaum zu leſen angefangen, als ſie zuſammenſchrak. Ein leiſes Wimmern ertönte, das in ein weinerliches Schluchzen überging — dann wieder aufs neue einſetzte. Es kam aus dem Nebenzimmer, dem Schlafzimmer von Tante Minna. Jedes der Zimmer beſaß ſeinen eigenen Zugang vom Flure her, aber es klang durch die Verbindungstür, die allerdings verſchloſſen und durch eine Kommode verſetzt war. Harda kannte das. Minna bekam einen ihrer nervöſen Anfälle. Sie durfte dann nicht allein gelaſſen werden, ſonſt geriet ſie in eine Aufregung, die das Äußerſte befürchten ließ. Aber auch fremde Bedienung mochte man nicht zu Hilfe ziehen, denn Minna wußte dann nicht immer, was ſie ſprach, und in der höchſten Steigerung ihres Anfalls führte ſie mitunter Reden, für die man fremde Ohren nicht brauchen konnte. So war Harda die einzige, der die Nachtwache zufiel. Sie litt unendlich unter dieſem Jammer. Oft drohte ihre Kraft zu verſagen; denn ſie mußte immer auf den Gedankengang der Erkrankten eingehen, wenn ſich die Wutausbrüche nicht ſteigern ſollten. Eilig ſprang Harda empor und hatte nur Zeit, ihr Nachtkleid überzuwerfen, denn das Weinen im Nebenzimmer wurde lauter, und Harda fürchtete, daß Sigi es hören könne. Sie lief über den Flur in das Zimmer der Tante und ſuchte ſie zu beruhigen. Jetzt erſt erfuhr ſie durch Minnas rückſichtsloſe Anklagen, was den Anlaß zu den heutigen Aufregungen gegeben hatte. In ihrem eiferſüchtigen Mißtrauen fürchtete Minna ſtets, daß Hermann auf ſeinen Geſchäftsreiſen Zuſammenkünfte mit jener Dame habe, von der ſie wußte, daß er einmal mit ihr in intimen Beziehungen geſtanden hatte. Seine Verſuche, ſich von dieſen Einflüſſen zu befreien, hielt ſie wohl nicht für ganz ernſthaft, jedenfalls ſchienen ſie nicht erfolgreich. Minna hatte am frühen Morgen, als ſie ſich in Hardas Abweſenheit an Hermanns Koffer zu tun machte, zum Unheil einen vielſagenden Brief gefunden, der ſie äußerſt erregte. Damit trieb ſie dann Hermann in die Enge und quälte ihn bis zur Verzweiflung. Bald erklärte ſie ihm ihre Verachtung, bald wieder drang ſie auf Erfüllung ſeines Verſprechens, ſie zu heiraten. Alles dies brachte die Unglückliche jetzt unter Klagen und Zornausbrüchen Harda gegenüber aufs neue vor. Dabei verlor ſie immermehr ihre Selbſtbeherrſchung. Zuletzt verſtieg ſie ſich zu Vorwürfen gegen Harda, die den Vater in ſeinen Heimlichkeiten unterſtütze, gegen ſie intrigiere, ihre Rechte im Hauſe ſchmälere, nur den eigenen Vergnügungen nachjage, den Männern die Köpfe verdrehe — — Harda kannte das ſchon, ja ſie war froh, daß es ſo weit kam. Denn dann pflegte der Paroxysmus ſich ſeinem Ende zu nahen. Die Kranke wurde ſchwächer, und es gelang Harda, ſie zu bewegen, daß ſie das für dieſe Anfälle vom Arzte vorgeſchriebene Mittel nahm. Dann endlich verfiel ſie in Schlaf, und am andern Morgen wußte ſie nur noch wenig davon, wie ſchrecklich die Nacht geweſen war. Endlich, endlich gingen die Atemzüge ruhiger. Minna ſchlief. Es waren drei Stunden vergangen, als Harda in ihr Zimmer zurückkehrte, wo ſie ſich jetzt auf den Diwan hingeworfen hatte. Das Zimmer war nun völlig dunkel. Der Himmel hatte ſich leicht umzogen, die Jalouſien ließen nur einen ſo ſchwachen Schimmer ein, daß man gerade die Stelle erraten konnte, wo ſich der weiße Kopf der Büſte vor dem Efeu befand, ganz nahe zu Häupten Hardas. Sie ſchloß die Augen, aber der Schlaf kam nicht, trotz ihrer Erſchöpfung. Sie hatte noch nicht Zeit gefunden, ihre Gedanken zu ordnen. Ja, wenn das ginge! Freiheit, Freiheit! Das häusliche Elend, das ſie vor jedermann verbergen mußte! Dieſe Angſt, daß es zu einem Unglück kommt! Dieſe furchtbaren Nächte! Der arme Vater, die bemitleidenswerte Tante! Und die ſtete Unruhe, die Unregelmäßigkeit des Lebens, die der große Haushalt und die fortwährende geſchäftliche Repräſentation mit ſich brachten! Freilich, während ſie in dieſem geſelligen Leben ſchwamm, bei Beſuchen und Feſten, Tanz und Spiel, da war ſie mit dem vollen Genuß der Jugend dabei, da war ſie luſtig und übermütig, ſie wollte es ſein. Aber ſie wußte auch, warum. Vergeſſen, vergeſſen! Das alles war ja nur ein Betäubungsmittel, um ſich der Gedanken an den eignen Zuſtand zu entſchlagen. Eine ſtille Beſchaulichkeit lag ihrem Weſen näher, eine Betrachtung der Dinge, eine Teilnahme am Geheimnis und am großen Geſetze der Natur. Deshalb ſehnte ſie ſich danach, ſich einem Studium in dieſer Richtung zu widmen. Gewiß, ſie intereſſierte ſich ſehr für die Hellbornwerke, für die umſichtige, raſtloſe Tätigkeit des Vaters. Hier zog ſie das eigentlich Techniſche an, das Gelingen, das in dieſem großen Organismus des induſtriellen Schaffens lag, und es wurde ihr verklärt durch die Verehrung für den geliebten Vater, deſſen eigenſtes Werk ſie darin ſah. Denn die Hellbornwerke waren nicht urſprünglich mit dem Millionenkapital gegründet, das ſie jetzt repräſentierten, ſondern aus ein paar Sägemühlen im Tale der Helle war durch Kerns Energie die blühende chemiſche Fabrik entſtanden, die jetzt keine Schwierigkeit mehr fand, über große Geldmittel zu verfügen. Als Harda mit dem Reifezeugnis des Realgymnaſiums zurückkam, hatte ſie gedacht, bald eine Univerſität beziehen zu können. Aber die Verhältniſſe, die ſie vorfand, hielten ſie nun ſchon über ein Jahr hier feſt. Sie hatte ſich ihnen ſchnell gewachſen gezeigt; nur zu dem ſtillen Genuſſe ihrer Seele kam ſie überhaupt nicht mehr. Bis jetzt hatte ſie ſich dem Vater zu Liebe in Geduld gefaßt, immer in der Hoffnung, daß bald, bald doch die Tante den nunmehr erwachſenen Töchtern das Haus räumen würde. Seit heute wußte ſie, daß ſie darauf nicht rechnen dürfe. Die Tante ging nicht. Bleiben konnte es ſo nicht. Aber zugleich hatte ſie erkannt, daß auch ihr der Weg verſchloſſen war, das Haus zu verlaſſen. Äußerlich hätte ſie ja nichts gehindert. Im letzten Winter war ſie mündig geworden. Sie beſaß von ihrem Großvater mütterlicherſeits ein ausreichendes Vermögen, um ſelbſtändig leben zu können, wenn auch in beſcheidener Weiſe. Freilich war ſie verwöhnt, aber doch erſt in den letzten Jahren, und ſie wußte ſehr wohl von früher her, wie einfach man beſtehen kann. Auch hätte der Vater nie einen äußeren Zwang auf ſie ausgeübt, und der Rat und die Fürſorge von ihrem Paten Solves, ſchlechthin Onkel Geo genannt, war ihr ſicher. Sie konnte morgen abreiſen. Konnte! Ja, konnte! Das war das dumme vieldeutige Wort! Sie konnte eben nicht, weil ſie nicht durfte. Ein inneres Geſetz hinderte ſie, eine Pflicht. Der Vater bat nicht nur, er brauchte ſie wirklich. Seine Tätigkeit für die Hellbornwerke war aufs engſte mit dem Beſtande ſeiner Häuſlichkeit verknüpft. Seine raſtloſe Tätigkeit war nur möglich, wenn er daheim ſtets die Erholung zu kurzem Aufatmen fand und zugleich ein gaſtliches Haus, das zu jeder Stunde unerwarteten Beſuchern, wichtigen und anſpruchsvollen Geſchäftsfreunden offenſtand. Tante Minna leiſtete darin allerdings Außerordentliches. Sie war in Geſellſchaft in höchſtem Grade liebenswürdig und anregend, ſie bildete einen geſuchten Mittelpunkt des Verkehrs und der gemeinnützigen Tätigkeit. Aber niemand hatte eine Ahnung von den Schwierigkeiten, unter denen dieſer Schein des Behagens aufrecht erhalten wurde. Und daß dies möglich war, daß dies ſo blieb, das konnte allein Harda bewirken, Hardas Aufopferung. So ſollte ſie denn unlösbar gebunden ſein? War es nicht des Vaters Pflicht, das zu tragen, was er verſchuldet hatte, die Folgen ſeines Leichtſinns auf ſich zu nehmen? Mochte er doch die Tante heiraten! Dann würde ſie gewiß wieder ruhig, vernünftig und geſund werden. Dann fand das Haus ſeine natürliche Repräſentation. Dazu den Vater zu beſtimmen, ſollte jetzt ihre Aufgabe ſein. Dann konnte auch ſie getroſt auf die Univerſität gehen — — Aber Sigi! Sigi — nein, nein — ihr konnte ſie nicht zumuten, ſich in dieſe neuen Zuſtände zu fügen, die ſicher zu ſchwierigen Konflikten führen würden. Sigi ſollte nicht darunter im Genuſſe ihrer Jugend leiden oder ſich aus dem Hauſe getrieben fühlen. Um ihretwillen hatte ſie ja jetzt alle Sorge und Qual allein getragen. Sigi bedurfte ihrer. Sie konnte nicht fort. Und es mußte doch einen Weg geben! Wann konnte eine Pflicht gelöſt werden? Konnte ſie es? Ja, gewiß, aber nur durch eine höhere Pflicht. Und wo gab es eine ſolche? Die Pflicht gegen ſich ſelbſt? Sich ſelbſt zu erhalten, ſich den Lebensberuf, die Tätigkeit zu wählen, die allein ihrem Weſen gemäß ſchien, das Studium? Genügte das nicht? Harda war nicht ſicher, ob das ausreiche. Ihr Gefühl ſprach dagegen. Es handelte ſich dabei doch nur um ihr eigenes Wohl und Wehe, es lag etwas Egoiſtiſches darin. Ja, wenn noch eine weitere Rückſicht mitſpielte, nicht allein auf ſich, auf jemand, der nicht geringeres Recht hatte als die Schweſter? Wenn ſie nun heiratete? Das war doch das Natürliche in ihrem Alter. Ja, das fühlte ſie, wenn ſie liebte und geliebt wurde, dann würde ſie nicht zögern — — Und doch, wie konnte ſie dem, der ſie liebte, das geſtehn, was ſie von ihrem Hauſe zu verbergen hatte? Das ſchien ihr unmöglich — Aber wozu auch darüber grübeln? Der Fall lag ja gar nicht vor, ſie liebte nicht — — Sie wollte darüber nicht nachdenken. Und trotz alledem, der Gedanke verließ ſie nicht. Fort wollte ſie. Da war doch wohl nur der eine Ausweg — heiraten. Wenn ſie wollte, Anträge konnte ſie genug haben. Aber — konnte ſie wollen? Wen denn? Sollte ſie ſich das wirklich überlegen? Eigentlich war ihr die Frage in der letzten Zeit ſehr ſtark entgegengetreten. Den niedlichen Ingeling und auch den ſtattlichen Elzer hatte ſie beizeiten abfallen laſſen, als ſie ihr Geſtändniſſe zu machen begannen. Randsberg? Sie lächelte nur, wenn ſie an ihn dachte; das hatte ſie noch nie bekümmert. Aber es gab eine ernſtere Frage, die ſie nicht gern in Erwägung zog — ſie fürchtete ſich davor. Und doch wurde ſie wahrſcheinlich ſehr bald vor die Entſcheidung geſtellt. Geſtern abend — es war gar nicht mißzuverſtehen. Eigentlich mochte ſie ihn gern, den Kommerzienrat. Er war ihr ſehr ſympathiſch, obwohl er reichlich fünfundzwanzig Jahre älter als ſie war. Aber ſie hatte überhaupt eine Vorliebe für ältere Herren. Und Frickhoff war trotz ſeines leicht ergrauten Haares eine glänzende Erſcheinung, groß und kräftig, mit vornehmer Haltung, hoher Stirn, elegantem Bart und lebhaften Augen. Und er ſchwärmte für ſie; immer rückſichtsvoll und zartfühlend machte er doch keinen Hehl aus ſeiner aufrichtigen Zuneigung. Sie wußte das ganz genau, daß er nichts Sehnlicheres wünſchte, als ſie in ſeine prächtige Villa im Gebirge zu führen und in ſein glänzendes Haus in der Hauptſtadt. Frickhoff war der einflußreichſte unter den Aufſichtsräten der Hellbornwerke. Durch ſeinen Reichtum und ſeine Verbindungen in der Finanzwelt war er von der größten Wichtigkeit für das Unternehmen. Niemals hatte Harda mit ihrem Vater anders als in harmloſen Neckereien über Frickhoffs Liebenswürdigkeiten geſprochen; dennoch wußte ſie, daß er glücklich ſein würde, wenn ſie durch ihre Vermählung dieſe Verbindung feſtigte. Aber immer hatte ſie mit inſtinktivem Takte Frickhoff in der Stellung des väterlichen Freundes gehalten, ſo daß er bis jetzt nicht gewagt hatte, ſich direkt auszuſprechen. Trotzdem konnte ſie jeden Tag, wenn ſie wollte, eine Entſcheidung herbeiführen; nur hatte ſie bisher im Ernſt gar nicht daran gedacht, es zu wollen. Natürlich war ihr manchmal der Gedanke aufgeſtiegen, es war auch gar kein ſo übler Gedanke, über die Frickhoff'ſchen Millionen zu verfügen, und ſie wußte von ſo mancher, die ihn ſehr beſtrickend fand — aber ihr flößte der Altersunterſchied Bedenken ein, und vor allem, ſie wollte noch gar nicht heiraten, ſie wollte noch jung ſein und — ſie hatte ſo ihre Ideale — — Er war ja ſtattlich, ritterlich, gütig, klug und wohl auch ehrlich und zuverläſſig, indeſſen, er war doch ganz und gar Geſchäftsmann. Und wenn ſie ihn heiratete, gewann ſie denn dann, was ſie ſuchte? Er ſprach von Freiheit, nun ja, aber das konnte doch nicht die Freiheit werden, die ſie ſich erträumte. Aus dieſem Hauſe kam ſie wohl heraus, aber nicht aus der Unruhe, aus dem Kreiſe des großinduſtriellen Getriebes, aus der Haſt des Geſchäftslebens und den Pflichten ausgedehnteſter Geſelligkeit — denn den Pflichten ihrer Stellung wollte ſie ſich nicht entziehen, um irgendwo ihren Privatneigungen zu leben — an ihr Studium würde alſo dann auch nicht zu denken ſein. Nein, ſie wollte nicht das große Leben, ſie wollte — wenn ſie überhaupt heiratete, ſo ſollte es jemand ſein, deſſen Arbeitskreis und deſſen Neigungen mit dem übereinſtimmten, was ihre ſtille Freude war — Warum hatte ſich denn eigentlich der Doktor Eynitz gar nicht mehr ſehen laſſen? War ſie mit der Einladung etwas voreilig geweſen? Wenn ſie ihn nicht zufällig getroffen hätte, wäre wohl die Aufforderung unterblieben. Immerhin, er hätte doch ſeinen Beſuch machen müſſen. Daß er bei der flüchtigen Begegnung am Maſchinenhauſe ſich nicht aufhalten konnte, war ja ſelbſtverſtändlich. Vielleicht hatte er auch noch gar nichts über den Sternentau mitzuteilen. Warum fiel ihr das überhaupt jetzt ein? Dieſe Unterhaltung unter der Buche am Rieſengrab! Ach ja, das war einmal ſo etwas anderes, das war ein ſich Erſchließen, ſich Verſtehen in einem Gemeinſamen, in dem Ganzen, Großen, Göttlichen des Lebens, wo die Rätſel wunſchlos ſind, im Frieden der Natur und Seele. Es war faſt wie das Liebſte und Schönſte, das ſie kannte, wie ein Sprechen und Schauen, ein Wandern und Fühlen mit ihm, mit dem beſten, dem teuerſten Freunde. Sie öffnete die müden Augen und ſuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Ganz nahe, in der Ecke vor ihr, ſchimmerte der weiße Marmor. Die Züge konnte ſie nicht erkennen, aber die ſah ſie ja vor ſich, wenn ſie wollte. Du Lieber, Guter! Dich habe ich ja immer — was würdeſt du mir ſagen, wenn ich dich fragte? Warum frage ich dich nicht? Noch iſt die Zeit nicht gekommen. Ich weiß, was du ſagen würdeſt: „Wage zu denken, vertraue dir ſelbſt!“ Ja, das will ich. Aber wenn ich nicht weiter weiß, dann wirſt du mir das Rechte ſagen — darauf will ich warten. Ich habe ja dich! Noch einmal ſuchte ihr Blick die Büſte. Doch was war das? Dort in der Ecke, unter dem Laube des dichten Efeus, wo ſie wußte, daß ſich die Sporenbecher des Sternentaus weiter entwickelt hatten, dort glimmten zwei mattleuchtende Flecke, einer deutlich hellblau, der andere etwas dunkler. Und wirklich, was jetzt ſichtbar wurde, waren zwei der Glöckchen, bei denen Harda ſchon am Tage ein ſtärkeres Hervordringen der ſilbernen Fädchen beobachtet hatte. Sie befanden ſich ganz nahe an Hardas Platze; wenn ſie ſich aufgerichtet und vorgebeugt hätte, konnten ihre Finger ſie berühren. Jetzt bemerkte ſie deutlich, daß ſich die ſilberglänzenden Fäden kranzförmig hervorwölbten; von ihnen ging das Licht aus, das die blauen Kelche farbig ſichtbar machte. Die ganze Erſcheinung war in unverkennbarer Bewegung; die Entwicklung ſchritt merklich fort. Wie eine von feinſten Fäden geſponnene Krone wölbte ſich eine Kuppel über dem Kelche und wurde zuſehends größer. Harda wollte aufſpringen, Licht machen, näher hinblicken, nur fürchtete ſie, etwas an der merkwürdigen Erſcheinung zu verſäumen. Doch ſie hatte ja einen Einſchalter unmittelbar zur Hand, da brannte die Wandbeleuchtung — ſo — es wurde hell. Die blauen Kelche blickten unter dem Efeu hervor, die Blätter waren auseinandergedrängt, aber die leuchtenden Fäden und die glänzenden Perlen im Innern waren überhaupt verſchwunden, es war nichts weiter zu ſehen. Sie drehte das Licht ab, und die Erſcheinung war wieder vorhanden. Offenbar war die Bildung ſo fein und durchſichtig, daß ſie nur im Dunkeln durch ihr Eigenlicht ſichtbar wurde. Harda ſtreckte die Hand aus, zog ſie jedoch wieder zurück, ſie fürchtete durch ihre Berührung den offenbar äußerſt zarten Prozeß zu ſchädigen. Und jetzt klopfte ihr das Herz, als ſie ſah, was weiter geſchah. Aus den Kelchen ſtieg es wie ein leichter, kaum ſichtbarer, weißlicher Nebel; wie ein ſchwach ſchimmerndes Wölkchen zog es hervor, ohne beſtimmte Geſtalt zunächſt. Nun aber wuchs es allmählich zu länglich runder Form und gliederte ſich beweglich, ſchleierverhüllt. Die Erſcheinung zeigte ſich bei beiden Blüten, nur bei der dunkelblauen etwas ſpäter, ſo daß Harda die aufeinander folgenden Stufen wohl vergleichen konnte. Doch waren eben nur Umriſſe wahrnehmbar. Und nun — iſt es möglich — die leichten Geſtalten löſen ſich ab von den Kapſeln und frei, in ſanfter Bewegung, ſchweben ſie durch die Luft. Und während ſie ſo dahingleiten, ſtreckt es ſich aus ihnen hervor wie zierliche Arme, die das feine Fadengeſpinſt der Hülle abſtreifen, und es zeigen ſich kleine, faſt menſchenartige Figuren. Sie ergreifen das abgeſtreifte Geſpinſt, ziehen es auseinander und werfen es in neuer Form um ſich wie einen Schleier. So anmutig ſchwebend ziehen ſie im Zimmer umher, langſam, hierhin und dorthin, als wollten ſie ſich in dem unbekannten Raum orientieren. Ihre Geſtalt war durch den phosphoreszierenden Schleier ſo verhüllt, daß ſie nicht deutlich erkennbar war. Wie gebannt folgten Hardas Augen ihren Bewegungen — gab es wirklich einen Reigen der Blumenelfen in der Nacht? Stiegen ſolche ätheriſche Weſen aus den Sporenkapſeln des Sternentaus? Was würde Eynitz dazu ſagen? Aber — jetzt werden die Elfen größer — nein, die Dunkelheit täuſcht nur — ſie ſchweben gerade auf Harda zu! Sie will aufſpringen, ſie kann es nicht; doch ihr iſt gar nicht ängſtlich zumute, nein — wie ein ſanfter, wohltätiger, kühler Hauch geht es von den fremden Weſen aus — ſie fühlt ſich ſo ruhig, ſo ſtill — die Augen fallen ihr zu — — Und die Elfen ſchweben weiter und laſſen ſich auf das Haupt des Mädchens nieder, dort ruhen ſie in der weichen, elaſtiſchen Seide des Haares. Sie reden zu einander in einer Sprache, die von Menſchen nirgends geſprochen wird, und doch, was ſie ſagen, bebt nach im Gehirn der Schlummernden und wirkt darin Gedanken nach Menſchenart. Stimmen des Waldes glaubt ſie zu vernehmen, und unbekannte Welten öffnen geheimnisvolle Pforten vor großleuchtenden Augen. Des Tages Haſt und Unruhe ſinkt hinab ins Reich des Überwundenen, und freundliche Hoffnungen ſteigen ſiegreich empor. 9. Der Botaniker Als Eynitz ſich nach ſeiner Begegnung mit Harda am Rieſengrabe von ihr verabſchiedet hatte, war er überzeugt, einen ſehr richtigen Entſchluß gefaßt zu haben, daß er der Einladung zu Direktor Kern nicht Folge leiſtete. So ſchritt er ſchnell ſeiner Wohnung zu. Es drängte ihn, der hochintereſſanten, wiſſenſchaftlichen Aufgabe, die ihm durch die neu entdeckte Pflanze geſtellt war, ſich möglichſt eifrig zu widmen. Allerdings, es blieb dabei nicht zu vermeiden, ſich auch mit der erſten Auffinderin des Sternentaus zu beſchäftigen, aber — das konnte ja ganz objektiv geſchehen — eine Gemeinſamkeit theoretiſcher Intereſſen brauchte zu nichts zu verpflichten. Das heißt, ja, verpflichtet war er durch allerlei Mitteilungen — richtig! Efeu, lebenden Efeu mußte er haben, ſonſt konnte er ſeine Ausbeute am Sternentau nicht in lebendiger Entwicklung beobachten. Hatte ihm Fräulein Kern doch geſagt, daß die Pflanze nur unter Efeu gedeihe. Es gelang Eynitz in der Tat gleich auf dem Heimwege, trotz des ſchon eingetretenen Feierabends, bei einem Gärtner in ſeiner Nachbarſchaft ſich einen geeigneten Efeuſtock zu verſchaffen, und noch ehe er ſich eine haſtige Abendmahlzeit gönnte, ſetzte er die ſorgfältig am Rieſengrab losgelöſten Exemplare ein. Seine Krankenbeſuche erledigte er ſo ſchnell wie möglich und traf dann alle Vorbereitungen zu ſeiner Unterſuchung. Er beſaß noch von ſeiner Studienzeit her ein vorzügliches Mikroſkop, das mit allen Apparaten zu ſubtilen biologiſchen Arbeiten verſehen war. Bis ſpät in die Nacht hinein ſaß er vor ſeinen Präparaten, ſoweit dies bei Lampenlicht möglich war, und ſchon am frühen Morgen nahm er die Arbeit wieder auf. Auch die nächſten Tage widmete er jede freie Stunde dem Rätſel des Sternentaus. Was er ſah, ſpannte ſeine Wißbegier aufs höchſte. Jeder Erfolg, der ihn vorwärts führte, ſtellte ihn vor neue Probleme. Techniſche Schwierigkeiten, neue Methoden der Färbung, der Beleuchtung waren zu verſuchen, dann galt es, die erhaltenen Funde zu deuten. Zum Glück war in den Hellbornwerken der Geſundheitszuſtand verhältnismäßig gut, und kein größerer Unfall erforderte ſeine ärztliche Tätigkeit. Sehr bald hatte er feſtſtellen können, daß die gefundenen Glöckchen des Sternentaus, wie er vermutet, nur ſcheinbar Blüten waren, daß ſie vielmehr die Träger von Sporangien vorſtellten, die in den perlenartigen Vorſprüngen ihren Sitz hatten. Was er aber weiter an der ſchnell fortſchreitenden Entwicklung wahrnahm, das überſtieg ſo völlig alles bisher an Kryptogamen Beobachtete, daß er erſt ſeinen Augen nicht trauen wollte. Es blieb indeſſen kein Zweifel, derſelbe Prozeß wiederholte ſich bei jeder Verſuchsreihe, jedoch immer nur bis zu einem beſtimmten Zuſtande. Dann wurden die Zellen während ihrer Veränderung allmählich unſichtbar, kein Mittel mehr vermochte eine Färbung hervorzurufen, das Präparat verſchwand langſam unter dem Mikroſkop. Die Geſamtmaſſe der Fäden zwar blieb an der Kapſel noch ſichtbar, aber unter dem Mikroſkop waren die lebenden Zellen nicht mehr wahrzunehmen. Die zu Verſuchszwecken angeſchnittenen Teile entwickelten ſich an der Pflanze nicht weiter. Jeden Tag dachte Eynitz daran, was er Harda zu berichten habe, was er berichten könne, und jedesmal hoffte er ſicherer Entſcheidendes zu erfahren, wenn er noch einen Tag warte. So war eine Woche vergangen. Es ließ ſich ja nicht ändern, daß er immer wieder an jene Begegnung am Rieſengrab zurückdachte. Dafür ſorgte ſchon das Problem des Sternentaus. Da er nur die notwendigſten Wege machte, war er auch Harda nicht zufällig begegnet, nur einmal glaubte er ſie von ferne in ihrem Wagen geſehen zu haben. Da kam das flüchtige Zuſammentreffen bei dem Unfall im neuen Maſchinenhaus. Es war ja wirklich keine Zeit zu einer Unterhaltung, aber ſchließlich erſchien er ſich doch recht ungeſchickt — ſteckte nicht eine Art Verlegenheit dahinter, daß er ſo ſchnell vorübergelaufen war? Nachträglich betraf er ſich manchmal bei einem Bedauern, daß er nicht die Gelegenheit jener Einladung benutzt hatte, der Familie näher zu treten. Und jetzt, als er wieder daran dachte, ſchlug er ſich ſymboliſch mit der Hand vor den Kopf — ganz in ſein Problem verſunken hatte er ja die einfachſte geſellige Höflichkeit außer Acht gelaſſen, er hatte noch nicht einmal ſeinen Dankbeſuch für die Einladung abgeſtattet. Trotzdem nahmen ihn die Unterſuchungen ſo in Anſpruch, daß er drei weitere Tage verſäumte. Am Samstag Abend fiel ihm das wieder ein. Heute war's ſchon zu ſpät. Aber morgen wollte er beſtimmt hingehen. Überhaupt morgen, Sonntag, das war ja der richtige Tag dazu. Einen gewiſſen Abſchluß hatte er erreicht. In ſo kurzer Zeit ließ ſich eben mehr nicht feſtſtellen; er bedurfte jetzt, um weiter zu kommen, ganz neuer Studien, über die noch Monate hingehen mochten. Spät in der Nacht ſetzte ſich Eynitz noch über ein neues Präparat. Er hatte zum erſten Male beobachtet, daß bei zwei ſeiner Sporenbecher die Entwicklung der Fäden ſich auffallend beſchleunigte. Um dieſe Phaſe zu ſtudieren, entnahm er dem einen Pflänzchen ein Stückchen der wachſenden Subſtanz und brachte einen ſeinen Schnitt davon unter das Mikroſkop; aber hier mußte er bald bemerken, daß ſie ebenfalls ſeinen Augen entſchwand. Da ging die Klingel, er wurde zu einem Kranken gerufen; er wußte, daß hier Gefahr im geringſten Verzuge war, ließ alles ſtehen und liegen und lief fort. Als er nach einer Stunde zurückkehrend ſich durch den dunkeln Korridor getaſtet hatte und die Tür ſeines Zimmers öffnete, ſah er an dem offenen Fenſter einen unbeſtimmten Lichtſchimmer, als zöge dort ein etwa handgroßer, leicht phosphoreszierender Gegenſtand hinaus. Er eilte an das Fenſter, konnte aber hier im Dämmer der Sommernacht nichts Beſtimmtes erkennen. Es war wohl eine Täuſchung geweſen, vielleicht irgend ein ſubjektives Nachbild. Schnell warf er, ohne Licht zu machen, die Kleider ab, und nur, als er das Futteral mit den Inſtrumenten, die er bei ſich trug, auf den Arbeitstiſch legte, brachte er rein mechaniſch ſein Auge für einen Moment an das Okular des Mikroſkops. Und da — merkwürdig — das Geſichtsfeld ſchien ſchwach erhellt. War es ein Reflex? Nun ſah er näher zu. Er hatte beim Fortlaufen das Präparat unter dem Objektiv gelaſſen. Und jetzt, als alles finſter war, ſah er wieder die Zellen, aber nun ſelbſtleuchtend, wenn auch nur ganz ſchwach. Er machte Licht und nichts mehr war zu ſehen. Aber im Dunkeln vermochte er wieder das Präparat in ſeinem matten Eigenlicht zu erkennen. Er prüfte ſorgfältig und ſuchte ſich die eingetretenen Veränderungen möglichſt genau einzuprägen, um ſie zeichneriſch feſtzuhalten. Dazu mußte er aber Licht haben. Als er dies wieder auslöſchte, um nochmals ſein Präparat zu vergleichen, hatte es ſich ſo ſtark verändert, daß er jeden Verſuch aufgeben mußte, den Verlauf zu verfolgen. Er erleuchtete nun das Zimmer und unterſuchte den Zuſtand der lebenden Sporenkapſeln. Aber wohin war der Inhalt gekommen? Die blauen Blättchen hingen traurig herab, die Silberfäden dagegen und ihr geſamtes, hervorgewölbtes Geſpinſt war vollſtändig verſchwunden. Er kleidete ſich wieder an und unterſuchte mikroſkopiſch die vertrockneten Stellen, wo die Fäden ſich abgelöſt hatten, die Reſte der Becher, die Blätter und Bodenteilchen der Umgebung, um irgend welche Spuren von Sporen zu finden, in die ſich die Fäden aufgelöſt haben mochten, aber es war nichts zu ſehen. Sie mußten wirklich optiſch unſichtbar oder unter der Sehſchärfe ſeines Inſtrumentes ſein. Doch auch das Präparat zeigte ſich jetzt nicht mehr auffindbar, weder bei Beleuchtung noch im Dunkeln. Es war jedenfalls abgeſtorben, ſo daß es nicht mehr ſelbſt leuchten konnte. Der Morgen dämmerte ſchon hell, als Eynitz ermüdet ſein Lager aufſuchte. * Gegen Mittag betrat Eynitz die Empfangsräume der Villa Kern. Ob er Harda treffen würde? Und im glücklichen Falle, wie ſollte er zu einer Ausſprache kommen? Was er ihr über den Sternentau zu ſagen hatte, das konnte er nur unter vier Augen mitteilen. Und er traute ſich gar keinen Anſpruch darauf zu, daß Harda ihm dazu Gelegenheit geben würde. Wer weiß, ob ihr Intereſſe an der Natur des Sternentaus überhaupt noch vorhanden iſt? Das geplante große Waldfeſt der Erholungsgeſellſchaft war ja Wiesberger Stadtgeſpräch. Da mochte wohl Harda Kern an nichts anderes mehr denken. Er hatte einige Zeit zu warten, dann erſchien die Tante, Fräulein Minna Blattner. Sie empfing ihn mit der Liebenswürdigkeit, die in ihrer Natur lag und nur verſchwand, ſobald ſie die Erinnerung an ihre getäuſchte Hoffnung überwältigte. Sie bedauerte, daß ihre Nichten nicht anweſend wären, Sigi hätte in der Stadt zu tun und Harda — — Eigentlich wollte ſie ſagen, daß Harda eine ſchlechte Nacht gehabt habe und noch ſchliefe, im Augenblicke fiel ihr aber ein, daß es ratſamer wäre, Eynitz gegenüber vom Geſundheitszuſtand der Familie überhaupt nicht zu ſprechen. Daher ging ſie über Eynitz' Frage nach dem Befinden Hardas mit einem freundlichen „Danke“ hinweg und verwickelte ihn in ein Geſpräch über den Geſundheitszuſtand und die ſanitären Maßregeln in der Fabrik. Eynitz beeilte ſich nicht, den Beſuch abzubrechen, da er immer noch auf das Erſcheinen von Harda hoffte, ſchließlich aber, zumal weitere Gäſte gemeldet wurden, mußte er doch nach ſeinem Hute greifen und ſich empfehlen. * Nach ihrem Erlebnis mit den Elfen des Sternentaus hatte Harda nur wenige Stunden auf dem Divan geſchlummert. Schon um ſechs Uhr war ſie beim Frühſtück des Vaters erſchienen, aber ſogleich nachher wieder auf ihr Zimmer geeilt. Sie ſchloß Fenſter und Vorhänge und legte ſich zu Bett, denn ſie hatte das Bedürfnis der Ruhe. Vor ihren geſchloſſenen Augen ſah ſie noch einen Augenblick die beiden vertrockneten Fruchtkapſeln des Sternentaus, aus denen zwei ſeltſame Geſtalten emporſchwebten. Ohne Erſtaunen erkannte ſie darin den Kommerzienrat und Eynitz, die einen Luftreigen um die Büſte aufführten und zu dieſer irgend etwas ſagten, was Harda nicht mehr verſtand; dann umhüllte ſie der glückliche, traumloſe Schlaf der Jugend. Als Harda erwachte, war es wirklich ſchon ſpät am Vormittag. Sie fühlte ſich ganz wohl. Ja ſie ſpürte ſogar einen recht realen Hunger. Ach, da in ihrem Schränkchen gab es immer etwas feine Schokolade, die ſchmeckte jetzt ausgezeichnet. Erſt während ſie Toilette machte, trat ihr wieder die merkwürdige Erſcheinung der Nacht lebendig vor Augen. Sie ſuchte ſich alles genau zu vergegenwärtigen. War denn ſo etwas möglich? Aber es konnte kein Traum ſein. Dort vom Diwan aus hatte ſie es deutlich geſehen. Das weiße Geſpinſt im Innern der blauen Glöckchen war jetzt tatſächlich völlig verſchwunden, während die Kapſeln zwar vertrocknet, aber doch noch vorhanden waren. Wo ſind die ſchwebenden Figuren hingekommen? Sie wußte ja, daß ſie bei Licht nicht ſichtbar ſind. Es war doch wirklich unausſtehlich von Eynitz, daß er gar nichts über den Sternentau hatte hören laſſen! Außerdem war er noch einen Beſuch ſchuldig. Nun, er mochte wohl vor dem Sonntag dazu wirklich nicht Zeit gefunden haben. Das wäre ja heute! Aber, wenn ſie ihn auch über kurz oder lang allein ſprechen ſollte, würde ſie ſich nicht lächerlich machen, wenn ſie von den leuchtenden Elfen etwas ſagte? Als ſie ſo in ihren Überlegungen hin und wieder zwiſchen den Spalten der Jalouſien hindurch die Blicke hinausſchweifen ließ, ſah ſie auf dem Wege vom Gartentor her einen Herrn in hohem Hute und ſchwarzem Rocke herankommen. Jetzt hob er ein wenig den Kopf und ſpähte flüchtig nach den Fenſtern. Das war ja der Doktor Eynitz, freilich! Auf einmal erſchien er ihr gar nicht als ein ſo verwerflicher Verbrecher. Vielmehr verſpürte ſie eine ganz beſondere Luſt, ihn womöglich ohne weitere Zeugen zu ſprechen. Sie mußte endlich etwas vom Sternentau erfahren. Da unten, während des offiziellen Beſuches, war dazu wahrſcheinlich keine Gelegenheit. Den mochte er nur ruhig erſt abmachen. Schnell zog ſie ſich zum Ausgehen an. Sie verließ das Haus auf der Seite nach dem Park zu und wandte ſich erſt hinter den Warmhäuſern nach dem Eingangstore, wo ſie den Gemüſegarten und die Blumenbeete eingehend inſpizierte. Einem vorfahrenden Wagen wich ſie rechtzeitig hinter den Sträuchern aus, dann ſagte ſie bei ſich unwillig: „Macht dieſer langweilige Menſch einen langweiligen Beſuch!“ Endlich aber ſah ſie die ſchwarze Geſtalt auf dem Wege von der Villa her herankommen. Einen Blumenſtrauß, den ſie ſammelte, in der Hand haltend, hatte Harda nur Augen für die Beete, als ſie nahe Schritte hörte und zugleich Eynitz' Begrüßungsworte vernahm. Genau verſtand ſie eigentlich nicht, was er ſagte; denn die Entſchuldigung war ziemlich verworren, und ſie mußte ſich gerade herab bücken, um eine weiße Nelke zu pflücken, wobei ihr zu ihrem Ärger das Blut in die Wangen ſtieg. „Ja,“ ſagte er fortfahrend, „meine Unterſuchungen ließen leider nicht eher zu, daß ich — ich bin ſehr glücklich, gnädiges Fräulein noch zu treffen — es iſt ſo Merkwürdiges, was ich zu ſagen habe. Wann darf ich Ihnen wohl einmal Bericht erſtatten?“ „Alſo, Sie wiſſen Näheres vom Sternentau?“ antwortete Harda jetzt lebhaft. „Das iſt brav, Herr Doktor. Ja, haben Sie jetzt vielleicht Zeit? Ich wollte eben noch einen kleinen Gang durch unſern Park machen.“ Heute hatte er natürlich Zeit. 10. Sternentau Die beiden Botaniker ſchritten durch den Wirtſchaftsgarten nach den Anlagen, wo hohe Buchen wohltuenden Schatten verbreiteten. Öfter blieb Eynitz ſtehen, wenn ſeine Demonſtrationen eifriger wurden. Er holte einige Zeichnungen aus der Taſche und erläuterte daran, was er berichtete. „Zunächſt alſo,“ wiederholte er, „hat ſich meine Annahme vollſtändig beſtätigt, daß es ſich bei den Pflänzchen des Sternentaus um Sporenbildung auf ungeſchlechtlichem Wege handelt. Die glänzenden kleinen Erhebungen unter den ſilbernen — richtiger ſeidenartig ſchimmernden — Fädchen, wonach Sie der Pflanze den bezeichnenden Namen Sternentau gaben, erzeugen in ſich Sporen. Die wuchſen in der Tat wie bei manchen Kryptogamen ſogleich in der Kapſel weiter aus, wobei die Fäden eine ſelbſtändige Rolle ſpielten — es war mir das ganz neu. Es wuchs nämlich jede der Sporen mit mehreren Fäden zuſammen. Hierbei zeigte ſich nun, daß die bisher überall in den Zellen vorhandenen Doppelkerne ſich trennten. Die neu entſtandenen Gebilde enthielten nur Zellen mit einem Kern. Dieſe Reduktion der Kerne beweiſt, daß hier eine ganz andere Generation im Entſtehen begriffen iſt. Entſchuldigen Sie, aber ich muß da etwas ausführlicher ſein —“ „Sie brauchen ſich nicht zu entſchuldigen, Herr Doktor, ich bin auf akademiſche Vorträge vorbereitet,“ ſagte Harda lächelnd. „Habe ich Ihnen nicht mitgeteilt, daß ich das Reifezeugnis eines Real-Gymnaſiums beſitze?“ „Sie haben — ach, gnädiges Fräulein — Sie ſprachen allerdings von dem Wunſche, Botanik zu ſtudieren — ich habe das nicht ſo formell verſtanden —“ „Es iſt ganz ernſtlich gemeint. Vater konnte mich nur bis jetzt nicht entbehren. Aber bitte, fahren Sie fort. Sie wollen jedenfalls ſagen, daß eine Trennung der Geſchlechter auftritt, männliche und weibliche Sporen.“ „Ganz richtig. Nur paßt eben die Bezeichnung Sporen nicht mehr, man müßte da neue Fachausdrücke einführen. Es bilden ſich nämlich nicht etwa gleich Keimzellen, die ausſchwärmen und dann durch ihre Vereinigung den neuen Pflanzenkeim erzeugen, ſondern die Sache verläuft viel komplizierter. Und — um es gleich zu ſagen — ich habe ſie bisher leider nicht bis zu Ende verfolgen können. Aus den Sporenbechern erhebt ſich ein verwickelter eigenartiger Organismus, zu dem die Fäden ſich vereinigen, und zwar zeigt dieſes Wachstum in den hellblauen und den dunkelblauen Bechern etwas verſchiedene Formen, woraus ich auf einen Geſchlechtsunterſchied der beiden Bildungen ſchließe. Nun iſt aber dabei noch etwas ganz Unerklärliches.“ Eynitz machte eine Pauſe. Harda ging ſchweigend neben ihm in ungeduldiger Spannung. Aber ſie wagte keine Frage zu ſtellen. Endlich begann Eynitz wieder: „Es wird Ihnen vielleicht ſehr gleichgültig ſein und nebenſächlich vorkommen, aber als Biologe muß ich Ihnen ſagen, wenn ich es nicht durch wiederholte Prüfungen feſtgeſtellt hätte, würde ich es nicht glauben. Leider konnte ich keine Photographien ausführen, jedoch hier ſind die Zeichnungen. Die neuen Bildungen zeigten Formen, wie ſie bei Pflanzen bisher überhaupt niemals beobachtet worden ſind — die Zeichnungen werden Ihnen ja nichts ſagen — die Sache iſt die, daß ſich der ganze Charakter des neuen Organismus verändert hat, auch chemiſch, ſoweit ich dies feſtſtellen konnte. Wenn man eine entſprechende Bildung in der Natur ſucht, ſo kann man ſie nur im Tierreich finden, in den Zellen der nervöſen Subſtanz, im Gehirn des Menſchen. Und nun, als ich ſo weit war, daß über dieſe vollkommen neue Tatſache kein Zweifel mehr beſtehen konnte, da wurde jede weitere Unterſuchung unmöglich. Die Präparate verſchwanden einfach unter dem Mikroſkop, das heißt, es gelang durch kein Mittel, irgend eine Einzelheit ſichtbar zu machen.“ „Sie mußten die Verſuche aufgeben?“ „Sagen wir, vorläufig abbrechen. Denn es kommt noch etwas ganz Seltſames. Denken Sie ſich, in dieſer Nacht —“ „In dieſer Nacht —“ ſtieß Harda unwillkürlich hervor und blieb ſtehen. „Ja,“ fuhr Eynitz fort, „ich wurde gerufen zu den armen Sands — Sie wiſſen — Bei meiner Wiederkehr blickte ich, gewiſſermaßen zufällig oder ſpieleriſch, während das Zimmer vollſtändig dunkel war, in das Mikroſkop, und was ſehe ich? Die bei Beleuchtung unſichtbaren Zellen zeigten ſich jetzt in einem matten Eigenlichte, das bei Belichtung wieder verſchwand.“ „War das Licht der Subſtanz ſo — ſo phosphoreszenzartig?“ fragte Harda mit erregter Stimme. „Ja. Ich muß noch etwas ergänzen. Sie können ſich denken, daß die Exemplare, die ich bisher unterſucht hatte, durch meine Eingriffe in ihrer Entwicklung geſtört wurden. Ich ſah nun zum erſten Mal den, wie es ſcheint, letzten Prozeß der ſichtbaren Entfaltung, der außerordentlich raſch vor ſich geht. Als ich das letzte Präparat entnahm, waren zwei der Sporenbecher in dieſem höchſten Stadium, die Fäden bildeten eine ſtark hervorgequollene Wölbung. Als ich nach meiner Rückkehr danach ſah, war der ganze Inhalt vollſtändig verſchwunden — es war nichts mehr zu entdecken als die vertrockneten Kapſeln, und weder in dieſen noch irgend in der Umgebung konnte ich Spuren von zerſtreuter oder zerſtörter Subſtanz auffinden. Die ganze Maſſe muß direkt unſichtbar geworden ſein.“ „Oder davongeflogen,“ ſagte Harda leiſe. „Wie?“ fragte Eynitz. Harda ſchüttelte nur den Kopf. Sie waren bis nahe zur Grenze des Parkes gekommen. Vor einer Bank ſtand ein Naturtiſch. Hinter einem Geländer blickte man durch Baumwipfel in die Schlucht, auf deren andrer Seite das Rieſengrab anſtieg. Unten rauſchte die Helle. Harda ſetzte ſich. Sie mußte erſt verſuchen, ſich klar zu machen, was das alles bedeute. Sollte ſie von ihrer Beobachtung erzählen? Wenn er ſie bloß für einen Traum hielt? „Es iſt nun eine ſehr wichtige Frage,“ hub Eynitz wieder an, „wie Sie, gnädiges Fräulein, ſich zu meiner Entdeckung ſtellen. Freilich iſt das Ganze für eine Veröffentlichung noch nicht reif, darüber kann noch längere Zeit vergehen, man muß vorſichtig ſein. Auf der andern Seite liegen aber hier Probleme, über deren Konſequenzen ich mich gar nicht recht auszuſprechen wage — die jedenfalls von der Wiſſenſchaft verfolgt werden müſſen und denen ich allein nicht gewachſen bin — weder nach Zeit noch nach Mitteln der Unterſuchung.“ „Aber was ſoll dabei auf mich ankommen?“ fragte Harda. „Sie haben die Pflanze zuerſt gefunden und gezogen, Sie haben mich auf den Zuſammenhang mit dem Efeu aufmerkſam gemacht, Sie waren auch ſo gütig, mir die Veröffentlichung zu geſtatten. Nun hat ſich aber etwas ergeben, das ganz über alle Erwartung hinausgeht. Es handelt ſich vorausſichtlich um einen Generationswechſel zwiſchen organiſchen Formen, von denen man noch gar nichts weiß. Ich kann das Wunderbare nicht beſſer verdeutlichen als mit dem Bilde, das ich ſchon einmal gebraucht habe, von dem Strauche, der Hühnchen und Hähnchen trägt, aus deren Eiern erſt wieder der Strauch wächſt — nur daß wir die Hühnchen und Hähnchen noch nicht ſelbſt geſehen haben — hm, ja — wie dem auch ſein mag — Eines iſt unbedingt nötig: Das Material der Unterſuchung muß der Wiſſenſchaft zugänglich gemacht werden. In meinen Augen ſind Sie die einzige Herrin —“ Harda ſah ihn mit einem leichten Lächeln an. Er gefiel ihr doch wirklich ſehr in ſeinem Eifer, die Augen glänzten ihm entſchloſſen und er war ſo ganz bei der Sache, er hatte gewiß gar nicht den Doppelſinn ſeiner Worte gemerkt. Und doch ſtockte er bei Hardas Blick momentan. „Ich meine, Sie haben über das Material zu verfügen — wenn ich Mitarbeiter in der gelehrten Welt finde, wird die Sache Aufſehen erregen, und dann kann ich doch Näheres über die Auffindung, wohl auch Ihren Namen nicht verſchweigen. Der Platz wird aufgeſucht werden, es handelt ſich nicht mehr um eine Spezialität für Liebhaber, ſondern um einen Typus, der auf ganz neue Anſchauungen führen kann — und gegen Ihren Wunſch tue ich ſelbſtverſtändlich nichts.“ Eynitz hatte ſeinen Hut auf den Tiſch geſtellt neben Hardas Blumen. Sie ſah vor ſich nieder und ſpielte mit ihrem Schirm. Dann ſagte ſie nachdenklich: „Halten Sie mich nicht für unbeſcheiden oder neugierig —“ Eynitz machte eine Bewegung des Entſetzens, als hätte er die größte Läſterung vernommen. „Ich habe einen ganz beſtimmten Grund zu fragen. An was dachten Sie wohl, als Sie von Konſequenzen ſprachen, über die Sie ſich nicht äußern wollten? Darf ich davon nichts hören? Bitte, ſetzen Sie ſich doch.“ „O, Fräulein Kern, Ihnen gegenüber darf ich vielleicht etwas ſagen, was mir vor meinem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen ſelbſt noch zu phantaſtiſch ſcheint. Aber der Gedanke beſchäftigt mich. Man muß ſich doch ſagen: Wenngleich die Individuen der neuen Generation unſern bisherigen Forſchungsmitteln vorläufig entſchwunden ſind, es muß immerhin etwas aus ihnen geworden ſein. Wo ſind die Fädengeſpinſte hingekommen? Mögen ſie auch für unſre Sinne unſichtbar geworden ſein, irgendwo und wie müſſen ſie noch exiſtieren, denn ſonſt könnte ſich der Sternentau nicht durch Sporen fortpflanzen, alſo auch nicht hier ſo unvermittelt aufgetreten ſein. Es muß ſein Keim irgendwoher gekommen ſein, und dieſer Keim muß einer ſolchen Generation entſtammen, wie ſie unſern Augen entſchwunden iſt. Und das letzte, was ich von dieſer geſehen habe, das waren keine pflanzlichen Gebilde, es war etwas nach unſerm bisherigen Wiſſen auf Erden überhaupt Neues wie der Sternentau ſelbſt. Nun — was ſoll man da denken? Ich kann mir nicht helfen! Beſtehen jene unbekannten Organismen aus Zellen nicht bloß tieriſchen, ſondern geradezu nervöſen Gefüges, ſo — man möchte meinen — ſind es bewußte, vielleicht intelligente Weſen, deren Körper uns unſichtbar ſind.“ Er drückte die Hand an ſeine Stirn. „Fräulein Kern, halten Sie mich für keinen Phantaſten, ich weiß nur nicht —“ Er ſah ganz verzweifelt aus. Harda mußte ihn anblicken. Sie verſtand ihn. So ſteht ein ernſter, gewiſſenhafter Forſcher vor dem Naturgeheimnis — faſt durchſichtig war der Schleier geworden, der ihn davon trennte, aber er traute ſeinen Augen nicht. Denn er wußte, er befand ſich an einer Grenze, jenſeits deren ſeine Mittel keine Macht mehr hatten. Und ſie, ſie hatte Teil daran, ſie wußte noch mehr — — „Aber vielleicht irre ich mich,“ ſagte er tonlos. „Sie irren ſich nicht!“ rief Harda. Sie erſchrak faſt über das Wort, aber ſie hatte es geſagt. Er ſah ſie erſtaunt an, freudig erſtaunt. „Ich darf es Ihnen nicht länger verſchweigen,“ ſprach ſie lebhaft weiter. „Ich habe auch eine Beobachtung gemacht. Nur hatte ich nicht den Mut, ſie für wirklich zu halten. Unter dem Efeu in meinem Zimmer habe ich ebenfalls Sternentau gezogen, der eine Anzahl Sporenkapſeln entwickelt hat. Die eine war beſonders weit vorgeſchritten, wie ein weißes Spitzen-Häubchen kam es heraus —“ Eynitz nickte eifrig beiſtimmend. „Sehr zutreffend!“ „Und am andern Morgen, als ich nachſah, — alles fort, die Kapſeln leer und vertrocknet! Eigentlich wollte ich es Ihnen gleich mitteilen — es war am Mittwoch — aber Sie waren ſehr eilig — doch das gehört nicht hierher. Machen Sie kein ſo bekümmertes Geſicht, Herr Doktor. Ich habe etwas viel Wichtigeres zu ſagen, etwas Ernſtes, wie mir jetzt ſcheint, von der Nacht zu heute. Ich lag ſchlaflos auf dem Diwan, die Becher waren meinem Geſicht ſo nahe, daß ich ſie faſt mit der Hand erreichen konnte. Zwei von ihnen hatten wieder dieſe Häubchen angeſetzt, das hatte ich ſchon am Tage bemerkt. Nun war es ganz finſter. Da ſah ich, daß die Becher bläulich leuchten, und zwar ging das Licht von dem Fadengeſpinſt aus, ſo daß man die blauen Blätter erkannte. Auf einmal nahm die Entwicklung lebhafteren Fortgang, wie ſchwach leuchtende Wölkchen und ſchleierhafte Geſtalten wuchs es heraus. Ich machte Licht, da ſah man nichts; im Dunkeln war alles wieder da. Ich fing an mich zu ängſtigen. Vor meinen Augen wurden dieſe Gebilde etwa handgroß, leicht hin und her wehend; ſie löſten ſich von den Kapſeln ab, ſie ſtreiften wie mit feinen Ärmchen an ſich herum und hüllten ſich ein; ſo ſchwebten ſie durch das Zimmer wie Elfen im Reigen, auf mich zu — da verlor ich das Bewußtſein. Als ich aufwachte, war es Tag, alles iſt verſchwunden — wie Sie wiſſen. Sie können ſich denken, daß ich annehmen mußte, ich hätte nur geträumt.“ Eynitz ſaß noch eine Weile mit weiten Augen in tiefem Nachdenken. Dann fuhr er auf. „Nein, nein! So iſt es! Was Sie ſagen, erklärt mir vieles. Als ich in mein verdunkeltes Zimmer trat, ſah ich etwas ſchwach Leuchtendes, das durchs offene Fenſter hinausſchwebte; ich glaubte an eine Täuſchung und legte dem kein Gewicht bei, da ich an gar keinen Zuſammenhang dachte. Aber die Fäden waren fort. Nein, Fräulein Kern, Sie haben nicht geträumt. Es kann nicht anders ſein, ich ſehe den Zuſammenhang. Die Individuen der zweiten Generation des Sternentaus, botaniſch wären ſie als „Gametophyten“ zu bezeichnen, ſind offenbar durchſcheinend wie Luft, im Tageslicht nicht ſichtbar, können aber Eigenlicht entwickeln, ſo daß ſie im Dunkeln wahrnehmbar werden. Bei der Reife löſen ſie ſich von den Kapſeln des Sternentaus ab und ſchweben frei in der Luft, wie die Quallen vom Korallenſtock im Waſſer ſchweben — Sagten Sie nicht auch etwas von Ärmchen? — Gleichviel! Es paßt alles zuſammen! O, wie danke ich Ihnen! So iſt doch ein Sinn darin, überraſchend, neu, aber doch nicht wunderbar, nicht mehr unerklärlich.“ Harda ſtand erregt auf. „Dann dürfen wir uns wohl gratulieren?“ ſagte ſie lebhaft und ſtreckte ihm die Hand entgegen. Auch ihr glänzten die Augen freudig. „Sehen Sie,“ ſagte ſie heiter, „da habe ich in meiner Dummheit ganz recht gehabt, wenn ich meinte, die neue Generation werden richtige Elfen ſein, Blumengeiſter, die aus den Blüten in die Lüfte ſchweben.“ Eynitz lächelte erſt glücklich, dann wurde ſein Geſicht wieder ernſt. Nachdenklich ſah er vor ſich hin und ſchwieg. Auch Harda hielt an. Sie hatte ſagen wollen: „Wer weiß, welche Geheimniſſe ſie uns noch verraten.“ Da kam ihr die geheimnisvolle Stimmung in den Sinn, die ſchon zweimal an ſie herangetreten war, und der Gedanke war ihr unheimlich, daß hier vielleicht wirklich ein Zuſammenhang ſein könnte. „Glauben Sie denn,“ fragte ſie faſt ſchüchtern, „daß dieſe Individuen der zweiten Generation, wie Sie ſagen, wirklich auch geiſtige Fähigkeiten haben könnten, ein gewiſſes Verſtändnis für das, was ſie wahrnehmen? Wenn ſie doch tierähnlich organiſiert ſind —“ „Ja,“ ſagte Eynitz, „beſteht die organiſche Verwandtſchaft, ſo wird auch die pſychiſche mindeſtens denkbar. Aber — hier liegt überhaupt das Bedenken, was alle unſre ſchönen Ergebniſſe in Frage ſtellt. Aus Pflanzen können keine hochſtehenden Tiere, mit Gehirn und Intelligenz, hervorgehen. Das iſt unmöglich, einfach unmöglich. Es widerſpricht dem Geſetze der Entwicklung, wonach die Trennung zwiſchen Pflanze und Tier ganz unten im Stammbaum der Organismen, bei den Protiſten, ein für allemal eingetreten iſt. Und daran ſcheitert unſre Hypotheſe. Eine höhere Pflanze und ein intelligentes Geſchöpf, ſagen wir auch nur ein tierartiges Weſen, als gegenſeitige Geſchlechtsfolge, das iſt auf der Erde nicht denkbar.“ „Die Erde iſt nicht die Welt!“ Harda wußte ſelbſt nicht, wie ihr der Ausruf auf einmal in die Gedanken kam. Es war wohl in Erinnerung an ein Geſpräch mit Geo. Eynitz ſah ſie groß an. Er nickte. „Schon wahr, ſchon wahr,“ ſagte er. „Aber wir ſind auf der Erde. Und wo führt das hin? Wir dürfen nur verwenden, was wir beweiſen können.“ Harda ſeufzte. „Übrigens,“ bemerkte Eynitz tröſtend, „warum ſollen denn dieſe ſchwebenden Blaſen, die Gametophyten des Sternentaus, gerade höhere Organismen, womöglich gar Intelligenzen ſein? Es war das ein voreiliger Einfall von mir. Der morphologiſche Befund, ſoweit er bis jetzt reicht, ließe wohl noch andere Deutungen zu. Naturwiſſenſchaftlich geht uns das ja gar nichts an, ob ſie bewußte Weſen ſind oder nicht. Vielleicht ſind's bloß mit Luftballons, ich meine mit Gasblaſen, ſegelnde Vorkeime von bisher unbekannter Bildung. Wir haben nur Bau, Wachstum, Funktionen ihres Körpers feſtzuſtellen. Und damit haben wir vorläufig noch genug zu tun. „Sie haben ganz recht, Herr Doktor, wir wollen weiter beobachten. Jeder auf ſeine Weiſe. Und teilen wir uns alles ehrlich mit.“ „Ich hoffe, recht bald wieder vorzuſprechen. Darf ich noch fragen, wie lange wohl die ganze Entwicklung gedauert hat von dem lebhaften Hervorquellen an bis zur Loslöſung?“ „Genau kann ich es nicht ſagen, aber es war drei Uhr vorüber, als ich mich niederlegte, und um vier Uhr ſchlief ich ſchon, denn die erſte Dampfpfeife habe ich nicht mehr gehört. Ich glaube, mehr wie eine halbe Stunde nahm der Vorgang nicht in Anſpruch.“ „Dann wäre es auch erklärlich, daß ich nichts davon bemerkte. Der Prozeß muß ſich gerade in der Stunde abgeſpielt haben, in der ich abberufen war. Und da das Fenſter offen ſtand, konnten die Geſpenſter davonfliegen.“ „Das nächſte Mal müſſen wir ſie feſthalten. Aber wie?“ rief Harda. „Wenn ich nur wüßte, wo noch genügend entwickelte Kapſeln ſind. Ich werde verſuchen, heute nachmittag von oben her den Weg zum Rieſengrabe zu finden.“ „Das können Sie von unten her bequemer haben,“ lachte Harda. „Mit Hilfe unſeres Schlüſſels.“ Harda unterbrach ſich. Sie überlegte. Es fiel ihr ein, daß ja vor allem auf dem Friedhof die Unterſuchung zu machen wäre, dort gab es gewiß Ausbeute. Und auf einmal erſchienen ihr die Geſpenſter des Wächters Gelimer in anderm Lichte. Nach dem, was ſie geſtern geſehen hatte, wäre es doch nicht undenkbar, daß es ſich um die Gametophyten des Sternentaus handelte — ach, „Elfen“ iſt hübſcher und kürzer, ſagen wir „Elfen“, dachte ſie. Und hinüber mußte ſie endlich. Aber ſie konnte doch den Doktor nicht zu einem Stelldichein auf den Friedhof einladen? Sollte ſie überhaupt von ihrem eigenſten Erlebnis etwas ſagen? Alles das ging ihr blitzſchnell durch den Kopf. Sie begann. „Es fällt mir ein, ich habe noch eine Stelle, wo Sternentau reichlich wächſt. Es iſt freilich — am Grabe meiner Mutter. Aber wir haben ja einen ernſten Zweck, ich kann keine Pietätloſigkeit darin finden, wenn Sie dort einige Pflänzchen entnehmen. Ich gebe Ihnen die ausdrückliche Erlaubnis. Es iſt ganz nahe von hier.“ „Das iſt ſehr liebenswürdig, ich würde gern davon Gebrauch machen, aber — Fräulein Kern, für mich allein würde ich mir das nicht erlauben. Das dürfte nur durch Ihre eigene Hand geſchehen.“ Das gefiel ihr. Ohne weiteres Beſinnen ſagte ſie: „Nun gut, im Intereſſe der Wiſſenſchaft. Wann haben Sie heute nachmittag Zeit?“ „Um halb fünf habe ich einen Gang durchs Krankenhaus zu machen, es iſt Gott ſei Dank faſt leer, von fünf an bin ich frei. Beſtimmen Sie über mich.“ Harda antwortete nicht gleich. Sie war doch zu ſchnell geweſen. Sie wollte Zeit gewinnen. Es wurde ihr klar, daß ſich dieſes Geheimnis des Sternentaus zu zweien unmöglich fortſpinnen ließ, wenn ſie ſich über die weiteren Unterſuchungen von Eynitz wollte auf dem Laufenden halten laſſen. Inzwiſchen ſchritten ſie auf dem Parkwege langſam nebeneinander fort. Eynitz bewegte das Gehörte lebhaft in Gedanken. Es war ſo überraſchend. Und dabei neben ihm die ſchlanke Geſtalt, das Antlitz leicht gerötet, an den Schläfen dieſe loſe ſich hervordrängenden Löckchen. Wie die braunen Augen bei ihrem Bericht geleuchtet hatten! So erzählt man keinen Traum. Das war volle, erlebte Wirklichkeit. Ein Traum war nur das Glück — — Sie waren bis in die Nähe des Hauſes zurückgekommen. Plötzlich blieb Harda ſtehen. „Wiſſen Sie, Herr Doktor,“ ſagte ſie, „kommen Sie heute abend zu uns. Sonntags finden Sie immer Bekannte bei uns. Den Sternentau vom Friedhof werde ich Ihnen ſelbſt beſorgen, Sie können ihn heute abend mitnehmen, ich werde alles ſorgfältigſt verpacken. Und dann — Sie wollen und können doch die weiteren Unterſuchungen nicht geheim halten — ich kann auch nicht immer hier Verſteck ſpielen. Die Meinigen wiſſen bis jetzt nichts, als daß ich merkwürdige blaue Blümchen ziehe, alles das Theoretiſche, was daran hängt, würde ſie auch kaum intereſſieren, aber das müſſen ſie doch erfahren, daß Sie, Herr Doktor, an dieſer Pflanze einige botaniſche Studien machen möchten. Es iſt das Beſte, ich ſpreche mit meinem Vater. Sie können mir das getroſt überlaſſen.“ „Sie ſind zu gütig. Ich hätte mir das ja ſelbſt ſagen müſſen — Ihre Mitteilung hat mich ſo überraſcht — Freilich weiß ich nicht, ob Ihrem Herrn Vater dieſe Studien bei mir gerade ſehr ſympathiſch ſein werden.“ „O, Sie kennen ihn nicht. Die Sache wird ihn ſehr intereſſieren, wenn er auch nicht Zeit hat, ſich darum zu kümmern. Aber er kann Ihnen ganz andre Mittel zur Verfügung ſtellen, als Sie bisher hatten. Drüben im Laboratorium haben ſie ja für Photographie, auch für Mikrophotographie die beſten Apparate. Wenn der Vater mir einen Wunſch erfüllen kann, ſo tut er's gewiß. Alſo ſind Sie einverſtanden?“ „Ich kann nur darum bitten.“ „Nur —“ Harda zögerte ein wenig — „um eines möchte ich Sie bitten, wenn vom Sternentau geſprochen wird, erzählen Sie nur, was Sie ſelbſt geſehen haben.“ „Aber ſelbſtverſtändlich. Und auch da werde ich äußerſt zurückhaltend ſein, denn es muß ja alles noch beſtätigt werden. Haben Sie nochmals herzlichſten Dank. Meine ergebenſten Empfehlungen —“ „Auf Wiederſehen,“ ſagte Harda, ihm die Hand reichend. Nachdenklich ging ſie dem Hauſe zu, während Eynitz mit ſchnellen Schritten durch das Gartentor eilte. Gleich darauf begegnete er dem Kernſchen Wagen, der den Direktor mit Sigi und Anna Reiner in raſcheſter Fahrt nach Hauſe führte. Kern winkte dem Arzte jovial zu. 11. Unſichtbare Früchte Sigi hatte den Vater verabredetermaßen in der Weinſtube von Borninger abgeholt. Eigentlich ſollte Harda ſie begleiten, aber die hatte ſich noch gar nicht gezeigt, als Sigi das Haus verließ. Sie traf den Vater dort mit Frickhoff und zwei fremden Herrn, dem Vertreter von Hildenführ und deſſen Patentanwalt, und mußte notgedrungen ein Glas und noch ein Glas mittrinken. Gleich ſah ſie dem Vater an, daß er alles durchgeſetzt hatte, was er wollte; ſie ſah auch, daß die beiden fremden Herren Pommery nicht vertrugen. Das teilte ſie Harda noch in Kürze unmittelbar vor Tiſche mit. Kern war in vorzüglicher Laune. Er erzählte allerlei luſtige Epiſoden aus ſeinen Verhandlungen mit den Vertretern von Hildenführ. In der Familie pflegte er ſich ſehr offen auszuſprechen, das gehörte eben mit zu ſeiner Erholung. Anna Reiner ſtörte dabei nicht, ſie war wie ein Kind im Hauſe, wußte, daß nichts ausgeplaudert werden durfte, und hatte auch nicht einmal ein genügendes Verſtändnis und Intereſſe dafür. Minna hatte nach dem nächtlichen Ausbruch wieder ihren liebenswürdigen Tag. Innerlich war ſie von Herzen froh über Hermanns Erfolg und ſeine Heiterkeit, denn ſie hing ebenſo mit inniger Liebe an ihm, wie ſie ihn dadurch unter Umſtänden quälte. Ihre ſchönen Augen glänzten heute in ruhiger Freude. Sie lobte ehrlich die Tätigkeit des Doktor Eynitz, nach deſſen Beſuch Hermann gefragt hatte. „Dem wird der Abſchluß „H“ auch gut tun,“ lachte Kern gutmütig. „Die Nordbank kommt nun ſicher, dafür wird Frickhoff ſorgen. Im nächſten Jahr werden wir wohl fünfhundert Mann mehr haben. Möglich, daß wir dann unſer geſamtes Krankenweſen in eigne Verwaltung nehmen. Das wäre eine Stellung für ihn. Natürlich muß er dann einen Aſſiſtenten bekommen.“ Harda beſchloß, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen. Der Vater ſo wohlgemut, die ganze Familie zuſammen, da konnte ſie die Sache auf einmal abmachen und brauchte ſich nicht den einzelnen zu erklären. Was ſie etwa noch vom Vater ſpeziell haben wollte, das würde ſie ſchon zur rechten Zeit ſagen. „Weißt du,“ knüpfte ſie an, „daß der Doktor Werner Eynitz urſprünglich Botanik ſtudieren wollte?“ „Alſo ſeid ihr Kollegen?“ ſcherzte der Vater. „Da ſiehſt du, daß einem das Abſpringen recht gut ausſchlagen kann. Nimm dir ein Beiſpiel.“ „Höre nur erſt mal, ob du nicht Reſpekt vor mir bekommſt. Ich habe nämlich eine neue Pflanze entdeckt.“ „Hoho! Du! Na, hoffentlich einen neuen Salat!“ „Wer weiß, was noch daraus wird. Der Doktor ſagte, daß ſie noch vollſtändig unbekannt ſei. Und weißt du, was es iſt? Das blaue Blümchen —“ „Die blaue Blume der Romantik,“ parodierte Sigi ſentimental mit verſtellter Stimme. „Du, das iſt aber ein alter Zauber!“ ſagte der Vater. „Erlaube!“ rief Harda. „Ganz neu! Ros stellarius Kern. Sternentau, entdeckt von Harda Kern. Noch niemals auf dieſer Erde geſehen!“ „Donnerwetter! Alle Achtung!“ Kern amüſierte ſich über Hardas luſtige Grandezza. Sigi ſtand ſchweigend auf und machte einen tiefen Knix vor ihrer Schweſter. Alle brachen in ein herzliches Gelächter aus. Nun erzählte Harda ganz kurz, wie Eynitz zur Unterſuchung der Pflanze gekommen ſei und wie ſich die Eigentümlichkeit gezeigt hätte, daß die Früchte der Pflanze ganz ſpurlos verſchwänden. Der Einfachheit wegen bezeichnete ſie die Gametophyten ſchlechthin als Früchte, denn eine nähere Erklärung hielt ſie nicht für nötig. Der Vater neckte ſie hartnäckig. „Das iſt ausgezeichnet. Und jetzt glaube ich, daß die Pflanze von dir entdeckt iſt, wenn die Früchte verſchwinden. Weißt du, das war früher an deinen Aprikoſenbäumen auch immer ſo. Nu ſag' aber mal, Mädel, nimmt denn der Doktor die Sache wirklich ernſt?“ „Ja,“ ſagte Harda. „Es handelt ſich nämlich dabei um ganz eigenartige Vorgänge in den Blüten, die nur mikroſkopiſch zu verfolgen ſind. Und da möchte er gern einige Studien darüber machen. Er ſagte auch, daß chemiſch ganz neue Stoffe aufzutreten ſcheinen.“ Sie hatte ſich erlaubt, Eynitz Worte ein wenig anders auszudrücken. Aber ſie hatte den gewünſchten Erfolg. Der Vater bemerkte ſogleich etwas ernſthafter: „Das ſoll er ja mal gründlich unterſuchen. Es kommen da manchmal in kleinſten Mengen Stoffe von größter Wichtigkeit zu Tage. Läßt ſich deine Pflanze vielleicht anbauen? Hoffentlich kommt es dabei nicht auf die Früchte an. Das wäre fatal. Aber vielleicht gibt das Kraut ein gutes Viehfutter. Das ſoll er nur ſtudieren. Sag mal im Ernſte, Harda — der — wie nannteſt du das Ding?“ „Sternentau.“ „Der Sternentau ſoll nur hier bei uns vorkommen? Das iſt ſeltſam. Da wird es jedenfalls nicht lange dauern, und man wird ihn auch anderweitig auffinden. Wenn die Früchte wirklich verſchwinden, ſo muß irgend ein unbekannter Prozeß zugrunde liegen. Wir wollen mal die Sache im Auge behalten. Der Doktor iſt doch ein zuverläſſiger Mann. Was ſtellt er ſich denn darunter vor, daß die Früchte verſchwinden? Es wird ſich wohl um ein Zerſtäuben in ſo kleine Körnchen handeln, daß man nichtſ davon merkt.“ „Es ſcheint doch nicht, ſonſt hätten ſich mit dem Mikroſkop irgend welche Spuren finden laſſen müſſen. Der Doktor glaubt eher, daß ſich ein außerordentlich feines Geſpinſt bilde, das bei Tageslicht durchſichtig wie die Luft iſt und davongetragen wird. Übrigens ſoll das eben erſt näher erforſcht werden.“ „Na, na,“ ſagte Minna. „Das ſchmeckt ein wenig nach dem Märchen von den unſichtbaren Kleidern des Königs“ „Und mir iſt die Sache noch zu luftig,“ lachte der Vater. „Aber ich werde mir mal den Doktor anhören. Wenn ihr etwa unſichtbare Gewebe fertig bringt, ſo kaufe ich euch das Patent ab. Na, Sigi, du biſt wohl übergeſchnappt?“ Sigi experimentierte nämlich aufs Komiſchſte mit ihren Händen. „Seht ihr denn nicht,“ fragte ſie ernſthaft, „was für wunderbar durchſichtige Handſchuhe ich habe? Da kann man ſämtliche Ringe darunter bewundern.“ „Amüſiert euch nur,“ ſagte Harda. „Es kann doch Stoffe geben, die während der Bearbeitung durch irgend ein Verfahren ſichtbar gemacht werden können, dann aber wieder —“ „Verſchwinden!“ rief Sigi. „Abwarten, Kleine!“ drohte Harda. „Na, dann ſchlaft wohl inzwiſchen!“ ſagte Kern, ſich erhebend. „Das heißt, ich für mich wünſche wohl zu ſchlafen. Um vier Uhr den Landauer.“ Die Spazierfahrt war bei ſchönem Wetter das ſtehende Sonntagnachmittag-Programm. Harda huſchte hinauf in des Vaters Zimmer, wo ſie noch vor ihm ankam. Hier ließ ſie es ſich nicht nehmen, ihm die Decke zu ſeinem Nachmittagsſchläfchen zurecht zu rücken. „Du, Vater,“ ſagte ſie ſchmeichelnd, „ich brauche doch heute nachmittag nicht mit euch zu fahren.“ „Was haſt du denn wieder ausgeklügelt, Herzel?“ „Ich möchte mal nach meinem Sternentau ſehen, drüben auf dem Friedhof; ich bin die letzte Woche nicht hingekommen, und dort iſt wahrſcheinlich allerlei aufgeblüht. Ich habe nämlich dem Doktor verſprochen, ihm etwas Material zu beſorgen.“ Kern hatte eine Zeitung in die Hand genommen. Aber die Augen fielen ihm zu. „Mach's nur, wie du willſt,“ ſagte er müde. „Wir ſind ſo ſchon vier im Wagen. Übrigens — ja — klingele doch hernach mal bei Eynitz an, ich ließe ihn fragen, ob er nicht heute abend bei uns — ich möchte doch — zum Abendeſſen —“ Mit der Zeitung in der Hand ſchlief er ein. * Der Wagen war fortgefahren. Harda beeilte ſich, das Haus zu verlaſſen, um nicht durch irgend eine Störung abgehalten zu werden. Den Auftrag des Vaters hatte ſie ausgeführt; es war ihr ſehr angenehm, daß ihre perſönliche Einladung noch dieſe offizielle Form erhalten hatte. Überhaupt war ſie mit dem Verlauf des Tages ſehr zufrieden. Das Rätſel des Sternentaus hatte eine greifbarere Geſtalt angenommen, es war zu einer Aufgabe geworden. Sie beſtrebte ſich beſtimmte Fragen zu ſtellen, deren Antwort zu ſuchen war. Was iſt aus den entſchwundenen „Elfen“ geworden? Wie kann man ihrer habhaft werden? Nur fort mit den myſtiſchen Phantaſieen! Hübſch nüchtern, wie der Doktor. Sicherlich handelt es ſich um ſogenannte Vorkeime, die dann die Sporen der neuen Generation entwickeln; im vorliegenden Falle löſen ſie ſich von der Pflanze und werden durch Gasblaſen, die leichter als die Luft ſind und im Dunkeln leuchten, aufs Ungewiſſe hinausgetrieben. Soviel wird an ihren Beobachtungen richtig ſein. Was ſie ſonſt geſehen und erlebt zu haben glaubte, das wird ſie wohl in ihrer Erregung hinzugeträumt haben. In ſolchen Gedanken ſchritt ſie in den ſchönen, nicht zu heißen Junitag hinein unter dem Schatten der hohen Bäume, die an der Straße zwiſchen dem Park und dem Friedhof ſtanden. Sie ſuchte zunächſt die Stelle zu finden, wo ſie in der Nacht die Blüten des Goldregens geſehen hatte, die der Wächter Gelimer für Geſpenſter erklärte. Es ſtanden ja dadrüben auf dem Friedhof mehrere Sträucher. Aber ein Teil der goldenen Blütentrauben hatte ſchon abgeblüht, ein anderer hatte durch den Regen gelitten. Die Verteilung der hellen Stellen, die ſie in der Nacht ſich einzuprägen verſucht hatte, konnte ſie nicht mehr zuſtandebringen. Es ſchien ihr doch zweifelhaft, ob ſie damals wirklich dieſe Blüten geſehen habe. Und da an der Exiſtenz der leuchtenden „Elfen“ des Sternentaus nicht zu zweifeln war, da doch vermutlich auch hier viele dieſer Sendlinge des Pflänzchens ſich entwickelt hatten, ſo mochten es wirklich dieſe geweſen ſein, die Gelimer in Aufregung verſetzt hatten. Aber das waren ja ganz harmloſe Pflanzenprodukte. Doch halt! Eines fiel ihr an dieſer Stelle wieder ein. Das ſeltſame Verhalten des Hundes. Es war kein Zweifel, daß er einen Gegenſtand gewittert hatte, den ſie ſelbſt nicht wahrnehmen konnte. Aber warum nicht? Dieſe „Elfen“, die ja, ſobald ſie nicht im Eigenlicht ſchimmerten, unſichtbar waren, konnten ſehr wohl irgend einen ſchwachen Geruch ausſtrömen, der dem Menſchen entging, der feinen Naſe des Hundes aber bemerklich und verdächtig war. Das mußte ſie doch Eynitz gelegentlich noch mitteilen. Harda durchſchritt nun das Tor des einſamen Friedhofs und ſuchte das Grab ihrer Mutter auf. Sie brauchte kaum die Efeublätter zurückzubiegen, ſo ſah ſie ſchon eine reichliche Anzahl der blauen Sterne leuchten, die ſich hier beſonders günſtig entwickelt hatten. Vermutlich war eben hier Lage und Boden viel zuträglicher als auf dem Berge unter der Buche, geſchweige denn als in ihrem Zimmer. Und als ſie nun niederkniete und unter dem Efeu näher Umſchau hielt, fand ſie zahlreiche Reſte eingetrockneter Sporenkapſeln. Es mußten alſo von hier aus eine ganze Schar Sternentau-Elfen in die Welt hinaus geflogen ſein. Irgend etwas Neues vermochte ſie nicht zu entdecken. Jetzt löſte ſie vorſichtig eine größere Zahl der Pflänzchen mit geöffneten Sporenkapſeln ab und pflanzte ſie zugleich mit den Efeuzweigen, denen ſie ſich dicht angeſchmiegt hatten, in das Erdreich, mit dem ſie eine flache Schüſſel am Boden des mitgebrachten Korbes bedeckt hatte. Er war dadurch ziemlich ſchwer geworden. Sie hob ihn auf die Bank, die in der Nähe des Grabes angebracht war, legte ihren Hut ab, und ſetzte ſich ausruhend daneben. Es herrſchte völliges Schweigen. Kein Menſch war in der Nähe. Nur die Inſekten ſummten um die blühenden Sträucher. Harda ſaß in ſtiller Andacht. Ihre erſte Jugend zog an ihrem Auge vorüber, manche Erinnerung an ihre ſchöne, ſanfte, gütige Mutter mit dem bleichen Antlitz. Wie ſchwer hatte ſie gearbeitet, oft bis ſpät in die Nacht noch gerechnet und geſchrieben, unermüdlich mit tätig am Werke und an den Sorgen des Gatten. Nun die glänzenden Früchte des Lebens reiften, war ihr nicht mehr beſchieden, ſich ihrer zu erfreuen. Zu erfreuen? Dieſe haſtende Form des Erfolgs, wäre ſie der Mutter, der ſtillen, ſinnenden, wäre ſie ihr reine Freude geweſen? Wäre es ihr nicht ergangen, wie es jetzt Harda ſelbſt erging? Ein Tragen aus Pflicht mit einem Sehnen nach Freiheit? Freiheit! Natürlich mußte ſie in Pflichterfüllung beſtehen. Alſo andere Pflichten! Eine Pflicht, wie ſie dem eignen Weſen entſpricht. Nicht dieſes Hin- und Herwerfen von Moment zu Moment. Eine ſolche Aufgabe hatte ſie jetzt, im Augenblick, aber wie lange? Was fand ſie vielleicht ſchon zu Hauſe vor? Doch der Nachmittag gehörte ihr noch, vielleicht der Abend. Da würde vielleicht — Was kam da für ein kühler Hauch von oben? Das war ja wieder das ſeltſame Gefühl wie neulich — Nein, ſie wollte nicht träumen! Die Hand aber, die ſie nach dem Kopfe erhob, fiel zurück in ihren Schoß. Wie ein ſanfter, wohltätiger Dämmerzuſtand legte es ſich über ſie. Und vor ihren Augen ſtand wieder der Efeu um die Buche am Rieſengrab. Wie man hinter der Spiegelſcheibe eines Schaufenſters mitten unter den Gegenſtänden der Auslage das Bild der Straße erblickt, bald das eine, bald das andre deutlicher je nach der Anpaſſung des Auges, ſo ſah ſie die Buche zwiſchen der Szenerie des Friedhofs, zugleich mit dem Efeu des Grabhügels. Es fiel ihr auch gar nicht ein, ſich dagegen zu wehren, denn all ihre Aufmerkſamkeit war gefangen genommen von den Vorſtellungen, die ſich wie die Worte eines Zwiegeſprächs in ihrer Seele entwickelten. „Harda iſt bei dir, liebe Hedo? Wie bin ich froh, ich ſorgte mich um ſie. Zwei Viertel des Mondes ſind vergangen, ohne daß ich von ihr erfuhr. Warum ſprachſt du nicht zu mir? Warum haſt du mir nicht geantwortet?“ Harda wußte beſtimmt, daß dies eine Äußerung des Efeus unter der Buche an dieſen ſeinen Ableger war, den ſie hier auf dem Friedhof von ihm gezogen hatte. Auch ein Gefühl der Verwunderung ſtieg in ihr auf, daß der Efeu ſprechen ſollte. Aber das hatte keine weiteren Folgen, ſie kam nicht zu ſelbſtändiger Überlegung. Ihr Gehirn ſtand ganz unter dem Einfluſſe einer Macht, die ihr das Geſpräch der Pflanzen zum Bewußtſein brachte. Dem mußte ſie ſich hingeben. „Ich konnte nicht ſprechen,“ antwortete der Efeu auf dem Grabhügel, „bis zu dieſer Stunde nicht. Die fremde Pflanze mit den blauen Blüten verhinderte mich, ſie hat ſich mit ganz feinen Kletterfaſern an mich geklammert. Sie ſprach nicht, aber auch ich vermochte es nicht. Da kam Harda und ſchnitt viele der Blümchen ab und die Zweige, die ſie umſponnen hatten. So wurde ich wieder freier, aber nur teilweiſe, ich fühle es. Mit der Pflanze iſt etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen. O, ſie beginnt wieder, mich zu hemmen, ich ſoll es nicht ſagen.“ „Seltſam. Bei mir hat die fremde Pflanze noch nicht geſprochen. Es wird wohl mit ihr ſein wie mit den ausländiſchen Sträuchern, von denen mir meine Freunde im Park erzählten. Den fremden Pflanzen, die manchmal von den Menſchen hergeſetzt werden, iſt im Anfang der Boden ungewohnt. Sie haben Mühe, überhaupt ihre Nahrung zu gewinnen, dann erſt lernen ſie das Erdreich kennen und die feinen Pilzfaſern, denen ſie ſich anzupaſſen haben. Nachher beginnen ſie zu ſprechen und uns zu verſtehen. Ähnlich wird es wohl mit der fremden Pflanze auch noch kommen. Wir ſind hier oben in der Entwicklung zurück gegen euch in eurer geſchützten Lage. So lehrte mich die Schattende, an der ich hafte. Kannſt du mir nicht ſagen, was mit der fremden Pflanze geſchah?“ Es kam keine Antwort. Noch einmal begann der alte Efeu: „Ich möchte ſo gern von dir wiſſen, ob Harda froh iſt. Ich wünſchte, daß ſie hier wäre. Ich werde blühen. Ich bin aufgenommen in die große Gemeinſchaft des Waldes. Ach, wenn Harda wüßte, wie ſchön es iſt, zu blühen ſtill für ſich und doch zu wurzeln —“ Ganz plötzlich wich der Traumzuſtand von Harda. Es war, als ob ſich etwas von ihrer Stirn löſte, der kühle Hauch war verſchwunden, verſchwunden das Bild der Buche mit dem Efeu, unterbrochen die Rede, die ſie zu vernehmen glaubte. Der helle Sommertag lag über den dicht umbuſchten Grabſteinen mit ihrem Blumenſchmuck, neben ihr ſtand der Korb mit Sternentau. Harda ſtrich ſich mit den Händen über das Haar und ſetzte ihren Hut auf. Sie ſchüttelte den Kopf. „Das iſt doch toll!“ dachte ſie. „Schlafe ich denn wirklich ſo ruckweiſe ein? Aber das war ja ein ganz deutliches Geſpräch, als ob ſich wirklich zwei Pflanzen unterhalten könnten, und es käme irgend etwas zu mir, das mir ihre Sprache in Menſchenworte überſetzte. Es iſt ja Unſinn! Natürlich Traumzuſtand! Zentrale Reize! Aber ich fühle mich ganz geſund. Soll ich etwa mal den Doktor fragen? Damit er mich auslacht?“ Sie hob den Korb auf. Eigentlich wollte ſie ihn nach Hauſe tragen. Aber es war ihr doch beſchwerlich. Sie brachte ihn nur bis an das Häuschen des Friedhofswärters, deſſen Frau ſie zu Hauſe fand. Dort ſtellte ſie ihn ein. Gelimer würde ihn abholen. Auf dem Heimwege fiel ihr ein, daß ſie jetzt ſehr gut einmal nach dem Sternentau am Rieſengrab ſehen könne. Ob die Kapſeln dort wirklich noch ſo unentwickelt waren, wie der Efeu in ihrem Traume angedeutet hatte? Sie mußte darüber lächeln, aber hin wollte ſie doch. Zu Hauſe lief ſie immer Gefahr, von einem Beſuche geſtört zu werden. Zum Tennis? Mochten die ſich behelfen! Wenn ſie Luſt dazu bekam, blieb noch Zeit genug. Sie holte ſich in ihrem Zimmer den Schlüſſel zum Gatter, ergriff ein Buch von Solves und machte ſich auf den Weg. Ja, dort oben war der richtige Platz für ihre Stimmung. Dort wohnten die guten Geiſter ihres Lebens. Willkommen, alte Buche! Alſo drüben mit deinem Ableger auf dem Friedhofe kannſt du dich unterhalten, mein getreuer Efeu? Wie nannteſt du ihn doch? Ich habe ſicher einen Namen gehört. War's nicht Hedo? Vielleicht auch gar mit dem Efeu in meinem Zimmer ſtehſt du in Verbindung? Dieſe unterirdiſche Fernſprecherei iſt etwas indiskret. Und du möchteſt wiſſen, was dem Sternentau Abſonderliches paſſiert iſt? Ich will dir's ſagen. Seine Kapſeln ſind ins Schleierhafte gegangen, unſichtbare Elfen ſind herausgeflogen. Ja, jetzt habt ihr fliegende Pflanzen, die euch umſchweben. Ach, das ſollte dir Hedo gewiß nicht verraten? Na, da weißt du's jetzt. Haſt du mich verſtanden? Der Efeu antwortete nicht. Er wußte kaum, daß Harda überhaupt ſprach, nur daß ſie da war, bemerkte er. Aber die Menſchenſprache war für ihn ſo fremd wie ihr die Pflanzenſprache. Und ein Dolmetſcher war nicht da. Harda ſah nach dem Sternentau. Wirklich, die Pflänzchen waren nur wenig ſtärker entwickelt als vor vierzehn Tagen. Und leere Kapſeln fand ſie trotz allen Suchens nicht. Hier waren noch keine Elfen ausgeflogen. Sie ließ ſich auf der Bank nieder und ſchlug ihr Buch auf. 12. Pflanzenſeele Harda las behaglich, ſah dazwiſchen mitunter träumeriſch ins Grün und überdachte das Geleſene. Alle dieſe Worte hörte ſie deutlich mit der Stimme des Verfaſſers, mit den kleinen Eigenheiten ſeiner Sprache, ſie ſah das treue, vertraute Antlitz vor ſich mit dem weißen, vollen Haar, mit der hohen Stirn und den weichen, bartloſen Lippen, immer bewegt von allerlei ſchelmiſchen Einfällen, die über den Grund einer großen, weltumfaſſenden Seele huſchten. Und eine unergründliche Sehnſucht ergriff ſie, ſich auszuſprechen, ihr Herz auszuſchütten dem treuen Freunde, vor dem man nichts, gar nichts zu verſchweigen brauchte, und der auch alles das ſah und erkannte, was ihr ſelbſt noch im Dunkel lag. Ja, wenn ſie es eben wüßte, nach was ſie ſich ſehnte! Sagte nicht der Efeu drüben etwas Ähnliches zu ſeinem Sproß auf dem Friedhofe? „Wenn Harda wüßte, wie ſchön es iſt —?“ Ja, du haſt die Buche bei dir, den treuen Freund, und den kleinen Sternentau, der ſich an dich hält. So ſprich doch, erzähle! Ich bin jetzt hier, ich, Harda. Warum ſprichſt du nicht jetzt? Aber der Efeu antwortete nicht. Harda verſuchte ſich in die Stimmung zu verſetzen wie auf dem Friedhofe, ſie wollte ſehen, ob ſie ihre Träumerei nicht erzwingen könne. Es gelang nicht. Die Pflanzen ſprachen nicht anders, als ſie immer zu aufmerkſamen Menſchenkindern ſprechen, mit ſonnigem Farbenſchimmer, mit dunklem Schattenwink, mit dem leiſen Blätterrauſchen und dem reinen, ſtillen Waldesatem — — Doch da war ein Laut. Das waren Menſchentritte. Jetzt bewegten ſich die jungen Buchen am Felſen, ein Menſch trat gebückt hervor und richtete ſich dann zu ſtattlicher Länge auf. Dieſer Menſch blieb faſt erſchrocken ſtehen und nahm ſeinen Hut ab. „Oh,“ ſagte er dann, „verzeihen Sie, gnädiges Fräulein! Wenn ich das gewußt hätte —“ Harda lachte. Sie dachte gar nicht daran, daß ſie geſtört wurde. „Dann wären Sie nicht hergekommen?“ fragte ſie harmlos. „Ich glaubte,“ ſagte Eynitz, „Sie wollten nach dem Friedhof gehen.“ „Da war ich auch, es iſt alles beſorgt. Es ſind dort mindeſtens ein Dutzend Kapſeln aufgeſprungen. Ich glaube, die Elfen ſchwärmen da umher wie Maikäfer, darum bin ich fortgelaufen. Und ſehen Sie mal nach, hier iſt noch keine einzige Kapſel vertrocknet, hier ſcheint man vor den Geſpenſtern noch ſicher zu ſein.“ Eynitz machte ſich wirklich daran, den Efeu zu durchſuchen. Dazwiſchen ſagte er: „Mich trieb außer meinem botaniſchen Intereſſe die alte Touriſtenleidenſchaft, einen unbekannten Weg aufzufinden. Und heute glaubte ich wirklich, Sie in Ihrem Reviere nicht zu ſtören.“ „Das tun Sie auch nicht. Wir haben ja noch genug zu beſprechen. Nehmen Sie nur Platz, da unten finden Sie nichts Neues.“ Eynitz ſetzte ſich neben ſie auf die Bank. Er trug einen eleganten Sommeranzug und ſah friſch aus, nicht einmal erhitzt. Die Expeditionstaſche fehlte. Es fiel ihr auch auf, daß er keinen Stock hatte. „Nun erzählen Sie erſt einmal,“ ſagte Harda gemütlich, „wie Sie eigentlich hier heraufgekommen ſind. Sie ſehen gar nicht aus, als wenn Sie gekraxelt wären. Sind Sie die ganze Chauſſee bis zur Ausſicht gelaufen?“ „Durchaus nicht. Ich habe zunächſt die Generalſtabskarte ſtudiert. Daraufhin bin ich gleich hinter der Brücke einen Feldweg entlang gegangen bis an den Wald, und dort fand ich einen ſchmalen Fußweg in weſtlicher Richtung. Er führte ſteil bergan, und an einer Lichtung ſah ich, daß ich meine Abſicht erreicht und das Rieſengrab nördlich umgangen hatte. Nun hielt ich mich wieder links und kam auf eine kleine Wieſe. Jetzt wußte ich nach der Karte, wo ich war, und ſo ſehen Sie mich hier. Es war gar nicht ſchwierig. Nur ganz zuletzt mußte ich durchs Gebüſch.“ Er ſtäubte ſich einige welke Blätter vom Anzuge. „Nun laſſen Sie mich Ihnen zunächſt für die gütige Vermittlung der Einladung —“ Harda unterbrach ihn. „Da war gar nichts zu vermitteln. Ich erzählte bei Tiſch vom Sternentau. Natürlich wurde ich gehörig aufgezogen. Aber Vater intereſſierte ſich doch ſo dafür, daß er ganz von ſelbſt ſagte, er wolle mit Ihnen darüber ſprechen, und mir auftrug, Sie zum Abend zu bitten. Das Theoretiſche iſt ihm ja freilich nicht ſo wichtig, aber bei der Neuheit der Pflanze dachte er an eine mögliche praktiſche Verwertung.“ „Das wird beides aufs engſte zuſammenhängen. Was haben Sie denn über das Verſchwinden der Gametophyten geſagt?“ „Ich wollte mich nicht in botaniſche Erklärungen einlaſſen. Ich habe einfach geſagt, daß die Früchte unſichtbar werden.“ Eynitz ſah ſie vergnüglich an. Harda fuhr ſogleich fort: „Und was für einen Feldzugsplan haben Sie denn ausgeheckt?“ „Das iſt eine ſchwierige Sache. Sehen Sie, Fräulein Kern, hier iſt die Grenze, die mir die ganze Frage ſperrt und von einer einfachen wiſſenſchaftlichen Unterſuchung zu einem Problem hinweiſt, das — wie ſoll ich ſagen — das über die mir vertrauten Methoden hinausreicht. Die mikroſkopiſchen Unterſuchungen werden ja immer noch ein fruchtbares Arbeitsgebiet liefern, aber dieſe, wie es ſcheint, aus allem Botaniſchen heraustretenden fliegenden — unſichtbaren Weſen — — Es iſt vielleicht eine Schwäche von mir, aber ich kann das Gefühl nicht los werden, als würde mir hier der ſichere biologiſche Boden entzogen, als würde ich gegen meinen Willen ins Spekulative geführt.“ „Ich verſtehe Sie vollſtändig,“ antwortete Harda. „Ich habe Ihnen auch dann noch etwas darüber zu ſagen. Aber laſſen Sie mich zunächſt einmal ganz praktiſch fragen: Was werden Sie meinem Vater vorſchlagen? Iſt denn nicht jetzt vor allem nötig, dieſe unſichtbaren — Elfen — zur Stelle zu ſchaffen?“ „Ganz gewiß. Und da habe ich zwei einfache Wege im Auge. Zunächſt die Photographie. Die einzelnen Phaſen der letzten Entwicklung und die ſich ablöſenden „Elfen“ — Sie ſehen, ich folge ſchon Ihrem Sprachgebrauch — kürzer iſt er jedenfalls, aber die darin liegende pſychologiſche Hypotheſe lehne ich ab — alſo die Erſcheinung muß photographiert werden. Das wird aber vielleicht große Schwierigkeiten haben, denn für die kurze Expoſitionszeit, die man zur Verfügung hat, wird die Lichtentwicklung zu ſchwach ſein. Andrerſeits iſt es denkbar, ja ſogar wahrſcheinlich, daß von den für unſer Auge nicht mehr wahrnehmbaren „Elfen“ kurzwellige Strahlen ausgehen, die noch auf die photographiſche Platte wirken. Könnte man ſo eine unſichtbare „Elfe“ photographiſch feſthalten, ſo wäre ihre phyſiſche Realität erwieſen, und manches könnte ſich aufhellen.“ „Fein!“ rief Harda und nickte ihm freundlich zu. „Und zweitens,“ fuhr Eynitz fort, „müſſen wir die „Elfen“ verhindern, ſich uns zu entziehen. Wir müſſen die Pflanzen in einen Verſchluß bringen, der ſie in ihrer Entwicklung nicht ſtört, aber für die „Elfen“ undurchdringlich iſt. Einfach mit Drahtgaze kommt man da nicht aus. Ich denke mir Glaskäſten, die ſowohl an den untern Rändern als oben durch enge Drahtgitter verſchloſſen ſind, um die Luftzirkulation zu erhalten.“ „Sehen Sie! Das iſt recht. Daran habe ich auch ſchon gedacht.“ „Ja, ganz gut! Aber — Fräulein Kern — das alles koſtet Geld — und —“ „Aber Herr Doktor,“ ſagte Harda lachend. „Darum habe ich ja eben den Vater neugierig gemacht. Wenn ich ihn bitte, da bewilligt er alles ohne weiteres. Und auch ohne das würde er ja der Sache näher treten wollen.“ Eynitz ſah ſie dankbar an. Und als er ſie ſo anblickte, und ihre Augen im Eifer glänzten und ihr jugendfriſches, anmutiges Antlitz leuchtete und im Gegenſchein des Buchenlaubes das volle, wellige Haar ſelbſt wie in goldigem Grün ſchimmerte, alles Leben und Seele zugleich, da vergaß er ganz, was er ſagen wollte, und daß er ſie anſtarrte, und ſie merkte es auch nicht gleich, bis er irgend etwas zu ſtammeln anfing. „Das verſteht ſich doch von ſelbſt,“ ſagte ſie errötend. „Es iſt ja mein Sternentau, und Ihnen danke ich wirklich von Herzen, daß Sie ſich ſeiner ſo annehmen. Wiſſen Sie was?“ rief ſie übermütig. „Wenn wir erſt ein paar Elfen gefangen haben, dann halten wir ſie uns im Bauer und richten ſie ab!“ „Vielleicht zum Sprechen?“ ſagte er, auf den Scherz eingehend. „Vielleicht erzählen ſie Ihnen dann eine Geſchichte aus ihrem pflanzlichen Vorleben.“ Der Übermut verſchwand im Augenblick aus Hardas Zügen. Sie ſenkte den Kopf und ſaß nachdenklich da. Eynitz erſchrak. Hatte er denn irgend etwas Verletzendes geſagt? Aber ſchon richtete ſich Harda wieder auf und ſah ihn ernſthaft an. „Ich muß Ihnen etwas mitteilen, Herr Doktor,“ ſagte ſie entſchloſſen, „was ich eigentlich für mich behalten wollte. Denn es iſt vielleicht eine krankhafte Einbildung. Aber wir haben hier im Scherz eine Frage berührt, der wir möglicher Weiſe noch im Ernſt näher treten müſſen.“ Und ſie berichtete dem erſtaunt Lauſchenden erſt über das Verhalten des Hundes an jenem Abende, dann über die verſchiedenen Fälle, in denen ſie wie in einem Traumzuſtande die Stimmen der Efeupflanzen zu vernehmen glaubte. „Ich ſchlafe ja leicht ein und fahre dann aus einem Traume auf,“ ſagte ſie wehmütig lächelnd, „aber in dieſen Fällen war es doch etwas anders. Ich ſah die redende Pflanze zwiſchen den Gegenſtänden um mich, und die Worte hörte ich eigentlich nicht mit dem Ohre von außen, ſondern es war vielmehr, als wenn Vorſtellungen in mir ſelbſt entſtünden, die ihren akuſtiſchen Ausdruck ſich in meinen eigenen Organen bildeten.“ „Ich kann ſo nichts Krankhaftes darin erkennen,“ ſagte Eynitz kopfſchüttelnd. „Aber Sie berühren da eben ein Gebiet, auf das ich ſchon hindeutete. Ich fürchte, das Sternentau-Problem führt uns weit über die bisherige Erfahrung hinaus.“ „Wollen Sie mir einmal aufrichtig etwas ſagen?“ fragte Harda. „Was ich irgend kann.“ „Ich bin feſt überzeugt, daß die Pflanzen Bewußtſein beſitzen. Das habe ich ſchon oft mit Onkel Geo beſprochen. Ich möchte nun wiſſen, wie Sie darüber denken, und ob Sie ſich irgend eine Möglichkeit vorzuſtellen vermögen, wie von Pflanzen erlebte Empfindungen und Gefühle in einem Menſchengehirn reproduziert werden könnten. Selbſtverſtändlich meine ich nicht myſtiſch oder poetiſch, ſondern auf naturgeſetzlichem Wege, durch phyſiſch vermittelte Übertragung.“ „Zunächſt muß ich konſtatieren,“ antwortete Eynitz bedachtſam, „daß die Frage nach der Pflanzenſeele keine naturwiſſenſchaftliche iſt. Ob den Pflanzen Bewußtſein zukommt oder nicht, macht für uns gar nichts aus. Denn etwas erklären können wir nur aus dem, was objektiv feſtſtellbar iſt, niemals aber aus dem, was möglicherweiſe ſubjektiv irgendwie erlebt wird. Das wäre die Methode des Wilden, der, wo ihm etwas rätſelhaft iſt, ſchnell einen Geiſt hineinſetzt.“ „Einverſtanden,“ nickte Harda. „Erklären wir die Naturwiſſenſchaft für neutral. Denn Sie ſind doch wohl auch der Anſicht, daß die Ergebniſſe über den Bau und die Funktionen der Pflanze heutzutage der Annahme einer Pflanzenſeele nicht widerſprechen.“ „Ich gebe zu, daß, wer die niederen Tiere für beſeelt erklärt, auch für die Pflanzen ein Gleiches annehmen darf. Nur iſt mir der Ausdruck „Seele“ zu unbeſtimmt. Über die Form dieſes Bewußtſeins, ob es blos ein dumpfes Gefühl iſt, ob es ſich bis zur Vorſtellung erhebt, inwieweit es Individualität beſitzt, darüber läßt ſich gar nichts ſagen.“ „Jedenfalls werden wohl die Empfindungen und Gefühle, ebenſo die Triebe, bei den Pflanzen andersartig ſein als bei uns, weil ja ihre Organe abweichend gebaut ſind und funktionieren. Aber vieles muß doch auch mit uns übereinſtimmen. Und da gäbe es wohl einen Anknüpfungspunkt. Wie?“ „Gewiß,“ beſtätigte Eynitz. „Die gemeinſame Abſtammung von den Einzellern wird ſich nicht verläugnen. Ernährung, Stoffwechſel, Fortpflanzung haben ſoviel Verwandtes bei Tier und Pflanze, daß die Orientierung im Raum, das Verhalten gegen Licht, Wärme uſw., chemiſche und mechaniſche Reize ohne Zweifel den beiden großen organiſchen Gruppen gemeinſam ſind.“ Da er Hardas Augen noch weiter erwartungsvoll auf ſich gerichtet ſah, fuhr er fort: „Ferner beſitzen die Pflanzen ein ſoziales Leben in Wald und Feld, Wieſe und Moor, ſie wirken aufeinander ein. Die Konſequenz verlangt, daß wir demnach auch bis zu einem gewiſſen Grade ein individuelles Bewußtſein annehmen, als das notwendige Gegenſtück ihrer Einheit im Geſamtverkehr. Bei den höheren Pflanzen wird man eine Form des Bewußtſeins zugeben dürfen, die unſerm Vorſtellungsleben analog iſt. Ob ſie Erfahrungen ſammeln, ob ſie dieſe miteinander austauſchen, ob ihr Bewußtſein ganz tief unter dem unſeren ſteht, oder uns vielleicht nach einer uns ganz unbekannten Richtung hin überlegen iſt, das kann niemand wiſſen. Darüber zu grübeln hat auch gar keinen Sinn, es ſei denn zur Übung der Phantaſie.“ „Ganz ſo unfruchtbar iſt dieſe Grübelei doch nicht,“ ſagte Harda nachdenklich. „Sehen Sie, Herr Doktor, Sie geben doch zu, daß eine gewiſſe Gemeinſamkeit zwiſchen dem geſamten Erfahrungsinhalt der Menſchen und dem der höchſten Pflanzen beſteht, ſchon weil beide auf einander angewieſene Produkte der gemeinſamen Mutter Erde ſind. Nun habe ich mir das etwa ſo gedacht. Die Pflanzen haben ſich nach ihrer Art einen gewiſſen Schatz von Vorſtellungen erworben; dafür werden ſie auch irgend eine Form gegenſeitiger Mitteilung beſitzen, eine Art Sprache. Die braucht natürlich nicht wie bei uns akuſtiſch oder optiſch zu ſein; vielleicht beſteht ſie in chemiſchen oder elektriſchen Spannungsreizen, die ſich durch den Boden oder die Luft fortpflanzen. Dieſe Form der Sprache iſt nur für Pflanzenorgane verſtändlich. Aber es können ja doch ſchon durch unſere Technik feinſte chemiſche und elektriſche Reize, die wir direkt nicht wahrnehmen, mittels Mikroſkop und Mikrophon für uns ſichtbar und hörbar gemacht werden. Daher iſt es, wie ich meine, naturwiſſenſchaftlich wohl denkbar, daß jene nur für Pflanzenorgane verſtändlichen Reize auf irgend eine Weiſe auch für menſchliche Organe faßbar umgeformt werden könnten. Sie könnten z. B. direkt auf unſer Gehirn wirken und dort entſprechende Änderungen bewirken, die uns dann in der uns geläufigen Form von Tönen und Farben zum Bewußtſein kommen. Könnte das nicht ſein?“ „Denkbar, ja, Fräulein Kern, denkbar, d. h. ohne logiſchen Widerſpruch und ohne Verſtoß gegen unſere bisherige wiſſenſchaftliche Erfahrung iſt das wohl. Aber —“ „Nun bitte,“ rief Harda eifrig. „Das genügt mir vorläufig. Haben Sie irgend eine Idee, wodurch ſich etwa die Pflanzenvorſtellungen von den unſern unterſcheiden könnten?“ „Nein, das iſt zuviel verlangt.“ Und da Harda eine ungeduldige Bewegung machte, ſetzte Eynitz hinzu: „Die Reize wirken bei der Pflanze langſamer als im Tierreich, daraus könnte man vermuten, daß auch ihr Vorſtellungsleben langſamer, ruhiger, ſtiller verläuft. Es braucht darum nicht weniger intenſiv und nachdrücklich zu ſein, vielleicht iſt es nach mancher Seite hin viel feiner ausgebildet. Viele Erlebniſſe, die uns erſt auf Umwegen übermittelt werden, könnten ſich z. B. bei den Pflanzen unmittelbar ausſprechen, weil ſie in ununterbrochenem Zuſammenhang mit dem Erdkörper wurzelhaft ſtehen, während wir uns davon gelöſt und befreit haben. Die eigentümliche Art der Vorſtellungsweiſe bei den Pflanzen, wenn ſie beſteht, läßt ſich jedenfalls vom Menſchen nicht erfaſſen, aber ich gebe zu, es ließe ſich eine annähernde Übertragung in menſchliche Anſchauungsweiſe denken. Sie würde freilich ſehr unvollkommen bleiben, etwa, wie man ein Bild oder ein Ereignis nur verſtümmelt durch die Sprache beſchreiben kann.“ Harda bewegte den Kopf zuſtimmend. „Verſtümmelt, freilich,“ ſagte ſie nach einer Pauſe. „Umgeformt in menſchliche Erfahrung. Aber iſt es denn im Grunde nicht ebenſo mit dem Verſtändnis der Menſchen untereinander? Jeder kennt nur, was er ſelbſt erfahren hat. Was der andre erlebt, muß er ſich nach ſeinem eignen Vermögen deuten. Und wie oft mag er ſich irren. Manchmal meine ich, eine Pflanze beſſer zu verſtehen als einen Menſchen.“ Ihr Blick ruhte unwillkürlich ſeitwärts auf der Buche. Eynitz ſuchte nach einem herzlichen Worte, aber er fand nur ein humoriſtiſches. „O wie unverſtändlich muß ich mich da ausgedrückt haben!“ ſeufzte er. „Nein, nein,“ ſagte Harda lächelnd. „Ich ſprach nur ganz allgemein. Ich glaube im Gegenteil, daß wir uns beſſer verſtehen, als es den Anſchein hat. Für die Beantwortung meiner zudringlichen Fragen danke ich Ihnen recht herzlich. Aber Sie werden jetzt wohl gemerkt haben, warum ich ſie ſtellte.“ Eynitz blickte ſie fragend an. „Setzen Sie ſich nur mal in Gehirnrapport,“ ſagte ſie beluſtigt. „Formen Sie meine Erfahrung in Ihre individuelle um. Aber vielleicht bin ich zu dumm.“ „Das dachte ich eben von mir. Aber halt! Sie ziehen mich empor! Ich fange an zu begreifen. Ihre Frage knüpfte an den ſeltſamen Traumzuſtand an, von dem Sie berichteten. Sie denken doch nicht etwa daran, daß hier eine ſolche Übertragung des Efeu-Bewußtſeins auf das Ihrige ſtattgefunden habe?“ Harda nickte mit dem Kopfe. „Und das iſt der Ernſt der Sache,“ ſagte ſie. „Eine pſychiſche Fernwirkung iſt natürlich Unſinn. Aber wenn es ein organiſches Weſen gäbe, von pflanzlicher Abſtammung, jedoch mit menſchenähnlichem Zentralnervenſyſtem und entſprechender Intelligenz, das demnach wirklich Pflanzenbewußtſein aus mein Gehirn übertragen könnte, nämlich Gehirnzuſtände in mir hervorriefe, die ich nun erlebe als Reproduktion eines Pflanzenerlebniſſes — ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke —“ „Ich verſtehe, ich verſtehe,“ ſagte Eynitz. „Sie denken an eine zentrale Auslöſung ſprachlicher Vorſtellungen. Aber ich bitte Sie, Fräulein Kern, ſolche Weſen gibt es ja nicht. Sie müſſen ſich ſolchen Phantaſien nicht hingeben.“ „Ich phantaſiere nicht, ich habe einen ganz beſtimmten Verdacht. Dieſe Zuſtände ſind bei mir nur eingetreten, ſeit dieſe „Elfen“ des Sternentaus bei uns ausgeſchwärmt ſind, und ſie ſind nur dort eingetreten, wo ſolche in der Nähe zu vermuten waren. Hier bin ich noch frei davon. Die „Elfen“ ſind pflanzlichen Urſprungs, und Sie ſelbſt haben feſtgeſtellt, daß ihre Entwicklung Formen annimmt, wie ſie im Gehirn intelligenter Weſen vorkommen —“ „Nein, nein, das muß anders zu deuten ſein —“ „Jede ſolche Einwirkung begann mit einem äußeren Reiz wie mit der Berührung durch einen kühlen Hauch. Es handelt ſich um einen fremden Körper, um einen animaliſchen, denn der Hund witterte ihn wie ein Tier — es kann gar nicht anders ſein.“ „Und nochmals, liebes, verehrtes Fräulein,“ ſagte Eynitz erregt und erſchreckt, „glauben Sie mir, ſolche Weſen ſind unmöglich, keine Pflanze auf Erden kann derartige Weſen hervorbringen. Der Stammbaum von Pflanze und Tier ſchied ſich auf der unterſten Stufe der Organismen, eine ſpätere Verwandtſchaft iſt undenkbar. Ja es gibt Symbioſen, aber es gibt keinen Übergang von höheren Pflanzen in Tiere oder gar in Intelligenzweſen.“ Harda hatte ſich erhoben. Sie ſtützte ſich mit der Hand auf den Tiſch. Eynitz war ebenfalls aufgeſprungen. Eifrig ſprach er weiter: „Und dann, abgeſehen von allem andern, warum ſollten ſich ſolche Erſcheinungen nur bei Ihnen zeigen? Warum nicht auch bei mir oder bei andern?“ „Das kann ja noch kommen. Niemand war den „Elfen“ ſo nahe wie ich, ich hatte ſie in meinem Schlafzimmer — und — ich bin vielleicht ein geeigneteres Objekt.“ Sie verſuchte zu lächeln. Aber es gelang nicht recht. In ihre Augen drängten ſich Tränen. Unwillig ſchüttelte ſie den Kopf. Sie ergriff ihren Hut, gab ihm einige Püffe mit der Hand und ſtülpte ihn gewaltſam auf das Haupt. „So will ich euch kriegen, wartet nur, Elfengeſellſchaft!“ ſagte ſie halblaut. Sie machte einige Schritte. Dann wandte ſie ſich zu Eynitz zurück, der ihr ängſtlich und mit innigſter Teilnahme zugeſehen hatte. „Kommen Sie mit, Herr Doktor?“ fragte ſie freundlich. Er nahm das Buch, das ſie hatte liegen laſſen, und folgte ihr bis an die ſchmale Treppe zwiſchen den Felſen. Hier blieb ſie ſtehen. Sie war wieder ruhig. Sie blickte Eynitz an, wie fragend, lächelnd, unendlich anmutig und ſagte: „Seien Sie mir nicht böſe, Herr Doktor, und wundern Sie ſich nicht über meine Unart. Nein, nein — ich möchte nicht von Ihnen verkannt werden — ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar. Ich weiß nur nicht, was ich hier will. Dieſe Anfälle, die ich den Elfen zuſchreibe, ſind mir nicht unangenehm, ich möchte ſie gar nicht entbehren. Aber der Gedanke, dem Willen einer fremden unheimlichen Macht ausgeſetzt zu ſein, der empört mich. Frei will ich ſein. Und dieſer Widerſpruch regte mich ſo auf. Verſtehen Sie mich?“ Sie ſtreckte ihm die Hand hin und ſah ihn treuherzig an. Eynitz ergriff ihre Hand freudig und hielt ſie lange feſt. „Ich verſtehe Sie und ich danke Ihnen, und ich bitte Sie, machen Sie ſich keine Sorgen. Sie ſind keiner fremden Macht ausgeſetzt. Bis jetzt ſind Sie nur überraſcht worden. Von jetzt ab werden Sie ſelbſt beſtimmen. Fühlen Sie das erſte Vorzeichen, den kühlen Hauch, und wollen Sie ſich dem Einfluſſe dieſes Reizes nicht hingeben, ſo konzentrieren Sie Ihre Gedanken mit feſtem Willen auf eine höhere Macht, die Sie ganz erfüllt, auf eine Perſon, die Sie lieben, auf ein Problem, das Sie beſchäftigt, nur nicht auf die „Elfenfrage“. Sie werden dann dem Einfluſſe nicht erliegen. Die Macht des ſittlichen Willens kann auch der geſchickteſte Hypnotiſeur nicht bezwingen. Deſſen können Sie ſicher ſein. Und im Übrigen, Fräulein Harda, wenn Sie einen Rat brauchen, einen Menſchen, der ganz —“ Harda ſah ihm ernſt in die Augen; dann entzog ſie ihm mit freundlichem Drucke ihre Hand. „Ich weiß es,“ ſagte ſie. Und dann plötzlich den Ton ändernd: „Übrigens hab' ich's Ihnen ſchon mal hier oben geſagt, daß der Doktor Eynitz ein guter Mann iſt!“ Damit ſprang ſie die Stufen hinab. Erſt unten ſagte ſie: „Wir haben ja ganz vergeſſen, noch Sternentau mitzunehmen. Aber es iſt auch nicht nötig. Ich habe einen großen Kaſten für Sie, er wird Ihnen noch heute ins Haus gebracht. Kommen Sie nur gleich mit zu uns. Jetzt vor Tiſch können Sie am beſten mit dem Vater ſprechen. Nachher ſtellt ſich jedenfalls mehr Beſuch ein.“ Eynitz antwortete noch nicht. Er fürchtete zudringlich zu erſcheinen. Auf dem Steg über die Helle nahm Harda ihren Hut ab und betrachtete ihn prüfend. „Damit kann ich mich nicht mehr ſehen laſſen!“ rief ſie. Sie hielt ihn weit über das Geländer. „Rechts oder links?“ fragte ſie. „Wohin wird er fliegen?“ „Gar nicht,“ ſagte Eynitz, indem er den Hut an einer Bandſchleife faßte. „Damit können Sie noch irgend einen Menſchen glücklich machen.“ „Aber ich habe nicht Luſt, mich weiter damit zu ſchleppen. Soll ich mich zur Sklavin meines Hutes machen, der längſt ausgedient hat?“ „Dann werfen Sie ihn wenigſtens nicht ins Waſſer. Wenn Sie keine eigne Vernunftentſcheidung treffen wollen, ſo überlaſſen ſie es dem Zufall, wer ihn findet.“ Harda ließ den Hut los, Eynitz behielt ihn in der Hand. Sie lachte übermütig und rief fröhlich: „Da haben Sie ihn, als ehrlicher Finder!“ Eynitz zog gelaſſen ſeine Schere hervor und ſchnitt ein Stück von dem Hutbande ab, das er andächtig in ſeine Brieftaſche legte. „Das genügt mir als Andenken,“ bemerkte er. „Den Hut wollen wir an dieſes Gatter hängen, auf daß er ſeine Herrin finde.“ Harda lachte aufs neue. „Damit erreichen Sie weiter gar nichts,“ ſagte ſie, „als daß mir Gelimer heute Abend oder morgen früh den Hut wiederbringt und ein Trinkgeld dafür erwartet, das er ſofort in Schnaps umſetzen wird. Iſt das vernünftig?“ Eynitz zuckte die Schultern. „Dann bleibt nichts übrig, als daß ich um Erlaubnis bitte, Ihnen den Hut bis nach Hauſe zu tragen.“ „Den Berg hinauf? Alſo jetzt gleich? Nennen Sie das eine Vernunftentſcheidung?“ „Ja, ich handle aus freier Selbſtbeſtimmung“ Hardas Augen leuchteten hell auf, als ſie ihn anſah. Dann wandte ſie ſich ſchweigend und ſchritt vorwärts. Eynitz neben ihr, den verſtümmelten Hut in der Hand. Für dieſen Blick hätte er ihn durch die ganze Stadt getragen. 13. Die Elfen kommen In tiefem Dunkel lag der Platz unter der Buche am Rieſengrab. Nur hin und wieder ſchimmerte ein Leuchtkäferchen durch die Büſche. Kein Lufthauch regte ſich im Walde. Durch den Efeu ging ein leiſes Zittern. Von den Wurzeln her kam es, durch den Erdleib ſprach es: „Was iſt dir, Ebah?“ fragte die Buche. „Ich ſorge mich um meine Kinder, die nicht ſprechen dürfen. Und ich ſorge mich um Harda, die wieder mit demſelben fremden Menſchen hier war. In manchem Augenblicke kommt es mir vor, als könnte ich zu ihr ſprechen, aber das verging bald, und als ſie hier ſaß, vernahm ſie mich nicht. Der Fremde wird ihr doch kein Leides tun?“ „Närrchen, ſie waren ja freundlich miteinander, ſoviel merkte man.“ „Es wurde oft im Walde erzählt von Menſchen, die lieb zu einander waren unter den Bäumen und auf dem Mooſe, daß ſie nachher trauernd einhergingen, wenn ſie allein kamen.“ „Was wiſſen wir Genaueres von Menſchenluſt und Leid? Viel merkwürdiger iſt es, daß die fremde Pflanze drüben bei deinem Sprößling ſich ſoviel herausnimmt, und hier ſpricht ſie nicht und rührt ſich nicht, ſoviel man ſie auch fragt.“ „Und doch, Schattende, ſeit der Abend kam, ſcheint es mir, als verändere ſich die neue Pflanze, als hätte mein kleiner Schützling einen Wunſch, nur vermag ſie ihn noch nicht deutlich zu machen. Sie ſchmiegt ſich ſo eng an mich an.“ „So wird ſie wohl jetzt unſere Sprache erlernen. Warte nur ab. Es gibt nichts Fertiges. Was da iſt, das muß vorher werden. Auch des Menſchen ſchnelles Handeln braucht Weile; und ſelbſt der Gott gewinnt Wirklichkeit nur in der Zeit. Zeit iſt der Pflanze größter Reichtum, und ihr Vorzug vor allem Lebendigen iſt die Geduld.“ „Aber widerſpricht ſich das nicht, Leben und Geduld?“ fragte der Efeu. „Denn Leben heißt Wünſchen. Ich wünſche zu blühen, ich wünſche, daß Harda glücklich werde im Segen der Dauerſeele, und wenn ich nicht wünſchte, was hieße dann leben? Wünſchen aber heißt, keine Geduld haben.“ „O Ebah,“ ſprach die Buche tadelnd, „was redeſt du? Wünſchen ohne Geduld heißt leben in Unluſt und Qual, Wünſchen aber in Geduld heißt dauernde Freude im Denken ans Kommende, heißt Hoffnung. Und was wir ſo hegen im Innerſten und träumend erwarten, das iſt viel ſchöner, als was wirklich aufſteigt zum Geſchehen. Denn Phantaſie kann gebieten, Wirklichkeit muß gehorchen. Geduld iſt Herrin, Tat iſt Knecht.“ Während der weiſen Betrachtung der Buche fühlte Ebah wieder den leiſen Druck der Ranken des Sternentaus. Und aufmerkend wurde ſie zwiſchen ihren Blättern einiger ſchwach ſchimmernder Stellen gewahr. Das war nicht das grünliche Licht des Leuchtwurms, nein, es glomm bläulich, und jetzt ward's immer deutlicher. Die Kapſeln des Sternentaus ſind's, die da ſchimmern, hellblau, dunkelblau, hier und dort, wie ſie zerſtreut wachſen zwiſchen dem ausgedehnten Laubkleide des Efeus. „Was iſt das?“ ſagte der Waldmeiſter leiſe zum Sauerklee. „Siehſt du nicht, was ſich der Efeu wieder herausnimmt?“ „Laß mich, ich will ſchlafen. Was geht's mich an?“ „Ich glaube, Ebah iſt die Blühluſt ſchlecht bekommen. Statt nach oben ſchlägt ſie nach unten aus.“ „Still,“ riefen die jungen Buchenbüſche. „Das iſt kein gewöhnliches Blühen, das iſt etwas ganz Seltſames. Das kommt ja von der fremden Pflanze.“ Die ſehr jungen Fichten, die ſich am Felſen angeſiedelt hatten, wurden aufmerkſam; ſie benachrichtigten ihre hohen Verwandten am Abhang. „Die fremde Pflanze macht ſich bemerklich?“ fragte die gekrümmte Fichte mißtrauiſch. „Ich habe ſchon lange meine Bedenken. Warum verſteckt ſie der Efeu unter ſeinen Blättern? Und warum kriecht er ſo um die Buche herum?“ „Das iſt eben das Schmeicheln hier und das Protegieren dort,“ ſagte eine ſchlanke, ſtarke Fichte. „Das ruiniert den Wald. Dieſes Buchenprotzentum hat abgewirtſchaftet.“ „Es wäre Zeit für uns, die Leitung im Wald zu übernehmen,“ rief eine dritte. „Sehr richtig,“ bemerkte eine Kiefer. „Die Laubhölzer haben ſich nicht bewährt. Da gibt's keine Ausdauer. Im Winter iſt's kahl zum jammern.“ Und eine alte, vom Sturm gekrümmte Kiefer, die oben auf dem Felſen hinkroch, fügte hinzu: „Dieſer bedecktſamige Blütenindividualiſmus muß zur Selbſtüberhebung führen. Jeder will etwas Beſonderes ſein.“ Aus den ſchlanken geraden Fichten murrte es dagegen: „Wärſt du nur nicht dort hinaufgeſtiegen! Wir müſſen zuſammenhalten. Siehe unſre ſoziale Gleichmäßigkeit! Es leben die Coniferen!“ „Nicht zu laut, nicht zu laut!“ warnte die alte Fichte. „Ich bin überzeugt, die Buchen wittern ſchon, daß ihre unhaltbare Stellung bedroht iſt, und ſie bereiten irgend etwas Heimliches vor, um den Wald, vielleicht gewaltſam, zu beherrſchen. Was ſollte ſonſt dieſe fremde Pflanze bedeuten? Wenn es überhaupt eine Pflanze iſt! Dieſes Glimmen im Dunkeln erinnert an tieriſche Gewohnheiten.“ „Seien wir nicht ungerecht,“ beruhigte eine alte Lärche. „Auch die Laubhölzer haben ihre Verdienſte. Jedenfalls dürfen gerade wir nicht gegen das Prinzip des freien Wettbewerbs auftreten. Aber wir könnten ja einmal die Buche interpellieren, was ſie eigentlich —“ „Ruhig, ruhig!“ rief die Fichte. „Nur keine Übereilung! Sie ſind verbunden, es von ſelbſt mitzuteilen, wenn ſie etwas von allgemeiner Bedeutung vorhaben. Das iſt Waldrecht. Aber auf dem Poſten wollen wir ſein.“ „Hört ihr nicht? Sagte die Buche nicht etwas?“ fragte die Lärche. Alle lauſchten. „Nein, nein,“ flüſterte ein kleiner Buchenfarn. „Aber der Efeu iſt aufgeregt. Er ſpricht mit jemand, jedoch man kann es nicht verſtehen. Er ſpricht direkt, alſo wohl mit der Buche.“ „Seht da, ſeht! Da iſt doch ein weißlicher Lichtſchimmer unter dem Efeu?“ Die bläulichen Sterne verblichen. An ihrer Stelle breitete ſich ein bleicher, phosphoreszierender Glanz aus und drang hier und da durch das dichte Laub des Efeus. Ebah zitterte. „O ſieh, ſieh!“ flüſterte ſie zur Buche. „Die fremde Pflanze! Aus den Bechern drängen ſich die Fäden wie leuchtende Geſpinſte hervor. Was ſoll das werden?“ „Ich weiß es nicht, Ebah,“ antwortete die Buche. „Es wächſt etwas Neues aus der fremden Pflanze. Das hat der Wald nicht geſehen.“ „Das iſt jedenfalls das Seltſame, was die neue Pflanze ſchon drüben bei Hedo getan hat, und was mir Hedo nicht ſagen durfte. Was wird geſchehen? O höre! Höre! Hörſt du nichts, Schattende?“ Ebah rief es ängſtlich. „Ich höre nichts.“ „Aber ich! Zu mir ſpricht es, die neue Pflanze ſpricht! Ich klammre mich feſter an dich. So — jetzt mußt du es mithören. Nicht wahr?“ „Ich höre, aber noch kann ich nichts verſtehen.“ „Jetzt wird es deutlicher, ja, ſie ſpricht.“ „Bio, Bio,“ klang es zaghaft vom Sternentau. Ebah empfand es fremdartig, wie ein Probieren ungewohnter Sprache. Und nun wieder: „Bio wird — ich werde —“ „Wer biſt du?“ fragte Ebah ſanft. „Ich bin Bio —“ „Bio? So heißeſt du?“ „Bio — ich heiße Bio — ich wachſe —“ „Und warum ſpracheſt du nie bisher?“ „Ich nicht vermochte, ich lernte — nun ich wachſe, ich ſpreche.“ „Warum leuchteſt du?“ „Ich wachſe zum Weſen, aus mir wächſt mein Weſen.“ „Noch verſtehe ich dich nicht. Du heißeſt Bio. Iſt das dein Eigenname, wie ich Ebah heiße, oder iſt das der Name deiner Gattung, wie ich Efeu bin? Wie heißt Euere Pflanzengattung? Und wo kommſt du her?“ „Du fragſt viel, Ebah. Noch bin ich Euere Sprache nicht geübt — doch bald werde ich alles ſagen können. Höre! Ich bin mein wachſendes Weſen, bin die Pflanze, Bio. Aber aus mir wachſe ich ſelbſt noch einmal als freies Weſen. Das freie Weſen kann im Dunkeln leuchten —“ die Sprache wurde ſicherer und geläufiger — „wenn es herausgewachſen iſt, verwelken meine Fruchtbecher, aber ich bleibe bei dir, und dann werde ich zu dir ſprechen dürfen von mir, der Pflanze Bio und von meinem freien Weſen.“ „Und dein freies Weſen, was wird aus ihm?“ „Du wirſt es erfahren. Es ſchwebt frei durch die Luft, wohin es will, und es kann leuchten oder unſichtbar ſein wie die Luft, je wie es will.“ „So iſt es eine fliegende Pflanze? Aber wo wurzelt es?“ „Es bedarf keiner Wurzel, es iſt keine Pflanze wie ihr oder ich. Unſere freien Weſen ſind — wir nennen ſie „Idonen“. Ich weiß nicht, ob es das bei euch gibt. Aber ich habe die beweglichen Weſen geſehen, die ihr Menſchen nennt. An ſie erinnert ein wenig der Idonen Geſtalt, nur ſind die Idonen viel kleiner und feiner und ſchweben unſichtbar umher, ſichtbar nur für ihresgleichen. Wie nennt ihr ſolche Weſen?“ „Die ſind uns nicht bekannt. Menſchen oder Tiere wachſen bei uns nicht aus den Pflanzen. Sie können nicht zu uns ſprechen, und wir nicht zu ihnen. Aber ich weiß jetzt, daß Menſchen klug und mächtig ſind.“ „Das ſind die Idonen auch, und wohl noch viel mehr. Und ſie können mit den Pflanzen ſprechen und wir mit ihnen. Wenn meine — doch jetzt — oh — laß mich jetzt ſchweigen — ich wachſe, wachſe —“ Bio zitterte an den Efeu geſchmiegt, der Efeu klammerte ſich an die Buche. Ein Lichtwölkchen war aus dem Becher des Sternentaus hervorgequollen und löſte ſich jetzt ab. Hier und da, nach und nach, wie viel reife Fruchtbecher am Sternentau ſich geöffnet hatten, ſo viel ſchwach ſchimmernde Idonen wurden ſichtbar. Sie ſtreiften ihre Geſpinſte ab und hüllten ſich frei hinein. Durch die Zwiſchenräume der Efeublätter ſchlüpften ſie hindurch, hinaus unter die Buche, dort ſchwebten ſie auf dem freien Platze. Einige faßten einander an und ſchwangen ſich in leichtem Reigen. Sie führten eine lebhafte Unterhaltung, doch konnte ſie Ebah nicht verſtehen, denn ſie ſprachen nicht die Sprache der Erdenpflanzen. Wohl aber verſtand ſie der Sternentau, nur teilte er ſich jetzt Ebah nicht mit. Andere Idonen kamen noch dazu, die an anderen Stellen und ſchon in den vorangehenden Tagen frei geworden waren. Alle verſammelten ſich unter der Buche, wo der erſte Sternentau auf Erden, die Stammutter des Geſchlechtes ſich angeſiedelt hatte. Mit dem Sternentau unterhielten ſie ſich lange, ohne daß Ebah etwas verſtehen konnte. Dann tanzten ſie wieder ihren Reigen wie die Blumenelfen des Märchens und berieten ſich. Schließlich zerſtreuten ſie ſich und verſchwanden nach verſchiedenen Richtungen zwiſchen den Bäumen. Ein Schauer ging durch den Wald. Was war das? War der Gott erwacht? Aus der Pflanze geboren ward der Gott? Kam er zu erlöſen von der Herrſchaft der Menſchen? Kam er zu vereinen die Lebendigen der Erde? Der Wald ſchwieg, gebannt zwiſchen Furcht und Andacht. Vom Sternentau her klang es jetzt wieder ganz leiſe: „Ebah!“ „Was willſt du, Bio?“ fragte der Efeu. „Jetzt bin ich eine Pflanze auf der Erde, wie ihr, nur fremd. Schütze mich, Ebah, und bitte auch die Buche darum. Denn ohne dich kann ich nicht gedeihen. Aber jetzt kann ich zu dir ſprechen.“ „Warum ließet ihr Hedo nicht zu mir reden? Warum ſprach der Sternentau nicht dort?“ „Jetzt wird auch er ſprechen. Unter uns konnten wir ja ſchon immer ſprechen, ohne daß ihr es vernahmt oder verſtandet. Aber die Pflanzen hier in meiner Nähe ſollten nicht eher von den Idonen erfahren, bis ich, die Stammutter, zu euch reden konnte; und das vermochte ich erſt, wenn mein Weſen frei wurde. Auch mit den Idonen kann ich reden, wenn ſie nicht gar zu weit entfernt ſind. Selbſt was ihr untereinander ſagtet, konnte ich ihnen mitteilen, denn das verſtand ich ſchon lange; nur vermochte ich nicht, auch mich ſelbſt verſtändlich zu machen, bevor meine Becher ſich ganz öffneten. So kennen wir ſchon vieles von dem Leben der Pflanze.“ „Und wohin ſind jetzt die Idonen gegangen?“ „Sie ſuchen einander und ziehen dann hinaus in dies unbekannte Land, es zu erforſchen. Sie wollen erkunden, was die Tiere und die Menſchen tun. Und wenn ſie wiederkommen, werdet auch ihr viel Neues erfahren können, ſo weit ihr es verſteht.“ „Aber wo wohnen ſie? Wie ernähren ſie ſich?“ „Wohnungen werden ſie ſich bauen, wo ſie es für geeignet finden. Im allgemeinen leben ſie einſam oder zu zweien, nur hin und wieder vereinen ſie ſich zur Beratung. Und Nahrung brauchen ſie nicht mehr, als die Luft ihnen bietet und das Waſſer und weniges vielleicht vom Boden. Denn genährt haben ſie ſich als Pflanze. Das iſt die Zeit ihres Wachſens, da nehmen ſie auf, was ſie brauchen. Als freie Weſen haben ſie anderes zu tun. Doch laß mich jetzt ruhen, ich bin ermüdet.“ „Was tun ſie?“ fragte Ebah hartnäckig. „Wie ſoll ich dir das kund tun? Jetzt als Pflanze vermag ich nur zu ſagen, was der Pflanzen Wiſſen und Rede iſt. Die Idonen aber ſind der Teil von uns, der Wiſſen und Macht hat. Ihre Gedanken ſind die Welt.“ „Wie iſt das möglich? Woher kommt ihr?“ „Ich verſtehe nicht, es auszudrücken, auch weiß ich es ſelbſt nicht recht. Die Welt, von der wir ſtammen, ſah anders aus als die neue. Wohl fern, fern von hier iſt unſere Heimat.“ Der Sternentau verſank in Schweigen. Der Wald ſchlief. 14. Auf dem Neptunsmond Um die niedrigen Berggipfel der fremdartigen Landſchaft breitet es ſich wie weißliche Wolkenſtreifen. Häufig löſen ſich einzelne Stücke ab und gleiten durch die Luft hierhin und dahin, begegnen ſich und weichen ſich aus. Unter ihnen liegt das Land von üppigem Pflanzenwuchs bedeckt wie ein blühender Garten, durchzogen von Kanälen, die flache Seen verbinden. Ihre Waſſerſpiegel blinken in den wunderbarſten Farbenreflexen. Denn über dem allen ſpannt ſich ein blau-violetter Himmel, woran eine große leuchtende Scheibe mit verſchwommenen Rändern prangt. Ein ſichelförmiger Teil von ihr ſtrahlt in weißlichem Lichte, der übrige glimmt matter mit einem ins Grünliche ſpielenden Gelb. Nach dem Horizont zu ſchimmert es von Blau bis Rot in allen Abſtufungen des Spektrums. Sämtliche Farben ſind ſanft und matt, ſelbſt die Helligkeit iſt nirgends blendend. Auch ſcharfe Schatten fehlen bei der großen Fläche des leuchtenden Himmelskörpers. Nur an einer Stelle, nach der Seite der weißen Sichel hin, ſtrahlt am Himmelsgrund ein glänzender Stern. Das iſt unſre Sonne. Unſere Sonne, geſehen in einer Entfernung, die dreißigmal ſo groß iſt als ihr Abſtand von der Erde. Denn jene große mattleuchtende Scheibe am Himmel iſt der äußerſte Planet unſres Sonnenſyſtems, der Neptun. Jene Landſchaft mit ihren Pflanzen und Seen liegt auf dem Monde, der den Planeten Neptun umkreiſt. Wenn das Licht der Sonne dorthin gelangt, ſo hat es nur noch den neunhundertſten Teil der Helligkeit wie auf der Erde; das bedeutet immer noch die Leuchtkraft von 630 Vollmonden bei uns. Aber es wird noch weiter gedämpft durch die Dichtigkeit der Atmoſphäre, die dem Neptunsmond zu eigen iſt. Dafür liefert der große Planet ſelbſt, deſſen Durchmeſſer mehr als das Siebenfache von dem der Erde beträgt, außer dem reflektierten weißen Sonnenlicht auch Licht und Wärme von ſeinem eignen Vorrate. Denn er iſt ſelbſt noch gasförmig und warm. Den Bewohnern des Neptunsmonds erſcheint er als eine Scheibe, deren Durchmeſſer das Sechzehnfache unſrer Mondſcheibe ausmacht. Der von der Sonne nicht beſtrahlte Teil und der ſehr viel hellere weiße wechſeln ziemlich ſchnell ihre Größe, denn in kaum ſechs Tagen vollendet der Mond den Umlauf um ſeinen Planeten und hat daher dieſen bald auf derſelben, bald auf der entgegengeſetzten Seite wie die Sonne. Ja, dieſer Neptunsmond, der äußerſte Himmelskörper unſers Sonnenſyſtems, beſitzt Bewohner, und zwar ziemlich zahlreiche. Er hat überhaupt in ſeiner phyſiſchen Beſchaffenheit eine gewiſſe Ähnlichkeit mit unſrer Erde, obwohl ſeine Größe nur ungefähr der unſres Mondes entſpricht. Unſerer Erde gleicht er darin, daß er eine Atmoſphäre beſitzt, während unſer Mond ja ohne Atmoſphäre, ſtarr und ſcheinbar abgeſtorben iſt. Der Neptunsmond aber befindet ſich gegenwärtig annähernd im Entwicklungsſtand unſrer Erde. Wegen ſeiner Kleinheit konnte er ſich ſchneller abkühlen als ſein Planet. Die Schwerkraft iſt auf ihm weſentlich geringer als bei uns, alles iſt leichter und freier beweglich. So ſind auch die Organismen auf dieſem Himmelskörper von unſern Pflanzen und Tieren recht verſchieden, entſprechend der Anpaſſung an die Verhältniſſe des Neptunsmonds. Wie die Geſetze der Mechanik, ſo ſind auch die Grundformen des Lebendigen die gleichen im ganzen Univerſum. Die Wechſelwirkung zwiſchen der Zelle und ihrem Kern, die Teilung und Verſchmelzung der Zellen, die Bildung von Zellgeſellſchaften, aus denen organiſche Individuen höherer Ordnung hervorgehen, der Fortſchritt endlich dieſer komplizierten Organismen zu immer klarerem Selbſtbewußtſein, vom einfachen Sinnesweſen bis zur Höhe der Vernunft, — dieſe allgemeinen Beſtimmungen gelten für den Kosmos überhaupt. Aber die Reſultate des Werdeganges ſind ſehr verſchieden. Wie die Arbeitsleiſtung der Kultur ſich unter die lebendigen Weſen verteilt, wie die einzelnen Organismen ihre Einheit mit der Natur aufrecht erhalten und ihre Freiheit in der Kultur gewinnen, ob ſie überhaupt trennende Bahnen einſchlagen, das iſt eine Form der Entwicklung, die ſich auf verſchiedenen Weltkörpern verſchieden vollzieht. * Die weißen Streifen an den Gipfeln und Hängen der Berge und die lichten Wölkchen, die ſich von ihnen löſen, um in willkürlichen Richtungen durch die Luft über die Landſchaft zu ziehen, ſind nichts anderes als die Werkſtätten der herrſchenden Bewohner des Neptunsmonds, die ſich ſelbſt Idonen nennen. Man könnte dieſe Wohnungen etwa mit großen, laubenförmigen Körben vergleichen, die aus feinen Geflechten filigranartig gebildet ſind und mit ſchimmernden Geſpinſten überzogen. Zahlreiche abgeſchloſſene Zimmer enthalten ſie in ſich, über- und nebeneinander geordnet, dazwiſchen ziehen ſich verſchlungene durchſichtige Röhren hin, gefüllt mit ebenfalls unſichtbaren Gaſen, leichter als die Luft, die jene kunſtvollen Gebäude ſchwebend erhalten. Ihre Architektonik, die auf die Schwere des Stoffes keine Rückſicht zu nehmen braucht, folgt frei den wechſelreichen Formen der Wolkengebilde, deren leichten Zug wir an unſerm Himmel bewundern. Bald legen ſich die einzelnen Wohnungen an einander zu großen Städten, bald trennen ſie ſich und fahren einſam oder in willigen Geſellſchaften durch die Höhen. Auf den Dächern der luftigen Häuſer ſieht man einzelne Idonen ruhen, die meiſten aber fliegen frei durch die Luft. Denn das iſt ihre gewöhnliche Bewegung. Sie ſind zierliche, kleine Geſtalten von etwa ein Drittel Meter Höhe mit frei beweglichen, biegſamen Armen und flügelartigen Ruderfüßen. Durch willkürliche Zuſammenziehung und Ausdehnung ihres ſehr elaſtiſchen Körpers können ſie ſich heben und ſenken. In feine, nachſchleppende Schleier gehüllt ſchweben ſie anmutig dahin; ſie haben keine Eile. Für menſchliche Augen würden ſie ſchwer erkennbar ſein, weil ihre Körper nahezu durchſichtig erſcheinen, und nur die Reflexe an ihren großen Augen dürften auffallen. Der innere Bau ihres Körpers iſt in weit höherem Grade als beim Menſchen auf das Vorherrſchen des geiſtigen Lebens eingerichtet, ſo daß man ſie als ſchwebende Gehirne bezeichnen möchte. Mit der phyſiſchen Arbeit zur Erhaltung ihres Lebens haben ſie wenig zu tun, ihre Energie konzentriert ſich in der Bewältigung ihrer Gedankenwelt. Die ſchaffende Macht der Natur hat bei ihnen die Form ſelbſtändigen Bewußtſeins gewonnen; ihre Phantaſie löſt die Widerſtände der Wirklichkeit auf zum freien Spiele gütigen Wollens und beglückender Liebe. Die Idonen werden nicht von Idonen erzeugt und geboren und bringen nicht wieder Idonen zur Welt. Sie wachſen hervor aus einer pflanzlichen Generation, die ſich allein durch Zellteilung, durch Knoſpung vermehrt und ſo die innige Verbindung mit Leib und Seele des Weltkörpers dauernd bewahrt, auf dem ſie gedeiht. Die Idonen aber ſind das frei bewegliche Geſchlecht, deſſen Individuen ſich in perſönlicher Wahl, männliche und weibliche, vereinen in allen Feinheiten der Liebesſehnſucht und Liebesgemeinſchaft. Dieſer Vereinigung entſprießen nicht junge Idonen, ſondern ein Gebilde, das in pflanzliche Keime zerfällt; aus ihnen wachſen dann wieder die Pflanzen, welche die neue Generation darſtellen. Während der Durchgang durch die wurzelnde Pflanze den ſteten Zuſammenhang mit dem Leben und der Kraft des Weltkörpers aufrecht erhält, gibt die geſchlechtliche Fortpflanzung und ihre freie Wahl den Idonen die Fähigkeit, alle Erwerbungen ihres individuellen Lebens der Gattung nutzbar zu machen. So hat hier ein dauernder Wechſel zwiſchen Pflanze und Gehirnweſen die günſtigſte Arbeitsteilung errungen, um die Energie des leiblichen Lebens und die Macht des geiſtigen zur höchſten Stufe der Kultur zu führen. Fänu, eine junge Idonenfrau, verließ ihre Wohnung und ſchwebte hinab zu den gartenartigen Wäldern und Wieſen der Mondoberfläche. Langſam war ihr Flug und vorſichtig, als berge ſie etwas Koſtbares unter ihrem Schleier. Um ſie herum, die Umgebung gewiſſermaßen prüfend und ſie vor zufälligen Störungen ſchützend, flog Fren, ihr Gatte, bald rechts oder links, oben oder unten. Das hinderte die beiden nicht, ihre Gedanken leiſe auszutauſchen. Denn ihre Sprache war nicht an ſo geringe Entfernungen gebunden wie die des menſchlichen Mundes. Zwar beruhten ihre Mitteilungen auch auf Luftſchwingungen, aber ihre Organe waren ungleich empfindlicher als die der Menſchen, ihre Verſtändigung bediente ſich der mannigfachſten und feinſten Mittel. Über blumengeſchmückte Wieſen hinweg flog Fänu einem ausgedehnten Walde zu, deſſen Bäume ſich bis über zehn Meter hoch erhoben. Auf der Erde freilich würden dieſe Pflanzen als zierliche Ranken am Boden hinkriechen müſſen, wenn ſie nicht eine äußere Hilfe fänden. Bei der geringen Schwerkraft aber, die hier herrſcht, konnten ſie leicht ihr eigenes Gewicht tragen und ſtrebten frei in die Luft, wo ſie ſich in zahlloſen feinen Sproſſen verzweigten und mit ihren vielfach gefiederten Blättern ein dichtes Laubdach bildeten. Die Zweige dieſer Ranken waren hier und da mit blauen Kelchen geſchmückt, die in verſchiedenen Entwicklungsſtufen ſtanden. Auch andere Pflanzengattungen zeigten ſich zwiſchen den Rankenbäumen, kleinere Arten bedeckten den Boden, und eine mannigfaltige Tierwelt, wie eine bunte Geſellſchaft ſeltſam geſtalteter, freigewordener Blüten, kroch am Boden umher oder flatterte durch die Luft. Alle dieſe Tiere pflanzten ſich wie die Idonen in einem Generationswechſel mit der Pflanzenwelt fort, jeder Tierform entſprach eine beſtimmte Pflanzenform als Stammutter, und ſie alle bildeten Vorſtufen zu dem höchſten Produkt der Entwicklung, das der Neptunsmond hervorgebracht hatte, den Idonen. „Schon ſehe ich den Hügel der Mutter,“ ſagte Fänu. „Laß uns ein wenig raſten, ehe wir ſie begrüßen.“ „Dort auf den Zweigen des Dunkelbaums,“ antwortete Fren. „Kennſt du ihn noch?“ Fänu ſchmiegte ſich zärtlich an den Geliebten. „Wenn die Bilder der Frohgefühle kommen, um den Seelenreigen zu ſchlingen, dann ſind ſie bekränzt mit dem Spitzengewebe des Dunkelbaums.“ „Denn ſolchen Schmuck wand ich zuerſt um dieſen Gürtel, als ich das Glück gewann hier unter dem Baum.“ „Und nun magſt du damit mich wieder zieren, da wir zum heiligen frohen Feſte fliegen. Sieh, die Sichel iſt ſchon ſchmal, bald werden wir im Schatten des Planeten ſein.“ Sie blickten beide in die Ferne hinaus. „Der Planet ſteht nicht mehr ſehr hoch,“ begann Fänu. „Ich möchte wieder einmal bis dahin reiſen, wo ſich ſowohl der Planet als die Sonne ganz unter unſerm Horizont befinden. Ich möchte wieder einmal Sterne ſehen.“ „Das iſt noch recht weit bis dahin,“ ſagte Fren. „Aber wir wollen daran denken. Was gefällt dir ſo Beſonderes an den Sternen? Glänzen nicht überall bei uns funkelnde Lichter in den Waſſern, am Boden, in der Luft?“ „Das ſind nur Leuchten wie wir, höchſtens wie wir. Aber die Sterne ſind Welten, größer, prächtiger als der Boden, auf dem wir wohnen, größer zum Teil als unſer Planet, der dort ſo machtvoll herüberwärmt. Wenn ich ſie ſehe in der großen, fremden Weite, ſo iſt freilich dem Blicke ſcheinbar nicht mehr gegeben als hier in der vertrauten holden Nähe; aber unmittelbarer doch faßt es uns, daß ſo unendlich viel Glück lebt in der Welt. Glück überall in unzähligen Welten.“ „Woher willſt du das wiſſen? Es gibt Gelehrte, die behaupten, daß die Sterne durchaus unbewohnbar ſeien, ſogar die Planeten, die wie wir um unſre Sonne kreiſen. Ja, ſie ſagen, daß es nirgends in der Welt vernünftige Weſen geben könne als auf unſerm Lande, weil nur hier die Bedingungen zur Exiſtenz der Idonen zuſammentreffen.“ „So ein kluger Idone ſollte lieber ſogleich erklären, daß es überhaupt kein anderes vernünftiges Weſen geben könne als ihn ſelbſt. Denn wozu erſt die andern? Wenn die Vernunft nichts übrig hat für die andern Sterne, warum ſoll ſie ſo verſchwenderiſch ſein, hier bei uns mehr als das eine vernünftige Weſen, den einen weiſen Idonen zu erzeugen? Und wozu jene großen Weltkörper, nahe der Sonne, in ihren Strahlen ſchwelgend, wenn ſie nicht Organe ihres eigenen Weſens, ihrer Vernunft beſitzen ſollen? Oder meint der weiſe Mann vielleicht, daß die Planeten ſelbſt keine bewußten, vernünftigen Weſen ſeien? Daß ſie tot hinfliegen wie die ſtürzenden Trümmer am Gebirge? Daß etwa unſer Planet da drüben keine Seele habe? Dann vielleicht auch nicht ſein Trabant, auf dem wir wohnen? Dann auch nicht unſre Pflanzen, nicht unſre Mütter, nicht meine Mutter Bio, der ich entſproſſen bin? Woher ſollen unſre Seelen kommen, wenn nicht aus den Pflanzen, und woher die Pflanzen, wenn nicht aus dem Grunde, darin ſie wurzeln?“ „Ereifere dich nicht zu ſehr, Fänu. Wer zweifelt an der Seele unſres Planeten, und doch wohnen auf ihm keine bewußten Weſen wie wir.“ „Ach, Fren, verwirre dich nicht, mein Guter! Wer ſind denn wir? Sind wir nicht dieſe bewußten Weſen? Daß wir nicht auf dem Planeten ſelbſt wohnen, ſondern auf ſeinem Monde, das macht doch nichts aus; das iſt nur ein nebenſächlicher Unterſchied. Oder iſt dieſer Mond nicht bewohnt, weil es nicht jede Stelle iſt, weil die fernen Hochwüſten im Norden nicht bewohnt ſind? Iſt nicht der Mond ein Teil des Planeten? Das haben wir doch ſchon in der erſten Jugend gelernt, daß wir hier nur wohnen, weil der Planet noch zu warm für uns iſt, zu wenig feſt. Wenn er ſich aber abgekühlt hat, und es für uns hier zu froſtig wird, dann werden wir auf ihn überſiedeln.“ „Du haſt ja völlig recht, Liebſte. Aber erinnerſt du dich nicht des Buches von Kurla, das wir geleſen haben? Wie ein Idone auf einen Stern in der Nähe der Sonne verſchlagen wird und dort als Herrſcher rieſenhafte Weſen trifft, die denken und reden können, aber nicht fliegen? Auch Pflanzen aller Art findet er dort, mächtige Bäume, ſchöne Blumen, unſichtbar kleine Zellen. Da beſchreibt der Verfaſſer, wie die Herrſcher des dortigen Planeten behaupten, daß die Pflanzen überhaupt keine Seele haben. Sie behandeln ſie als Weſen ohne Bewußtſein, weil ſie nicht mehr mit ihnen zu ſprechen wiſſen. Denn ſie haben ſich in ihrer Entwicklung völlig von den Pflanzen getrennt, ſie verſtehen nicht mehr die Stimme des Planeten, die aus den Pflanzen ſpricht, und bilden ſich ein, ihnen, den Herrſchern allein, ſei eine beſondere Offenbarung geworden, die der ganzen Natur verſchloſſen iſt. Erſt müſſe man das Leben ertöten, dann erſt finde man die Seligkeit im Himmel.“ „Freilich erinnere ich mich. Jedoch ich meine, die Phantaſie des Dichters, ſoweit ſie nicht als reines Spiel ihren abſoluten Wert hat, will hier wohl als Satire auftreten. Denn wenn in Wirklichkeit irgendwo ſolche Weſen exiſtieren ſollten, ſo wäre das ein Abweg der Natur, den die Vernunft ſelbſt korrigieren wird. Entweder werden jene Weſen untergehen, weil ſie den Zuſammenhang mit der Natur verloren haben, oder ſie werden ihn wiedergewinnen, indem ſie ihren Irrtum durch Vernunft erkennen lernen.“ „So hat es ſich auch der Dichter gedacht. Die Pflanzen finden ihr Recht.“ Fänu ſchauerte zuſammen. „Was iſt dir?“ fragte Fren beſorgt. „Huh! Ich dachte daran — wenn ich nun eine Frau auf ſolchem Planeten wäre, wie ſchrecklich müßte das ſein! Denke nur.“ Sie zog den Schleier ſanft zuſammen und fuhr fort: „Statt unſres ſtillen ruhegeborgenen Schatzes hier, der in ſeiner Hülle die Hoffnung unendlichen Lebens umfaßt, hielte ich dann ein kleines zappelndes Weſen, ein hilfloſes Idonchen, das nicht ſagen kann, was es will, das ſchreit und hungert —“ „Oder vielleicht auch lächelt und froh iſt und uns beglückt.“ „Es müßte ja doch hinwelken, wovon ſollte es leben? Entſetzlicher Gedanke! Dieſe fortwährende Sorge, die Bewachung des jungen Lebens, die Verantwortung für Ereigniſſe, über die wir keine Macht haben! Wo blieben da Ruhe und Glück? Unreife Dinger, deren wir uns eigentlich ſchämen müßten, hätten wir zu bejammern. Und dieſe lärmende, unzurechnungsfähige, rückſichtsloſe Geſellſchaft würde uns in jeder höheren und freien Tätigkeit ſtören. Wo bliebe uns Zeit und Kraft übrig, die ſtolze Aufgabe des Idonenlebens zu erfüllen, ein Ich zu ſein in voller Freiheit, das in ſeinem unverletzlichen Zuſammenhange mit der Seele des ewigen Alls den großen Weltplan auf ſeine beſondere Weiſe zu ſpiegeln ſucht?“ „Du haſt wohl recht, Liebling. Die Sorge um das kommende Geſchlecht müßte ſo ganz alle Pflicht und Arbeit in Anſpruch nehmen, daß Verſtändnis und Gefühl für das höchſte Ziel nicht mehr gepflegt werden könnten. Daher blieb jene Aufgabe der Pflanze zugewieſen, wir aber haben genug zu tun. Denn es iſt nicht leicht die Notwendigkeit zu begreifen, die in Sternen und Zellen waltet, und doch dieſe unendliche Macht frei aufzunehmen im Gefühle der Liebe, die uns mit allen Weſen vereint. Es iſt nicht leicht, den Gott zu lieben in uns ſelbſt, und doch nicht uns ſelbſt zu ſehen in dem Gotte.“ „Und es wäre unmöglich, Liebe zu hegen zugleich in Würde und in Freude, wenn dieſe Liebe das einzige Mittel der Natur ſein müßte, ſich zu erhalten. Und doch iſt jedes Gefühl ohne Recht, das ſich löſt vom Zuſammenhange der Natur. Darum iſt es ein entſetzlicher Gedanke, daß die höchſte Seligkeit der Liebe verhaftet ſein ſoll mit einer Verantwortung für das kommende Geſchlecht. Welcher Planet könnte eine ſolche Sinnloſigkeit ausſinnen, eine Marter der Vernunft? Wenn es irgendwo ſolche unglückliche Frauen gibt, die lebendige Weſen ihrer eignen Art zur Welt bringen und ſie hilflos ſehen und pflegen müſſen, dann wundert es mich nicht, wenn ein ſo naturbedrücktes Geſchlecht ſeinen Gott nicht finden kann im ewigen Geſetz des Lebenswandels, wenn es ihn draußen ſucht, jenſeits des Lebens und der Liebe der Natur.“ „Es wäre ja möglich, daß manche Geſchöpfe erſt auf dem Umwege des Leidens zur Vernunft geführt werden.“ „Aber wie kann es Weſen geben, die ihresgleichen gebären? Wir alle müſſen doch erſt wieder hindurchgehen durch den Mondleib in den Pflanzenleib, und erſt aus dem Pflanzenleib empfangen wir wieder die Kraft, zu ſchweben in der Freiheit des Idonenleibes. Und Leib und Seele ſind doch untrennbar eines?“ „Das eben verſtehen jene Weſen nicht, von denen der Dichter fabelt. Sie haben ſich vom Bewußtſein des Mond- oder des Planetenleibes und des Pflanzenleibes getrennt, und nun können ſie erſt durch einen langen, langen Prozeß des Denkens und der Not wieder zur Einheit der Natur zurückgeführt werden.“ „Ich kann's nicht glauben. Stelle dir vor, unſre Eltern lebten noch gleichzeitig mit uns als Idonen, ſie wären Intelligenzweſen wie wir, wir müßten auf einer Stufe mit ihnen leben, welche Fülle von hemmenden Bindungen wäre dadurch gegeben! Wie können jung und alt einander verſtehen? Und hier ſollten ſie ſich umeinander ſorgen, hätten Verpflichtungen. Wie ſollte da die Selbſtändigkeit des Denkens und Wollens beſtehen? Tauſend Konflikte der Natur und der Freiheit, tauſend Schwierigkeiten des Lebens, ja zuletzt den Wunſch nach gegenſeitiger Löſung ſehe ich da ſich notwendig ergeben. Wieviel glücklicher ſind wir ſo geſtellt! Unſre Pflanzenmutter ſteht friedlich im grünen Walde, dort lebt ſie fort und wir leben auf unſere Weiſe in der Luft. Keiner ſtört den andern, denn jeder hat ſeinen eignen Weg und ſeine eigne Art zu gedeihen. Unſre Nachkommen kennen wir nicht, ihr Erbe wird ihnen von der Natur übergeben mit der ganzen Fülle des Erwerbes ihrer Vorfahren. Nicht als Mechaniſmus des Inſtinkts, ſondern als Freiheit des Verſtandes empfangen ſie es, und ihren Dank richten ſie an den Unendlichen. Mit unſrer Pflanzenmutter aber können wir ſprechen, ſo oft es uns treibt, dem Gefühle Worte zu leihen, das dem Zuſammenhange des ganzen Geſchlechts im Bodengrunde der wurzelnden Rankenbäume gilt. Denn dort liegt unſre Kraft. Sie hat uns hervorgebildet aus der heiligen Urmutter unſres Sternes und uns den Vorrat dauernder Lebensmacht mitgegeben, ihn fröhlich zu nutzen in Luft und Arbeit des Geiſtes.“ „So laß uns aufbrechen, Fänu, zu deiner Mutter. Bio ſoll uns den Segen ſprechen über unſern Schatz, ehe wir ihn zurückgeben dem Grunde des Lebens, daß er wieder als Pflanze gedeihe und Kraft gewinne für unſre Enkel.“ Sie flogen weiter und hatten bald ihr Ziel erreicht. 15. Zur Erde Bio war ein ſtattlicher Baum in einem Haine gleichartiger Rankenbäume, an deren Zweigen ſich hier und da jene blauen Sporenbecher in verſchiedenen Entwicklungsſtadien zeigten. Die allgemeine Bezeichnung für die pflanzliche Stufe der den Neptunsmond bewohnenden lebenden Weſen iſt „Fyten“. Die Idonen pflegen ihre Fyten ehrfurchtsvoll. Sobald ſie irgend wo einen jungen Rankenbaum im Aufkeimen bemerken, ſorgen ſie für ſein weiteres Gedeihen. Nur die Ausſaat dieſer Keime ſelbſt, ob ſie überhaupt zu einer Entwicklung gelangen, überlaſſen ſie einer höheren Macht. Sie halten es für einen Frevel, hier in die unbekannten Pläne des Himmelskörpers mit ihrer eignen, doch immerhin beſchränkten Überlegung einzugreifen. Fänu und Fren ſenkten ihren Flug bis an die Wurzel des Baumes. Dort ließ Fänu ſich nieder. Sie blickte hinaus in das grünende Laubdach und hinab auf den Boden und ſagte dann: „Mutter, wir grüßen dich. Wir bringen zu dir zum erſten Mal das Geheimnis des Schleiers, damit du es ſegneſt, ehe wir es hinſenden auf die dunklen Wanderwege der Hoffnung.“ „Sei willkommen, Kind, und du, Fren, Genoſſe ihres Glücks und ihrer Freiheit.“ So ſprach Bio, langſam, wie Pflanzen pflegen. Es war eine feierliche Handlung, zu der ſie die Idonen empfing. Die ſchöne Freiheit beider Generationen kam ihnen hier zu erhebendem Bewußtſein, und die Pflanze fühlte ſich dabei im Stolze der Vermittlerin zwiſchen Natur und Würde. „Ich erwidere euern Gruß,“ fuhr Bio fort, „ich, die ich wachſe im Reiche der bauenden Welt. Euch baute ich empor aus der Tiefe des Planetenmondes, damit ihr lebt im goldenen Reiche des ſchönen Scheins. In euerm Denken ſchafft ihr eure Welt, euer ſpielendes Wollen iſt holdeſte Erfüllung des Gefühls. Was ihr tut, iſt des Planeten lebendig freie Freude. Ihr ſchwebt durch die Höhen, frohe Idonen, und Glück und Würde iſt in euch geeint. Mit euch erleb' ich Höhe und Glück. Freudig nun ſtreut aus der Gemeinſamkeit höchſte Blüte, ſtreut aus ins Unbeſtimmte zur Beſtimmung.“ „Wir danken dir, Mutter. Sage uns noch den Segen des ewigen Werdens!“ Wieder begann Bio: „Aufs neue erhebe ſich der Kreislauf. Ins Unbeſtimmte ſchweben die Zellchen des Lebens, die euerm ſeligen Bunde entſprungen ſind, ob ſie vergehen und einzeln ſchwinden, ob ſie beſtehen und wurzeln im Boden, der uns trägt. Nehme er gnädig und fördernd ſie auf, daß ſie gedeihen zum grünenden, blühenden Baume! Fülle er ſie wieder mit der Urkraft des Schaffenden, tränke er ſie mit der Seele des gemeinſamen Lebens aller Weſen, die im Sonnenreiche zuſammenwirken! Gehet hinaus, Endliches zum Unendlichen, daß es neu geboren kehre, Unendliches ins Endliche! Denn das iſt der Sinn des Gottes. Nicht uns läßt er leben, ſondern er lebt in uns, und wir ſind es, als die er ſich wandelt, der Schöpfende, von Wirklichkeit zum Spiel, vom Spiele zur Wirklichkeit. Werden und Scheinen iſt unſer Wandel, Götterleid und Götterluſt. Flieget empor, Fänu und Fren! Von der Höhe der Wolken gleite ſchwebend hinab die Frucht des ſeligen Scheins, um wieder zu werden und zu wachſen im Pflanzengrunde!“ Schweigend erhob ſich das Paar und flog weiter noch manche Strecke. Dann hielten ſie an und wandten ſich dem Planeten zu, deſſen Scheibe groß und ſtill in ihrem milden Lichte herüberſchien. In ihnen glühte der Stolz der Idonen, die Leben ausſtreuen zum Ewiglebenden, hingeben und nicht verlieren, was Leben iſt. Denn Leben iſt Schein und Schein iſt Leben. Nicht tötet eines das andere, beide ſind ſie das ewig Schaffende. Sie löſen ſich ab wie zwei treue Freunde in der Arbeit. So ſchreitet das Einzelbewußtſein, in dauerndem Wechſel immer neu ſich ſelbſt geſtaltend, von dem einen Reiche zum andern. Höher und höher arbeitet ſich in Leib und Seele die Anpaſſung des Lebendigen an gehofftes Unendliches, immer wieder neu ſich verjüngend im Pflanzenwachſtum, dann neu ſich erhebend im Reiche des freien Gedankens zur Götterwonne, und keine Träne fließt hier mehr dem Leiden. So deutet der Glaube der Idonen die Natur ihres Sternes. Fänu wehte mit dem Schleier zur Sonne hin — — Das Glück ſchwebte in der Luft. Ihr Glück im Herzen kehrten ſie heim. * Aus Fänus wehendem Schleier war ein durchſcheinendes Etwas hinausgeſchwebt ins Wolkenreich. Das löſte ſich auf in Millionen unſichtbarer kleinſter Zellchen, die Dauerſporen der Pflanze Bio vom Neptunsmond. Dieſe kleinen Körnchen beſaßen einen Durchmeſſer, der nur etwa den ſechstauſendſten Teil eines Millimeters betrug. Sie waren alſo kleiner als die Wellenlänge des Lichts und nahe an der Grenze deſſen, was das beſte Mikroſkop dem Menſchenauge noch zu zeigen vermag. Und doch waren ſie nicht kleiner als die kleinſten Pflanzenſamen, die auf der Erde vorkommen, und jedes umfaßte noch viele Millionen Molekeln. Die Schar dieſer kleinſten Hüllen ſchlummernden Lebens ſchwebte in der Atmoſphäre des Neptunsmonds. Lange mochten ſie hier verweilen, von jedem leiſeſten Luftzuge umhergetrieben und zerſtreut, und nur langſam, ganz langſam konnten ſie auf den Boden ſinken, wo dann einzelne ſo glücklich ſein mochten, auf fruchtbarem Lande ſich feſtzuſetzen und aufzuwachſen zum Rankenbaum. Weiter war der Mond auf ſeiner Bahn um den Neptun geſchritten, und einige der kleinen Wanderſporen waren auf die Nachtſeite geraten, die jetzt weder von der Sonne noch vom Planeten erleuchtet wurde. Hier kamen ſie in elektriſche Entladungen der hohen Schichten der Mondatmoſphäre, durch die ſie eine Abſtoßung erlitten und fort vom Monde und vom Planeten in den leeren Weltraum hinausgetrieben wurden. Aber auch der Weltraum iſt nicht ganz leer. Staubteilchen verſchiedener Größe, auf verſchiedene Weiſe verdunſtet und entflohen von den Weltkörpern, ſchweben darin umher. Je nach ihrer Maſſe werden ſie durch die Schwerkraft nach der Sonne hingezogen, oder ſie werden, wenn ſie zwiſchen gewiſſen Grenzen der Kleinheit liegen, durch den Strahlendruck der Sonne von ihr abgeſtoßen. Die Dauerſporen des Rankenbaums Bio beſitzen eine Größe derart, daß für ſie der abſtoßende Strahlendruck der Sonne, eine Folge der Energieſtrahlung dieſes heißen Weltkörpers, die Anziehungskraft der Sonne überwiegt. Sie wurden alſo von der Sonne fort in den Weltraum getrieben, aus dem Anziehungsbereich des Neptun und aus unſerm Sonnenſyſtem überhaupt hinaus, und mögen dort irgend einmal in die Herrſchaft eines fremden Sternes geraten. Einer aber dieſer kleinen Keime traf, als er eben weit genug vom Neptun entfernt war, um nicht wieder zurückzufallen, auf ein Staubteilchen, das ſeines Weges zur Sonne zog; denn dieſes war tauſendmal ſo ſchwer und groß als das Samenkörnchen. Freilich wollte das nicht viel ſagen; es blieb immer noch ſelbſt unſichtbar klein, da ſein Durchmeſſer nur den ſechshundertſten Teil eines Millimeters betrug; aber gegen das Samenkörnchen war es doch ein Rieſe. Die kleine Dauerſpore blieb an dem Staubteilchen haften. Dadurch wurde ſie mit ihm nach der Sonne hin angezogen. Sie trat ihre Reiſe nach dem Innern unſers Planetenſyſtems an. Genau läßt es ſich ausrechnen, wieviel Zeit ein Körnchen dieſer Größe braucht, um von der Nähe des Neptun der Sonne zuzufliegen. Nach einundzwanzig Jahren war es noch ſo weit von ihr entfernt wie der Planet Uranus, nach weiteren zwölf Jahren hatte es die Saturnbahn paſſiert, vier Jahre brauchte es noch bis zur Bahn des Jupiters, und zwei weitere bis es von der Sonne ſo weit abſtand wie der Mars. Bis jetzt war es glücklich ohne Aufenthalt mit immer gleichmäßig wachſender Geſchwindigkeit geflogen und hatte keinerlei Abenteuer erlebt. Keiner der Planeten, deren Bahnen es paſſierte, hatte es geſtört, denn ſie befanden ſich gerade auf weit entlegenen Strecken. Auch die vielen kleinen Aſteroiden waren ihm nicht gefährlich geworden, nur einer hatte ihm eine unbedeutende Abweichung verſetzt. Aber, ein Vierteljahr etwa, nachdem es die Marsbahn verlaſſen, näherte ſich das Staubteilchen mit ſeinem Sporenkörnchen einem größeren Planeten, der gerade auf die Stelle zueilte, wo es ſeine Bahn zu kreuzen hatte. Hier erhielt es eine ſtarke Ablenkung. Die Anziehung des kräftigen Planeten zwang es, ihm entgegenzueilen. Es ſchoß auf ihn zu und geriet zwiſchen die äußerſt dünn verteilten Molekeln ſeiner äußerſten Atmoſphäre. Es befand ſich auf der Erde. Die Dauerſpore des Rankenbaums Bio enthielt keine Spur von Feuchtigkeit. Infolge deſſen ſchadete ihr die Kälte des Weltraums nichts, ſo tief auch ſeine Temperatur ſank. Zwar ward das Körnchen von der Sonne beſtrahlt, aber bei ſeiner Kleinheit gab es dieſe Wärme ſogleich wieder durch Ausſtrahlung ab. So war es unverſehrt zwiſchen die äußerſten Schichten der Erdenluft gelangt. Beim weiteren Eindringen prallten immer mehr Luftteilchen auf das Staubkörnchen und erwärmten es ſtark. Dabei löſte ſich die Dauerſpore von ihrem Weltraumfahrzeug, dem Staubteilchen, ab und ſchwebte wieder auf eigene Fauſt in der Atmoſphäre. Sie vermochte einen guten Teil Stöße der Luftmolekeln zu vertragen. Ihre Kleinheit half ihr auch jetzt, ſo daß ſie ohne Gefährdung ſich der Temperatur der umgebenden Luft anpaßte. Unverſehrt und heil ſchwebte ſie über einem Waldgebirge. Wolken ballten ſich zuſammen, es regnete. Ein ſchöner runder Tropfen riß den Weltwanderer herab und klatſchte auf die Blätter einer alten Buche. Mehr und mehr Tropfen fielen und ſchwemmten die Spore abwärts bis auf den Boden. Unmittelbar an der Wurzel einer Efeupflanze, die an der Buche emporgeklettert war, haftete die Spore im erweichten Humusboden und kam zur Ruhe. Vierzig Jahre hatte die Reiſe gedauert. Aber auf ſolche Abenteuer ſind die Dauerſporen vieler Pflanzen eingerichtet. Bios Samenkörnchen hatte die Zeit glücklich überſtanden, ohne ſeine Keimkraft einzubüßen. In tiefſtem Schlummer lagen in ihm alle Energien, ſich gegenſeitig im Gleichgewicht ihrer Spannungen haltend. In ihnen waren in ruhendem Zuſtande die Spuren des Lebens bewahrt, die ſich dem Geſchlechte der Pflanzen auf dem Neptunsmond eingegraben hatten in Billionen Jahren, von jenen Urzeiten, in deren Verlauf ihre Vorfahren allmählich bis zu den Müttern des Idonengeſchlechts aufgeſtiegen waren, bis zu den Erlebniſſen ihrer unmittelbaren Eltern, Frens und Fänus. Natürlich nicht alle, aber alle die, welche erforderlich waren, um die Lebensprozeſſe zu wiederholen, deren Ergebnis ſich als Aufbau eines Rankenbaumes vom Geſchlechte Bios zeigte. Es war nur nötig, daß die äußern Bedingungen eintraten, jene Prozeſſe auszulöſen, die ſchlummernden Spannungen zu erwecken und neue Energien in ihren Wirkungskreis hineinzuziehen. Und die Zeit kam. Die Feuchtigkeit des Bodens lockerte die feſte Hülle der Spore. Zahlloſe Bakterien begannen ihre Zerſetzungsarbeit in der Umgebung. Die Zelle vom Neptunsmond regte ſich in der Fremde. Sie wuchs, teilte ſich, teilte ſich wieder, und die neue Genoſſenſchaft kam zum Lichte. Die erſten grünen Körnchen färbten das erſte Blättchen. Ein junges Biopflänzchen war aufgeſproſſen auf Erden. Mühſam war ſein Lebenswerk. Der Buchenſchatten und die Deckung durch den Efeu ſchützten es, ſonſt hätte es ſich in der Sonnennähe des Erdplaneten nicht halten können. Die Stärke der Schwerkraft zog es zur Erde nieder, als Ranke mußte es am Boden kriechen, das ſich auf dem Saturnsmond ſtolz als Baum in die Höhe gerichtet haben würde. Aber doch hatte es die Bedingungen günſtig getroffen. Am Efeu konnte es ſich von der Bodennäſſe emporrichten. Brutknoſpen wuchſen hervor, fielen ab und wurden von Wind und Waſſer zerſtreut. Im Winter ruhte alles. Jedoch im Frühjahr grünte die Pflanze wieder auf und ſtrebte kräftiger zur Höhe. Wo Brutknoſpen zufällig unter eine Efeupflanze geraten waren, ſproßten aus ihnen neue Rankenpflänzchen empor. So gab es einzelne Stellen im Walde am Rieſengrab, wo Nachkommen Bios, der Pflanze vom Neptunsmond, gediehen. Noch war ſie von keinem Menſchen bemerkt, unſcheinbar unter dichtem Efeu verſteckt. Aber im zweiten Jahre entwickelte ſich etwas Neues. Blaue Glöckchen brachen hier und da an den Ranken der Pflanze hervor. Sie bereitete ſich, das neue Geſchlecht zu erzeugen, die Idonen, die als freie Vernunftweſen auf dem Neptunsmond herrſchen. Würden ſie auch auf der Erde beſtehen können? In dieſem Jahre kam es noch nicht dazu, die blauen Becher fielen ab, die ſilberweißen Fäden, die ſich gezeigt hatten, verdorrten. Aber im folgenden Frühjahr ſproßten neue Kapſeln hervor und öffneten ſich. Die Pflanze hatte ſich jetzt ſchon weiter verbreitet. Denn die ſchönen blauen Becher waren einem jungen Mädchen aufgefallen; ſie hatte Ableger der Ranken unter Efeupflanzen gezogen. Die fremde Pflanze aber nannte ſie Sternentau. Auch in ihrem Zimmer wuchs ein ſolches Pflänzchen mit blauen Kapſeln. Und als der Juni ins Land kam, öffneten ſich die Becher, die freilich nicht die Größe gewonnen hatten, wie in ihrem Urſprungslande. In einer warmen Sommernacht wuchs es zuerſt an einem geöffneten Becher im Schutze des Zimmers ſchwellend hervor und trennte ſich von der Pflanze, noch unbemerkt von dem Mädchen, ein ſchwach leuchtendes Weſen, eine ſchwebende Elfe, Fänus Enkel, die erſte Idone auf der Erde. Und in den folgenden Nächten kamen nach und nach immer mehr der pflanzenſprachkundigen Vernunftweſen hervor, auf dem Friedhof, im Schlafgemach und zuletzt an der Stammutter beim Rieſengrab. Die junge Idone — denn es war ein Idone weiblichen Geſchlechts — fand zwar, als ſie zur vollen Entwicklung gekommen war, die Überlieferung des Idonentums in ſich vor, die durch die Spore vom Neptunsmond mitgebracht war, aber alles, was ſich auf die Erde bezog, war ihr natürlich vollkommen fremd. Denn ſolange der Sternentau es nicht ſelbſt bis zur Produktion von Idonen gebracht hatte, war ihm auch eine irgendwie nähere Verſtändigung mit den Pflanzen der Erde nicht möglich. Das änderte ſich jetzt. Der Sternentau vermochte mit dem Efeu zu ſprechen und konnte nun den Idonen übermitteln, was er von den Pflanzen der Erde erfuhr. Allerdings wußte gerade Kitto, der Efeu in Hardas Zimmer, verhältnismäßig wenig von der Pflanzenwelt draußen; denn da die Sprache durch die Wurzeln im Boden vermittelt wurde, die hier infolge der künſtlichen Einpflanzung und Hegung im Zimmer von der Muttererde getrennt waren, ſo blieb der Verkehr zwiſchen Kitto und Ebah eigentlich auf die Stunden beſchränkt, in denen der Efeu einmal bei Regen in den Garten geſtellt wurde. Aber der Sternentau hatte jetzt die Sprache der irdiſchen Pflanzen durch Kitto gelernt, und dies genügte, um der jungen Idone den Verkehr mit den Pflanzen der Umgegend zu ermöglichen. Nachdem es der Idone ſchmerzlich zum Bewußtſein gekommen war, daß ſie ſich unter völlig fremdartigen Verhältniſſen befand und daß ſie ganz allein ſtand, ohne jede Hilfe und Geſellſchaft gleichartiger Weſen, hatte ſie beim Morgengrauen durch das geöffnete Fenſter das Zimmer verlaſſen und war ſo Hardas Beobachtung entgangen. Harda fand nur die vertrocknete Kapſel. Unſichtbar ſchwebte die junge Idone durch die Luft und ſuchte nach dem Efeu am Rieſengrab, Kittos Mutter. Dort, ſo hatte ihr Kitto geſagt, würde ſie noch anderen Sternentau finden. Auch die geöffneten Kapſeln in Hardas Zimmer ließen ſie ſchon hoffen, daß ſie bald verwandte Weſen in dieſem fremden Lande beſitzen würde. Bis dahin traute ſie nach Idonenart auf die eigne Kraft und ſuchte ſich nach Möglichkeit über die Verhältniſſe zu unterrichten. Zunächſt gab ſie ſich ſelbſt einen Namen — denn das war das Recht der Idonen — und nannte ſich Ildu, das bedeutet in der Sprache der Idonen „die einzige“. Sie bemerkte ſogleich, daß ſie ſich gar nicht auf dem Neptunsmond befinden könne, denn die Helligkeit des Tages und die Schwere waren viel mächtiger. Da ſie aber bei ihrem Fluge nur von ihrem relativen Gewicht zur Luft abhängig war, und die Luft von nahezu gleicher Zuſammenſetzung zu ſein ſchien wie auf dem Neptunsmond, ſo erſchwerte ihr dies die Bewegung nicht weſentlich. Nach längerem Suchen war ſie zur Buche gelangt und hatte dort durch Ebah und Bio auch von Harda gehört und über die Menſchen einiges erfahren, ſoweit die unklaren Vorſtellungen der Pflanzen das geſtatteten. Sie war dann in Hardas Zimmer zurückgekehrt, und als dieſe ſelbſt dort eingetreten war, hatte ſich Ildu für kurze Zeit auf Hardas Haupt niedergelaſſen. Zufällig geſchah dies in dem Augenblicke, als Ildu zu Kitto über ihre Unterredung im Walde ſprach, worin Ebah ihrer Liebe und Sorge für Harda Ausdruck gegeben hatte. Bei dieſer Berührung fiel es Ildu auf, daß in ihr ganz neue Gedanken geweckt wurden, die nur von einer Gegenwirkung des menſchlichen Gehirnes ausgehen konnten, ſie wußte jedoch nicht, daß gleichzeitig in Harda die Gedanken Ildus in menſchlicher Vorſtellungsform reproduziert wurden. Ildu war in gewiſſem Sinne nicht weniger überraſcht und erſchrocken als Harda bei dieſem ihrem erſten „Anfall“, nur daß dieſe von der Exiſtenz der Idone nichts wußte. Aber auch der Menſch war für Ildu ein vollſtändig rätſelhaftes und unheimliches Weſen. Die Idone zog ſich aus dem Hauſe zurück und beſchloß, in ſtillem Nachdenken nach Idonenart für ſich zu verweilen, bis ſie Genoſſen fände, mit denen ſie ſich beraten könne. Doch flog ſie dabei aufmerkend in der Umgegend umher, lauſchte den Stimmen des Waldes und verſuchte in ihrer lebhaften Phantaſie zu ermitteln, auf welchen Planeten ſie wohl geraten ſei. Alles war ſo maſſig und ſchwer, blendend war der Tag, aber um ſo dunkler die Nacht. Müde wirbelten ihre Ruderfüßchen durch die Erdenluft. In der nächſten Nacht endlich, als ſie den Sternentau beſuchte, von dem ihr der Efeu unter der Buche geſagt hatte, daß er unter Hedo auf einem grünen Hügel wachſe, da jubelte ſie auf; da fand ſie eine Anzahl junger Idonen, die eben ihre Kapſeln verlaſſen hatten, und in ihren Reigen ſich miſchend konnte ſie den Erſtaunten ſchon manch wichtige Aufklärungen erteilen über die plumpe und rohe Welt, in der ſie ſich fanden. Viel Erfreuliches ergab ſich dabei freilich nicht. Zeigte ſich doch die Körpergroße der Idonen hier geringer, als ſie nach der ererbten Vorſtellungsweiſe in ihrer Heimat zu ſein pflegte, während die Bodenformen viel gewaltigere waren. Die Idonen planten, daß ſich ein Teil von ihnen in der Umgebung von Bios Standplatz Wohnungen bauen ſollten, um eine Stammkolonie zu bilden; die übrigen wollten weiter hinaus zur Erforſchung der Menſchen ziehen unter Führung zweier Idonen, deren Namen Elſu und Gret waren. 16. Studien Wenn Kern einmal eine Sache in die Hand nahm, ſo geſchah es gründlich. Schon daß Harda eine noch unbekannte Pflanze gefunden hatte, intereſſierte ihn, und die vorſichtige und doch beſtimmte Art, in der ſich Eynitz bei ſeinem Abendbeſuche über den Sternentau ausſprach, gefiel ihm ausnehmend. So entſchied er ſich ſchnell, alle erforderlichen Mittel für die von Eynitz vorgeſchlagene Unterſuchung zu gewähren, wobei er noch beſonderes Gewicht auf die chemiſche Seite legte. Im Stillen wirkte dabei natürlich mit, daß er wußte, Harda damit eine Freude zu machen. Er hatte ſtets das Gefühl, daß er gar nicht genug tun könnte, Harda für das Opfer zu entſchädigen, das ſie ihm mit ihrem Verbleiben im Hauſe brachte, und ſo erfüllte er jeden ihrer Wünſche, den er nur erraten konnte. Und hier ſagte er ſich dabei, daß er ſo gewiſſermaßen ihr einen Erſatz für den Anfang ihres Studiums ſchaffe. Im Laufe des Geſprächs fragte er direkt, ob der Herr Doktor nicht bei dieſer Gelegenheit Harda das Mikroſkopieren beibringen könne. Natürlich erklärte ſich Eynitz gern bereit. Im Gebäude des Laboratoriums wurde nun ein geräumiges helles Zimmer ſpeziell zum botaniſchen Studium des Sternentaus eingerichtet. Zu den Verſuchen konnten nur völlig ausgebildete Exemplare benutzt werden. Sie wurden unter Efeu gepflegt, und die Beaufſichtigung dieſes Teils lag ſpeziell Harda ob. Sie benützte dazu hauptſächlich die Zeit, in welcher Eynitz durch ſeine Praxis beſchäftigt war. Er war gewohnt, ſchon am frühen Morgen im Laboratorium zu arbeiten und dann ſeinem ärztlichen Berufe nachzugehen. Während ſeiner Abweſenheit erſchien Harda im Laboratorium, ſorgte für die Pflanzen und führte ein Protokoll über deren Entwicklung. Da gab es immer allerlei zu tun und zu üben. Ganz beſondere Freude machte ihr das Zeichnen nach dem Mikroſkop. Wenn Eynitz vor ſeiner Sprechſtunde noch einmal im Laboratorium nachſah, fand er Harda gewöhnlich noch anweſend; denn es bedurfte ja gemeinſamer Beratungen, Mitteilungen, Anweiſungen und Pläne. Häufig kam auch der Chemiker Dr. Emmeier hinzu, der ſich vorläufig um die photographiſchen Arbeiten Verdienſte erwarb. Am Nachmittag pflegte das Laboratorium ſich ſelbſt überlaſſen zu bleiben. Aber bei Einbruch der Dunkelheit, die freilich jetzt recht ſpät eintrat, erſchien Eynitz nochmals, ſchloß die Fenſterläden und beobachtete unter Ausſchluß des Lichtes. Dabei hatte er ſchon einige Male die Entwicklung ſelbſtleuchtender „Elfen“ verfolgt — der Bequemlichkeit wegen hatte auch er ſich an dieſe Bezeichnung für die Weſen, die ſich ſelbſt Idonen nannten, gewöhnt — aber ſtets waren ſeine Bemühungen, ſie feſtzuhalten, vergeblich geweſen. Er mußte daraus ſchließen, daß ſie imſtande waren, ſeine Maßnahmen zu bemerken und ſich ihnen durch Unſichtbarwerden zu entziehen. Die merkwürdigen Weſen wirkten auf ſeine Einbildungskraft ſo mächtig, daß er es bisher nicht über ſich gebracht hatte, ſie gewaltſam anzugreifen. Diejenigen Pflanzen aber, die in den verſchloſſenen Apparaten gezogen wurden, waren noch nicht zur Reife ihrer Sporenkapſeln gelangt, doch ſchienen ſie nunmehr nahe davor zu ſtehen. Eynitz hoffte dann, von den Gefangenen zuverläſſige Photographien aufnehmen zu können; denn was er bisher erhalten hatte, war meiſt undeutlich und verwaſchen geweſen. Auch waren die bisherigen Films für dieſen Zweck nicht geeignet. Jetzt aber waren die beſtellten lichtempfindlicheren Platten eingetroffen, und man hatte die erſten Aufnahmen an einer ſich eben entwickelnden Kapſel gemacht. Während dieſe Studien in der Hauptſache ein Privatintereſſe von Harda und Eynitz darſtellten, wurde doch nicht außer acht gelaſſen, daß der Direktor der Hellbornwerke insbeſondere eine techniſche Verwendbarkeit für die neue Pflanze im Auge hatte. Man mußte daher jetzt ſchon daran denken, genügendes Pflanzenmaterial zu beſitzen, falls ſich im Laufe der Laboratoriumsarbeiten ergeben ſollte, daß man zu praktiſchen Erfolgen gelangen könne. Daher wurden an geeigneten Stellen im Freien Anpflanzungen von Sternentau angelegt. Das war für Harda freilich ein ſchmerzlicher Entſchluß, eine Art Profanation ihrer Lieblinge. obwohl natürlich von der Eigenart der Pflanzen nicht geſprochen wurde. Sie tröſtete ſich damit, daß ſchließlich das Geheimnis der „Elfen“ ihr doch bleiben würde. An ihnen hing ihr Herz. Die ſtillen Stunden im Laboratorium waren für Harda die liebſten am Tage. Das war eine Tätigkeit, die ſie befriedigte, obwohl bis jetzt gerade noch nicht viel für die Löſung der eigentlichen Frage dabei herausgekommen war. Aber man ſtand ja doch auch erſt in den Vorbereitungen. Trotzdem war ſie ſich bewußt, nicht nur vielerlei Praktiſches in der Handhabung der Apparate, ſondern auch Theoretiſches durch Eynitz' beiläufige Erklärungen gelernt zu haben. Der Werner Eynitz war wirklich nett und liebenswürdig und anſpruchslos — es war doch etwas ganz andres, bei der Arbeit kameradſchaftlich mit dieſem verſtändigen Manne zu verkehren als nur in der Geſellſchaft mit den Herrn zu reden, wo die Unterhaltung Selbſtzweck und das Kurmachen auf die Dauer langweilig war, wenn man nicht wirklich ein Herzensintereſſe dabei hatte. Allerdings — manchmal — manchmal wurde ihr ſo ſeltſam zu Mute — aber nein, das lag nur an der merkwürdigen Stimmung, die ſie beide hier überkam. Das war wie eine Forſchungsreiſe in ein unbekanntes Märchenland, in das Elfenreich, wo geheimnisvolle Geſtalten plötzlich auftauchten und wieder ins Unſichtbare verſchwanden. Glücklicherweiſe war ſie von den ſeltſamen Anfällen, in denen ſie glaubte, die Pflanzen ſprechen zu hören, nicht wieder heimgeſucht worden. Waren die Elfen ausgewandert? Sie hatte ſie nicht mehr im Dunkeln leuchten ſehen. Und die neuen hier im Laboratorium, die wollte ſie ſchon in Zucht halten! Harda war wieder einmal durch häusliche Geſchäfte und einen Beſuch aufgehalten worden, ſo daß ſie ſpäter als gewöhnlich ins Laboratorium kam. Als ſie beim Hausdiener den Zimmerſchlüſſel in Empfang nahm, erfuhr ſie, daß der Herr Doktor heute noch gar nicht hier geweſen ſei, aber allerdings habe er die Nacht hindurch bis gegen Morgen gearbeitet. Im Arbeitszimmer angelangt erkannte Harda bald, was Eynitz zu ſeiner nächtlichen Arbeit veranlaßt haben mochte. Bei der Unterſuchung der Sporenkapſeln zeigte ſich, daß nicht nur von den offenſtehenden zwei vertrocknet waren, ſondern auch eine, die in einem der Käſten eingeſchloſſen war. Die Fäden in den Kelchen waren verſchwunden. In der Tat hatte Eynitz ſpät am Abend den Beginn der Entwicklung beobachtet und nun den ganzen Verlauf abgewartet, um ihn photographiſch feſtzuhalten. Harda unterſuchte den Verſchluß des Glaskaſtens und überzeugte ſich, daß er nicht geöffnet war. Ein Stückchen Papier, das ſie ſelbſt ſo angeklebt hatte, daß es bei einer Öffnung durch unbefugte Neugierige zerreißen mußte, war unverletzt. Demnach mußte ſich die junge „Elfe“ noch innerhalb des Glaskaſtens befinden, obwohl ſich durchaus nichts von ihr ſehen ließ. Jedenfalls war ſie, nachdem die Entwicklung ihren Abſchluß erreicht hatte, wie gewöhnlich unſichtbar geworden und Eynitz hatte ſeine weiteren Arbeiten zunächſt eingeſtellt. Als Harda ſich niederbückte und nochmals genaue Umſchau hielt, bemerkte ſie zwiſchen dieſem und dem benachbarten Kaſten einen Zettel, auf dem von Eynitz die Worte geſchrieben waren. „Bitte Kaſten Ⅲ keinesfalls zu öffnen. Darin entwickelter Gametophyt, ſeit 3 Uhr 15 Minuten früh unſichtbar.“ Der Zettel war offenbar für Harda beſtimmt und auf den Kaſten gelegt worden. Sie war aber ſicher, daß er bei ihrem Eintritt ſich nicht mehr dort befunden hatte, er mußte durch irgend einen Umſtand herabgeworfen ſein. Natürlich betrachtete Harda nun erſt recht geſpannt den Inhalt des Elfengefängniſſes. Helles Tageslicht lag darüber, man konnte auch unter die Efeublätter blicken, aber nirgends war eine Spur des Bewohners zu entdecken. Da kam Harda auf den Gedanken, jetzt bei dieſer hellen Beleuchtung eine photographiſche Aufnahme zu machen und zwar mit Abblendung der Strahlen von Rot bis Grün. Vielleicht zeigte die Platte mehr, als das Auge ſehen konnte. Sie ſtellte den Apparat zurecht. Bei der Wahl der Blende fühlte ſie ſich nicht ganz ſicher und griff daher nach der gedruckten Anweiſung, um die betreffende Stelle nachzuleſen. Hierbei ſetzte ſie ſich auf einen der vor dem Arbeitstiſch ſtehenden Stühle und begann in dem Büchlein zu ſuchen. Plötzlich empfand ſie an ihrer Stirn den kühlen Hauch, den ſie von früher her kannte — ſie erſchrak und griff mit den Händen nach ihrem Kopfe, indem ſie das Buch fallen ließ. Aber ihre Hände fuhren ſogleich zurück, wie von einem elektriſchen Schlage durchzuckt. Sollte ſie den Anfall über ſich ergehen laſſen? Sie fühlte die Kraft ihrer Selbſtbeſtimmung ſchwinden und erwartete, wieder eine Pflanze vor ſich zu ſehen und zu hören. Aber ſie ſah nur den Kaſten Nummer Ⅲ, und dieſen immer ſchärfer. Es war ihr, als ſollte ſie ihn öffnen. Unwiderſtehlich ergriff ſie der Trieb, hinzugehen und den Verſchluß zu löſen. Aber mit dem deutlichen Bilde des Kaſtens ſah ſie auch jetzt den Zettel, den ſie wieder darauf gelegt hatte, mit Eynitz' Bitte, keinesfalls zu öffnen. Widerſtehen, der Suggeſtion widerſtehen — nur nicht an den Sternentau denken! Die Gedanken konzentrieren — auf etwas Liebes — auf was? Eine unnennbare Angſt ergriff ſie — Hilfe! Wer hilft? Geo! Geo! Vor ihre Phantaſie zwang ſie das Bild des alten Freundes, ſie ſah ſein liebes, trautes Geſicht, ſie vernahm ſeine Stimme. „Ruhig, ganz ruhig — ſitzen bleiben — ich komme!“ Der Trieb aufzuſtehen und den Kaſten zu öffnen verſchwand — aber die Tür des Zimmers hörte ſie gehen — war es wirklich Geo? Auf einmal ſchrak ſie zuſammen — ſie fühlte ein Tuch über ihrem Kopfe und ſchrie auf, fuhr empor — Zugleich vernahm ſie einen zweiten Ausruf unwilligen Erſchreckens, ſie öffnete die Augen, und vor ihr ſtand Eynitz, ein Handtuch in den leicht erhobenen Händen, das er jetzt eilend fortwarf, um Hardas Arme zu faſſen und ſie, die vom Stuhle zu gleiten drohte, beſorgt und vorſichtig aufzurichten. Jetzt wußte ſich Harda wieder völlig klar, aber ſie hielt ganz ſtill und wartete, denn Eynitz fühlte ihren Puls; es dauerte ziemlich lange. Sie beobachtete ſein Geſicht, aus dem die Beſorgnis wich — ſie begann den Vorgang zu begreifen und lächelte. „Habe ich Sie erſchreckt?“ fragte Eynitz. „Verzeihen Sie mir. Wie fühlen Sie ſich?“ Harda ſprang auf. „Ich danke Ihnen, danke Ihnen herzlich. Haben Sie ſie?“ „Leider nicht,“ antwortete Eynitz, jetzt ebenfalls lächelnd. „Aber die Hauptſache iſt, daß Sie wieder wohl ſind — Sie haben Elfenbeſuch gehabt — haben Sie ſich geängſtigt?“ „Ja, aber Ihr Mittel hat geholfen. Ich habe an — ich habe meinen „ſittlichen Willen“ zuhilfe gerufen. Aber bitte, erzählen Sie doch, was iſt eigentlich geſchehen? Was haben Sie mit mir gemacht?“ Eynitz war, noch während er ſprach, an die Waſſerleitung getreten und ließ einen leichten Strahl über ſeine Hände laufen. Zugleich ſpürte Harda den ſcharfen Geruch von Salmiakgeiſt. Sie wollte noch weiter fragen, aber ſchon antwortete er. „Ich bin heute ſpät aufgeſtanden, weil ich erſt um vier Uhr zu Bett gekommen bin — darüber ſpäter. Daher ging ich zunächſt in die Praxis. Als ich nun hierher kam — ich wußte ja, daß Sie ſchon im Laboratorium ſind — und die Tür öffnete, blieb ich zunächſt ſtarr vor Schreck ſtehen. Ich ſehe Sie mit nach hinten geſunkenem Kopfe auf dem Stuhle, wie es ſcheint, ohnmächtig liegen. Die Augen ſtarr, die Lippen —“ „Abſcheulich! Seien Sie ſtill!“ rief Harda zwiſchen Weinen und Lachen. „Verzeihen Sie,“ ſagte Eynitz. „Sie können ſich denken, wie mir zumute war — vielleicht auch nicht. Zum Glück fiel mir im Augenblick ein, was hier vorliegen dürfte. Sie hatten mir ja geſchildert, wie die Anfälle beginnen, die Sie den „Elfen“ zuſchreiben. Handelte es ſich um einen ſolchen, ſo mußte ſo ein Ding auf Ihrem Kopfe ſitzen. Sehen konnte ich natürlich nichts. Zu überlegen hatte ich keine Zeit, denn ich mußte Ihnen beiſpringen. Ich riß eines der Handtücher herab, die hier hängen, warf es Ihnen über den Kopf und griff zugleich mit beiden Händen ſo zu, daß ich das Ding notwendig gefangen haben mußte, wenn es dort ſaß. Und wirklich, ich fühlte einen weichen, mit großer Kraft ſich zwiſchen meinen Händen windenden Gegenſtand. Ich wollte ihn feſthalten, aber plötzlich empfand ich einen ſo brennenden Schmerz, daß es mir nicht möglich war — ich mußte die Hände öffnen, und in dieſem Augenblicke kamen Sie zu ſich. Ich eilte zu Ihnen — da liegt das Handtuch — Sehen Sie, hier und hier — das ſind Spuren wie von einer ätzenden Säure, die kann nur die Elfe ausgeſpritzt haben —“ „Sind Sie verletzt?“ fragte Harda ängſtlich. „Ich habe gleich tüchtig mit Waſſer geſpült und mit Ammoniak nachgeholfen — etwas Rötung. Ich glaube, es iſt nicht ſchlimmer, als wenn man einmal in Neſſeln gegriffen hat. Im erſten Augenblick allerdings wirkte der Schmerz lähmend. Doch vor allem, fühlen Sie keinerlei üble Folgen?“ „Durchaus nicht. Aber bitte — haben Sie, als Sie mich erblickten, die Worte gerufen: ‚Ruhig, ruhig, ſitzen bleiben!‘ Denn die hörte ich.“ „Ich glaube wohl. Ich wollte das Ding fangen. Ich meine, es war von allergrößter Wichtigkeit, zu konſtatieren, ob die Anfälle wirklich mit den Elfen zuſammenhängen.“ Harda lachte. „Alſo erſt das Experiment, dann der Patient!“ „Fräulein Harda!“ ſagte der Doktor vorwurfsvoll bittend. „Sie hatten ja ganz recht. Übrigens habe ich Ihre Stimme nicht erkannt. Schade, daß uns die Elfe entwiſcht iſt“ Eynitz blickte im Zimmer umher. „Wo mag das Bieſt nun ſitzen?“ ſagte er. „Na, die im Kaſten Nummer drei iſt uns ſicher. Sie haben den Zettel jedenfalls gleich geſehen.“ Harda berichtete, wie es ihr ergangen war. Sie hatten neben einander am Tiſche Platz genommen. Eynitz ſtützte nachdenklich den Kopf in die Hand. Auch als Harda ſchwieg, ſprach er noch nicht. Dann fragte er endlich: „Von Pflanzen haben Sie diesmal nichts geſehen?“ „Nein, ich ſah nur dieſen Kaſten. Ich hatte durchaus die Vorſtellung, daß ich ihn öffnen müßte, und ich bin nicht ſicher, ob es nicht doch dazu gekommen wäre, wenn Sie der Sitzung nicht ein Ende gemacht hätten. Was denken Sie nun davon?“ „Die Sache wächſt mir über den Kopf,“ erwiderte Eynitz bekümmert. „Sie wiſſen, daß ich bis jetzt immer noch geneigt war, die Gametophyten des Sternentaus nur für eine freilich noch ganz unbekannte Zwiſchengeneration dieſer unerforſchten Pflanze zu halten. Ihnen überhaupt Bewußtſein, geſchweige denn Intelligenz zuzuſprechen, ſchien mir kein Grund vorzuliegen; ſelbſt Ihre Anfälle ließen ſich noch als ſubjektive Erſcheinungen erklären. Aber das heutige Ereignis macht dies unmöglich. Sie haben erwartet, ein Geſpräch des Efeus zu hören oder dergleichen, Sie wollten den Kaſten nicht öffnen — wie kommen Sie nun auf dieſe Suggeſtion? Die Elfe auf Ihrem Kopfe hat ſie hervorgebracht, darüber kann kein Zweifel ſein, das beweiſen meine Hände —“ „Meine Haare ſind jedenfalls nicht ſo brennend, Sie halten ſie ja ſogar für grün.“ „Ich habe den Widerſtand unter dem Tuche deutlich gefühlt. Und niemand kann ein Intereſſe haben, den Kaſten zu öffnen, als die Elfen des Sternentaus. Das ſetzt aber voraus, daß ſie wiſſen, es befindet ſich ein Gefangener darin; ferner daß ſie ſchon verſucht haben, ihn zu befreien; dabei mag der Zettel herabgeſtoßen worden ſein; daß ſie die Öffnung nicht zuſtande brachten; daß ſie wiſſen, wir können den Kaſten aufſchließen. Ja das Merkwürdigſte — ſie müſſen wiſſen, daß ſie die Macht haben, Ihnen Vorſtellungen zu ſuggerieren. Sie wollten Sie zwingen, den Verſchluß aufzuheben. Das alles — Fräulein Harda — es iſt ganz gegen meine Naturauffaſſung, aber nur die Erfahrung kann entſcheiden. Auch ich muß jetzt annehmen, daß die Elfen des Sternentaus intelligente Weſen ſind. Doch wie iſt das möglich? Wo ſtammt überhaupt die Pflanze her? Sie ſagten einmal —“ „Nicht von der Erde — aber da wurde ich — hm — ziemlich kräftig zurecht gewieſen.“ Eynitz ſah ſie bittend an. „Ich muß geſtehen,“ ſagte er etwas verlegen, „die Sache ſteht jetzt anders. Leider anders.“ Er ſtützte den Kopf in die Hand und ſchüttelte ihn leiſe. „Damals glaubte ich, es einfach mit einer biologiſchen Frage zu tun zu haben. Jetzt iſt es bewieſen, daß es ſich um intelligente Weſen handelt. Das Problem verſchiebt ſich. Ich komme zu Hypotheſen, vor denen ich mich ſcheue.“ „Nun alſo, woher ſtammt der Sternentau?“ fragte Harda mit ſtillem Triumphe. „Nicht von der Erde, das muß ich jetzt zugeben. Daß eine derartige Entwicklung auf Erden nicht möglich iſt, habe ich ſchon öfter betont. Daß ſie da iſt, läßt ſich nicht mehr leugnen. Alſo ſtammt der Sternentau von einem andern Planeten. Die Vermutung iſt nicht ſo phantaſtiſch, wie Sie vielleicht meinen. Die Anſicht, daß ſich Keime durch den Weltraum verbreiten können, wird von den namhafteſten Forſchern vertreten. Svante Arrhenius z. B. hat genau ausgerechnet, wie lange eine Dauerſpore von genügender Kleinheit brauchen würde, um von der Entfernung des Neptun bis zur Erde zu gelangen. Von welchem Planeten der Sternentau ſtammt, wird ſich natürlich nie nachweiſen laſſen.“ „Wenn die Marsbewohner kommen, vielleicht wiſſen die's.“ Eynitz lächelte trübe und fuhr fort: „Immerhin liegt hier der bisher einzige Fall vor, daß die Einführung eines Keims von nicht irdiſchem Urſprung ſich nachweiſen läßt. Schließlich — wir haben ja nur die Tatſachen feſtzuſtellen. Aber darin ſteckt das Entmutigende, über das ich nicht fortkann. Sind dieſe Elfen wirklich intelligente Weſen, wie dürfen wir ſie dann einfach als Objekte des Verſuchs behandeln? Sie ſtehen über den Tieren, ſie gleichen uns — nehmen wir das einmal vorläufig an, möglich wäre es — darf ich ſie dann ſchlechtweg töten, um ſie zu ſtudieren? Mir widerſtrebt es, dann mit Gewalt gegen ſie vorzugehen — und doch, was ſollen wir tun? Und wie wird man über mich herfallen, wenn ich ſolche Anſichten bekannt mache. Ich ſehe ſchon die Artikel ‚Der Spuk in den Hellbornwerken‘ und Ähnliches.“ Er ſprach nicht weiter. Harda reichte ihm ihre Hand hinüber und ſah ihn freundlich an. „Ich fühle mit Ihnen,“ ſagte ſie warm. „Warum ſollen wir uns die Elfen, ſie mögen nun ſein, wie ſie wollen — wenn es möglich iſt, ſich mit ihnen zu verſtändigen in irgend einer Form — warum ſollen wir ſie uns zu Feinden machen? Warum nicht lieber zu Freunden? Und ehe wir hierin nicht klar ſehen, können wir ja die Sache für uns behalten. Es handelt ſich eben um kein naturwiſſenſchaftliches Problem, ſondern um ein pſychologiſches, und das iſt unſre Privatſache. Sie brauchen vorläufig gar nichts zu veröffentlichen. Ich bin für abwarten.“ „Es wäre mir auch das Liebſte, aber die Sache wird ſich herumſprechen. Ihr Herr Vater, der Herr Kommerzienrat, Dr. Emmeier und andre Herren aus der Fabrik kennen doch unſre Verſuche. Die Sache wird ſich herumſprechen.“ „Haben Sie ſchon zu irgend jemand anderem als zu mir über die vermutlichen geiſtigen Qualitäten der Elfen ſich geäußert?“ fragte Harda lebhaft. „Nein,“ antwortete Eynitz. „Ich glaube ja ſelbſt erſt ſeit der heutigen Erfahrung daran.“ „Nun alſo, ſo ſchweigen wir auch weiter davon, bis wir etwas Beſtimmteres wiſſen. Um was handelt es ſich denn für die andern? Um die ſeltſamen, durchſichtigen Früchte einer fremden Pflanze, die in der Luft umhertreiben, wie ſo viele Pflanzenſamen. Was aber wird hier im Auftrage der Hellbornwerke unterſucht? Eine neue Pflanze auf etwaige techniſche Verwendung. Da verſteht es ſich ſchon ganz von ſelbſt, daß niemand darüber reden wird, denn es handelt ſich einfach um ein Geſchäftsgeheimnis. Außerdem werde ich Vater nahelegen, das gelegentlich noch einmal zu betonen.“ „Und die Photographien?“ „Die Herren, die ſie zu ſehen bekommen, werden daraus weiter keine Schlüſſe ziehen können; im übrigen ſind ſie auch Geſchäftsgeheimnis. Emmeier wird vielleicht irgend etwas aus dem Sternentau herauskochen; bis dahin haben wir Zeit. Alſo ſorgen Sie ſich nicht. Laſſen Sie uns weiter arbeiten — d. h. arbeiten Sie weiter und laſſen Sie mich ein wenig teilnehmen.“ „Ich will,“ ſagte er herzlich. „Und — wahrhaftig — über dem Zwiſchenfall hätte ich beinahe vergeſſen, daß ich ja etwas Neues mitbringe. Emmeier muß fabelhaft fleißig geweſen ſein. Eben als ich kam, ſchickte er dieſes Päckchen herüber und ließ ſagen, er hätte von all den Aufnahmen, die ich ihm heute in aller Frühe überſandt hatte, ſchon Probe-Abzüge hergeſtellt. Da müſſen wir doch einmal ſehen.“ Er hatte das Päckchen geöffnet. „Da ſind zunächſt die ſtereoſkopiſchen mit den farbenempfindlichen Platten. Und hier — da ſind auch die vom Kaſten Ⅲ während der Entwicklung der ſelbſtleuchtenden Elfen, und dann habe ich noch ein paar mal im Finſtern auf gut Glück geknippſt — das kann ja nichts geworden ſein —“ Harda war aufgeſtanden, um das Stereoſkop zu holen. Eynitz betrachtete ſchon eines der Bilder ohne ein Wort zu ſprechen. Sie blieb neben ihm ſtehen und ſah mit auf das Bild. „Da — da iſt ja aber etwas darauf,“ ſagte ſie ganz erſtaunt. Eynitz' Hand zitterte leiſe. Das dünne Papier glitt aus ſeinen Fingern und rollte ſich zuſammen. „Ich will es aufſpannen,“ ſagte er. Schnell hatte er es mit Reißzwecken auf einem Stück Pappe befeſtigt. Harda nahm es in die Hand und trat damit ans Fenſter. Eynitz blickte ihr über die Schulter. Auf dem durchaus dunklen Blatte erſchienen nur an der einen Seite zwei hellere Flecke. „War es ganz finſter im Zimmer?“ fragte Harda. „Vollſtändig. Die Läden waren geſchloſſen, nirgends ein Reflex. Ich hatte die Camera auf den Kaſten Ⅲ eingeſtellt und dann das Licht ausgedreht. Zufällige Flecke können es nicht ſein. Es ſieht aus wie eine ſchwebende Figur, darüber eine ſitzende. Ich kann nichts anderes annehmen, als daß es zwei „Elfen“ ſind, von denen ultraviolette Strahlen ausgingen, die auf die Platte wirken, während ſie unſer Auge nicht wahrnimmt. Es würde mich ja nicht wundern; waren doch die Bilder der ſich entwickelnden ſelbſtleuchtenden Elfen viel ſtärker, als nach dem optiſchen Eindruck auf unſer Auge zu erwarten war.“ „Sie ſchrieben das ja ſchon damals chemiſch wirkſamen Strahlen zu. Die untere Figur gleicht völlig den ſchwebenden Geſtalten, wie ich ſie in meinem Zimmer leuchtend erblickt habe. Aber ſehen Sie doch, der Schleier ſieht wie gemuſtert aus — geben Sie mir einmal eine Lupe.“ Harda blickte lange durch das Glas. Dann reichte ſie es mit dem Bilde an Eynitz und ſagte: „Das Bild zeigt verſchiedene feine Einzelheiten. Aber prüfen Sie erſt. Ich will noch nicht ſagen, was ich denke — es iſt vielleicht dumm. Übrigens, Sie hatten doch noch eine zweite Dunkelaufnahme.“ „Das Bild liegt auf dem Tiſche.“ Eynitz vertiefte ſich in die Unterſuchung, während Harda die andere Photographie mit einer zweiten Lupe betrachtete. „Dieſe iſt noch viel deutlicher als die erſte,“ rief ſie endlich. „Nun, was meinen Sie?“ „Schauen Sie einmal dort auf das Drahtgeflecht des Kaſtens,“ ſagte Eynitz. „Nicht wahr?“ rief Harda eifrig. „Das dunkle Muſter auf dem Schleier iſt die Abbildung des Drahtgeflechtes. Die untere Elfe befand ſich alſo hinter dem Gitter im Kaſten. Der dunkle Raum zwiſchen beiden Figuren iſt die Holzkante des Deckels. Sie verdeckt den oberen Teil der ausgeſtreckten Arme. Und die andere Elfe ſitzt oder kauert auf dem Deckel, außerhalb des Kaſtens.“ „Und Sie können ſogar erkennen, an welcher Stelle das war. Hier iſt eine Unregelmäßigkeit im Geflecht und ein vorſtehendes Drahtende. Mit der Lupe können Sie es auf dem Schleier ſehen. Daß der Schleier auch leuchtet, darf uns nicht wundern — woher das kommt, wiſſen wir freilich nicht.“ „Nun nehmen Sie nur einmal das zweite Bild. Hier ſchweben beide ſcheinbar nebeneinander, aber die eine innerhalb, die andere außerhalb des Gitters auf unſrer Seite. Sie arbeiten, wie es ſcheint, an den Drähten und machen Befreiungsverſuche. Hier ſieht man die Köpfe noch deutlicher. Sie tragen Kronen, fünfzackige — mit der Lupe ſieht man's.“ „Ja,“ bemerkte Eynitz, „man erkennt einige Details des Körperbaus. Dieſe Zinken am Kopfende ſind jedenfalls Sinnesorgane oder Verteidigungsorgane. Ich will das Bild neben dem andern befeſtigen.“ Harda ſetzte ſich an den Tiſch und begann die ſtereoſkopiſchen Aufnahmen ſorgfältig zu betrachten. Inzwiſchen ſuchte Eynitz nach paſſendem Material in einem Schranke und nahm dann zu ſeiner kleinen Handarbeit an einem andern Tiſche Platz. Bald war er damit fertig. Aber während dieſer mechaniſchen Arbeit waren ſeine Gedanken abgeſchweift; weit hinweg und doch eigentlich nicht aus dieſem Zimmer hinaus; nicht von dem blonden Mädchenkopfe fort, der ihm dort das feine Profil zukehrte. Was er von Anfang an gefürchtet, war eingetreten. Er wußte es ſeit der letzten Unterredung am Rieſengrab und dem darauffolgenden Abende in der Familie Kern, als der Direktor ihm die Einrichtung des Sternentau-Laboratoriums anbot; er war ſich klar, in welche Gefahr er ſich begab bei dieſem täglichen Umgange mit dem ſchönen, klugen, liebenswürdigen Weſen. Vergebens ſuchte er ſeine Gedanken durch die ernſthafte Arbeit abzulenken, gerade dieſe führte ja immer zu Harda zurück. Und hier ſchien ihm alles ſo hoffnungslos. In ganz Wiesberg war man überzeugt, daß ſich Harda Kern mit dem Kommerzienrat Frickhoff verheiraten würde, wenn ſie ihm nicht etwa einer von den reichen Dragoneroffizieren fortſchnappte. Was konnte er ihr dagegen bieten als ſeine Liebe, und ob ihr daran überhaupt lag? Sie war immer gleichmäßig freundlich zu ihm. Und doch, ſo manches Wort, mancher Blick — ach, er zählte ſich oft alles im ſtillen vor — ließen ihn wieder hoffen, daß er ihr nicht gleichgültig geblieben war. Nicht gleichgültig, nun ja, aber deswegen braucht ihr Gefühl doch nur freundſchaftliche Hochſchätzung zu ſein. Und er hatte kein Recht, dieſe ſchöne, gemeinſchaftliche Arbeit, die Harda ſo viel Freude machte, eigennützig zu ſtören. Weder ihr, noch ſich, noch der Wiſſenſchaft, noch den Hellbornwerken durfte er das antun. Und nun war noch dieſes neue Geheimnis hinzugekommen. Aber was half's? Er erhob ſich, trat zu Harda und reichte ihr den Karton mit den Bildern. Sie legte das Stereoſkop fort und verglich nochmals die Aufnahmen. Beide betrachteten ſie gemeinſchaftlich. Eynitz ſtand hinter Harda und hatte die Hand auf die Lehne ihres Stuhles gelegt. Er beugte ſich zu ihr herab. „Ich weiß nicht, was ich denken ſoll,“ ſagte Harda. „Es iſt wie ein Märchen, und doch ſo helle Wirklichkeit. Dieſe merkwürdigen Weſen aus einer andern Welt! Welche Wunder ſollen uns noch begegnen?“ Eynitz ſah gar nicht mehr die Bilder. Er ſah nur einen leichten Schleier von loſem blonden Haar, das er gar zu gern aus der weißen Stirn geſtrichen hätte, er ſah die liebliche Rundung der Wange und einen ſchlanken, weichen Nacken, und er wußte, daß er alle Elfen der Welt darum geben würde, dieſen Hals zu küſſen — wenn er wüßte, ob nicht dann alles, alles verſchwände — — „Wir ſind wie auf einer verzauberten Inſel im Elfenreiche,“ ſagte er leiſe. „Wir beide allein, und niemand weiß es.“ Sie ſchien nichts zu hören. Sie ſah nur auf die Bilder. „Harda —“ klang es wie ein Hauch von ſeinem Munde. Sie lehnte ſich zurück. Er fühlte den leichten Druck ihres Rückens gegen ſeine Hand. Die ſchönen braunen Augen wandten ſich ihm zu. Nicht zürnend. Hatte ſie überhaupt gehört, was er geſprochen? Ruhig lächelnd ſah ſie ihn an und ſagte freundlich: „Da müſſen wir halt ein biſſel Geduld mit einander haben.“ Dann ſtand ſie auf und trat an die Käſten. „Ich glaube, es iſt Zeit, ich muß gehen,“ fuhr ſie fort. „Aber was machen wir nun mit dem armen Ding da drin?“ Eynitz raffte ſich zuſammen. „Ja,“ ſagte er, „das iſt eine ſchwierige Frage. Man kann es nicht ſehen, man kann es nicht greifen. Man müßte es einmal mit Gummihandſchuhen probieren. Aber was ſoll man dann damit anfangen? Immerhin müſſen wir zunächſt weiter beobachten. Und ſelbſt, wenn es ſterben ſollte, ſo muß man das eben abwarten. Vielleicht wird es dann ſichtbar. Auch könnten wir noch Verſuche machen, ob ſich nicht durch optiſche Mittel das Objekt wahrnehmbar machen läßt, z. B. durch ſtarke Feuchtigkeit der Luft oder Beimengung andrer Gaſe, oder im polariſierten Licht, oder ſonſt wie. Ich bin nicht Phyſiker genug. Jedenfalls muß noch Verſchiedenes ausgedacht werden. Sollte ſich aber die Beobachtung des lebenden Individuums nicht mit Erfolg durchführen laſſen, ſo müßte man ſich mit dem anatomiſchen Reſultat begnügen. Wir können die Elfen jedenfalls narkotiſieren oder ſonſt töten und den Körper durch ein Härtungsverfahren und neue Färbungsmethoden der Unterſuchung zugänglich zu machen ſuchen.“ „Es tut mir leid, mein Elfenprinzeßchen,“ ſprach Harda. „Aber ich ſehe ein, wir müſſen nun einmal konſequent bleiben. Übrigens wird ſie morgen wohl noch Geſellſchaft bekommen, denn es ſcheinen noch mehr Kapſeln reif zu werden.“ Sie unterſuchten jetzt nochmals ſämtliche Pflanzen auf ihren Entwicklungszuſtand. „Auf alle Fälle,“ ſagte Eynitz, „komme ich heute abend wieder her, und wenn ſich Elfen entpuppt haben ſollten, ſo knippſe ich wieder im Dunkeln.“ „Wir könnten wohl auch am Tage Aufnahmen machen,“ ſagte Harda. „Ich wollte es nämlich eben tun, als der Anfall kam. Das kann doch nicht etwa die Elfe aus dem Kaſten geweſen ſein?“ „Nein,“ antwortete Eynitz, „das war jedenfalls die freie. Ich habe auch die Abſicht, noch einmal jetzt zu photographieren. Wollen Sie nicht ſolange warten?“ „Fürchten Sie auch überfallen zu werden?“ „Nein,“ lachte Eynitz, „Die „Elfe“ wird wohl von meinem Händedruck genug haben.“ „Dann hat es keinen rechten Zweck, daß ich warte. Ehe Sie entwickelt haben, ſitzt die Elfe gewiß längſt wieder wo anders. Ich muß nach Hauſe. Alſo auf Wiederſehen, ſpäteſtens morgen.“ Harda reichte ihm die Hand. Dann war ſie aus der Tür und lief die Treppe hinab. Eynitz kehrte langſam ins Laboratorium zurück. Er machte die beſprochene Aufnahme und überzeugte ſich am Negativ, daß die Gefangene noch da war; mehr ließ ſich nicht erſehen, da die Elfe offenbar während der Sitzung nicht ſtill gehalten hatte. Eigentlich beabſichtigte er, weiter zu arbeiten, aber die Gedanken wollten ſich nicht recht ſammeln. Immer wieder mußte er den Druck der Hand und den Blick beim Abſchied ſich zurückrufen und ihre Worte — Nein, ſie zürnte nicht. Wie ein ſonniger Schein breitete es ſich um ihn. Er hätte aufjauchzen mögen. Aber — Geduld, Geduld! 17. Pläne Der nächſte Weg von der alten Fabrik nach der Villa ging durch das Pförtchen am Gemüſegarten. Man kam dann auf der Rückſeite des Hauſes heraus, und wenn man um die Ecke bog, ſtand man gleich vor der Veranda. Dieſen Weg hatte Harda eingeſchlagen. Sie war ſchnell gelaufen. Wie war doch die Luft ſo friſch und der Schatten kühl, und die Linden dufteten gar wunderſam! Sie ſang ſich ein Liedchen und tanzte zuletzt danach im Takte. So bog ſie trällernd um die Ecke und befand ſich plötzlich Frickhoff gegenüber, der eben aus der Veranda trat. Faſt wäre ſie an ihn angerannt. „Hallo, Fräulein Harda!“ rief er erfreut. „Sie ſehen ja aus wie das Leben ſelbſt. Ich bin glücklich, daß ich Sie noch treffe, ich fürchtete ſchon, ohne Abſchied reiſen zu müſſen.“ Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Geſicht ſtieg. „Da bin ich aber erſchrocken,“ ſagte ſie, indem ſie das volle Haar mit den Händen zu glätten ſuchte. „Entſchuldigen Sie, ich hatte keine Ahnung —“ „Bleiben Sie nur ſo, das iſt die ſchönſte Friſur. Ich habe mich eben von Ihrem Fräulein Tante verabſchiedet. Ich muß um zwei Uhr nach Berlin.“ „Da darf ich Sie nicht aufhalten. Ich begleite Sie an den Wagen. Gehen Sie in Geſchäften?“ „Natürlich,“ antwortete Frickhoff, während ſie durch den Garten ſchritten. „Sonſt wäre ich jetzt nicht fortgegangen; denn wahrſcheinlich komme ich ſo um Ihr großes Wald- und Wieſenfeſt.“ „So lange wollen Sie fortbleiben? Das iſt ja erſt in der nächſten Woche.“ Er glaubte einen Ton des Bedauerns heraushören zu dürfen. „Leider,“ ſagte er, „ſind die Sachen unaufſchiebbar und äußerſt wichtig. Es iſt möglich, daß ſich andere Verhandlungen noch hinausziehen. Aber inbezug auf das, was Sie perſönlich intereſſiert, bin ich ſicher, daß der Abſchluß günſtig wird.“ „Mit der Nordbank?“ „Ja, es handelt ſich nur um gewiſſe, allerdings bedeutungsvolle Modalitäten. Aber die Kocherei ſoll deshalb nicht verſchoben werden.“ „Das iſt herrlich,“ rief Harda. „Ich freue mich — ich freue mich auch, daß Sie Vater ſo eifrig unterſtützen.“ „Diesmal werde ich aber Proviſion verlangen — für Abſchluß N.“ Er blickte ſie erwartungsvoll an. Sie ſtanden vor dem Wagen. „Ich habe ja die meinige für Abſchluß H noch gar nicht verlangt, da wird ſich's vielleicht aufheben.“ „Ich hoffe, wir werden einig werden —“ Harda trat an die ſtampfenden Pferde und beruhigte ſie. Frickhoff ſagte dem Kutſcher, er ſolle ihn am Gartentor erwarten. „Sie gehen noch ein paar Schritte mit mir, nicht wahr, Fräulein Harda?“ bat er. „Ich habe mich herzlich gefreut, daß Sie in der letzten Zeit ſo wohlgemut und fröhlich ausſahen. Haben Sie mit dem Vater wegen des Studiums geſprochen?“ Harda nickte mit dem Kopfe. Er ſah ſie ungewiß und fragend an. Hatte ſie die Einwilligung des Vaters und war ſie deshalb ſo guter Laune? „Sie werden doch nicht —“ begann Frickhoff. „Nein, ich bleibe Wiesberg noch erhalten,“ ſagte ſie luſtig. „Ich ſtudiere das erſte Semeſter hier — praktiſche Übungen — im Geſchäftsintereſſe.“ „Ach ja, freilich, am Sternentau, ſo heißt's ja wohl? Da lieſt Ihnen Herr Dr. Eynitz ein Privatiſſimum?“ „Alles im Geſchäftsintereſſe“ „Und haben Sie neue Erfolge gehabt? Mit den Entdeckungen meine ich natürlich. Wie iſt das mit den unſichtbaren Früchten?“ „Sie ſind leider immer noch unſichtbar.“ „Was machen Sie nun eigentlich bei der Sache? Inwiefern unterſtützen Sie den Doktor? Arbeiten Sie zuſammen? Es intereſſiert mich, zu wiſſen, wie Sie ſich eigentlich beſchäftigen.“ „Ja, das iſt Geſchäftsgeheimnis, da dürfen wir jetzt noch nichts verraten.“ Frickhoff blieb ſtehen und ſah Harda fragend an. Er drohte ſcherzhaft mit dem Finger. „Die Sache ſcheint mir nicht ungefährlich,“ ſagte er lachend. Innerlich war ihm aber gar nicht wohl dabei. „Nein, das iſt ſie wirklich nicht. Dieſe unſichtbaren Früchte ſondern nämlich einen ſcharfen, ätzenden Saft ab, und da ſie in der Luft umherfliegen, ſo kann man plötzlich eine ins Geſicht bekommen. Herr Eynitz hat ſich ſchon die Hände verbrannt.“ „Aber Sie doch nicht?“ „Ich bin vorſichtig.“ Er wußte nun wirklich nicht ſicher, ſprach ſie im Ernſte, oder war das alles bloß ſcherzhafte Phantaſie, oder war es figürlich gemeint. Harda ſah es ſeinem Geſichte an, und es tat ihr leid, daß ſie ihrer übermütigen Laune zu viel nachgegeben hatte. „Sie brauchen wirklich keine Sorge zu haben,“ ſagte ſie ernſthafter. „Dieſe Art der Beſchäftigung macht mir große Freude und ich lerne viel dabei. Beſonders das Zeichnen nach dem Mikroſkop intereſſiert mich. Ich bin Vater ſehr dankbar, daß er mir dieſe Möglichkeit verſchafft hat. Und — wer weiß — vielleicht kommt dabei wirklich noch etwas Bedeutſames heraus. Aber nun — glückliche Reiſe! Es iſt höchſte Zeit, ich muß zu Tiſch — ach, und Sie kommen vielleicht gar nicht mehr zurecht.“ „Ich hoffe doch,“ ſagte er. „Aber es iſt wirklich höchſte Zeit — für uns beide. Auf frohes Wiederſehen!“ Frickhoff ſprang in den Wagen. Eilig lief Harda durch den Garten zurück. Vom Hauſe her kam ihr Sigi entgegen. „Ich komme ja ſchon!“ rief Harda, in dem Glauben, daß Sigi ſie holen wolle. „Brauchſt dich nicht ſo zu beeilen,“ ſagte Sigi. „Vater iſt noch nicht da.“ „Gott ſei Dank! Ich dachte ſchon, es hätte ein Donnerwetter gegeben. Du machſt ja ein ſo grimmiges Geſicht, wie —“ „Es hat nicht gedonnert und ich bin keine Katze. Aber wütend bin ich.“ „Was iſt denn paſſiert?“ „Das Waldfeſt iſt futſch, wenigſtens mach' ich mir nichts draus. Es iſt Beſichtigung angeſagt, und gerade am vierundzwanzigſten iſt Nachtmanöver. Die Herren vom Militär fallen aus.“ „Na,“ ſagte Harda, „deswegen würde es auch noch gehen, doch ich verſtehe deinen Schmerz, armes Wurm. Aber was fällt denn dem Oberſt ein?“ „Der kann nicht dafür. Der Diviſionär kommt. Alle ſind wütend.“ „Weißt du was, Kleine? Du ſollſt ſehen, wie gut ich bin. Wir ſchieben das Feſt auf.“ Sigi ſah die Schweſter erſtaunt an. „Ein ſchöner Gedanke — aber das geht doch nicht. Kannſt du's etwa regnen laſſen? Schlechtes Wetter iſt noch meine einzige Hoffnung. Aber wegen der Offiziere — das gibt ein furchtbares Gerede bei den Wiesbergern, da kracht die ganze Erholungsgeſellſchaft.“ „Nein, Kindel. Wegen der Leutnants fällt es auch nicht aus, aber wollt Ihr etwa die Stadtkapelle engagieren? Nein, da ſtreike ich. Oder wollt Ihr mit einem Orcheſtrion ausfahren und tanzen? Wenn wir aber die Militärkapelle nicht haben können — und das wird jedenfalls ſo ſein, oder es wird ſo eingerichtet werden können — dann kann es uns niemand übelnehmen, wenn wir das Feſt auf acht Tage verſchieben.“ „Du biſt ein Engel, ein ſcheußlicher Engel! Laß dich umarmen!“ rief Sigi. „Und da kommt der Vater!“ * Am nächſten Tage war es Harda nicht möglich, ins Laboratorium zu gehen. Es kam wieder einmal Störung auf Störung. Früh ſchon ſagte ihr der Vater, daß der erſte Verſuch mit dem neuen Reſinitkocher vorgenommen werden ſollte. Da mußte ſie natürlich dabei ſein. Es verging viel Zeit, ehe alle Vorbereitungen getroffen, alle neuen Einrichtungen nochmals in Augenſchein genommen waren. Lange ſtand Harda oben im oberſten Raume des fünf Stockwerk hohen Gebäudes und ſchaute hinab auf die ausgedehnten Werke und auf das herrliche Landſchaftsbild, das ſich ringsum ausbreitete. Da blickte auch der Felſen des Rieſengrabs hervor und rechts davon — ſie bemerkte es zum erſten Male, denn von tieferen Standpunkten war es nicht ſichtbar — an einer kleinen Wieſe das weiße Häuschen Onkel Geos. Was würde er ſagen, wenn er das alles hörte, was inzwiſchen hier mit dem Sternentau geſchehen war, deſſen blaue Blümchen ihn ſchon im vorigen Sommer ſo gefreut und verwundert hatten. Aber bald, bald wollte ſie ihn ausführlich benachrichtigen. Wenn ſie nur abends nicht immer ſo ſchrecklich müde wäre, und am Tage kam ſie nicht zum ſchreiben. Und drüben im Laboratorium — es war hohe Zeit. Schnell lief ſie die endloſen Treppen hinab. Zu Hauſe wurde ſie ſchon erwartet. Gerda Wellmut war da und Annemi von Ratuch und es gab eine rege Diskuſſion über das Waldfeſt. Mittags fanden ſich Gäſte ein, es mußte eine Ausfahrt gemacht werden, der Harda ſich nicht entziehen konnte. Nach der Rückkehr ging ſie ſchnell einmal auf den Tennisplatz, denn dort waren noch wichtige Verabredungen zu treffen. Es tat ihr ſchrecklich leid, daß ſie heute nichts von Doktor Eynitz und ſeiner Arbeit gehört hatte. Auch am Abend nach dem Eſſen kam noch Beſuch, und ſchließlich, es war ſchon neun Uhr durch, erſchien Eynitz. Harda freute ſich ſehr. Sie merkte wohl, daß er hauptſächlich gekommen war, um nach ihr zu ſehen, aber auch, weil er ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Und dazu gab ſich denn bei dem Umherwandeln im Garten bald Gelegenheit. Eynitz berichtete. Wie erwartet hatten ſich im Laufe des Tages aus einer größeren Anzahl von Sporenkapſeln Gametophyten entwickelt. Bei den erſten beiden waren von Eynitz Maßregeln getroffen worden, um die ausgebildeten „Elfen“ im Momente der Loslöſung feſtzuhalten. Über der einen hatte er ein Netz ſo befeſtigt, daß er es leicht unten zuziehen konnte, ohne mit dem eingeſchloſſenen Geſchöpf ſelbſt in Berührung zu kommen. Da er bemerkte, daß das Netz mit ziemlicher Kraft in die Höhe gezerrt wurde, ſicherte er es noch in einem Drahtgeſtell. Bei der zweiten Elfe gelang es ihm, im rechten Augenblicke eine Glasglocke überzuſtülpen und unten durch eine Glasplatte zu ſchließen, ehe das junge überraſchte Weſen heraus konnte. Er ſagte ſich, daß er ſich den Körper einer voll entwickelten Elfe zur Unterſuchung verſchaffen müſſe, und entſchloß ſich daher, durch Einführung von Chloroform ſie zu töten. Nach einiger Zeit bemerkte er an einzelnen ſchwachen Reflexen, daß ſich in der Tat ein vermutlich lebloſer Körper in der Glocke befand, den er nun mit der Hand, die er vorſichtshalber durch einen Gummihandſchuh geſchützt hatte, betaſten konnte. Obgleich er den Widerſtand zwiſchen den Fingern wahrnahm, konnte er doch mit den Augen nur unbeſtimmte trübe Flecken und Streifen erkennen. Zur Aufbewahrung brachte er das Objekt in Alkohol. Sodann ſchnitt er eine Anzahl Sporenbecher des Sternentaus ab, die ſich in verſchiedenen Entwicklungsſtadien befanden, und konſervierte ſie ebenfalls teils in Alkohol, teils in andern ihm geeignet erſcheinenden Flüſſigkeiten. „Sie ſehen,“ ſagte er nach dieſem Berichte zu Harda, „ich habe mich heute damit beſchäftigt, eine kleine Sammlung von Präparaten anzulegen. Es iſt das die Folge einer geſtern nachmittag angeſtellten Überlegung, über die ich Ihnen Rechenſchaft ſchuldig bin. Wir ſind übereingekommen, von dem pſychologiſchen Elfenproblem vorläufig mit niemand zu ſprechen. Aber da kannten wir die Photographien noch nicht, die uns lehren, daß wir doch mit der Eigentätigkeit dieſer rätſelhaften Weſen ſtark zu rechnen haben. Nun möchte ich es nicht übernehmen, die Verantwortung für etwaige Unterlaſſungen oder falſche Maßregeln allein zu tragen. Zu einer Veröffentlichung aber iſt, wie geſagt, die Frage noch nicht reif. Ich möchte mir daher einen fachmänniſchen Rat erbitten, falls Sie nichts dagegen haben. Ich habe heute ein ſchriftliches Referat über die vorliegenden Beobachtungen aufgeſetzt, das ich morgen zu vollenden hoffe, und dies möchte ich dann zwei hervorragenden Fachmännern ganz privatim mit der Bitte um eine Äußerung an mich vorlegen. Ich bin befreundet mit einem Zoologen und einem Botaniker, beide Gelehrte erſten Ranges in ihrem Fache; der erſte iſt mein verehrter Lehrer, der zweite ein älterer Studiengenoſſe von mir. Denen will ich den Bericht einſenden und ihnen unſer ganzes Material zur Verfügung ſtellen, erforderlichenfalls ſie um ihren Beſuch bitten. Mit der etwaigen techniſchen Verwendung der Pflanze hat das gar nichts zu tun, es handelt ſich nur um Ratſchläge für die Behandlung der ganzen Frage. Ich glaube daher dies privatim auf eigne Verantwortung unternehmen zu dürfen, vorausgeſetzt, daß ich Ihre Einwilligung erlange.“ Ein Weilchen ſchritt Harda ſchweigend neben Eynitz her. Sie überlegte. So ſollte ihr Elfentraum jetzt ſchon ſich auflöſen in das Wachen der fremden Welt? Und doch, was waren Elfen, die mit Chloroform betäubt, in Alkohol aufbewahrt, gefärbt und ſeziert werden konnten oder ſollten? Dieſe Umwelt der Hellbornwerke war wohl keine Stätte für die luftigen Weſen des Elfenreichs? Ach, hier war auch kein Platz für ihren Traum. Und war es nicht vielleicht Zeit, zu erwachen? „Ich glaube,“ ſagte ſie, „Sie haben das Richtige getroffen. Es tut mir ja ein wenig wehe, meinen Sternentau ſo fremder Unterſuchung preiszugeben — aber wir müſſen es wohl tun. Sie nämlich, Herr Doktor, betrachte ich als Hausarzt, und wenn ein ſchwerer Fall vorliegt, ſo iſt es wohl Pflicht des Hausarztes, eine Konſultation zu beantragen. Alſo ſchreiben Sie nur. Die Sache bleibt ja vorläufig noch in privatem Kreiſe. Es wird mir immer klarer, Sie dürfen die Verantwortung nicht allein tragen — auch nicht dem Vater gegenüber. Wir werden ja hören, was die Autoritäten dazu ſagen. Ich verſtehe, daß es für Sie etwas Peinliches hat, unſere Hypotheſe von der Intelligenz der Sternentau-Elfen, die hier bei uns ſicher als etwas ganz Phantaſtiſches aufgenommen werden würde, auszuſprechen; und wenn das ſpäter einmal doch notwendig wird, ſo wird es ebenſo peinlich ſein, daß wir ſie ſolange verſchwiegen haben. So ſind wir gerechtfertigt, wenn wir erſt ein unbefangenes Gutachten abgewartet haben, und wir gewinnen auf dieſe Weiſe noch Zeit. Aber meine Anfälle — müſſen Sie mich denn da auch hineinbringen?“ „Nur was ich ſelbſt beobachtet habe, alſo den Angriff im Laboratorium. Ich möchte aber erwähnen dürfen, daß ſich daraus einige andere ſubjektive Erfahrungen der Dame erklären ließen.“ „Aber von den Pflanzengeſprächen ſagen Sie nichts, bitte!“ „Nein, das will ich nicht. Dagegen darf ich doch die Dame als Entdeckerin des Ros stellarius Kern nennen?“ „Die Dame will Ihnen nicht hinderlich ſein, mein Herr!“ ſagte Harda ſchalkhaft. Und mit herzlichem Tone fuhr ſie fort. „Nun habe ich aber auch eine Bitte — wenn Sie an Ihre Freunde ſchreiben — ich möchte mich auch an einen Freund wenden. Ich hatte ſchon längſt die Abſicht und wollte nur einen entſcheidenden Zeitpunkt abwarten. Dann hätte ich es Ihnen jedenfalls geſagt.“ Eynitz ſah ſie mit Spannung an. „An einen Freund?“ fragte er. „Ja, an meinen Onkel. Oder haben Sie dagegen ein Bedenken? Er iſt doch ein Mann, deſſen Rat in allen Fällen von höchſtem Werte iſt.“ „Sie meinen Geo Solves?“ „Ja. Ich habe noch nie etwas Entſcheidendes in meinem Leben getan, ohne es ihm vorher mitgeteilt zu haben — viel habe ich ja nicht erlebt. Aber ich werde auch nichts tun, nichts innerlich Entſcheidendes meine ich, wenn ich nicht ſeine Stimme zuvor hörte —“ „Nichts?“ fragte er ſtehen bleibend. „Nichts,“ antwortete ſie, ihn voll und klar anblickend. „Das iſt keine Unfreiheit, es iſt meine Selbſtbeſtimmung. Sein Wort iſt auch nur ein Motiv in mir, aber eines, ohne deſſen redliche Erwägung ich keinen Entſchluß faſſen würde, der mich oder andere in tiefſten Lebensintereſſen berührt. Darum handelt es ſich ja hier wahrſcheinlich nicht. Dennoch halte ich es für eine Pflicht der Aufrichtigkeit, daß er von dem unterrichtet wird, was mich ſo lebhaft beſchäftigt.“ „Aber Fräulein Harda — da habe ich doch gar nichts zu wünſchen —“ Er ſchwieg, denn ſie ſetzte wieder ihren Weg fort. Und im Stillen fragte er ſich, was bedeutet dieſe Erklärung? Warum ſagte ſie ihm das jetzt in ſolcher Entſchiedenheit, in ſo warmem Herzenstone? Wie hinreißend war ſie in dieſer Aufwallung! Und warum erregte ſie die Mitteilung ſo, was doch bei dem Sternentau gar nicht notwendig war? Sollte es eine Warnung ſein? Oder war es der Ausbruch einer Stimmung, die ſie ſchon lange in ſtillem Gedankengang beſchäftigt hatte? Auch Harda fühlte, daß ſie vielleicht zu lebhaft geworden war. Aber ſeine Zwiſchenfrage „Nichts?“ hatte ſie gereizt, und ſie bereute nicht, was ſie geſagt hatte. Und wenn er das Geſtändnis als einen Ausfluß beſonderen Vertrauens auffaßte — nun gut, das war es ja auch — und ſchließlich — er verdiente es — Sie gingen noch ſchweigend neben einander, als Sigis helle Singſtimme über den Garten hinklang: „Friſche Erdbeerbowle auf der Veranda.“ Und dann das Signal des Sammelns. 18. Pflanzenrede Heute vormittag wollte Harda nicht geſtört werden. Denn ſie beabſichtigte in Ruhe an Onkel Geo zu ſchreiben und dann ins Laboratorium zu gehen. Daher beeilte ſie ſich, ſobald ſie mit dem Vater gefrühſtückt hatte, die notwendigſten häuslichen Angelegenheiten zu erledigen. Dann lief ſie auf ihr Zimmer und nahm ihre Schreibmappe an ſich, die ihren Füllfederhalter und die erforderlichen Briefmaterialien enthielt. Denn es gab nur einen Ort, wo ſie ſicher war, vorkommendenfalls nicht abgerufen zu werden. Das war die Buche am Rieſengrab. Und der Morgen war ſo ſchön, windſtill, der Himmel leicht umſchleiert. Da wollte ſie drüben ſchreiben, im Freien. Die Tante und Sigi ſchliefen noch, als Harda ſich anſchickte, das Haus zu verlaſſen. Sie ging an der Küche vorbei und ſagte, man ſolle ſie nicht ſuchen, ſie habe einen längeren Morgenausflug vor. Und als praktiſches Weſen vergaß ſie nicht, ſich noch einen kleinen Imbiß mitzunehmen. Sie wollte ſich ſobald nicht ſehen laſſen. Nun ſaß ſie vor dem Tiſch. Sie beſann ſich nicht lange. Sie ſah den geliebten Freund vor ſich und es war ihr, als plauderte ſie zu ihm. Sie erzählte einfach, was ſie mit dem Sternentau erlebt hatte, hier bei der erſten Begegnung mit dem Doktor Eynitz, wie die Pflanze immer ſeltſamer geworden ſei, wie die Elfen herausgekommen wären; ſie ſprach vom Laboratorium, wie Werner ſie aus einer großen Gefahr gerettet hätte — denn ſo kam ihr das Abenteuer mit der Elfe jetzt vor — und wie ſie beide eigentlich nicht recht wüßten, was jetzt werden ſolle. Ihre Feder flog über das Papier, und ſchnell füllte ſich Seite auf Seite. Sie wußte gar nicht, wie viele von den feſten hellgrauen Briefbogen ſie ſchon unter den Hut auf der Bank nebenan geſchoben hatte. Verwundert blickte der leuchtende Wald auf das blühende Menſchenkind, deſſen Wangen ſich gerötet hatten im Eifer der Arbeit und in der Erregung des inneren Erlebniſſes, das ihm immer bewußter ſich geſtaltete. Freudig und erwartungsvoll bemerkten der Efeu und die ſchattende Buche ihre gute Freundin und tauſchten leiſe ihre Meinungen darüber aus, was ſie wohl da unten triebe. Mißgünſtig aber blickte ſo manche andere von den Pflanzen auf den Menſchen; denn ſeit den merkwürdigen neuen Erlebniſſen mit dem fremden Gewächſe Bio betrachten viele den Menſchen erſt recht als eine Störung in ihrem eigenſten Gebiete. Daß eine Pflanze fliegende, unſichtbare, kluge Weſen hervorbringen konnte, hatte ſie ſtolz gemacht und ließ ihnen den Menſchen als weniger achtungswert erſcheinen, der offenbar keine Ahnung davon hatte, was Pflanzenmacht und Pflanzenweisheit bedeuteten. Und ſo war's ja auch. In feierlicher Stille ſchien der Wald zu ruhen, unbeweglich bis auf das leiſe Wiegen eines Zweiges oder Halmes und das Summen der Inſekten, die Liebesbotſchaft von Blüte zu Blüte trugen. Nichts vernahm der Menſchen Sinn. Und doch lebte im Wald ein reger Meinungsaustauſch in Rede und Gegenrede. Hin und her zuckte es durch die Wurzeln im Streite der Meinungen. „Ihr werdet ja ſehen,“ ſagte die Fichte am Felsblock, „die Sache wird jetzt ganz anders werden. Mit der Menſchenherrlichkeit geht's zu Ende. Gegen die Idonen können die Treter gar nicht aufkommen. Und wenn erſt die Idonen die Menſchen gehörig klein gemacht haben, ſo gelangen auch wir zu unſerem Rechte. Dann werden endlich die Pflanzen auf der Erde herrſchen, wie ſich's gebührt, denn die Idonen gehören zu uns.“ „Nur nicht zu eilig,“ antwortete die Roßkaſtanie. „So einfach iſt die Sache nicht. Und ob ihr Fichten gerade dabei gewinnen würdet? Die Idonen denken noch viel ariſtokratiſcher als die Menſchen. Aber wie kommt ihr überhaupt darauf, daß die Idonen etwas gegen die Menſchen haben ſollen?“ „Nun das iſt doch klar. Im ganzen Walde iſt es ſchon herumgekommen, daß die Menſchen große Mengen von der fremden Pflanze, die ſich jetzt Bio nennt, fortgenommen haben und in ihren Wohnungen gefangen halten. Bio iſt aber die Mutter der Idonen. Wenn nun die Idonen in der Menſchen Gewalt geraten, glaubt ihr, daß ſie ſich das gefallen laſſen werden? Sie ſind doch nicht feſt gewachſen wie wir armen Pflanzen, ſie werden alle Gewalttaten der Menſchen gegen uns an ihnen rächen.“ „Ich möchte nur wiſſen, wie ſie das tun wollen. Sie ſind klein und wenige, die Menſchen aber ſind groß, und ihr habt gar keine Ahnung, wie viele ihrer ſind und was ſie vermögen.“ „Aber die Menſchen können nicht die Idonen ſehen, die Idonen dagegen die Menſchen. Und ſie verſtehen ſehr wohl zu ſchaden, ſie haben Arme, mit denen ſie allerlei Dinge anfaſſen können wie die Menſchen, und ſie haben ſcharfe Säfte, von denen die Menſchen nichts wiſſen. Ich habe wohl zugehört, wie Bio einmal zu Ebah davon ſprach. Und Ebah hat ſelbſt geſagt, daß ſie traurig iſt, weil Harda ſo viele Biopflänzchen fortgenommen hat.“ „Das iſt wohl wahr,“ miſchte ſich Ebah ein, „aber daß die Idonen darum den Menſchen feindlich ſein werden, das habe ich nicht geſagt. Denn die Idonen ſind klug und gut, und ſie werden den Menſchen nichts Böſes tun, wenn ſie nicht müſſen.“ „Sie werden aber müſſen.“ „Ich hoffe im Gegenteil,“ ſagte Ebah, „daß es uns gelingen wird, mit Harda zu ſprechen, und ihr zu ſagen, daß ſie die Blümchen nicht abſchneiden ſoll.“ „Mit ihr ſprechen! Du willſt mit den Menſchen ſprechen! Ich mochte wiſſen, wie du das anfangen willſt.“ „Freilich kann ich es nicht für mich, aber Ildu hat zu Bio geſagt, daß die Idonen eine merkwürdige Beobachtung gemacht haben. Wenn ſie ſich auf den Kopf eines Menſchen ſetzen, ſo können ſie unter gewiſſen Umſtänden bewirken, daß die Veränderung in ihrem eignen Körper auch beſtimmte Veränderungen im Kopfe der Menſchen hervorbringen, und dann haben die Menſchen die gleichen Vorſtellungen, wie ſie die Idonen gerade in ſich bilden. Ich kann das ja nicht ſo verſtehen, aber die Idonen wiſſen, wie ihr eigner Körper und wie der der Menſchen beſchaffen iſt und wie damit die Gedanken zuſammen hängen. Das verſtehen ſie beſſer als die Menſchen ſelbſt. Denn die Menſchen, ſo ſagt Ildu, müſſen das alles erſt mit großer Mühe lernen; die Idonen aber bringen das Wiſſen um ihre eignen Einrichtungen und deren Nutzen ſchon mit auf die Welt, ſie erben es von ihren Vorfahren. Und in dem Lande, wo ſie leben und woher ſie kommen, da ſind ſie die Herren, wie es hier die Menſchen ſind.“ „Da ſiehſt du doch gerade,“ rief die Fichte eifrig, „daß ſich die Idonen mit den Menſchen nicht werden vertragen können. Denn wenn ſie dort die Herren ſind, werden ſie es auch hier ſein wollen. Und obwohl es der Menſchen viele gibt, und obwohl ſie groß und mächtig ſind, ſo werden ſie doch gegen die Idonen nichts auszurichten vermögen. Denn die Menſchen müſſen ſterben, die Idonen aber ſterben nicht.“ „Wie kommſt du darauf?“ fragte Ebah erſtaunt. „Ich habe gehört, wie du einmal mit der Buche davon geſprochen haſt, daß die Idonen über den Tod der Menſchen ſich wundern.“ „Ach, wieviel redet ihr doch da im Walde, was ihr gar nicht begreift,“ rief die Buche unwillig. „Der Fall liegt viel verwickelter. Da habt ihr uns ganz falſch verſtanden. Ich will dir's ſagen. Die Idonen ſterben nicht wie die Menſchen und Tiere und wie auch die Pflanzen, wenn ſie alt geworden ſind, an Altersſchwäche; ihrer Natur nach könnten ſie immer weiter leben. Aber ſie können getötet werden durch äußere Eingriffe, durch Gewalt, die ihren Körper zerſtört oder ihm die Luft abſchneidet und dergleichen. Und ſie können auch freiwillig ſterben. Das tun ſie, wenn ſie einſehen, daß es beſſer für ſie iſt, nicht mehr zu leben. Warum ſie ſo etwas denken können, das weiß ich freilich nicht. Aber Bio hat es geſagt. Sie ſollen die weiſeſten Weſen ſein.“ „Nun, dann werden ſie ſchon wiſſen, wie ſie die Menſchen zu faſſen haben. Sonſt wären ſie ja auch nicht hergekommen, wenn ſie nicht einen beſtimmten Plan gehabt hätten. Sie ſind Pflanzen, die weiſeſten Pflanzen. Da werden ſie eben gehört haben, daß hier die Pflanzen unterjocht ſind, und da haben ſie ſich geſagt, wir wollen mal den armen Dingern dort Hilfe bringen.“ „Ja, und beſonders den Fichten, weil die ſo beſcheiden ſind,“ bemerkte die Buche ironiſch. „Warum denn nicht?“ antwortete die Fichte trotzig. „Weil ſie überhaupt gar nicht wiſſen, wie ſie hergekommen ſind,“ fiel Ebah ein. „Bio iſt in ihren Sporen hierher geweht worden, und du weißt doch ſelbſt, daß die Pflanzen bewußtlos im Schlummer liegen, ſolange ſie im Samen umherfliegen.“ „Da ſollten ſie aber wenigſtens die Gelegenheit wahrnehmen, daß die frechen Treter geduckt werden und endlich einmal die Pflanzen zur Herrſchaft kommen. Was wollen ſie denn ſonſt mit den Menſchen machen?“ „Vielleicht,“ ſagte Ebah nachdenklich, „vielleicht werden ſie uns wirklich helfen. Aber nicht dadurch, daß ſie die Menſchen vernichten, ſondern indem ſie ihnen ihre Weisheit mitteilen, ſie belehren und ſie beſſer machen. Sie könnten doch die Menſchen überzeugen, daß wir Pflanzen nicht unbeſeelt und teilnahmslos im großen Erdleben ſtehen, ſondern daß wir auch mitſtreben und mitfühlen am ganzen und daß wir mit den Tieren und Menſchen das gewaltige Reich Urd bilden, darin alle lebenden Weſen die gleichen Rechte haben. Und ſo könnten ſie uns verſöhnen mit den Menſchen, daß wir alle bewußt zuſammenarbeiten und uns helfen und freuen am Gedeihen der heiligen Muttererde und uns verſtehen, wie ihren Kindern ziemt.“ Da brummte etwas unten am Boden, und das Moos ſagte: „Phantaſtin! Kennſt die Menſchen nicht, ſind zu beſchränkt, beſchränkt! Sie haben nichts als ihre vergängliche Einzelſeele, ſie wiſſen nichts von der Dauerſeele, die durch den Erdleib webt, und wenn man es ihnen ſagen könnte, würden ſie es nicht verſtehen. Da werden auch die Idonen nichts ausrichten, ſo weiſe ſie ſein mögen. Warum ſollten ſie auch nicht weiſe ſein, gehören ſie doch zu den Vorkeimen der Kryptogamen?“ Ebah ſchwieg erſt beſcheiden, dann aber begann ſie zur Buche: „Wenn das weiſe Moos recht hat, daß die Menſchen nichts von der Dauerſeele wiſſen, ſo können doch wir vielleicht den Idonen helfen, ſie zu belehren. Wir müſſen die höhere Einzelſeele pflegen, die wir beim Blühen erlangen. So nähern wir uns den Menſchen, und wenn dann die Idonen geſtatten, daß wir mit den Menſchen reden, ſo müſſen dieſe wohl einſehen, daß wir beſeelte Weſen ſind wie ſie, Einzelſeelen wie ſie, die ſich mit Einzelſeelen verſtehen können. Und von dort werden wir ſie hinaufführen zur Allſeele der Erdmutter.“ „Du willſt wieder aufs Blühen hinaus,“ ſagte die Buche freundlich. „Und das ſoll dir ja auch werden. Aber mit der höheren Einzelſeele ſollteſt du nicht immer wieder kommen, das iſt nichts für uns. Seien wir froh, daß wir nicht zu viel davon haben. Unſer Weg zur Einheit mit den Menſchen und zur Freiheit auf der Erde iſt ein andrer. Es iſt Zeit, daß ich dir einmal die alte Sage erzähle, die uns verkündet iſt über der Pflanzen Treue und den ſchlummernden Gott.“ „Wie gern will ich ſie hören,“ erwiderte Ebah. „Aber ſieh, Schattende, da gerade jetzt Harda uns ſo nahe in deinem Schutze ſitzt, könnte ich es nicht jetzt einmal verſuchen, ob ſie mich verſteht, ob ich ſie verſtehe, wenn einer der Idonen uns verbinden wollte? Vielleicht dürfte ich dann ſie ſelbſt fragen, wie ſie über die Pflanzen denkt? Vielleicht würde ſie mich belehren können, was ich zu tun habe? Ach, Schattende, es wäre doch zu ſchön, wenn ich einmal mit einem Menſchen ſprechen könnte!“ „Du weißt ja doch, liebe Ebah, daß wir ohne ihren Willen nicht zu erkennen vermögen, ob Idonen in unſrer Nähe ſind, und daß wir es nicht wagen dürfen, ſolche Bitten an ſie zu richten.“ „Aber ich will Bio fragen. Sie kann mit den Idonen ſprechen, wann ſie will, und ihr ſind ſie gern zu Gefallen.“ „Nun denn,“ ſagte die Buche, „ſo will ich dafür ſorgen, daß die andern Pflanzen euch nicht hören und ſtören.“ Die feinen Taſthärchen Bios, des Sternentaus, ſchmiegten ſich enger an Ebahs Ranken. „Du brauchſt nicht erſt zu bitten,“ ſagte der Sternentau freundlich zum Efeu. „Es ſind immer einige von meinen Kindern in der Nähe, denen ich deinen Wunſch mitteilen will. Und wenn ſie ihn erfüllen wollen und können, wirſt du es bald erfahren.“ * Harda ſchob wieder einen Bogen unter ihren Hut und legte ſich einen neuen zurecht. Sie ſchrieb weiter an Geo. „Iſt das nicht eine tolle Geſchichte mit unſern „Elfen“? Und was meinſt Du nun zu der ganzen merkwürdigen Sache? Werner hat einen Bericht aufgeſetzt und will ihn an zwei berühmte Sachkenner . . . . Verſtehſt du mich, ich bin es, der zu dir ſpricht, Ebah, der Efeu, hier vor dir an der Buche, deſſen Sproß du in dein Zimmer gepflanzt haſt — —“ Harda ließ die Feder fallen, daß ein tüchtiger Klecks auf dem Papier entſtand. „Was ſchreib' ich denn da?“ fragte ſie ſich ſelbſt. „Da ſpricht ja in mir etwas — — ja, ja — der Efeu —“ Sie lehnte ſich zurück, um ihre Stirn wehte der kühle Hauch, der die Gegenwart eines Idonen anzeigte. Harda wußte, daß ſie jetzt wieder einen „Anfall“ hatte. Aber ſie wehrte ſich nicht dagegen. Es war ihr nicht unangenehm, ſie fühlte ſich auch nicht zu irgend einer Handlung gezwungen, nur vernahm ſie deutlich, daß ſie angeredet wurde. Dabei war ſie ſich ihrer Sinne und der Umgebung bewußt, es war nicht anders, als ob wirklich jemand, den ſie nicht ſah, ein Geſpräch mit ihr zu führen ſuche. „Ebah nennen mich die Pflanzen,“ klang es weiter in Harda. „Ich kenne dich lange, Harda, und ich liebe dich, denn du haſt mich beſchützt. Höre mich an, ich bin ſo traurig, daß du ein Menſch biſt und keine Pflanze, und nicht mit uns lebſt und ſprichſt und fühlſt in unſerm großen Reiche, wo die Dauerſeele uns alle verbindet.“ Die Stimme ſchien eine Antwort zu erwarten. Harda fühlte ſich ganz ruhig, hier hatte ſie offenbar nichts zu befürchten. Lag dieſer Stimme wirklich ein objektiver Vorgang im Efeu zu grunde, oder dichtete nur ihre Phantaſie? Warum ſollte ſie nicht eine Antwort geben? Sie war ſich bewußt, ganz frei über ihre Gedanken verfügen zu können. Und ſo antwortete ſie in der Tat ſofort mit halblauter Stimme: „Wenn du mich verſtehen könnteſt, lieber Efeu oder Ebah, ſo würdeſt du jetzt hören, daß du gar keinen Grund haſt, traurig zu ſein. Ich bin meinerſeits ſehr froh, daß ich ein Menſch bin und keine Pflanze, und ich lebe in unſerm Seelenreiche und fühle mich durchaus wohl als ein Teil des großen Zuſammenhangs, den wir Welt nennen. Na, verſtanden wirſt du mich ja nicht haben, langes, grünes Schweſterchen und Dauerſeelchen?“ Sofort klang es wieder in Harda: „Ich habe dich ſehr wohl verſtanden, aber ich kann mir nicht denken, daß du glücklich biſt, weil du doch nur eine Einzelſeele beſitzeſt, und weil du nicht weißt, daß wir Pflanzen auch beſeelt ſind und unſre Gefühle und Vorſtellungen uns in unſrer Sprache mitteilen können.“ „Wiſſen konnte ich das freilich nicht,“ antwortete Harda, „aber geglaubt habe ich es immer, daß auch die Pflanze beſeelt iſt, obwohl freilich die meiſten Menſchen das noch immer nicht zugeben wollen. Beweiſen freilich konnten wir es bisher nicht, nur erſchließen und vermuten. Und auch jetzt begreife ich nicht, wieſo du zu mir in meiner Sprache reden kannſt.“ „Ich denke nur in meiner Art,“ ſagte Ebah. „Aber auf deinem Haupte — faſſe nicht dahin — ſitzt unſichtbar ein Idone, er ſtammt von einer Pflanze und verſteht, was ich ſage, und während er es mitdenkt, arbeitet auch dein Gehirn mit, und die Gedanken ſetzen ſich in den Laut deiner Sprache um.“ „Was ſitzt da? Wie nennſt du das?“ „Idonen nennen ſie ſich ſelbſt, ſie kommen von einer fremden Pflanze, der du ſo viel blaue Sterne abgeſchnitten haſt. Das ſollſt du nicht tun, bitten dich die Idonen und Bio, ihre Mutter.“ „Idonen und Bio — ſo alſo nennt ihr meine Elfen und meinen Sternentau — nun, liebe Ebah, wenn deine ganze Rede wirklich bloß meine Phantaſie iſt, ſo möchte ich nur wiſſen, warum ich für dieſe mir wohlbekannten Dinge auf einmal neue Namen erfinde.“ „Wie, Harda? Du glaubſt, meine Rede ſei nur ein Traum von dir? O nein, ich wünſche ſchon lange mit dir zu ſprechen und will gern eine Einzelſeele wie du haben, damit wir uns beſſer verſtehen. Dann wirſt du begreifen, daß die Einzelſeelen alle verbunden ſind in der großen Erdſeele und daß es von euch Menſchen ſehr unrecht iſt, euch von unſerm Reiche auszuſchließen.“ „Da kann ich dich beruhigen, Ebah. Wir Menſchen wollen auch teilnehmen an dem Ganzen des Erdlebens. Auch wir begreifen mehr und mehr, daß alle Lebeweſen nur Organe ſind des Planeten und daß unſer Bewußtſein in ſeiner großen Einheit zuſammenhängt. Nur geht unſer Weg von der Einzelſeele zur Allſeele, der eure aber umgekehrt von der Dauerſeele zur Einzelſeele.“ „Ja, dieſen Weg gehe ich, ich will blühen, ich will etwas für mich allein ſein, und dabei eben hoffte ich, dir zu begegnen. Wie glücklich bin ich, daß ich dich getroffen habe. Nun können wir zuſammen blühen! Denn im Blühen gewinnen wir uns für uns ſelbſt allein. Du mußt auch blühen, Harda, im Herbſte, wenn meine Blüten ſich öffnen. Du wirſt merken, wie ſchön das iſt.“ „Blühen —“ Harda ſprach ganz leiſe. „Ja, Blühen — aber warum erſt im Herbſt? Ach, Ebah, ich glaube — doch das kannſt du nicht verſtehen. Siehſt du, das iſt bei uns Menſchen anders als bei euch. Ich will auch etwas für mich ſein, für mich allein, und ich bin es, ein Ich, wie wir es nennen. Aber wenn wir blühen, dann eben verlieren wir die Einzelſeele. Dann will ich nicht mehr für mich allein ſein, dann will ich ſein für — für den andern —“ „Das müſſen wir noch beſprechen, Harda. Wie verſtehe ich das? Wer iſt der andere? Auch ein Menſch?“ Eine andere Stimme unterbrach plötzlich die Rede des Efeus. Harda hörte noch deutlich: „Gefangen! Getötet, getötet ehe er ſich einen Namen geben konnte —“ „Wer? Wer? Wer tat es?“ Die Stimmen gingen durcheinander. „Der Menſch, der hier —“ „In jenem Hauſe hält er Stefu gefangen —“ „Da ſitzt ja der Menſch, der ſo oft dort bei ihm war —“ „Was wollt ihr von Harda?“ „Sie müſſen vernichtet werden!“ „Wir wollen die Menſchen —“ Die Stimmen brachen plötzlich ab. Der Vermittler hatte ſich von Hardas Kopf entfernt, nachdem ohne ſeinen eigenen Willen die ihn überraſchenden Zurufe auch in Hardas Bewußtſein übergeführt worden waren. 19. Sorgen Einen Augenblick noch blieb Harda wie betäubt ſitzen. Dann war es ihr klar, was das bedeutete, nur bedeuten konnte. Die Stimmen rührten von andern Idonen her, die jetzt im Laboratorium entdeckt hatten, was Eynitz geſtern getan, um Material für ſeinen Bericht zu ſichern. Sie kamen zu ihrem Verſammlungsplatze, zur Stammutter Bio, um den Genoſſen zu melden, was geſchehen. Es war natürlich, daß ſie die Menſchen für ihre tätlichen Feinde halten mußten, für Verbrecher. Werner Eynitz ein Verbrecher! Und ſie ſelbſt, Harda! Und ſie konnten doch nicht anders handeln. Aber was würden die Idonen tun, was wollten ſie? Sich rächen? Fürchterlich! Sie konnten es, gewiß, die Unſichtbaren. Wo waren ſie? Harda ſprang entſetzt empor. Die Gefährlichkeit der Lage war ihr auf einmal klar geworden. Sie blickte ängſtlich um ſich her — — Rings alles ſo ſtill, ſo friedlich. Kein Laut als das leiſe Summen der Inſekten. Die hohe Buche ſtand vom Efeu umſchlungen in milder Ruhe, freundlich blitzte durch ihr grünes Laub hie und da der lichte Himmel herein. Und hier, zwiſchen den Äſten, auf dem Platze umher, da ſollte ein rachſüchtiger Feind lauern und beratſchlagen, was er jetzt gegen ſie, gegen ihn, vielleicht gegen die Menſchen überhaupt Verderbliches unternehmen könne? War denn das wirklich? War das nicht nur eine Ausgeburt ihrer erregten Phantaſie? So ſprich doch, Efeu, ſprich weiter, ſage mir, was du wollteſt, was die — die Idonen — Ja, das Wort war ihr deutlich im Gedächtnis! Idonen und Bio und Ebah, wie der Efeu hieß! Das alles ſollte ſie auch geträumt haben? Wenn doch der Efeu noch einmal reden wollte, ſie würde ihn nach einer Auskunft fragen, die ſie, Harda, ſich unmöglich ſelbſt geben konnte, und wenn dann die Antwort zuträfe, ſo wäre ja die Realität bewieſen. Aber freilich die Antwort des Efeus konnte ſie nur verſtehen, wenn ein Idone auf ihrem Haupte ſaß. Sollte ſie das nochmals verſuchen? Schon machte ſie eine Bewegung, um ſich wieder vor ihren Brief zu ſetzen. Aber nein! Das ging ja nicht. Das hieße ſich den Idonen geradezu ausliefern, wenn ſie wirklich hier herumſchwärmten. Und nach allem, was ſie erlebt hatte, konnte ſie doch gar nicht an der Exiſtenz dieſer intelligenten Weſen zweifeln. Höchſtens die Übermittlung der Pflanzenſprache mochte ſubjektive Täuſchung ſein, obgleich ſie an der Fähigkeit der Idonen, auf ihr Gehirn zu wirken, nicht zweifelte; das Daſein der Idonen dagegen war objektiv bewieſen, ſelbſt von Werner! Sie durfte ſich dieſe Weſen nicht nahe kommen laſſen, wie verlockend auch der Gedanke war, etwas über ihre Pläne zu erfahren. Aber dieſe würden ſie ihr doch nicht verraten. Noch ſtand ſie unentſchloſſen, als ſich vor ihren Augen der Briefbogen auf dem Tiſche zu bewegen begann. Nicht wie von einem Windhauch, — es war vollſtändig windſtill — ſondern ganz langſam hob ſich die eine Ecke wie von unſichtbaren Fingern erfaßt, während das Blatt auf dem Tiſche nachſchleifte. Starr vor Schreck blickte Harda auf die Erſcheinung. Da ſah ſie, daß auch die Bogen unter ihrem Hute auf der Bank ſich vorſchoben, und zugleich ſchien es ihr, als ob ihr Haar geſtreift würde. Jetzt raffte ſie ſich zuſammen, ſie ergriff das ſchon ſchwebende Blatt auf dem Tiſche und zog es raſch an ſich, wobei die obere Ecke abriß, in der freien Luft zurückblieb und dann langſam herabflatterte. Zugleich ſtürzte ſie ſich auf die Bogen, die auf der Bank lagen, und die ſie ebenfalls mit einiger Kraftanſtrengung einem unbekannten Weſen entreißen mußte, warf alles in ihre Schreibmappe, die ſie zuklappte, und entfloh, alles andere im Stich laſſend, mit ſchnellen Schritten dem gefährlichen Orte. Sie ſprang den Weg nach dem Stege hinab, nur in dem Gefühl, den unheimlichen Unſichtbaren entrinnen zu müſſen, und erſt kurz vor der Brücke hielt ſie an, um ſich erſchöpft auf einen Stein zu ſetzen. Nun erſt begann ſie nachzudenken. Was ſollte ſie tun? Wo war ſie überhaupt vor dieſem Feinde ſicher? Wohin fliehen? Nach ihrem Zimmer? Dort hatte ſie den erſten Anfall gehabt. Unter Menſchen? Das konnte ſie jetzt nicht. O Gott! Sie mußte zunächſt zu ihm, dem die größte Gefahr drohte, ſie mußte ihn benachrichtigen. Aber wie? Würde er noch im Laboratorium ſein? Sie mußte nachſehen. Dort war er jetzt vielleicht am ſicherſten, denn die Idonen ſchienen ja dieſe ihnen gefährliche Stätte verlaſſen zu haben. Mit der Mappe in der Hand, ohne Hut, machte ſie ſich auf den Weg, durch den Park und hinter dem Hauſe herum, in dem Wunſche, möglichſt jeder Begegnung auszuweichen. Sie wurde auch vom Hauſe aus gar nicht bemerkt, nur in der Fabrik begegnete ihr der Poſtbote, der ſich dieſes abgekürzten Weges bedienen durfte, um die Privatkorreſpondenz in der Villa abzugeben. „Schon die zweite Poſt?“ ſagte ſich Harda. „Iſt es wirklich ſchon ſo ſpät?“ Der Briefträger blieb ſtehen, als er ſie erblickte, und ſuchte aus den Briefſchaften, die er in der Hand hielt, einige Druckſachen und einen Brief heraus, die er ihr entgegenhielt. „Etwas für Sie, Fräulein Kern,“ ſagte er. „Danke ſchön, Herr Beck!“ In ihrer Eile nahm ſich Harda gar nicht Zeit, nach den Poſtſachen zu ſehen, ſie ſteckte ſie in ihre Mappe und lief nach dem Laboratorium. Der Diener ſah ſie kommen und hielt ſchon den Schlüſſel bereit. „Der Herr Doktor iſt nicht mehr da,“ ſagte er. „Aber er hat eine Nachricht oben für das gnädige Fräulein zurückgelaſſen.“ Harda nickte, ſprang die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Sie legte ihre Mappe auf den nächſten Tiſch und ſah zunächſt nach, ob alle Fenſter geſchloſſen ſeien — nein, eines ſtand auf, ſie verriegelte es. Die Furcht vor den Idonen beherrſchte ſie. Dann erſt ergriff ſie den an auffallender Stelle liegenden Brief von Eynitz und riß ihn auf. Sie las: „Hochverehrtes Fräulein. Zu meinem großen Bedauern iſt es mir nicht möglich, Ihr Eintreffen abzuwarten, da ich fürchte, daß ich heute überhaupt nicht mehr die Freude werde haben können, Sie zu ſprechen. Ich werde zu einer Frau gerufen, wo ich wahrſcheinlich bis über Mittag zu tun habe, dann hat ſich eine ſchwere Operation im ſtädtiſchen Krankenhauſe und nachher eine gerichtliche Sektion in Moosdorf nötig gemacht, alles Dinge, von denen ich geſtern nichts wiſſen konnte. Nehmen Sie dazu, daß ich dann noch meine geſamte Privatpraxis zu erledigen habe, ſo werden Sie begreifen, daß ich erſt am ſpäten Abend zu unſerer Arbeit zurückkehren kann. Ich habe aber heute ſchon das Wichtigſte getan. Der Bericht iſt bis auf die Begleitſchreiben fertig und liegt im Schrank. Haben Sie doch die Güte, ihn durchzuleſen. Morgen früh kann dann alles expediert werden. Im Laboratorium iſt alles in Ordnung, die Gefangenen ſind noch da, und über die Sporangien, deren Entwicklung im Laufe der nächſten vierundzwanzig Stunden zu erwarten iſt, habe ich die Fangapparate angebracht. Auf Wiederſehen, wie ich hoffe, morgen früh. In aufrichtigſter Ergebenheit Ihr Werner Eynitz.“ Harda ſeufzte leiſe. Es war ja doch eine Enttäuſchung, daß ſie ihn heute nicht ſehen ſollte. Das wollte ſie ſich gar nicht verhehlen. Und über das letzte Abenteuer mit den Idonen hätte ſie ſo gern ſeine Anſicht vernommen. Sie ängſtigte ſich vor ihrer Rache. Schon einmal hatten ſie ihn durch ihren beizenden Saft verletzt, konnten ſie ihn nicht im Schlafe — o Gott, ſie ſchauderte in dem Gedanken. Aber er würde ſie wahrſcheinlich ausgelacht haben. Immerhin durfte ſie etwas ruhiger ſein. Vorläufig hatte er nichts zu befürchten. Und hier im Laboratorium ſchienen ſich gegenwärtig keine freien Idonen zu befinden. Hier war ſie wohl auch ſelbſt am ſicherſten und am wenigſten geſtört. Nun hatte ſie noch Zeit, ſich zu überlegen, wieviel ſie von ihrer Unterredung mit Ebah mitteilen ſollte. Und der Brief an Geo, der mußte poſtfertig gemacht werden. Schon halb elf? Nun, noch zwei Stunden, da konnte noch viel getan werden. Wenn der Brief bis ein Uhr in den Kaſten kam, ſo erhielt ihn Geo noch heute mit der letzten Poſt. Harda holte zunächſt den Bericht aus dem Schranke und dann aus ihrer Taſche ihr Frühſtücksbrötchen. Sie begann zu lesen. Die Handſchrift lieſt ſich ſo nett, dachte ſie, dabei gruben ſich ihre weißen Zähne in das knusprige Brötchen. Ja, ſie war hungrig, erſt jetzt merkte ſie es. Die erſte Seite des Quartbogens war beendet. Nun umblättern, aber vorſichtig, daß kein Fettfleck hineinkommt! Da beißen wir erſt noch einmal ab und legen das Frühſtück beiſeite. So, nun weiter. Die zweite, die dritte, die vierte Seite — Das Frühſtück war vergeſſen. Die ganze Entwicklung der letzten Wochen ſtieg wieder vor ihren Augen auf. Wie klar war das alles — und ſo ruhig. Und wie überlegt, kühl, folgerecht. Sie hörte ihn ſprechen, und es war ihr, als ſähe er ſie dazwiſchen durch die goldene Brille mit ſeinen treuen, offenen Augen an. Der Bericht war zu Ende, aber ſie ſah noch den Verfaſſer vor ſich, als müßte ſie ihm zunicken. Sie ſaß noch eine Weile ſtill und blickte ins Weite. Dann fuhr ſie auf und warf den Bericht auf den Tiſch. „Ich bin doch ein dummes Mädel,“ ſagte ſie halblaut, „ich glaube gar, ich ſehne mich nach — nach — ja was denn? Nach dem Frühſtück!?“ Sie ergriff den Reſt des Brötchens und verzehrte ihn. Dabei fiel ihr Blick auf die Schreibmappe. „Nun aber zu dir, mein Guter,“ dachte ſie. „Was mag ich nur da zuſammengeſchrieben haben!“ Sie öffnete. „So ein Haufen! — Richtig — da iſt ja noch die Poſt! Was iſt denn das? Aus Berlin? Das iſt doch Frickhoffs Handſchrift?“ Harda ſchnitt den Brief langſam mit dem Papiermeſſer auf und entfaltete den Bogen. Das war ein langes Schreiben. Das Herz klopfte ihr, aber ſie zwang ſich, ruhig zu leſen. Bis zu Ende. Da war es alſo! Ein Heiratsantrag in aller Form. Es war ein liebenswürdiger, warmgehaltener, herzlicher Brief, der ſie nur ehren konnte. Sie verſtand die zarte Rückſicht, daß er ihr ſchrieb, aus der Ferne, jetzt ſchrieb, und ihr ſo Zeit gab, mit ſich zu Rate zu gehen; ſie verſtand auch, warum er nicht länger zögern wollte, nicht zögern zu dürfen glaubte. Lange ſaß ſie in ſich verloren und ſchüttelte nur manchmal leiſe den Kopf. Ihre Blicke wanderten zwiſchen den Schriftſtücken auf dem Tiſche hin und her. Wenn ſie jetzt Ja ſagte? Dann war ihr Leben entſchieden. Glücklich, nach Anſicht der Welt. Ein angeſehener, einflußreicher, innerlich tüchtiger und gediegener Mann, nicht unſympathiſch, der ſie ehrlich liebte und ihr äußerlich alles bieten konnte, was Reichtum vermag. Warum ſeufzte ſie doch wieder? Dann griff ſie nach dem Briefe an Geo. Sie ordnete und numerierte die Bogen ohne ſie ganz zu durchleſen. Unter den Klecks, den die fortgeworfene Feder gemacht hatte, ſchrieb ſie. „Sei nicht böſe, du Lieber, hier hat mich wieder eine Elfe überfallen, und ich habe ſchreckliche Dinge gehört, ſie haben uns Rache geſchworen. Ich war nicht imſtande weiter zu ſchreiben, bin es auch jetzt noch nicht. Halte mich aber nicht für verdreht, ich bin ganz ruhig, ich überlege nur. Inzwiſchen bekam ich einen herzlichen Brief vom Kommerzienrat Frickhoff, worin er mir ſeine Hand anbietet. Ich ſchreibe im Laboratorium, ich bin allein, Werner kann erſt morgen herkommen. Verzeihe die Eile, ich konnte den Brief nicht mehr durchleſen, du wirſt ſchon das Fehlende finden. Ich muß überlegen und ſchreibe bald wieder. Was rätſt du mir? Antworte mir recht bald. Es küßt dich von Herzen deine Harda.“ Dann ſetzte ſie noch darunter: Ich mußte den Brief einer unſichtbaren Idone — Elfe — aus der Hand(?) reißen, daher die fehlende Ecke. Es iſt wirklich wahr. H. Sie kuvertierte und adreſſierte den Brief. Hierauf nahm ſie eine kleine weiße Briefkarte und ſchrieb: „Seien Sie auf der Hut vor den „Elfen“, ſie wollen ſich rächen. Ich hoffe Sie morgen früh zu ſprechen.“ Ohne Unterſchrift. Auf der Karte oben in der Ecke ſtand das Monogramm „H. K.“ So auch auf dem Umſchlag. Adreſſe: Herrn Dr. Eynitz, Wiesberg, Wilhelmſtraße 4. Harda packte ihre Mappe zuſammen, die beiden poſtfertigen Briefe nahm ſie in die Hand. Es war halb ein Uhr. Jetzt ging ſie den Hauptweg zurück, um die Briefe beim Portier in den Poſtkaſten zu ſtecken. Ihr Schritt wurde zögernder, je näher ſie dem Hauſe kam. Sigi ſtand in der Veranda und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Geländer. Als ſie Harda kommen ſah, ſetzte ſie ſich an den gedeckten Tiſch, faltete die Hände vor ihrem Teller und blickte Harda ſtumm und ſtreng an. „Guten Morgen, Kleine!“ rief Harda, ihre Mappe auf den Nebentiſch legend. „Wir warten,“ ſagte Sigi, ohne ihre ſteife Haltung zu ändern. „Wer „wir“ auf „wen“?“ „Wir, die Familie Kern, auf unſre älteſte Tochter.“ „Was iſt denn los?“ fragte Harda erſtaunt. Jetzt erſt bemerkte ſie, daß nur zwei Gedecke aufgelegt waren. „Herr Kern belieben verreiſt zu ſein. Fräulein Blattner liegen in ihrem Zimmer, und wir geſtatten unſrer Schweſter Harda, ſich zu ſetzen. Jetzt aber etwas ſchleunig, denn wir hungern.“ Sie klingelte. „Wo haſt du denn bloß den ganzen Morgen geſteckt? Wieder bei deinem Sternentau oder bloß bei deinem Sterne?“ fuhr Sigi fort. „Benimm dich, Kleine,“ drohte Harda. „Ich bin jetzt Familienoberhaupt. Sag' einmal ernſthaft, was iſt mit der Tante?“ „Sie hat Migräne. Ich kam aus der Stadt, da ſtand ſchon der Wagen vor der Tür und der Vater kam herunter. Er ſagte nur, daß er plötzlich nach Berlin müſſe, ich ſoll dich grüßen und dir die Depeſche geben. Ich werde nicht klug daraus, denn ich kann den Aufſichtsrat und die Nordbank und den Zentralausſchuß und den Pech-Abſchluß oder wie es heißt, nicht auseinanderhalten.“ Harda ſtudierte die Depeſche. Sie war von Frickhoff, aber ſie enthielt nur geſchäftliche Auseinanderſetzungen, weshalb Kerns Anweſenheit in Berlin ſofort und unbedingt notwendig ſei. Sie nahm das Papier an ſich. „Und die Tante?“ fragte ſie. „Ich weiß weiter nichts, ſie läßt vorläufig niemand hinein. Vielleicht brummt ſie bloß. Ich weiß ja nicht, warum ſie bei Vaters Reiſen immer wütig iſt, ſie könnte ſich doch endlich dran gewöhnt haben. Du — ja, wo warſt du denn? — wir haben das Feuerwerk beſtellt, großartig. Schlußtableau — aber was machſt du heute für ein weinſteinſaures Geſicht? Iſt dir was paſſiert? Iſt dir 'ne unſichtbare Frucht auf die Naſe gefallen?“ „Vielleicht mehr wie eine,“ ſagte Harda ſeufzend. „Na?“ rief Sigi und blickte die Schweſter fragend an. „Soll ich mir dabei etwas denken?“ „Ach, dummes Zeug! Es ging mir nur allerlei durch den Kopf. Erzähl' mir noch was vom Feuerwerk.“ Sigi plauderte, aber Harda faßte nicht viel auf. Sie war in Sorgen. Einen Augenblick hatte ſie wirklich überlegt, ob ſie nicht Sigi in irgend einer Form vor den Idonen warnen könne. Aber ſie ſah keinen Weg. Den eigentlichen Sachverhalt durfte ſie nicht darlegen, ſie wäre auch von Sigi verhöhnt worden. Und über Frickhoffs Antrag konnte ſie unmöglich ſprechen — das mußte ſie doch erſt mit ſich ſelbſt abmachen. Es war eigentlich ganz gut, daß der Vater nicht da war, ſo brauchte ſie nichts zu verbergen. Nach der Tante mußte ſie freilich einmal ſehen, davor fürchtete ſie ſich. Das Ganze aber ſtand unter der Sorge, daß die Idonen irgend etwas gegen die Menſchen unternehmen könnten. Das alles bedrückte ſie. „Du ſchläfſt ja,“ ſagte Sigi. „Steck wenigſtens noch die Kirſchen in den Mund.“ „Ja, ich bin müde. Ich bin früh aufgeſtanden — Mahlzeit, Kleine! Ich geh' auf mein Zimmer.“ Sie ergriff ihre Mappe und ging hinaus. In ihrem Zimmer verdunkelte ſie alle Fenſter aufs Tiefſte, und als ſie nirgends etwas Leuchtendes entdecken konnte, taſtete ſie ſich nach dem Diwan. Ermattet ſank ſie in die Kiſſen. Wo waren jetzt ihre Briefe? Sie folgte ihnen in Gedanken. Aber wie ſeltſam! Die ſtiegen ja aus dem Briefkaſten wieder in die Höhe, in den ſie ſelbſt ſie geworfen hatte! Kein Wunder, an jedem zog ein ſchwebendes Figürchen mit zwei Armen und hatte doch noch drei Arme übrig, um in der Luft herum zu fuchteln und ihr etwas zuzuwinken. Die Menſchen hätten überhaupt keine Briefe mehr zu ſchreiben. Wenn ſie etwas wünſchten, ſo müßten ſie ſich an den Efeu wenden. Da kam auch ſchon der Efeu herangewachſen, er wuchs ſo ſchnell, daß ihm Harda gar nicht entgehen konnte, nun legte er ſich um ſie, er hielt ſie feſt, aber die Zweige waren wieder Elfen, nur daß ſie gerade wie Frickhoff ausſahen — nein, ihre Köpfe waren lauter Goldſtücke mit Frickhoffs Bildnis — oder war es das von Eynitz? Wie kamen nur die Goldſtücke alle in ihren Hut? Der mußte ja zerreißen! Richtig, da fielen ſie ſchon heraus, mehr und mehr, ein ganzer Strom — aber es klang nicht wie Metall, es war ganz ſtill — ganz ſtill — nun ſah man's auch nicht mehr — — Harda ſchlummerte. 20. Der Überfall Es war gut, daß Harda einen tüchtigen Nachmittagsſchlaf hatte halten können; denn ihre Befürchtung, daß die Nacht wenig ruhig verlaufen würde, traf ein. Als ſie hinabging, um ſich nach dem Befinden der Tante zu erkundigen, fand ſie dieſe zwar beim Kaffeetiſch auf der Veranda, aber in ſehr ungnädiger Stimmung. In der Depeſche von Frickhoff und der plötzlichen Abreiſe Hermanns ſah ſie nichts, als ein abgekartetes Spiel, wozu ihre ganze Umgebung ſich vereinige, um ihrem Schwager Zuſammenkünfte mit ſeiner „Freundin“ zu ermöglichen. Vergeblich ſetzte ihr Harda auseinander, warum dieſe Berufung der Aufſichtsräte und die Konferenzen in Berlin geſchäftlich abſolut nötig und dringend wären, und welche wichtigen Beſchlüſſe davon abhingen. Zwar wagte Minna nicht mehr, direkte Beſchuldigungen gegen Harda auszuſprechen, aber ſie benutzte irgend eine nebenſächliche wirtſchaftliche Anordnung, die Harda getroffen hatte, um ihr vorzuwerfen, daß ſie ihr die Leitung des Haushalts aus der Hand nehmen und ihre Stellung untergraben wolle. Und dann ſteigerte ſich ihr Unmut zu häßlichen Bemerkungen über Hardas botaniſche Studien und ihren Aufenthalt im Laboratorium des Doktors, ſo daß Harda aufſtand und ohne ein weiteres Wort die Veranda verließ. Um ſich zu zerſtreuen, wollte ſie zum Tennisſpiel gehen, aber noch ehe ſie das Haus verlaſſen hatte, wurde Beſuch gemeldet, den ſie empfangen mußte. Er blieb über Abend, auch Minna erſchien wieder und erfüllte aufs Liebenswürdigſte ihre Repräſentationspflichten, ſo daß Harda ſchon zu hoffen anfing, der reizbare Zuſtand würde vorübergehen. Aber kaum waren, nachdem der Beſuch ſich ziemlich früh verabſchiedet hatte, Minna und Sigi zu Bett gegangen, während Harda noch mit ihren Gedanken beſchäftigt angekleidet auf dem Diwan ruhte, als ſie die Anzeichen eines nervöſen Anfalls der Tante vernahm. So vergingen noch einige Stunden in aufregender Pflege, ehe ſich Harda zur Nachtruhe zurückziehen konnte. Wieder ſchloß ſie Jalouſien, Fenſter und Vorhänge, drehte das Licht aus und ſpähte umher, ob ſie irgendwo das Leuchten von „Elfen“ entdecken könne. Es war nichts zu bemerken. Dennoch ängſtigte ſie ſich vor der Nacht, ſie wußte ja, daß die Idonen ſich nicht ſehen zu laſſen brauchten, wenn ſie nicht wollten. Aber ihre Müdigkeit war ſo groß, daß ſie ſich doch zur Ruhe legte. Als ſie in dem völlig verfinſterten Zimmer erwachte und Licht machte, um die Uhr zu befragen, erkannte ſie, daß es zwar noch früh am Tage ſei, aber doch ſchon nach Sonnenaufgang. Sie fühlte ſich in dem Gedanken beruhigt, daß die Idonen, wenn ſie ihr wirklich etwas antun wollten und konnten, wohl die Zeit des Schlafens dazu benutzt haben würden, und daß ſie nun zunächſt nichts von ihnen zu fürchten habe. Dennoch konnte ſie nicht wieder einſchlafen, denn die innern Fragen, die nach einer Löſung verlangten, beſchäftigten ſie jetzt zu lebhaft. Was ſollte ſie Frickhoff antworten? Bis jetzt hatte ſie dieſe wichtige Entſchließung immer noch zurückgedrängt. Ihr Herz ſprach mit keiner Entſchiedenheit, aber durfte ſie deswegen ohne weiteres nein ſagen? Hatte nicht der Verſtand ſo viel für ein Ja vorzubringen? Sie wußte, daß ein Nein den Vater kränken, wenigſtens ihm wehe tun würde, es mußte die ganze Stellung zu Frickhoff und damit wichtige Intereſſen nachteilig berühren. Zwar würde der Vater ihren freien Entſchluß unter allen Umſtänden achten, doch hätte ſie ihm gern die Freude gemacht — — Aber — hier durfte nur ihr perſönlicher Wille entſcheiden. Freiheit, Freiheit! Würde ſie die gewinnen, wenn ſie den Antrag des Kommerzienrats annahm? Wie oft hatte ſie das ſchon überlegt — jetzt mußte ſie ſich entſcheiden. Die Freiheit in ihrem Sinne würde ſie nicht gewinnen. Gewiß würde ihr Leben nicht unnütz ſein, aber darum brauchte ſie nicht zu heiraten. Darum brauchte ſie nicht das Haus zu verlaſſen und Sigi und ihre Studien — Nein, nein — das Geſpräch mit dem Efeu kam ihr in den Sinn — war Frickhoff der andere, für den ſie die Einzelſeele dahingeben wollte? War das ein Blühen, wie ſie es meinte? Sie achtete in Frickhoff den ältern Freund, ſie ſchätzte ihn — aber daß ihr Gefühl nicht Liebe war, das glaubte ſie jetzt zu wiſſen, denn — ja, warum wußte ſie es jetzt? Es traten ihr die letzten Erlebniſſe ſo deutlich in Erinnerung, die Stunden im Laboratorium — Gedanken konnte ſie nicht formulieren, es war nur eine Stimmung, eine Sehnſucht, ein Wunſch — ja wenn, wenn —! Aber dieſem Gefühlsſpiel wollte ſie ſich nicht hingeben, ſich auszumalen, wie es wäre, wenn — nein, das erzeugt ſo ſchöne Träume, wilde Träume — Harda ſprang empor. Nein, ſie konnte ſich nicht entſcheiden. Sie wollte warten, bis ſie die Antwort von Geo bekommen, bis ſie Werner wieder geſprochen hätte. Überhaupt, unter dem Fluche, der auf ihr lag, bedroht von der Feindſchaft der geheimnisvollen Elfenmacht, wie konnte ſie da ſich in das Leben eines andern ſtellen? Daß ihr das noch garnicht eingefallen war! Das ging ja nicht. Das war ſchon ein Grund, wenngleich kein angebbarer, zur Ablehnung gegenüber Frickhoff, auch gegenüber jedem andern. Jedem? Nun ja, wenn einer in der gleichen Not ſtand — — aber das kam nicht in Frage. Sie öffnete die Fenſter, die Jalouſien. Wie herrlich lag der ſonnige Sommermorgen vor ihr. Das lockende Grün von Garten und Wald leuchtete in friedlicher Ruhe. Und da ſchwärmten vielleicht ihre Feinde umher. Wie konnte ſie das Frickhoff deutlich machen, wie konnte ſie ihm beweiſen, welches wunderſame Geſchick ſie von ihm trennte? Nur einer wußte es, aber auch der mußte ſchweigen, wenigſtens vorläufig. Während ſich Harda ankleidete, entwarf ſie in Gedanken einen Abſagebrief an Frickhoff — immer wieder ſuchte ſie nach neuen Formen verbindlichen, freundſchaftlichen Ausdrucks. Dann ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb in eilender Haſt. Ohne den Brief wieder durchzuleſen warf ſie ihn in ein Fach ihres Schreibtiſchs, das ſie verſchloß. „Da liege,“ ſagte ſie entſchieden. „Wenn ich dich wieder herausnehme, werde ich ruhiger ſein und beſſer wiſſen, ob ich richtig geſchrieben habe. Und nun, hinaus! Was wird der Tag bringen?“ Harda wollte ſofort nach dem Frühſtück, wobei Tante und Schweſter jedenfalls noch nicht anweſend ſein würden, nach dem Laboratorium gehen. Denn die neuen Erfahrungen über die Idonen mußten Eynitz ſogleich mitgeteilt werden, und das konnte nur mündlich geſchehen. Erſt als ſie ſich nach ihrem Hute umſah, fiel ihr wieder ein, daß ſie ihn bei ihrer Flucht unter der Buche im Stich gelaſſen hatte. Sollte ſie einen andern aufſetzen? Ach, ſie konnte ihn ja nachher dort holen. In aller Eile frühſtückte ſie und lief dann den nächſten Weg nach dem Laboratorium. Es war ſchon ſieben Uhr, und da konnte Werner unter Umſtänden bereits dort ſein. Wenn er nun ihre Warnung nicht ernſthaft verſtanden hatte? Wenn er in einen Hinterhalt der Elfen gefallen war? Sie atmete auf, als ſie auf ihre haſtige Frage vom Diener vernahm, daß der Herr Doktor noch nicht da ſei. Den Schlüſſel in der Hand wartete ſie ein Weilchen an der Tür. Sollte ſie ſich allein hinaufgetrauen? Eine unbeſtimmte Angſt hielt ſie ab, das Zimmer ohne Begleitung zu betreten. Aber den Diener mochte ſie nicht rufen. Bald ſah ſie Eynitz vom Portierhaus her eilig herankommen. Sie ging ihm langſam entgegen. Er grüßte mit ſtrahlendem Geſicht. „Sie ſind ſchon hier? Sie waren ſo gütig —“ „Ich muß Ihnen einiges mitteilen, ehe wir hinaufgehen,“ ſagte ſie gleichzeitig und fühlte, wie ſie errötete. „Ich habe geſtern ein ſeltſames Abenteuer mit den Idonen gehabt —“ „Mit den Idonen? Was iſt das?“ „Ja, denken Sie, ſo nennen ſich nämlich die Elfen ſelbſt.“ „Die Gametophyten?“ Er blieb ſtaunend ſtehen. „Wie kommen Sie darauf?“ Sein Blick prüfte ihre Miene. „Ich muß es Ihnen erzählen. Laſſen Sie uns langſam noch einmal hier auf und ab gehen. Es droht uns Gefahr.“ Drüben im Maſchinenhaus puffte der Dampf, die Treibriemen ſauſten, nebenan ſtampften die Pocher. Von der Ferne kreiſchten die Kreisſägen. Über die Schienen ſchob ſich raſſelnd ein ſchwerer Laſtzug. Mitten im lauten Getriebe der haſtenden, ſchaffenden Arbeit berichtete Harda klopfenden Herzens ein Erlebnis, das ebenſo gewiß und wirklich war wie dieſes greifbare Menſchenwerk, und doch ſo fremdartig, daß es jeder Unvorbereitete für eine Märchenphantaſie halten mußte. Ein Erlebnis aus einem andern Reiche des Bewußtſeins. Von der lebendig fühlenden Natur, von der ſprechenden Pflanze, von deren Konflikt mit dem forſchenden Menſchengeiſte kündigten ſich hier Tatſachen an, die von der gleichen geſetzlichen Notwendigkeit waren wie dieſe techniſchen Umwandlungen der Energien, nur daß ſie zum erſten Male mit Menſchenhirnen in wirkſame Berührung kamen. Harda berichtete über ihre Erlebniſſe unter der Buche und ihr Geſpräch mit dem Efeu. Den Inhalt davon deutete ſie freilich nur an. Im ganzen wurden Beobachtungen dadurch beſtätigt, die Eynitz nicht neu waren. Aber die fremden ſprachlichen Ausdrücke wie „Idonen“ und „Bio“, die hier eingeführt wurden, erregten ſeine Aufmerkſamkeit höchlichſt. Für dieſe Vorſtellungen beſaß Harda doch ſchon in „Elfen“ und „Sternentau“ ausreichende Bezeichnungen. Wie waren dieſe neuen Worte zu erklären? „Wenn ich es mir näher überlege,“ ſagte Eynitz auf Hardas Frage, „ſo war eigentlich derartiges zu erwarten. Nehmen wir einmal an, nur um uns ein deutlicheres Bild von dem Vorgange zu machen, die Sprache der Pflanzen beſtände etwa in feinſten Druckänderungen in den Geweben, ſo werden dieſe bei der Übertragung auf das Menſchenhirn in beſtimmte Innervationen des akuſtiſchen Zentrums umgeſetzt, die Ihnen als beſtimmte Laute, Worte, zum Bewußtſein kommen. Wenn es ſich nun um individuelle Vorſtellungen des Pflanzenbewußtſeins handelt, um Eigennamen wie „Idonen“ und „Bio“, ſo ſteht für dieſe im vorhandenen menſchlichen Sprachſchatze kein geläufiger Ausdruck zur Verfügung. Sie haben ja Namen dafür ſelbſt erſt individuell erſonnen. Da werden alſo die uns unbekannten Formen der Pflanzenmitteilung durch irgend welche eigentümlichen akuſtiſchen Bilder in uns erſetzt werden, die Sie als die Klänge „Idonen“ und „Bio“ vernommen haben. Ich muß geſtehen, daß mir gerade dieſe Abweichung von Ihrem Wortgebrauch als ſicherſtes Zeichen erſcheint, daß es ſich hier um eine ſelbſtändige, objektive Manifeſtation des Pflanzenbewußtſeins handelt.“ „Und die andern Stimmen, die auf einmal hineintönten?“ „Das kann ich auch nur ſo erklären, daß hier herankommende Elfen das Geſpräch unterbrachen und deren Äußerungen Ihnen noch übermittelt wurden. Ich zweifle nicht, daß Sie da Bruchſtücke des Berichts vernommen haben, den die aus dem Laboratorium zurückkehrenden Elfen erſtatteten, und Drohungen der überraſchten anderen. Und — Fräulein Harda — die Sache will bedacht werden. Jedenfalls war es ſehr recht, ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mich hier erwartet haben. Bleiben Sie jetzt hier, bis ich mich von der Lage oben überzeugt habe.“ „Auf keinen Fall,“ rief Harda beſtimmt. „Es muß jemand dabei ſein —“ Eynitz begann zu lachen. „Ich hoffe, wir ſehen Geſpenſter! Wahrſcheinlich iſt alles unverändert. Alſo kommen Sie nur mit. Aber Sie müſſen mir erlauben voranzugehen. Und wenn Sie ſehen, daß ich etwa plötzlich verſchwinde, ſo ſchellen Sie, bitte, falls Sie noch Zeit haben.“ Sie ſtiegen die Treppe hinauf und Eynitz ſchloß die Tür auf. Er blieb in der geöffneten Tür ſtehen. Harda wollte an ihm vorüber. Da die Läden geſchloſſen waren, empfing das Zimmer nur durch die offenſtehende Tür Licht. Eynitz hielt Harda an der Hand zurück und zog die Tür hinter ſich ins Schloß. „Es riecht nach Alkohol,“ bemerkte Harda. „Wir müſſen zunächſt im Dunkeln prüfen, ob Elfen da ſind,“ ſagte er. Sie ſtanden Hand in Hand. Harda fühlte alle Angſt vor den Idonen ſchwinden. „Ich ſehe nichts,“ ſagte ſie. Und ihre Hand ihm mit leiſem Druck entziehend, taſtete ſie nach dem Einſchalter. Das Licht flammte auf. Sie lief gleich nach den Fenſtern, um die Läden zu öffnen. Als ſie ſich umdrehte, ſah ſie, wie Eynitz vor dem Kaſten Ⅲ kniete, der die gefangene Idone enthielt. Sie erſchrak, in dem Glauben, er ſei vielleicht geſtürzt, aber ſchon hörte ſie ſeine Stimme: „Sie iſt fort! Sehen Sie nur. Eine runde Öffnung, wie herausgeſägt aus dem Drahtgitter!“ „Und hier, was iſt das?“ rief Harda. „Glasſcherben!“ „Das Gefäß mit Alkohol, das die tote Elfe enthielt, liegt zerſchlagen am Boden.“ Sie ſahen ſich jetzt weiter im Zimmer um. Es bot ein Bild der Verwüſtung. Sämtliche Käſten waren erbrochen. Bei einigen waren Stücke aus den Drahtgeflechten entfernt, bei anderen runde Ausſchnitte aus den Glasſcheiben wie mit dem Diamanten herausgeſchnitten. Das Netz, worin die eine Idone gefangen war, lag zerriſſen am Boden. Auch alle andern Netze waren zerſtört und entfernt. Ob ſich vorher Idonen darin gefangen hatten, war nicht feſtzuſtellen. Sämtliche Sporenbecher der vorhandenen Sternentaupflanzen zeigten ſich abgeſchnitten, auch die Stellen, an denen noch Anſätze dazu keimten, waren verletzt, die Pflanzen ſelbſt jedoch verſchont. Das geſamte Material, das Eynitz in mühevoller Arbeit geſammelt hatte, war verloren. Selbſt die Photographieen und Zeichnungen ſchienen unbrauchbar gemacht, ſoweit ſie ſich nicht in dem verſchloſſenen Schranke befanden. Dieſen, die photographiſchen Apparate und die Mikroſkope hatten die Idonen nicht beſchädigt. Mit finſterm Blick ſtarrte Eynitz auf die zerſtörte Arbeit. Was nun? war ſeine erſte Sorge. War alles verloren? Würde es unmöglich ſein, die Studien fortzuſetzen? Würden ſich die Idonen dauernd den Menſchen entziehen oder gar feindlich gegen ſie vorgehen? Die Fähigkeit dazu ſchienen ſie ja zu beſitzen. Aber auch dann mußte ſich das Problem angreifen laſſen. Nur freilich, es war nicht ohne Gefahr. Und eines — eines war nun vorüber! Die goldnen Stunden an ihrer Seite, dieſer beglückende Verkehr mit Harda — nein, ſie durfte nicht hier weilen, wo unſichtbare Gewalten tätig waren. Und ſie ſollte er verlieren? Alles andere ſchrumpfte auf einmal für ihn zum Unweſentlichen zuſammen. Er ſah nur Harda. Sorge um ihr Ergehen und die Qual, ſie entbehren zu müſſen, zerriſſen ihm die Seele. Harda hatte ſich an den Tiſch geſetzt und ſtützte die Stirn in die Hände. In ihren Augen fühlte ſie Tränen. Sie zog ihr Tuch und tupfte die Lider ab. Dann erhob ſie ſich. Eynitz trat an ſie heran. „Die Rache der Idonen,“ ſagte er leiſe. „Ich trage die Schuld, und doch bin ich nicht ſchuldig. Wir konnten nicht anders handeln. Aber Ihnen gegenüber bin ich verantwortlich. Ich habe Ihnen Ihre Freude geraubt, den Sternentau. Verzeihen Sie mir. Ich gebe den Kampf nicht auf. Ich will alles tun, Ihnen Erſatz zu ſchaffen. Noch weiß ich nicht — aber —“ Er ſtockte und begann wieder mit ſich bezwingender Erregung. „Auf Fehlſchläge muß man gefaßt ſein. Es iſt mir ja nur um Ihretwillen. Sie dürfen ſich nicht der Gefahr ausſetzen. Ach, und das hängt ja alles aufs Engſte zuſammen mit — mit dem, was Sie — mir geworden ſind, was ich nicht entbehren kann — Harda —“ Er faßte ihre Hand und zog ſie an ſeine Lippen. Harda blickte ihn treuherzig an. Sie wollte etwas ſagen, aber ehe ſie das Wort fand, fühlte ſie ſich an ihn herangezogen. Auf einmal hielten ſich beide umſchlungen und ihre Lippen konnten nicht ſprechen. Eine ganze Weile. Dann klang es ſelig: „Harda, meine Harda! Iſt es denn möglich?“ Ihre angſtvolle Spannung löſte ſich in einem übermütigen Glücksgefühl. „Möglich? Möglich? Was wirklich iſt, muß wohl möglich ſein! Ja, ja!“ rief ſie. „Aber es iſt gefährlich hier.“ „Wir bleiben zuſammen.“ Sie lag wieder in ſeinen Armen. Plötzlich riß ſie ſich los und eilte nach einem der Stühle an der Wand, wo ſie ſich niederließ. „Bleib dort, bleib!“ rief ſie ihm zu. „Wenn jetzt Idonen hier ſind, ſie ſehen ja alles!“ „Das iſt nun ganz gleichgültig,“ ſagte er lachend. „Denke mal, wenn ſie's ausplaudern wollen, da müßten ſie's doch gegen andere tun als wir, das gäbe einen ſchönen Beweis für ihre Exiſtenz.“ Er ſetzte ſich neben ſie und faßte ihre Hand. „Ach,“ ſagte ſie, „ſo was wird auch ohne Idonen geſchwatzt. Aber es iſt ja nun egal. Jetzt wollen wir erſt mal aufräumen.“ Sie machten ſich an die Arbeit, die freilich manchmal unterbrochen wurde. Aber ſie ſprachen auch ſehr verſtändig dabei. „Was müſſen das für ſeltſame Weſen ſein, die das Metall und das Glas so ohne Werkzeuge durchſchneiden können,“ ſagte Harda, die Glasdeckel eines Kaſtens betrachtend. „Ohne Werkzeuge werden ſie nicht ſein, ſie müſſen ſich etwas derartiges angefertigt haben, ſonſt hätten ſie die Idone in Nummer drei ſchon früher befreien können. Ich denke nur, ihre Technik wird nicht wie unſre hauptſächlich eine mechaniſche, ſondern mehr eine chemiſche ſein, durch Säuren und Ätzungen wirkend, wie das ja auch ihrem organiſchen Zuſammenhange mit den Pflanzen entſpricht. Ihre Mittel ſind andre als die unſren, aber nicht ſchwächere. Und das iſt eben meine Sorge. Sie ſind gefährlich. Darum wollte ich dich von hier fort haben. Ich — ich hab's nur nicht zuſtande gebracht.“ „Ich habe keine Angſt mehr. Da ſie Intelligenzweſen ſind, werden ſie wohl noch auf irgend eine Weiſe mit ſich reden laſſen.“ „Aber das geht nicht! Laß dir ja nicht einfallen, dich noch einmal von einem Idonen beſuchen zu laſſen. Man kann nicht wiſſen, was er dir antut.“ „Dazu habe ich auch gar keine Luſt.“ „Vorſichtig müſſen wir allerdings ſein,“ begann Werner wieder. „Zunächſt müſſen wir zu ergründen ſuchen, was dieſe ganze Form des Angriffs bedeutet. Daß ſie ihre Gefangenen befreien, iſt natürlich. Daß ſie auch die Toten wegſchaffen, könnte auf Pietätsgründen beruhen, die wir bei Intelligenzweſen annehmen müſſen. Warum aber zerſtören ſie ihre eignen Keime, die Sporenbecher von allen Pflanzen, nicht aber die Pflanzen ſelbſt?“ „Wahrſcheinlich wollen ſie uns auch alles Unterſuchungsmaterial entziehen,“ meinte Harda. „Die Photographieen, die Zeichnungen — Woher ſie das nur wiſſen? Und wo ſie das hingeſchleppt haben mögen? Ach, es iſt ein Jammer! Die paar Sachen im Schranke ſind älteren Datums und nicht viel wert. Wir haben faſt nichts mehr!“ Sie ſeufzte. Werner legte den Arm um ſie. „Ich habe noch was, und für alle Idonen tauſche ich's nicht ein, was ich gefangen habe.“ „Das hab' ich freilich auch,“ ſagte ſie glücklich. „Und weißt du,“ fuhr ſie ſchelmiſch fort, „von dieſem ganzen Unglück wollen wir einmal vorläufig gar nichts ſagen.“ „Daß uns die Idonen durchgegangen ſind? Nun ja, da noch niemand etwas davon weiß, daß wir ſie gehabt haben, ſo können wir natürlich zunächſt abwarten, was nun wird. Es gibt ja noch Sternentau im Walde und ſonſt wo. Aber Emmeyer hat doch die Bilder geſehen.“ „Was weiß denn Emmeyer? Die Photographien konnte er ſich nicht deuten, die haben nur wir verſtanden. Und die merkwürdigen Früchte, an die er denkt, nun, die haben ſich eben zerſetzt. Weg ſind ſie! Mag er die chemiſchen Konſequenzen ziehen.“ „So einfach wird das wohl nicht gehen,“ ſagte Werner. „Das bedarf noch weiterer Überlegung. Wir können uns Zeit nehmen, der Bericht kann nun doch nicht abgehen — vorläufig. Aber abgesehen von der Idonenfrage — das andre, was wir noch entdeckt haben —“ Er zog ſie an ſich. „Was wird dein Vater ſagen?“ Sie barg das Geſicht an ſeiner Schulter und wurde ſehr ernſt. „Lieber,“ ſagte ſie, „daran laß uns jetzt nicht denken. Zunächſt iſt er noch verreiſt.“ „Aber er kommt bald wieder, und dann geht es nicht anders; ich will doch bei euch verkehren, ich will dich doch haben, du holdſeliges —“ „Jetzt noch nicht, noch nicht! Ich bitte dich — ich müßte dir Dinge ſagen, die ich noch nicht ſagen kann — Sieh nicht ſo finſter aus, ich habe dich ja ſo lieb! Vertraue mir! Ich weiß noch nicht, wenn es möglich ſein wird, aber ich werde dir's ſagen, ſobald der Vater davon wiſſen darf. Es iſt da eine Sache, von der ich auch zu dir noch nicht ſprechen kann, weil's andere angeht.“ „Das iſt eine furchtbar ſchwere Frage! Ich ſehe gern klar. Ich kann doch hier in dieſer Vertrauensſtellung nicht deinem Vater, deiner Familie gegenüberſtehen, mit dem Bewußtſein, daß — daß —“ „Daß ich dich lieb habe oder du mich? Nun, da kann ich's ja zurücknehmen — ja? Oder ich kann morgen verreiſen. Ich gehe auf die Univerſität.“ „Nein, nein — das kann ich jetzt nicht ertragen!“ „Nun, dann ertrage das andere!“ „Ach, es iſt ja ſo unausſprechlich herrlich, du Glück! Aber die Klarheit —“ Harda fiel ihm um den Hals. „Muß denn alles klar ſein?“ fragte ſie, ihn küſſend. „Ich weiß nicht,“ ſagte er unter Liebkoſungen. „Aber —“ „Aber — das heißt: Adieu Herr Doktor —“ „Aber ich meine ja nur, wenn nun ein andrer um dich anhält — zum Beiſpiel —“ „Wird abgewieſen —“ „Aber der Kommerzienrat —“ „Iſt ſchon!“ „Harda!“ „Ja, ja, ja!“ 21. Geo Es war ſchon recht ſpät am Vormittag, als die Liebenden vor der Tür des Laboratoriums ſehr höflich von einander Abſchied nahmen. Harda ging nach der Villa; ſie trat nur ſchnell ins Haus, in der Hoffnung, daß die zweite Poſt einen Brief von Geo gebracht haben könnte. Er mußte ihr Schreiben geſtern gegen Abend erhalten haben. Wenn ſeine Antwort mit dem Frühzug um 6 Uhr von Geos Wohnort abgegangen war, ſo kam ſie hier um halb zehn Uhr an und wurde mit der zweiten Poſt ausgetragen. Es war nichts da. Dann fragte ſie nach der Tante. Die fühlte ſich wohler und war eben mit Sigi nach der Stadt gefahren. Harda wollte ſich eine Arbeit vornehmen. Aber das ging abſolut nicht. Doch eins mußte ſie — ſofort an Geo ſchreiben! Sie ſuchte den Federhalter — Ach, der lag ja auch oben an der Buche. Und der Hut — richtig — den wollte ſie doch zuerſt holen. Freilich — durfte ſie ſich an den gefährlichen Ort wagen? Ei, wenn die Idonen ihr ſchaden wollten, ſo brauchten ſie doch wirklich nicht zu warten, bis ſie ihnen an der Buche in ihre Gewalt liefe. Und ſie wollte ſich ja auch dort nicht aufhalten. Nur die Sachen holen und dann zurück! Übrigens, wie wäre es denn mit einem Meſſer? Wenn ſich ſo ein Ding von Elfe aufs Haupt ſetzte, da müßte man doch einfach damit über den Kopf fahren und es zerſchneiden können? Sie hatte ein kleines ſcharfes Dolchmeſſer in einer Scheide, ein Geſchenk von Geo; eigentlich war's als Papiermeſſer gedacht. Das holte ſie ſich. Sie fühlte ſich dadurch außerordentlich geſichert. Und nun konnte ihr auch Werner nicht vorwerfen, daß ſie unvorſichtig geweſen wäre. Es zog ſie nach ihrem Lieblingsplatze. Zu ſchade, daß ſich die Idonen ſo ſchlecht benommen hatten! Wie gern hätte ſie dem Efeu von ihrem Glücke erzählt. Ja, blühen! Beim Gehen ſelbſt beeilte ſie ſich nicht ſehr. Das Herz war ihr ſo voll, durch den Kopf zogen ihr ſo viele Gedanken, frohe und ſchwere. Wie ſollte das nun zu Hauſe werden? Von den Verhältniſſen in der Familie zu Werner zu ſprechen, ſchien ihr jetzt noch nicht möglich. Und was würden Frickhoff ſagen und der Vater, wenn ſie nun die Abſage ſchickte? Und Geo? Hätte ſie nicht ſeinen Rat abwarten müſſen? Aber heute früh, das war doch ſo überraſchend gekommen; es war ganz unmöglich geweſen, ihm zu ſchreiben zwiſchen Werners Erklärung und ihrer Antwort. So meinte es ja Geo auch nicht. Wie das eigentlich alles zugegangen? Das wäre doch komiſch geweſen, wenn ſie da — — So in Gedanken, mit einem leichten, glücklichen Lächeln auf dem Antlitz trat ſie auf das Plateau und näherte ſich der Bank. Da erhob ſich langſam die ſtattliche Geſtalt eines alten Herrn. Einen Moment ſtutzte Harda. Dann ſtürmte ſie mit einem Aufſchrei auf ihn zu. „Geo!“ Er fing ſie in ſeinen Armen auf. Sie hing an ſeinem Halſe und küßte ihn. „Du, du!“ ſchluchzte ſie. „Du geliebtes Kind,“ ſagte er zärtlich. „So ſieht das Glück aus.“ „Du biſt ja da!“ Er führte ſie zu der Bank und ließ ſich neben ihr nieder. Sie lehnte den Kopf an ſeine Schulter. Er ſtreichelte ihr Haar und Wange. Sie umfaßte noch einmal ſeinen Hals und küßte ihn auf den Mund. „Sei glücklich, mein Liebſtes. Ich weiß alles,“ ſprach Geo ſanft. Sie ſah ihn fragend an. „Alles?“ ſagte ſie errötend. „Ja, du Gutes. Alles aus deinem Briefe, du haſt ja nur von ihm geſprochen. Und das Letzte ſagten mir deine Küſſe. Die galten nicht mehr mir.“ Harda barg ihr Geſicht an ſeiner Bruſt. „Du weißt alles.“ Sie weinte ſelige Tränen. „Ich hab' dich aber ſo lieb — wie immer —“ ſagte ſie leiſe. „Das weiß ich ja, und ich dich auch. Und ich ſegne dich und erflehe dir alles Menſchenheil.“ „Heute früh,“ begann ſie wieder, „es kam ſo plötzlich. Die böſen Idonen, die Elfen ſind daran ſchuld. Sie haben unſer ganzes Laboratorium zerſtört.“ „Wie? Und Werner?“ „Woher weißt du —?“ „Nun im Anfang des Briefes war es ja noch Herr Doktor Eynitz; aber zuletzt hieß es nur noch „Werner“ und „wir beide“. Du weißt wohl nicht, daß du dein ganzes liebes Herzel ausgeſchüttet haſt? Aber du mußt mir noch viel erzählen. Dieſe Elfen — ſie haben euch Schaden getan? Was heißt das? Doch das kommt alles.“ „Und du biſt nicht unzufrieden mit mir?“ „Du biſt ganz du ſelbſt, wie ich dich kenne, meine Harda. So haſt du gehandelt, dir ſelbſt getreu. Und du weißt, das iſt das Höchſte, was der Menſch kann.“ „Aber ich ſorge mich wegen des Vaters. Es wird ihm nicht recht ſein. Ich weiß, er wünſchte, daß ich Frickhoff — und das wird doch nun nicht gehen —“ „Nein, das wird wohl nun nicht gehen,“ ſagte Geo lächelnd. „Der Abſagebrief an Frickhoff lag ſchon in meinem Schreibtiſch, ehe ich mit Werner ſprach. Ich wollte ihn nur nicht abſchicken, ehe ich deine Antwort hatte.“ „Die Rückkehr des Vaters willſt du nicht abwarten?“ „Das hat keinen Zweck, denn mein Entſchluß iſt gefaßt.“ „So ſchicke den Brief jetzt ab, aber lies ihn vorher noch einmal durch. Und geſteh' einmal, Herzel, was iſt denn nun heute früh geſchehen? Dieſe Elfen — daß ſie nicht bloß in deiner Einbildung exiſtieren, habe ich freilich aus deinem Berichte erſehen — aber ſie haben wirklich einen Angriff auf euch unternommen?“ „Nicht auf uns perſönlich, aber auf unſere Präparate, unſere Photographieen; ihre gefangenen Kameraden haben ſie befreit und alle Sternentaukapſeln abgeſchnitten. Komm nur hinüber ins Laboratorium, da kann ich dir alles beſſer erklären, da kannſt du auch Werners Bericht leſen, der nun nicht abgeſchickt werden kann.“ „Du wirſt wohl jetzt im Laboratorium keine Geſellſchaft brauchen können.“ Harda ſah ihn hilflos an. „Habe keine Sorge, ich werde es ſchon ſo einrichten, daß ich nicht ſtöre, und ich bin diskret.“ Sie dachte nach. „Weißt du,“ ſagte ſie, „du kommſt doch jetzt mit mir zu uns zu Tiſch?“ „Ich hatte die Abſicht, denn meine gute Frau Lohmann war trotz meiner Depeſche durch meine Ankunft etwas überraſcht.“ „Das iſt herrlich! Wie bin ich froh! Ich habe mich gefürchtet, nach Hauſe zu gehen, ich hätte mich ja ſo verſtellen müſſen. Aber wenn du plötzlich mitkommſt, da ſind ſie alle wie toll, und es wundert ſich niemand, daß ich aus dem Häuſel bin.“ Geo nickte lächelnd. „Du geliebtes Kind!“ ſagte er. „Aber gleich nach Tiſch, da führe ich dich hinüber. Da ſind wir ganz ungeſtört, vor fünf Uhr kommt niemand hin.“ „Wer kommt denn dann?“ fragte er neckend. Sie warf ſich an ſeine Bruſt. „Komm, komm!“ rief ſie eifrig. „Es iſt Zeit. Ich habe noch ſo vieles zu erzählen. Aber zu Hauſe ja nichts verraten!“ „Ich weiß Beſcheid, kleine Intrigantin.“ Sie ſah ihn erſchreckt an. „Tu ich Unrecht?“ fragte ſie ängſtlich. „Nein, Liebling. Es iſt vorläufig nicht anders möglich. Erſt müſſen wir einmal ſehen, wie es eigentlich mit euerm Schickſal, dieſen unſichtbaren Feinden ſteht. Nachher wollen wir das Äußere überlegen.“ Er griff nach ſeinem großen breitrandigen Filzhut, den er auf den Tiſch gelegt hatte. Das erinnerte Harda an den eigentlichen Zweck ihres Herkommens. Sie ſah ſich nach ihrem Hute um, ohne ihn erblicken zu können. „Haſt du nicht meinen Hut hier geſehen, als du herkamſt?“ fragte ſie Geo. „Ich habe ihn geſtern hier liegen laſſen, als ich Reißaus vor den Idonen nahm. So nennen ſich nämlich die Elfen. Auch mein Federhalter — der liegt ja unter der Bank — aber der Hut?“ „Ich habe nichts geſehen. Es wird ihn jemand mitgenommen haben.“ „Ach, wer kommt denn hier her! Um den Hut iſt's eigentlich noch ſchade. Vielleicht haben ihn die Idonen ihrer Rache geopfert.“ „Nun erzähle einmal Näheres, während wir gehen. Aber zuvor möchte ich mir jetzt den berühmten Sternentau wieder mal betrachten. Ich habe es doch auch für Blüten gehalten, was ihr als Sporangien erkannt habt.“ „Komm nur! Gleich hier unter dem Efeu. Hier waren geſtern —“ Sie kniete nieder und bog die Blätter beiſeite. „Wo ſind ſie denn? Da iſt etwas abgeſchnitten!“ Sie ſuchte an andern Stellen. „Es iſt nichts mehr da — nirgends!“ Wieder kniete ſie nieder und prüfte genauer. „Man ſieht die Stellen, wo die Kapſeln geſeſſen haben. Gerade wie im Laboratorium! Das ſind die abſcheulichen Idonen geweſen. Sie haben auch hier alle ihre eignen Sproſſen an der Mutterpflanze vertilgt.“ Auf einmal ſprang ſie empor. „Da hinten, da iſt noch ein blauer Stern —“ rief ſie — „aber er bewegt ſich —“ Harda griff in den Gürtel und riß ihr Dolchmeſſer heraus. „Da muß ein Idone dabei ſein, den will ich —“ Sie wollte mit dem Meſſer nach der Stelle hinſpringen. Geo fiel ihr in den Arm. „Was tuſt du? Was wollteſt du mit dem Dolche? Sprich! Es iſt ja nichts zu ſehen!“ „Das iſt es eben! Ich ſteche blindlings hin!“ „Nein, nein,“ ſagte er beruhigend. „Sei vernünftig. Kind. Laß uns lieber beobachten.“ Er hielt ſie zurück und nahm ihr ſanft das Meſſer aus der Hand. „Ich ſehe jetzt ganz deutlich die blaue Blume. Sie neigt ſich zur Seite.“ „Sie fliegt fort!“ rief Harda. „Wahrhaftig! Sie hebt ſich, entfernt ſich, als wenn ſie jemand trüge.“ „Das tut ein Idone. Soll ich nicht — ich kann noch hin —“ „Nein, nein, Gutes! Es iſt mir lieb, daß ich das ſehe. Ich habe keinen Zweifel mehr an der Intelligenz dieſer Idonen. — Sieh, Harda, wenn du das Weſen jetzt verwundeteſt, was hätteſt du davon? Wahrſcheinlich würde es dich verletzen. Dieſe Ablöſung der Blume muß durch eine ſcherenartig wirkende Kraft geſchehen ſein, die ſich wahrſcheinlich gegen dich wenden würde. Und mit welchem Recht willſt du dem Weſen die Verfügung über ſein Geſchlecht beſtreiten? Wer ſo planmäßig verfährt, wird ſeine Gründe haben.“ „Sie wollen uns unſrer Unterſuchungsobjekte berauben.“ „Vielleicht wollen ſie auch etwas anderes. Ich kann mir denken, ſie wollen dieſes zukünftige Individuum vor den Qualen ſchützen, die ihm bevorſtehen, wenn es in die Hände der Menſchen gelangt. Laß uns nicht in den alten Fehler verfallen, ethiſche Gebote nur auf Menſchen anzuwenden, weil wir nur in ihnen unſergleichen ſehen. Die Natur iſt freilich eine Einheit unter eigenem Geſetz, das ethiſche Geſichtspunkte nicht kennt; aber wo ſie in das Reich unſres Bewußtſeins hineinreicht, wie es hier offenbar der Fall iſt, da wird ſie unſergleichen, da nimmt ſie auch an der großen Forderung teil, als ein ſich ſelbſt beſtimmendes Weſen geachtet zu werden. Laß uns gerecht ſein, ſo werden wir diese Elfen verſtehen lernen. Und nun komm und ängſtige dich nicht. Ich habe das Vertrauen, daß wir uns mit deinen Elfen noch irgendwie im Guten abfinden werden.“ „Ach, möchteſt du recht haben! Ich habe das ja auch geglaubt und gehofft, bis ich die Drohrufe vernahm. Und der Angriff hat ſie beſtätigt. Was ſoll nun aus unſern Forſchungen werden? Sie werden überall den Sternentau vernichten, wo er ſteht.“ „Doch nicht die Stammpflanzen ſelbſt, nur dieſe neue Generation von Elfen. Und das müſſen wir eben zu erforſchen ſuchen, was ſie mit dieſem Beginnen im Sinne haben.“ „Und dabei willſt du uns helfen?“ „Ja, Liebling. Ich will prüfen, ſofern ich dazu im ſtande bin. Denn mir ſcheint, hier liegt etwas Neues, ganz Großes vor, das noch nie auf Erden erſchienen iſt. Noch kann ich es nicht genau ſagen, aber ich könnte mir denken, daß hier eine Kultur uns entgegentritt, nicht geringer als die menſchliche, aber von ganz andrer Form, wie hierher verſchlagen von einem andern Sterne, wo andere organiſche Weſen ihren Aufſtieg zur Höhe des Bewußtſeins auf anderm Wege gefunden haben. Verſuchen wir einmal, von ihnen zu lernen.“ „Wenn es möglich iſt. Mit unſrer Naturforſchung am Sternentau wird es wohl bald zu Ende ſein. Ja, von einem andern Sterne ſtammt die Pflanze, das meint auch Werner. Ach, wie glücklich bin ich, daß du gekommen biſt, Geo! Nun bin ich ruhig, ich hab' keine Angſt mehr. Und zu Werner wirſt du auch gut ſein?“ „Solange er zu dir gut iſt. Das weißt du doch?“ „Dann iſt alles gut!“ Sie ſtiegen die Stufen hinab. 22. Bedauernswerte Erde! Die Stammkolonie der Idonen in der Nähe ihres Mutterbaumes Bio hatte mit Hilfe der Pflanzen leicht in Erfahrung gebracht, wo Menſchen nicht hinzukommen pflegen. Ein ſolcher Platz war der Gipfel des Felſens, den die Menſchen das Rieſengrab nannten. Hier, zum Teil noch unter den Wipfelzweigen der Buche, hatten ſie ihre ſchwebenden Wohnungen verankert. Dieſe waren freilich nicht ſo anmutig und bequem wie die Bauten auf dem Neptunsmond, denn die Hilfsmittel, die ſie auf der Erde fanden, entſprachen wenig ihren Bedürfniſſen, und außerdem fehlte ihnen das Beiſpiel und die Erfahrung ihrer Vorfahren und Volksgenoſſen. Doch genügten ſie, um ſie gegen die Witterung zu ſchützen, und darauf Luftreiſen auszuführen. Auch verſchmähten ſie es nicht, Produkte der Menſchenhand zu ihren Zwecken zu benützen, wo ſie ſolche geeignet fanden. Während die Expedition unter Elſu und Gret, die ſich ein eigenes, ſchnelles Luftfahrzeug hergeſtellt hatten, vorſichtig und den Menſchen unerkennbar ſich in den großen Anſammlungsſtätten der Erdbewohner umtat und von ihrer Fähigkeit Gebrauch machte, die Vorſtellungen der Menſchen durch direkte Übertragung von Gehirn auf Gehirn in ſich aufzunehmen und zu verſtehen, hatte die Stammkolonie die Aufgabe, die neu entſtehenden Idonen zu ſammeln und das Treiben derjenigen Menſchen zu beobachten, denen Kunde von der Exiſtenz der Idonen geworden war. Hier war Ildu, die älteſte der irdiſchen Idonen, die Leiterin. Es war den Idonen nicht entgangen, daß Eynitz und Harda durch die Einrichtung des Laboratoriums und die Abſperrung von Bio-Pflanzen bezweckten, Idonen in ihre Gewalt zu bringen, wenn ſie auch die genauere Bedeutung der einzelnen Maßnahmen vorläufig nicht verſtanden. Die erſte in der Gefangenſchaft entwickelte Idone hatte ſich dort den Namen Stefu gegeben. Sie war es, die von Eynitz photographiert worden war, zugleich mit Lis, der ſie zu befreien ſuchte. Dieſer Idone war es auch, der durch ſuggerierende Einwirkung auf Harda ſie zur Öffnung des Gefängniſſes beſtimmen wollte und dann Eynitz' Hand verbrannte. Das war nur in der Not der Selbſtverteidigung geſchehen. Denn die Idonen hegten nicht im Geringſten eine feindliche Geſinnung gegen die Menſchen. Dieſe bedeuteten für ſie lediglich Gegenſtände des wiſſenſchaftlichen Intereſſes. Sie wollten an ihnen und an ihrem Denken und Tun die Zuſtände auf dieſem ihnen unbekannten Planeten ſtudieren, und viel zu groß war ihre Achtung vor allem Lebendigen, als daß ſie irgend einem organiſchen Weſen abſichtlich ein Leid angetan hätten. Zugleich aber wollten ſie zu ihrer eigenen Sicherheit vermeiden, ſich den Menſchen zu offenbaren. Deswegen ſcheuten ſie ſich, zur Befreiung der Gefangenen Mittel anzuwenden, die den Menſchen ihre Tätigkeit verraten hätten. Irgend welche entſcheidende Entſchlüſſe über ihr Verhalten gegenüber den Erdbewohnern ſollten erſt gefaßt werden, wenn die Erforſchungs-Expedition zurückgekehrt ſein würde. Das hatte ſich nun geändert, als die Idonen von Eynitz' Eingriffen in das Leben der ihrigen Kunde erhielten. Es war dies an dem Morgen, an welchem Harda unter der Buche ſchrieb. Auf Ebahs Bitten hatte eine Idone, ſie hieß Adu, ſich auf Hardas Kopf geſetzt, um ihre Unterhaltung mit dem Efeu zu ermöglichen. Dieſes Geſpräch wurde plötzlich unterbrochen, indem Lis und andere Idonen vom Laboratorium herbeiſtürzten, wo ſie die am Tage vorher von Eynitz vollzogenen Handlungen entdeckt hatten. Derartige Angriffe auf ihre Genoſſen und ihre Stammpflanze mußten ſie aufs Äußerſte empören und verletzten zugleich ihre heiligſten Gefühle. Während Harda nach ihrer Flucht von der Buche im Laboratorium den Brief Frickhoffs las, verſammelte Ildu alle Idonen der Stammkolonie über dem Rieſengrab zu einer wichtigen Beratung. In einer Beziehung waren alle ſogleich einig, nämlich darin, daß derartige feindliche Handlungen der Menſchen für die Zukunft unbedingt verhindert werden müßten, indem man weder Idonen noch Bio-Pflanzen länger in ihrer Gewalt ließe. Man beſchloß, zunächſt die Gefangenen zu befreien und durch Zerſtörung der Apparate die Menſchen der Macht zu berauben, ſich neuer Gefangener zu bemächtigen. Da man aber nicht ſicher wußte, inwieweit ſich die Fähigkeit der Menſchen erſtreckte, doch noch inbezug auf die zurückbleibenden Pflanzen neue Maßregeln zu treffen, um ſpäter hervorkommenden Idonen Gewalt anzutun, ſo entſchloß man ſich, die weitere Entwicklung dieſer Individuen unmöglich zu machen. Denn nach der Anſchauung der Idonen war es ein Recht und eine Pflicht der Vernunft, die Ausbildung individuellen Bewußtſeins zu verhindern, das nur zum Leide geboren ſein würde. Damit war auch zugleich der Gefahr vorgebeugt, daß die Menſchen ihre Forſchungen fortſetzten. Freilich blieb es nicht zu vermeiden, daß die Erdbewohner nunmehr von der Macht und den Fähigkeiten der Idonen Kunde erhielten, wenn ſie die Zerſtörungen ſahen, die planmäßig durch die Anwendung ihrer ätzenden Säfte, ihrer kneifenden und würgenden Bewegungsapparate hervorgerufen werden konnten. Aber man ſagte ſich, daß es kein Schade wäre, wenn ſie auch von den Machtmitteln der Idonen unterrichtet würden, deren leibhaftige Exiſtenz ſie nun doch einmal entdeckt hatten. Bei einigen der Idonen jedoch, die perſönlich unter der Handlungsweiſe der Menſchen gelitten hatten, bildete ſich die Anſicht, daß man in der Bekämpfung der Menſchen weitergehen ſolle. Weſen, die ſich der Verletzung des Lebensrechtes anderer mit Bewußtſein ſchuldig machten, verdienten überhaupt keine Schonung. Die Idonen beſäßen durchaus die Macht, ſämtliche Menſchen zu vernichten, denn da ſie ſich ihnen unſichtbar nähern könnten, ſo genüge eine einzige kleine Verletzung mit einem giftigen Stachel, oder eine elektriſche Entladung, um den einzelnen zu töten. So könne man ohne Schwierigkeit in wenigen Tagen das Land entvölkern. Es war namentlich Lis, der dieſe radikale Anſicht vertrat, empört durch die Leiden der gefangenen Stefu, deren Zeuge er geweſen war. Stefu ſelbſt aber trat für die Menſchen ein, die ſie genau hatte beobachten können. Ihr Verhalten wieſe darauf hin, daß ſie keineswegs bloß aus Luſt an Schädigung die Idonen angegriffen hätten, ſondern daß für die Geſamtheit der Erdbewohner wichtige Intereſſen dabei im Spiele geweſen wären, die vorläufig den Idonen noch unbekannt ſeien. Darauf betonte Ildu, daß über keine Frage, die eine Maßregel momentaner Abwehr überſchreite, eine Entſcheidung getroffen werden könne, bis die Expedition zurückgekehrt wäre. Denn genau genommen kenne man jetzt ja nur die beiden einzigen Menſchen, die von den Pflanzen als Harda und ihr Freund Werner bezeichnet würden, und man wiſſe gar nicht, wie weit das Reich der Menſchen ſich erſtrecke und welche höheren Rechte ihnen vielleicht durch den Zuſtand ihres Geiſtes vom Planeten gegeben ſeien. Dies eben würden Elſu und Gret erforſchen, und erſt danach könne ſich die Entſcheidung richten. Somit wurde nur beſchloſſen, die Zerſtörung des Laboratoriums noch an demſelben Abend zu vollziehen. In der darauffolgenden Nacht kehrte die Forſchungsexpedition zurück, und gleich am Morgen, während im Laboratorium Harda und Werner ihr Leid und ihr Glück fanden, wurde der Bericht an die Verſammlung der Idonen erſtattet. Gret und Elſu mit ihren Begleitern hatten zunächſt, immer nahe der Oberfläche ſich haltend, weite Fahrten gemacht, um das Land und ſeine Bewohner zu beobachten. Dabei wurde von ihnen die weite Ausdehnung dieſes Planeten im Vergleich zu ihrem Saturnmond bald erkannt und durch ihre aſtronomiſchen Beobachtungen ſeine Größe beſtimmt. Die Menge der Bewohner, die Mannigfaltigkeit ihrer Wohnſtätten, die Geſtaltung der Oberfläche hatte ſie ſchnell belehrt, daß ſie auf dieſem äußerlichen Wege ſchwerlich zu einer Erkenntnis der Eigenart dieſes Weltkörpers gelangen würden. Sie ſchlugen daher nun ein Verfahren ein, das ihrer ganzen, auf die Innerlichkeit des Erlebniſſes gerichteten Natur näher lag und ihnen durch die Einrichtung ihres Zentralorgans ermöglicht war; nämlich unmittelbar aus den Gehirnzuſtänden der Menſchen, alſo aus dem Vorſtellungsleben der Erdbewohner, das abzuleſen und in ſich bewußt aufzunehmen, was die Menſchen über ſich, ihren Wohnort und ihre Welt überhaupt wußten, dachten und erſtrebten. Nicht lange konnte es den Idonen verborgen bleiben, daß eine außerordentliche Verſchiedenheit in der Intelligenz und der Weite der Auffaſſung bei den Menſchen beſtand, daß es aber gewiſſe Klaſſen von Menſchen, und in dieſen wieder beſonders weitſichtige Individuen gab, die in der Lage waren, ſie über alles das aufzuklären, was ſie ſelbſt zu wiſſen begehrten. Indem die Idonen von ihrer Gabe des ſuggeſtiven Einfluſſes Gebrauch machten, ſtellten ſie mit ſolchen geeigneten Perſönlichkeiten ein förmliches Examen an über die Fragen, die ihnen von Intereſſe waren. Die Menſchenhirne ſelbſt waren für ſie eine Bibliothek, in der ſie alles Gewünſchte nachſchlagen konnten. Und hierbei gelang ihnen eine wichtige Entdeckung. Es war ihnen hinderlich und beſchwerlich, daß ſie, um in einem Menſchen zu leſen — wie ſie ſich ausdrückten — in körperliche Berührung mit ſeinem Kopfe kommen mußten. Dadurch wurden auch einzelne Menſchen auf dieſe Erſcheinung einer äußern Beeinfluſſung ihres Vorſtellungsverlaufes aufmerkſam, und die Idonen mußten befürchten, daß man der Urſache dieſer Erſcheinung von ſeiten der Menſchen nachforſchen würde. Aber es gelang Gret, bei einer zufälligen Situation zu beobachten, daß die von dem Beſtrahlungsorgan der Idonen ausgehenden Wellen die Eigentümlichkeit hatten, als verbindende Brücke zwiſchen dem Menſchenhirn und dem Zentralorgan der Idonen zu dienen. Sie bezeichneten dieſe phyſiſche Übermittlung als Zerebral-Strahlung. Und nun konnten ſie in viel leichterer und ergiebigerer Weiſe in der großen Bibliothek der menſchlichen Gehirne leſen und waren imſtande, im Verlauf weniger Wochen ſich ein Bild von Menſchenart und Menſchenkultur zu machen. Bewunderung, Staunen und Mißbehagen wechſelten dabei in ihrer Idonenſeele, und erfüllt von neuen Kenntniſſen, erſchüttert von neuen Erfahrungen kehrten die Mitglieder der Expedition zu den ihrigen bei der Stammutter zurück. „Wohl uns,“ ſagte Gret zu der Verſammlung, „daß ihr nichts weiter getan habt, als die unſrigen gegen die Angriffe der Menſchen zu ſchützen. Denn unſer weiteres Verhalten bedarf ernſteſter Erwägung. Den Planeten, auf dem wir uns befinden, nennen die hieſigen Bewohner „Erde“. Er iſt derjenige, den wir als den „Dritten“ (nämlich den dritten Planeten von der Sonne aus gerechnet) bezeichnen. Er iſt freilich viel kleiner als unſer Zentralplanet, um den unſer Heimatsſtern als Mond kreiſt, aber er iſt ſehr viel mächtiger, weil er bereits von ſechzehnhundert Millionen Menſchen und zahlloſen Tieren und Pflanzen bevölkert iſt. Dieſe ſeine Organe ermöglichen es ihm, eine gewiſſe Kultur zu erreichen.“ „Kultur?“ Eine lebhafte Erregung ging mit dieſer Frage durch die Verſammlung der daheim Gebliebenen. „Ich muß dieſen Zuſtand ſo nennen,“ fuhr Gret fort „weil er für die Erde eine gewiſſe Stufe auf dem Wege zur Vollendung bezeichnet, wenn er auch in unſerm Sinne wie Unkultur ausſieht. Aber ich weiß kein andres Wort dafür. Der Weg, den dieſer Planet in ſeiner Entwicklung einzuſchlagen hat, iſt nach unſrer Auffaſſung ein unbegreiflicher Umweg zur Einheit der Kultur. Dennoch liegt auch darin, wie ihn die Weiſeſten der Erde allmählich zu erkennen verſuchen, eine große Idee. Und ehrfürchtige Bewunderung mag uns erfaſſen, wenn wir begreifen, wie der unendliche Geiſt des Koſmos auf einem andern Planeten eine ganz andre Form ſeiner Verwirklichung einſchlagen konnte als bei uns. Müſſen wir uns nicht ſagen, daß auf jedem der unendlichen Weltkörper wieder andere und andere Formen exiſtieren könnten, das Gute und das Schöne lebendig in die Zeit zu führen, und daß wir kein Recht haben, gerade die Ideale, die unſer Glauben an die Gottheit geprägt hat, für die einzigen zu halten, durch die das Leben zur Vollendung dringen kann? Es mag eben jeder Stern, wie er ſeine eigne Bahn hat, auch ſeine eigne Geſtaltung zum Ewigen beſitzen. Aber freilich, jedes lebendige Weſen wird ſich den Geſetzen einfügen müſſen, die es auf ſeinem Sterne zu begreifen vermag. Die Pflanzen der Erde haben von dem Weſen der Menſchen nur eine unvollkommene Vorſtellung, ſie konnten uns daher auch nur unzureichende Angaben machen. Denn ſie ſind nicht wie bei uns eine periodiſch immer wiederkehrende Stufe zur höchſten Entwicklung, ſondern nur ein Seitenzweig darin. Aber ſelbſt die Menſchen haben erſt zum kleinſten Teil den Sinn des Lebendigen begriffen, ſie ſehen in den Pflanzen nur Mittel für ihre menſchliche Exiſtenz, nicht Teilnehmer am Geiſte des Planeten. Es liegt dies daran, daß ſich das Tierleben, deſſen höchſte Stufe durch die Intelligenz des Menſchen repräſentiert wird, auf der Erde gleich in ſeinen tiefſten Formen vom Pflanzenleben getrennt hat, während bei uns, durch den ſteten Wechſel von pflanzlicher und animaler Generation, auch wir Idonen in unmittelbarem Zuſammenhang mit der Dauerſeele des Weltkörpers bleiben und ſo nicht angewieſen ſind auf den ſchwachen Vererbungsbeitrag von Individuum zu Individuum. Wir haben dauernd teil am aufgeſpeicherten Erbſchatz des ganzen Planeten. Mit einem Worte, wir haben eine organiſche Kultur. Auf der Erde aber beſtehen zwei große Geſchlechter, die einander nicht verſtehen, die Pflanzen und, als die intelligenteſten Tiere, die Menſchen. Wie eine Krankheit des Planeten hat dieſe Spaltung ſeine Seele zerriſſen. Und ganz allmählich erſt muß ſie heilen. Es iſt ein völlig andrer Weg, den der Planet einzuſchlagen gezwungen iſt. Zwiſchen den getrennten Reichen ſeiner Geſchöpfe muß die ſeeliſche Verbindung äußerlich hergeſtellt werden, weil ſie im organiſchen Zuſammenhang verloren wurde. Das Verſtändnis für dieſe Aufgabe zu erreichen, iſt Sache des Menſchenhirns. Die Menſchheit muß durch die Arbeit zahlloſer Generationen ſich die Herrſchaft über die Natur erwerben, um alsdann zu erkennen, daß ſie damit die Mittel gewonnen hat, ſelbſt wieder mit der Natur ſich zu verbinden. Ihr wächſt nicht zu, wie uns, die anſchauende Einſicht in den Zuſammenhang der Erſcheinungen, das Gefühl für den Wert des Einzelweſens und die Pflicht der Gattung, die Kraft des Willens, nur zu erſtreben, was im Sinne des Ganzen liegt. In ſtetem Kampf zwiſchen vorwärts dringender Einſicht und blindem Naturtrieb verzehrt ſich ihre Kraft im Leide des einzelnen. Denn dieſer muß ſich dem Ganzen erſt allmählich unterwerfen, während wir im Beſitze des Allgefühls uns freuen, im einzelnen willig des Ganzen gewiß zu ſein. Wohl mögen die Menſchen uns dauern. Und doch iſt es auch ein Großes um ſolches Menſchenleben. In Arbeit und Erkenntnis ringen ſie ſich empor, lernen allmählich ſich zuſammenzuſchließen, bezwingen die Widerſtände der getrennten Planetenzweige und gewinnen ſo die Natur auf dem Wege der Intelligenz. Sie haben eine techniſche Kultur. Und von hier aus lernen ſie ihre Mutter verſtehen. Wenn ſie die eroberte wieder in ihre Arme ſchließen, wenn ſie in der Pflanzenwelt den geſchwiſterlichen Zweig erkennen werden der emporſprießenden Planetenſeele, ſo wird auch ihnen das Glück der harmoniſchen Einheit des Planeten aufgehen, während ſie jetzt an wunderlichen Mythenbildungen herumdeuten und ſich untereinander beſtreiten und verfolgen. So dürfen wir die Menſchen mehr bedauern als verachten. Auch ihre Kultur führt dem Ziele entgegen; einen andern Weg zur Einheit und zur Höhe gibt es nicht für ſie. Sich ihrem Gefühle genießend zu überlaſſen, würde ſie vernichten. Nur Arbeit bringt ſie hinauf, wo wir ſpielend ſtehen. Idonen, wir ſind geraten auf den Planeten der Mühe und der Not.“ Lis ſchwieg und Elſu ergriff das Wort. „Ich ſehe, liebe Freunde, es fällt euch ſchwer, ſo unglückliche Weſen euch vorzuſtellen, die ſich ihrem Gefühle nicht genießend überlaſſen dürfen, weil ihnen dann das Geſetz des Dauernden als eine äußere Macht hemmend, ja vernichtend, gegenübertritt. Es iſt dies die Folge ihrer Trennung von der ſchaffenden Einheit der Allſeele. Nun erleben ſie wohl in ſich, jeder für ſich, dieſe ewig rege, freie Geſtaltung, ſie nennen ſie Phantaſie. Aber das, was ſie umgibt, was ihnen gegenübertritt als der immer neu zu geſtaltende Stoff, das halten ſie für ein äußeres Gebilde, worin erſt die wahre Erfüllung ihres Lebens liege; ſie nennen es Wirklichkeit. Und ſo zerreißt ſich ihnen das Ganze des Daſeins in zwei unverſöhnliche Teile, in die innere Freiheit ihrer Phantaſie und in die äußere Welt, die ſich ihnen entgegenſtellt. Keine Befriedigung ſtillt ihre Sehnſucht, wenn ſie ihnen nicht erfüllt wird von dem Geſchehen, das ſie Wirklichkeit nennen, und die doch nichts anderes iſt als die neue Aufgabe für ihre Phantaſie. Sie verſtehen nicht das Wort: „Leben iſt Schein, und Schein iſt Leben.“ Einer ihrer großen Dichter nannte dieſen Gegenſatz das Ideal und das Leben. Er ahnte den Weg, wie Schein und Leben eins werden kann im ſchönen Geſtalten. Die Menſchen aber ringen nach dieſem Leben jenſeits des Scheins und zehren ſich auf in ſchmerzvollem Entbehren eines gehofften Gutes, das ſtets vor ihren Organen zurückweicht, während ſie es tatſächlich ſchon beſitzen im Eigenſpiel ihres Gehirns. Immer meinen ſie, daß über ihren Vorſtellungen, über dem Bewußtſein, als das ſie die zentralen Reize ihres Individualleibes erleben, noch eine Wirklichkeit liege, die ihnen mehr geben könnte. So haſten ſie ſich ab in fruchtloſem Jagen nach Unerreichbarem. Denn wenn die eine Sehnſucht ihnen geſtillt iſt, ſo wird der neue Zuſtand wieder zu einer neuen Außenwelt. Nimmer verſtehen ſie, daß die echte Wirklichkeit und ihre Erfüllung nur im Eigenſpiel der Vorſtellungen liegt. Werden und Scheinen iſt unſer Wandel. Wenn wir Idonen hinſchweben durch den Farbenraum und es treten uns Erſcheinungen entgegen, die uns anlocken und erfreuen oder ängſtigen und bedrohen, ſo wenden auch wir unſre Aufmerkſamkeit ihnen zu. Dann werden ſie unſre Erwartungen erfüllen oder nicht; und wir werden das unſrige dazu tun nach beſten Kräften, das Erwünſchte zu erreichen, das Gefürchtete zu beſiegen oder zu meiden. Soweit gleichen wir den Menſchen. Wenn aber der Erfolg nicht eintritt, den wir erhofften, ja an den wir unſer beſtes Können zu ſetzen uns verpflichtet glauben, dann werden wir nicht klagen in ſchmerzlichem Unmut, nicht uns elend fühlen in ungeſtilltem Begehren, nicht gedemütigt in mißglücktem Tun, nicht verzweifeln im Leide. Denn in uns ſelbſt ſchaffen wir jederzeit, was der Stoff der Umwelt verſagt, aus dem unerſchöpflichen Vorrat der Innenwelt, den das Erbe des Planeten in unſern Gehirnzellen angehäuft hat. Wenn die Freude uns lächelt im Reigen der Genoſſen, wenn das Problem ſich löſt, dem wir ernſthaft nachſannen, wenn der Flug uns gelang zu nützlicher Tat, wenn der Geliebte uns zärtlich entgegenſchwebt, wenn die Idonen rühmen unſer Verdienſt um Gutes und Schönes, dann beglückt uns die Stunde wie Göttergeſchenk. Aber ſtört uns der ſtürmiſche Tag, zerrinnt die Mühe des Denkens fruchtlos, verſäumen wir das Ziel, verſchmäht uns der Freund und verkennt uns die Zeit, nicht werden wir klagen und zürnen. Denn Leben iſt Schein. Sofort baut den Erſatz unſer Gemüt freier und höher uns auf. Entſchwunden iſt, was uns antrieb, oder wir ſehen uns am erreichten Ziel im Siege der Phantaſie. Klar ſtrahlen Planet und Sonne in unſrer Seele, in ſchönem Wahne krönt uns der Erfolg, umarmt uns die Liebe. Nicht minder lebhaft iſt irgend ein Sinn erregt, nicht weniger kräftig Empfindung und Gefühl, wenn wir ſelbſt auf dem Inſtrumente ſpielen, das ſonſt nur vom Zufall der äußern Begegnung erregt wird. Tiefer und heiliger ſcheint uns die Wirklichkeit, die aus uns ſelbſt herausſteigt, als jene, die der Hilfe der Umwelt bedarf. Denn die Tat der eignen Phantaſie iſt die Gabe vom Seelenerbe unſres Stammes, iſt Eigenbeſitz; jene ſcheinbare Wirklichkeit aber iſt nur gefundenes Gut wie Spielgewinſt, wie Gabe des Glücksgottes. Und alſo ſind wir die ſeligen Kinder des Planeten. Die Menſchen aber haben ihr Erbe verloren, ſie müſſen es erſt wieder gewinnen durch Leid und Mühſal. So mögen wir ſie bemitleiden, die Mühſeligen. Wir wollen ſie nicht ſtören in ihrem bedauernswerten Leben; denn was wir ihnen antun, das können ſie nicht dichtend abſtreifen wie wir das Mißgeſchick. Laſſen wir ihnen ihren Planeten der Not und des Leides.“ „Seid froh,“ ſagte Telu, eines der Mitglieder der Expedition, „daß ihr nicht den Jammer geſehen habt, der über dieſem Erdgeſchlechte liegt. Denn furchtbar iſt das Los derer, die ihresgleichen zur Welt bringen, die immer wieder ſorgen müſſen für den unvollkommenen hilfloſen Anfang ihrer Gattung und mit ihm durchleben alle Kläglichkeit und Not der überwundenen Entwicklung. Denn nicht wachſen ihnen die Nachkommen geſegnet aus der alten Bodenkraft, ſondern ihre Frauen gebären lebendige Kinder. Es iſt wirklich wahr, was die Pflanzen euch erzählten. Was aber ſollen wir ſagen zu dieſen unſeligen Geſchöpfen? Wie können ſie je des freien Scheins teilhaftig werden und der Blüte des Lebens im ſeligen Spiel der Liebe, wenn die furchtbare Verantwortung für die Organe des Planeten über der zarteſten Regung ihrer Seele liegt, über der holdeſten Wonne ihrer Tage? Weil ſie niemals ledig ſind der Sorge um das kommende Geſchlecht, die uns die pflanzliche Generation abnimmt, ſo erreichen ſie nie die Höhenſtufe der Freiheit, im Bewußtſein und Wollen reiner Neigung die einzelnen zu wählen, deren Seelen und Körper zuſammenſtimmen. Ihre unglückliche organiſche Entwicklung hat die Liebe, den Gipfel der Weltſeligkeit, zum Schauplatze des furchtbarſten Konfliktes gemacht zwiſchen dem Rechte des Individuums auf Genuß und der Gattung auf Erhaltung. Dauernd bedroht den roſigen Schimmer des Lebensfrühlings die tragiſche Nacht der Entſagung. Zahlloſe Schwierigkeiten äußerer Not und innerer Entbehrung ſind zu überwinden, ehe ihnen ein Zufall gewährt, was des Lebendigen höchſtes Blütenrecht iſt, und das reinſte Glück wird ihnen zur laſtenden Not des Daſeins. Darum löſt ſich ihr Leben nicht auf in ſchönen Schein. Darum ſehe ich nicht, wie dieſem Erdengeſchlecht Rettung kommen ſoll. Und darum frage ich, darf man überhaupt den Menſchen wünſchen, daß ſie ihre unlösliche Sorge weiterſchleppen ſollen auf dieſem Planeten der Mühe und der Not?“ Da erhob ſich Lis und ſprach: „Dies, ihr Freunde, ſcheint mir der entſcheidende Punkt. Niemals, ſo glaube ich, werden die Menſchen den Fluch ihrer Entwicklungsgeſchichte abwerfen, niemals werden ſie durch Vernunft dazu gelangen, das Höchſte zu vereinigen, was der Idonen heiliges Erbteil iſt, Freiheit und Liebe. Dieſer ganze Planet ſcheint mir ein verfehlter Verſuch der Natur, ein Mißgriff des großen Sonnengeiſtes, zum mindeſten ein verkrüppeltes Exemplar in dem Dauerreigen der Geſtirne. Ein ſolcher Weltkörper hat kein Recht zu leben. Größere Vorteile vielleicht entſtünden dem Sonnenſyſtem, wenn er ausgemerzt würde, ich meine, wenn ſein Leben vernichtet würde durch Abtötung ſeiner höchſten Organe. Beſſer ſchiene es mir für die Menſchen, gar nicht zu leben, als ein ſo klägliches Bild nach Vernunft ſtrebender Organismen dem ganzen Weltall zu bieten; beſſer für ſie, im Bewußtloſen auszuſcheiden aus dem Lebendigen, als in ihrer Unfähigkeit, die ſie die Vollkraft der Hirnſchöpfung zu nützen hindert, die Qual des Daſeins hinzuſchleppen ins Endloſe. Wir ſind auf dieſe Erde verſchlagen worden als ein höheres Geſchlecht von überlegenem Bewußtſein. So meine ich, wir ſind beſtimmt, dieſem verfehlten Zuſtande des Planeten ein Ende zu bereiten. Ich beantrage, daß wir die Menſchen vernichten.“ Ildu erwiderte ſogleich: „Sind wir hierher verſchlagen, dieſen Planeten zu beſſern, ſo können wir unſere Beſtimmung nur verſtehen im Sinne des Idonentums als eine Tat der Rettung, nicht der Vernichtung. Dann mögen wir uns verbinden mit den höchſten Organen der Erde, mit den Menſchen, ob ihnen durch unſre Hilfe, durch Rat und Lehre eine Kultur von innen, durch Neudichtung ihres ganzen Daſeins, zu teil werden könne. Aber nach dem Bericht der Freunde, die draußen bei den Menſchen waren, ſcheint mir dies unmöglich. Gret hat recht, daß der Weg der Erdbewohner ein andrer iſt als der unſre. Wir können ihr Hirn nicht umgeſtalten, wir können auch nicht für ſie denken. Unſre Invaſion auf der Erde bedeutet, daß eine überlegene Kultur ſich neben die der Menſchen ſetzt. Aber das könnte dieſen nur dann ein Glück bedeuten, wenn ſie ſich dazu erziehen ließen, in dieſer Kultur zu leben. Was glaubt ihr wohl, wenn es überhaupt möglich iſt, welche Zeit dazu nötig wäre? Welch zahlloſe Generationen von Menſchen müßten auf einander folgen, bis die Energie ihrer Gehirne die Vollkraft gewänne, ihrer Eigenwelt eine Stärke zu geben, die dem Einfluſſe ihrer Umwelt gleich wäre? Nein, die Menſchen haben eben auf ihre Weiſe begonnen, den Jugendfehler des Planeten zu verbeſſern durch Intelligenz, dabei müſſen wir ſie belaſſen. Die Stärkung der Phantaſie würde ſie jetzt nur verwirren. Den Weg ihrer Entwicklung aber durch Vernichtung einfach abzuſchneiden, dazu haben wir kein Recht. Und wer ſagt uns, liebe Freunde, daß wir dazu auch nur die Macht haben? Sollen wir jedem einzelnen ſuggerieren, daß er zu ſterben wünſche? Dazu iſt doch der organiſche Zuſammenhang mit dem Leben des Planeten zu ſtark bei den Menſchen. Denn was ſie verloren haben, iſt ja nur das Wiſſen um die Tatſache, daß ihr eigenes Bewußtſein vom Planeten ſelbſt ſtammt und in ihm und in den Pflanzen in beſondern Formen fortlebt. Den Zuſammenhang des phyſiſchen Lebens ſelbſt haben ſie nicht verloren, den können wir ihnen auch nicht nehmen. Den verlorenen Zuſammenhang des Bewußtſeins aber können ſie durch Erkenntnis wieder gewinnen. Darin mögen wir ſie unterſtützen. Ich habe aber noch ein weiteres Bedenken, weshalb ich raten möchte, uns von aller Berührung mit den Menſchen lieber zurückzuhalten. Das iſt der Gedanke, daß wir ſelbſt noch nicht genügend unterrichtet ſind, ob es denn überhaupt möglich ſein wird, unter den veränderten phyſiſchen Bedingungen, die dieſer ſchwere Planet uns bietet, unſer eignes Gedeihen auf der Erde durchzuſetzen. Ihr wißt alle, daß wir ſo leicht und mühelos hier nicht leben, wie es als ererbte Erinnerung an die Exiſtenz der Vorfahren auf dem Heimatsſtern uns vorſchwebt. Wir entbehren des direkten Beiſpiels und der Hilfe der früheren Generationen; alles, was wir bedürfen, müſſen wir ſelbſt uns ſchaffen. Vielleicht fehlt uns doch vieles, was das Gedächtnis des Keimes nicht mit herübergebracht hat, was uns nur durch die Lehren der Erfahrung am lebenden Geſchlecht überliefert werden kann. Und wer ſagt uns, wie unſre eigne Fortpflanzung ſich hier geſtaltet, wie die Stammutter Bio hier weiter zu gedeihen vermag, ob wir ſelbſt wieder neue Pflanzen des Rankenbaums auszuſäen vermögen?“ Ein nachdenkliches Schweigen lag auf der Verſammlung. Dann begann Elſu: „Was Ildu ſprach, iſt ſehr ernſthaft zu erwägen. Wir ſind ſchon viele Erdentage in dieſem Lande. Wer von den Idonen hat ſich vermählt? Wohl haben wir nicht danach zu fragen, aber wenn es geſchehen wäre, hätten wir es doch wohl erfahren. Die Glücklichen würden ja doch von der Mutter Bio den Rankenſchleier geholt haben. Aber noch ſehen wir keine im Feſtgewande. Und wenn es geſchieht, wiſſen wir denn, ob das Geheimnis des Schleiers in dieſer Luft, in dieſem Boden ſich fortpflanzt? Nirgends fanden wir eine Pflanze hier, die unſern Müttern gleicht, nirgends bei den Menſchen iſt eine Kunde verbreitet von ähnlichem Wechſel der Generationen. Sind wir aber angewieſen allein auf die Sproſſen unſrer ehrwürdigen Bio und ihrer Brutknoſpen, kann nicht Vermählung von Idonen neue Sporen zu Rankenbäumen erzeugen, dann muß unſer Geſchlecht bald entarten. Dann ſind wir diejenigen, die zu weichen haben.“ „Das gibt den Ausſchlag,“ ſagte Ildu entſchieden. „Nicht der Menſchen Geſchick, ſondern der Idonen Wohlfahrt und Würde kann allein maßgebend ſein für unſer Tun und Laſſen. Und wenn es ſich zeigt, daß uns die dauernde, kräftige Ausbreitung unſres Volkes auf dieſem Planeten abgeſchnitten iſt, dann iſt es nicht Idonenart, zu warten, bis Natur uns zwingt, den Erdgeborenen zu weichen. Stolz werden wir unſern Entſchluß faſſen, frei zurück zu treten von einer Stelle, wo unſer Wirken und Gedeihen verkümmern muß. Ich bin die älteſte hier, ich werde um mich ſchauen, und ihr alle, bis auf die Kinder der letzten Tage, könnt euch prüfen, ob wohl Gefährten ſich zuſammenfinden zu Seelenreigen und Frohgefühl. Wir wiſſen von den Pflanzen, daß die Zeit ihres Blühens hier noch mehrere Monde anhält. Aber ſchon eher werden wir wiſſen, ob unſre Wahl und unſer Wunſch die Hoffnung der Idonen erfüllen wird. Wir müſſen es eher wiſſen, weil wir unſer Verhalten zu den Menſchen davon abhängig machen wollen. Halten wir uns vorläufig zurück von ihnen! Doch da wir jetzt durch Zerebralſtrahlung in ihnen leſen, ja mit ihnen verkehren können, ſo iſt es nicht ausgeſchloſſen, ſie weiter zu beobachten. Handle da jeder nach klugem Ermeſſen. Sobald es aus irgend einem Grunde wünſchenswert ſcheint, möge er uns zur Verſammlung laden an dieſem Orte.“ Lis bat noch einmal um Gehör. „Nicht mehr kann ich meinen Antrag aufrecht erhalten, gegen die Menſchen vorzugehen, nachdem Ildu und Elſu unſre eigne Lage ſo überzeugend und ſorgfältig geprüft haben. Keiner möge in andrer Weſen Wunſch und Wille eingreifen, ſolange die eigne Würde ihm einen Weg geſtattet, Schwierigkeiten abzuhelfen. Solche Schwierigkeiten ſind entſtanden durch unſre Verſetzung auf die Erde. Ich ſehe jetzt ein, daß wir uns ſelbſt Zurückhaltung aufzuerlegen haben. Wie aber auch unſrer ſpäterer Entſchluß ausfallen mag, in einer Hinſicht müſſen wir uns ſchützen. Wir können uns als Idonen den Menſchen entziehen. Unſere Pflanzengeneration und deren Sporenkapſeln aber können es nicht. Menſchen werden ſie entdecken und werden Wege finden, wieder aufs neue Idonen in der Gefangenſchaft aufwachſen zu laſſen, vielleicht weit fort von hier, wo wir keine Macht haben, dies zu hindern. Dem dürfen wir unſer Geſchlecht nicht ausſetzen. Vielleicht finden wir einmal Orte, wo Menſchen nicht hingelangen und Rankenbäume gedeihen können. Zunächſt aber halte ich es für notwendig, daß wir keine weiteren Kapſeln zur Entwicklung kommen laſſen. Zeigt es ſich ſpäter, daß wir auf der Erde aufhalten können, ſo ſind wir ſchon Idonen genug, um dann unſer Geſchlecht zu vermehren. Zeigt es ſich, daß wir alle weichen müſſen, ſo wäre es ſinnlos, die Zahl der Scheidenden noch zu vermehren. Unſre heiligen Mutterpflanzen ſelbſt zu zerſtören, wäre Frevel. Aber ihre Idonenſproſſen an der Entwicklung zu hindern, ſcheint mir Pflicht. Denn die Pflanze ſelbſt kann den Trieb des Wachstums nicht hemmen; um Schaden zu vermeiden, muß die Vernunft eingreifen, und dieſe ſind wir. Darum laßt uns überall die Sporenkapſeln abſchneiden und an einem geſchützten Orte beſtatten. Die Mutter Bio aber möge uns verzeihen.“ Noch längere Zeit berieten die Idonen hin und her. Dann einigten ſie ſich auf die Vorſchläge, ſich ſelbſt zurückzuhalten, bis die Zukunftsfrage entſchieden ſei, die Sproſſen der Mutterpflanzen aber zu beſeitigen. Mit dieſer Tätigkeit waren ſie noch beſchäftigt, als Geo auf dem Wege von ſeinem Häuschen nach der Villa Kern unter der Buche raſtete und dort Harda begegnete. 23. Schlechtes Wetter Über dem Feſte der Wiesberger Erholungsgeſellſchaft waltete ein Unſtern. Die Verſchiebung war zwar beſchloſſen worden, aber den neuen Termin feſtzuſtellen, machte große Schwierigkeiten. Allerlei lokale und perſönliche Hinderniſſe und Rückſichten ließen es unmöglich erſcheinen, einen beſtimmten Tag jetzt ſchon anzugeben, und es wurde vorläufig zunächſt nur verabredet, daß das Waldfeſt jedenfalls im Juli ſtattfinden ſolle. Harda Kern hatte die Gelegenheit benutzt zu erklären, daß ſie nicht wüßte, ob ſie ſo lange in Wiesberg bleiben würde, und daß ſie jedenfalls bäte, ſtatt ihrer Sigi in das Komitee aufzunehmen, was auch geſchah. Sigi hatte zwar zuerſt, als ihr Harda dieſe Abſicht auf ihrem Zimmer privatim mitteilte, ihre Schweſter einfach für verrückt erklärt. Aber als Harda ſie neben ſich zog und ihr im Vertrauen geſtand, daß ſie Frickhoff einen Korb gegeben und ſich mit Doktor Eynitz heimlich verlobt hätte, da war ihr Sigi unter Küſſen um den Hals gefallen und hatte ſich ihr ganz zur Verfügung geſtellt. Harda wollte ſich nicht geſellſchaftlich verpflichten, da ſie nicht wußte, ob es ihr nicht in der Tat ratſam erſcheinen würde, für einige Zeit das Haus zu verlaſſen — Beſuche bei Verwandten gaben ſtets einen Vorwand — falls bei der Rückkehr des Vaters Schwierigkeiten entſtehen ſollten. Im Grunde war es ihr ſtörend, ſich jetzt mit ſoviel Äußerlichkeiten zu beſchäftigen, da ihr Innenleben ganz anders in Anſpruch genommen war. Neben den Pflichten des Hauſes und dem Gedanken an Werner und die Idonen blieb ihr auch wirklich kein Intereſſe mehr für die übrige Geſelligkeit. Geo Solves hatte am Nachmittage im Laboratorium eifrig Eynitz' Bericht über die Sternentau-Frage ſtudiert und ſich mit Harda eingehend ausgeſprochen. Als ſpäter Eynitz kam, begrüßte er ihn herzlich und überließ dann die Liebenden ſich ſelbſt. Er ging nach dem Rieſengrab hinauf und ſaß dort lange allein. Unſichtbar ſchwebten Idonen um den Sinnenden, und Gedanken banden Seel' an Seele. Den Abend brachte Geo bei Kerns zu, wo auch Eynitz ſich einſtellte. Hier verabſchiedete er ſich von der Familie; denn er hatte die Abſicht, ſchon am andern Morgen nach ſeinem Wohnort zurückzukehren. Harda aber erklärte er, daß er jeden Augenblick bereit ſei, nach Wiesberg zu kommen, falls ſie ihn benachrichtige, daß ſie es wünſche, und daß er bald auf längere Zeit in ſeinem Landhäuschen einkehren werde. Am Tage nach Geos Abreiſe meldete ein Telegramm, daß Kern in der Nacht von Berlin zurückkehren werde. Jetzt ſandte Harda ihren Brief an Frickhoff ab, der, wie ſie wußte, noch länger in Berlin aufgehalten war, ſo daß Frickhoff ihren Brief erſt erhalten konnte, wenn ſich der Vater ſchon nicht mehr dort befand. Es war ja natürlich, daß Frickhoff nicht eher eine Antwort erwartete, als bis Harda mit ihrem Vater Rückſprache genommen hatte. Dies aber wollte Harda gerade vermeiden. Der Vater ſollte ſich einer fertigen Tatſache gegenüber befinden. Als ſie den Vater am Morgen nach ſeiner Rückkehr beim Frühſtück herzlich begrüßte, hielten ſie beide die übliche kurze Unterredung, die ſich diesmal ihrerſeits nur auf Geos Beſuch bezog, während der Vater ihr in fröhlichſter Stimmung mitteilte, daß nunmehr alle noch ſchwebenden Abſchlüſſe zu ſeiner großen Zufriedenheit erledigt wären. Schon hatte Kern ſeinen Hut aufgeſetzt, als Harda unvermittelt fragte: „Hat der Kommerzienrat mit dir nicht — nicht über mich geſprochen?“ Kern ſah ſie erwartungsvoll an und ſchüttelte den Kopf. „Nämlich,“ fuhr ſie dann fort, „er hat inzwiſchen ſchriftlich — um mich angehalten, aber — ich kann nicht — ich habe „nein“ geſagt — hier iſt ſein Brief und meine Antwort — die Reinſchrift hab' ich geſtern ſchon abgeſchickt — ſei nicht böſe Vater — es ging nicht —“ Sie fiel ihm um den Hals, küßte ihn und war im Augenblick darauf ſchon im Hauſe verſchwunden. * Es war gut, daß die Erholungsgeſellſchaft ihr Feſt verſchoben hatte. Denn an dem Tage, auf den es urſprünglich feſtgeſetzt war, trat ein vollſtändiger Wetterumſchlag ein. Wind und Regen rauſchten in den Bäumen des Parkes, die Temperatur ſank ſo ſtark, daß man ſelbſt auf der Veranda nicht ſitzen konnte, und im Wohnzimmer der Villa mußte in den nächſten Tagen das Holzfeuer im Kamin lodern. Die Idonen beſſerten an ihren Wohnungen und überlegten mit Sorgen, wie das werden ſolle, wenn dieſe Wetterlaunen des Planeten ſich häuften. Einige ſchlugen vor, in die Höhle im Felſen zu ziehen, die ſie bisher ſchon mehrfach zu techniſchen Arbeiten benutzt hatten. Schlechtes Wetter herrſchte auch in den Hellbornwerken und in der Familie. Kern ging mit umwölkter Stirn umher, ſeine Zeit war mehr wie je in Anſpruch genommen, und ſeine kurzen Scherze bei Tiſche klangen gezwungen. Über Hardas Ablehnung des Frickhoffſchen Antrages hatte er kein Wort verloren. Er teilte nur trocken mit, Frickhoff habe geſchrieben, daß er eine längere Reiſe nach dem Norden anträte und jedenfalls während dieſes Sommers ſeine Villa in Wiesberg nicht mehr beziehen werde. Bald darauf wußte Harda den Vater abzupaſſen und fragte ihn bittend, ob er ihr zürne, ob er ihretwegen ſo verſtimmt ſei. Da ſtreichelte er ihr die Wangen und ſagte: „Nein, mein Kindel, nicht deswegen. Es tut mir ſehr leid, das will ich dir offen ſagen. Daß Frickhoff jetzt nicht hier iſt und auch ſo bald nicht wieder herkommt, iſt mir aus verſchiedenen Gründen ſtörend. Aber du armes Kind haſt mir ſchon ſo viel von deiner Freiheit geopfert, daß ich nicht mehr verlangen darf.“ Und abbrechend fragte er. „Was machen denn deine Studien?“ Sie erzählte Verſchiedenes wenig klar durcheinander und fühlte, daß ſie dabei errötete, aber ſie bemerkte auch, daß der Vater nur halb hinhörte und jedenfalls nicht an das dachte, was ſie beſchäftigte. So fing ſie denn an, ihn geſchickt auszufragen, und nach und nach erfuhr ſie, was ihn bedrückte. Zunächſt die private Sorge. Daß Minna wieder eine beſonders unglückliche Periode hatte, wußte Harda natürlich, da ſie ſelbſt nicht am wenigſten darunter litt. Jetzt erkannte ſie den Grund dazu in dem Umſtande, daß die Verhandlungen nicht vorwärts kommen wollten, die Kerns Rechtsanwalt in ſeinem Auftrage mit der Dame in Breslau führte. Die Forderungen waren ſo hohe, daß es vorläufig unmöglich war, darauf einzugehen. Immerhin fühlte ſich Harda einigermaßen durch die Haltung des Vaters beruhigt, es ſchien ihr, als mache er ſich mit dem Gedanken vertraut, ſein Verſprechen gegen Minna zu erfüllen, wenn nur erſt die äußeren Umſtände ſich günſtiger geſtalteten. Zu dieſen privaten Sorgen kam eine ernſte geſchäftliche. Die erſten im Großen angeſtellten Verſuche mit dem neuen Stoffe, dem Reſinit, auf das man als Erſatz für Kautſchuk ſo hohe Hoffnungen geſetzt hatte, waren fehlgeſchlagen. Die Maſſe erfüllte nur einen Teil der Anforderungen, die man daran ſtellen mußte. Sie war allerdings plaſtiſch, biegſam und von geringerem ſpezifiſchem Gewicht als der Kautſchuk, doch war dieſe Leichtigkeit nicht den Erwartungen entſprechend, und vor allem fehlte dem Stoff nach der Härtung derjenige Grad von Elaſtizität, den man verlangte. Irgend etwas hatte im Großen verſagt, was die kleineren Proben im Laboratorium voll geleiſtet hatten. Das koſtete Hunderttauſende. Es mußten aufs neue Verſuche gemacht werden, aber noch wußte man nicht, wo die Urſache des Mißerfolges zu ſuchen ſei. Das war natürlich eine große Sorge für Kern, um ſo mehr, als darüber nichts verlauten durfte. Auch Harda fühlte ſich bedrückt. Und doch konnte nichts ihr das innere Glücksgefühl rauben, das ſie in ihrer Liebe erfüllte. Die heimlichen Stunden im Laboratorium blieben ungeſtört. Aber die trübe Stimmung des Hauſes lag über Hardas Leben. Nur ein Mitglied in der Familie war unberührt und gleichmäßig fröhlich und heiter. Sigi ſang und ſcherzte, ſobald ſie zu Hauſe war, ſie trug die Koſten der Unterhaltung, wenn die Familie ohne Gäſte ſich verſammelte. Freilich war ſie nicht viel zu Hauſe. Ihre Geſangſtunden und ihr Sprachunterricht in der Stadt beſchäftigten ſie am Morgen, und wenn das Wetter nicht erlaubte, Tennis zu ſpielen, ſo hatte ſie dann immer unerſchöpfliche Beſorgungen in der Stadt oder Komiteeſitzungen mit den Freundinnen. Denn die Vorbereitungen zu dem Waldfeſte gingen weiter, und es mußte wohl Großartiges geplant ſein, wenn man aus der Zeit ſchließen durfte, die Sigi ihrer Aufgabe zu widmen ſchien. Eine eigentümliche Beobachtung hatten Harda und Eynitz im Laboratorium gemacht. An allen den Stellen, an welchen die Sporenkapſeln des Sternentaus abgeſchnitten worden waren, zeigten ſich langſam hervorquellende Tropfen eines Milchſaftes, der bald darauf eintrocknete, und einen feſten Verſchluß der Wunde bildete. Harda war es zuerſt an den Pflanzen in ihrem Zimmer aufgefallen. Aber auch überall dort, wo zufällig ein Einſchnitt in die Pflanze ſtattgefunden hatte, wurde dieſer Milchſaft abgeſondert und trocknete dann zu einer harzigen Maſſe ein. Ob dies früher ſchon ſo geweſen ſei, konnte ſich Harda nicht erinnern; jedenfalls war es ihr nicht aufgefallen. Es war ja auch ſelten vorgekommen, daß die Pflanze verletzt wurde. Jedenfalls war die ſtark bemerkbare Abſonderung des Saftes erſt eingetreten, ſeitdem die Erzeugung von Sporenbechern vollſtändig verhindert worden war. Eynitz zweifelte nicht, daß ſich hier eine Reaktion des Sternentaus auf die Unterbrechung des normalen Fortpflanzungsprozeſſes zeigte, eine Ausſcheidung der einmal im Pflanzenkörper angehäuften Vorratsſtoffe, die nicht mehr zur Bildung der fein differenzierten Idonenkörper benutzt werden konnten. Natürlich hatte Eynitz alsbald die Aufmerkſamkeit des Chemikers auf dieſen Milchſaft gelenkt, und Dr. Emmeyer bemühte ſich, ſeine Zuſammenſetzung und ſeine Eigenſchaften zu ergründen. Auch hatte Eynitz mikroſkopiſch die Gefäße nachweiſen können, in denen der Saft im Pflanzenkörper ſich abſonderte. Emmeyer hoffte, irgend eine große Entdeckung an dem noch unbekannten Stoffe zu machen und hatte ihm vorläufig zu Ehren des Ros stellarius Kern den Namen „Rorin“ gegeben. Seit einiger Zeit äußerte er ſich gar nicht mehr über ſeine Verſuche, doch arbeitete er raſtlos. Wenn Harda ihn befragte, glänzte ſein Geſicht freudig, aber er ſagte immer nur „danke, danke — gut, ganz gut“, und ſchützte dringende Geſchäfte vor. Der Juli hatte ſchon begonnen, da endlich beſannen ſich die tiefen Zyklonen, die vom atlantiſchen Ozean herkommend Deutſchland mit Sturm und Regen beſchenkten, ihre Zugſtraße höher nach Norden zu verlegen. Ein weites Hochdruckgebiet begann wieder ſeinen Einfluß auf das Wiesberger Tal auszuüben, Sigi wurde immer zuverſichtlicher in ihren Behauptungen über das Wetterglück des Waldfeſtes, und Harda hielt es für angemeſſen, doch noch einmal Forſchungen nach dem Verbleib ihres Sommerhutes anzuſtellen. Die Idonen hatten ſich bisher ſo zurückhaltend gezeigt, daß die Liebenden in ihren Beſorgniſſen ſich ſehr beruhigt fühlten und es faſt bedauerten, gar keine Anhaltspunkte mehr für neue Unterſuchungen zu finden. Deswegen getraute ſich Harda wieder einmal nach ihrem Lieblingsplatze. Da ſie gerade die Zeit dazu wählte, in der Eynitz mit Erledigung ſeiner Praxis fertig zu ſein pflegte, ſo hielt er es für ſeine unbedingte Pflicht, Harda den unbekannten Gefahren nicht ohne ſeinen Schutz ſich ausſetzen zu laſſen. Er traf ſie, als ſie eben das Gatter zum Stege aufſchloß. Der Zufall war nicht ſo überraſchend, wie es den Regeln der Wahrſcheinlichkeitsrechnung entſprach, da Eynitz ſchon mehrere Minuten in Sicht des Steges promeniert und dadurch die Zahl der günſtigen Fälle eigenmächtig geſteigert hatte. Das Paar ruhte auf der Bank unter der Buche, wobei ſie ſorgfältig umſpähten, ob ſie auch niemand belauſchen könne, und begann dann das Gebüſch zu durchſtöbern. Daß der Hut noch gebrauchsfähig ſein würde, wenn er gefunden werden ſollte, nahm Harda allerdings nicht mehr an, nachdem er zwei Wochen bei häufigem Regen im Freien gelegen hatte, aber ſie hätte doch gern gewußt, was aus ihm geworden war. Den Hut fanden ſie nun allerdings nicht. Auffallend jedoch war die Menge des vom Sternentau ausgeſchwitzten und eingetrockneten Milchſaftes, der in kleinen Perlchen von Erbſengröße ſich an den feinen Zweigen der Pflanze fand, ſo daß ſie eine kleine Tüte voll dieſer Subſtanz ſammeln konnten. Schon wollte Harda den Rückweg antreten, als Eynitz zu ihr ſagte. „Weißt du noch, am erſten Tage, als du mich in die Höhle zum Leuchtmoos führteſt? Laß uns das wieder einmal anſehen.“ Sie ſchlichen Hand in Hand in den finſtern Eingang und gewöhnten ihr Auge an die Dunkelheit. Dann blickten ſie in die Tiefe hinab. Dort funkelte es wieder in grünlichem Lichte, aber es ſchien eine Veränderung gegen früher vorgegangen. Einerſeits zeigte ſich der vom Leuchtmoos erfüllte Raum verringert, andererſeits aber nach vorn hin ausgedehnt. Erſt nach längerer Beobachtung wurde es ihnen klar, daß ſich im vorderen Teil der Vertiefung Waſſer angeſammelt hatte. Es bildete eine glatte, vollſtändig ruhige Fläche, in der das Moos an den dahinter anſteigenden Felſen ſich ſpiegelte, ſo daß es mit ſeinem Spiegelbild ein Ganzes auszumachen ſchien. Ein dunkler Gegenſtand verdeckte den Lichtſchimmer ungefähr in der Mitte des Raumes, und dasſelbe wiederholte ſich im Spiegelbilde. Um dieſen herum erkannte man bei aufmerkſamer Betrachtung einen unbeſtimmten Schein, der ſich vom Hintergrund des Leuchtmooſes ſchwach dunkelrötlich abhob. „Es werden doch nicht Idonen hier ſein!“ rief Harda, unwillkürlich ſich näher an den Geliebten drängend. „So ſieht es nicht aus,“ ſagte Eynitz. „Aber ob es nicht mit ihnen zuſammenhängt, das müſſen wir zu erforſchen ſuchen.“ Harda hatte ihr Geſicht näher an den Boden gebracht. „O ſieh doch,“ rief ſie. „Hier im Waſſer um den dunklen Fleck dieſes feine Gewebe, wie Spitzen, oder Filigran — das regelmäßige Muſter — wie ein Korb baut es ſich auf —“ Eynitz bückte ſich ebenfalls. „Das iſt das Spiegelbild des verſchwommenen Heiligenſcheins um den Gegenſtand dort oben,“ bemerkte Eynitz verwundert. „Und das ſieht man nur ſo deutlich im reflektierten Licht? Seltſam — von hier oben ſieht man es kaum noch —“ Er dachte nach. Dann griff er in die Taſche und zog Wachsſtreichhölzer hervor. „Mag es uns das Märchen des Leuchtmooſes und der ſchlummernde Rieſe verzeihen, aber hier müſſen wir die Leuchte der Wiſſenſchaft hochhalten — richtiger geſagt: tief.“ Damit brannte er das Zündholz an und ſtreckte den Arm nach unten aus. Die Vertiefung war durchaus nicht ſo bedeutend, wie ſie im Schein des Leuchtmooſes ausſah. Im nüchternen Lichte des Wachskerzchens erkannte man deutlich, was da lag. „Mein Hut!“ rief Harda überraſcht. „So iſt es, hurrah!“ lachte Eynitz. „Aber — halt —“ ſetzte er ernſter hinzu. „Da iſt etwas Wichtiges. Das Spitzengebäude, das wir vorhin ſahen, iſt verſchwunden. Siehſt du es noch?“ „Nein. Auch nicht im Spiegelbilde.“ Eynitz warf das abgebrannte Lichtchen fort. Nach kurzer Ruhepauſe der Augen ſah man wieder vor dem Glitzern des Leuchtmooſes das ſchleierhafte Gewebe, aber nur um das Spiegelbild des Hutes. „Wir müſſen das Ding heraufholen,“ ſagte Eynitz. „Natürlich, ich will meinen Hut haben,“ ſcherzte Harda. Eynitz gab ihr die Streichholzbüchſe. Sie leuchtete, er kletterte vorſichtig hinab. Das Waſſer war ganz flach. Bald konnte er den Hut, den er äußerſt bedachtſam nur von unten unterſtützte, hinaufheben. „Nur unten anfaſſen,“ rief er Harda zu, „damit der Aufbau nicht verletzt wird.“ Sie brachten den Hut glücklich herauf. Als das Lichtchen verloſch, erkannte man im Dämmer der Höhle überhaupt nur ungefähr die Umriſſe des Hutes. Aber brachte man ihn direkt vor das Leuchtmoos, ſo trat der Aufbau ſchattenhaft hervor. Nur unter einem ganz beſtimmten Winkel ſah man in dem vom Waſſer reflektierten Lichte deutlich die feinen Zeichnungen, und zwar in rötlicher Farbe. Sie ſtaunten das Wunder an. „Grünlich hier und da rötlich,“ ſagte Harda. „Im gewöhnlichen Lichte ſieht man's nicht, nur vor dem Leuchtmooſe — was heißt das?“ bemerkte Eynitz. „Dieſes Licht enthält hauptſächlich Strahlen, die vom Blattgrün ausgehen. Wenn man die übrigen vom Spektrum ausſcheidet, wird man dieſe Beleuchtung auch künſtlich erhalten können. Aber das Merkwürdigſte! Irgend etwas Genaueres zeigt ſich nur, wenn das Licht in einem beſtimmten Winkel geſpiegelt iſt — das iſt alſo polariſiertes Licht — — hm! Da muß eine ganz merkwürdige Verbindung von Polariſation und Abſorption zuſammenwirken. Der Aufbau wird aus einem doppelbrechenden Stoffe beſtehen. O — da fände ſich vielleicht ein Weg — — Wenn nun der eine gebrochene Strahl rot wäre — das Blattgrün enthält ja rote Strahlen —“ Er verfiel in Nachſinnen und ſchwieg. „Ob man das Gewebe auch fühlen kann?“ fragte Harda. „Erſt wollen wir das Ganze ans Tageslicht befördern,“ meinte Eynitz. Er leuchtete mit den Streichhölzern. Sorgfältig, als hätte ſie eine Laſt zu balanzieren, trug Harda den Hut auf den flachen Händen bis zum Ausgang der Höhle. Eynitz bog die Zweige der Buchenbüſche auseinander. Der Hut wurde an den Tiſch getragen und wie ein Heiligtum hingelegt. Man ſah nichts als den Hut. Jeder hätte lachen müſſen, der die Feierlichkeit beobachtet hätte, womit dieſer moderne Damenhut, der ſichtbare Spuren künſtlicher Verbiegung trug, auf dem Tiſch deponiert wurde. „Er muß ſchon vor dem Regen in die Höhle gebracht worden ſein,“ ſagte Harda. „Ich muß mal taſten.“ Und ehe Eynitz ſie hindern konnte, hatte ſie ihre Hände dem über dem Hut vermuteten Aufbau genähert. „Ich fühl's,“ rief ſie überraſcht. „Das iſt ja ganz feſt! Wie ein Drahtgitter. Man kann alles abtaſten. Aber ſehen kann man nichts.“ Nun überzeugte ſich Eynitz auch von der Tatſache. „Der Stoff muß dieſelbe Lichtbrechung beſitzen wie die atmoſphäriſche Luft,“ ſagte er. „Was kann das ſein?“ fragte Harda. „Meiner Anſicht nach gar nichts anderes, als eine Baulichkeit der Idonen, ſagen wir ein Neſt, wozu ſie aus irgend einer Urſache deinen Hut als Untergrund geeignet gefunden haben.“ „Manchmal glaubt man ja einen Schimmer zu ſehen,“ bemerkte Harda. „Hier und da Reflexe. Aber nur ganz undeutlich. Doch jetzt — ſiehſt du nicht auch?“ Die Sonne war bisher noch hinter Wolken verborgen geweſen. Jetzt trat ſie hervor und beſtrahlte das grüne Buchenlaub. Der Reflex fiel auf den Tiſch. Und wirklich ſah man da ſchwach, ganz ſchwach, dasſelbe Gitterwerk wie in der Höhle. Die Sonne verbarg ſich wieder und damit verſchwand die Erſcheinung. „Was tun wir?“ fragte Harda. „Wir tranſportieren das Ganze ſorgfältig ins Laboratorium, dort werden wir es näher ſtudieren. Ich habe einen Plan. Es ſcheint, deine Hüte bringen mir Glück.“ „Aber ſo können wir doch mit dem Hute nicht durch die Fabrik ziehen?“ „Nein, wir werden einen großen Pappkaſten herſchaffen. Ich will gleich hinuntergehen, du mußt inzwiſchen unſern Schatz bewachen.“ „Weißt du, ſagte Harda, „da will ich lieber den Karton beſorgen, bleib du hier. Es wird nicht lange dauern. Übrigens — bis an unſern Garten können wir ja doch den Hut auch ſo tragen. Schwer iſt er nicht.“ „Du haſt recht.“ Harda beugte ſich nochmals mit dem Geſicht nahe herab, wo ſie den Bau mit der Hand fühlte. Die Sonne war wieder hervorgetreten. Der grüne Buchenſchein beſtrahlte ihr Haupt. Eynitz neigte ſich zu ihr nieder. Er küßte leiſe ihr Haar. „Ich glaube, Lieb, du haſt Idonenhaar. Es ſchimmert ſo geheimnisvoll grünlich wie der Schein des Idonengeſpinſtes. Hier aber halte ich beides. Das iſt mein Schickſal.“ 24. Erfolge Wenige Tage ſpäter, es war Anfang Juli, als Harda frühzeitig nach dem Hühnerhofe hinüberſchritt, kam der alte Wächter Gelimer augenzwinkernd an ſie heran und ſagte: „Nehmen Sie's nicht übel, Fräulein, ich muß Ihnen mal was ſagen. Nämlich, drüben auf dem Friedhof, da ſpukt's wieder. Heute nacht um Zweie hab' ich's geſehen; ganz gewiß. Und jetzt blüht der Goldregen nicht mehr.“ Er blickte ſie ſchlau an. „Gelimer,“ ſagte Harda lächelnd, „heute nacht war's wohl ſehr kalt?“ „Nee, nee, gar nicht, es war ſehr milde. Auch nicht einen Schluck habe ich genommen. Aber es waren viele gelbe und rote Lichter, die zwiſchen den Bäumen herumflogen.“ Harda verſuchte gutmütig, dem Alten ſeine Beobachtung auszureden, aber ſie war jetzt überzeugt, daß ſich die Idonen dort bei der Sternentaupflanze, die ſich Hedo nannte, ein Stelldichein gegeben hatten. Sie war lange nicht dort geweſen und hatte nur von Eynitz gehört, der einmal am Tage das Grab ihrer Mutter aufgeſucht hatte, daß auch dort alle Sporenkapſeln abgeſchnitten ſeien. Eine nicht unerhebliche Menge eingetrockneten Rorins hatte er geſammelt und mitgebracht. Vielleicht hatten die Idonen jetzt ihren Verſammlungsplatz dorthin verlegt. Harda beeilte ſich möglichſt nach dem Laboratorium zu kommen, wo ſie Werner zu treffen hoffte. Er wünſchte ſich jetzt nichts mehr, als wieder einmal auf lebende Idonen zu ſtoßen. Und das hing mit der Auffindung von Hardas Hut in der Höhle zuſammen. Die Unterſuchung im Laboratorium hatte zwei intereſſante Tatſachen zu Tage gefördert. Zunächſt war feſtgeſtellt worden, daß in chemiſcher Hinſicht das Material der feinen Fäden, aus welchen der Bau auf Hardas Hut hergeſtellt war, identiſch war mit dem Rorin. Es war auch gelungen, bei beſonderer Behandlung das Rorin in Fäden auszuziehen, die ſehr elaſtiſch waren. Zweitens aber verhielten ſich dieſe Rorinfäden in ihren optiſchen Eigenſchaften ganz ähnlich wie das von den Idonen hergeſtellte Geſpinſt, wenn ſie auch nicht deſſen außerordentliche Feinheit und Durchſichtigkeit beſaßen. Eynitz war geneigt daraus zu ſchließen, daß vielleicht die Idonen ihre Schleier aus demſelben Material verfertigten. Wenn das aber der Fall war, ſo hoffte er, die Idonen auch für Menſchenaugen unter Umſtänden ſichtbar machen zu können. Zahlreiche Verſuche im Laboratorium hatten nämlich zu dem Ergebnis geführt, daß das Idonengeſpinſt und in geringerem Grade auch die Rorinfäden Doppelbrechung beſaßen. Im Tageslichte und bei gewöhnlichem künſtlichem Lichte waren ſie ſchwer ſichtbar. Wenn man ſie aber ſamt ihrer Umgebung ausſchließlich mit grünem Lichte von derſelben Zuſammenſetzung beleuchtete, wie ſie das vom pflanzlichen Blattgrün zurückgeworfene Licht beſaß, ſo zeigte ſich von den beiden entgegengeſetzt polariſierten Strahlen der eine rot, der andere grün. Löſchte man dieſen durch einen geeigneten Analyſator aus, ſo erhielt man deutliche, rötlich gefärbte Bilder. Als Analyſator hatte in der Höhle der Waſſerſpiegel gedient. Auf Hardas Frage, woher das komme, erwiderte Eynitz, daß er die Tatſache eben rein empiriſch gefunden habe. Eine ausreichende optiſche Theorie könne er ſchon aus Mangel an phyſikaliſchen Kenntniſſen nicht im einzelnen geben. Die Tatſache ſteht feſt. Die phyſikaliſchen Geſetze ſind im ganzen Weltall dieſelben; dagegen könne der Bau beſtimmter Apparate und organiſcher Stoffe, die Struktur ihrer Gewebe, zahlloſe Verſchiedenheiten beſitzen, die wir noch nicht kennen. Je nachdem wir Linſen und Prismen anordnen, vermögen wir optiſche Inſtrumente mit den verſchiedenſten Wirkungen zu konſtruieren. Ebenſo müſſen wir darauf rechnen, in Organismen, deren Zellenſtruktur wir noch nicht kennen, auch auf überraſchende Apparate und demnach auf optiſche Erſcheinungen zu ſtoßen, über deren Urſache uns erſt eine ſpätere, wiſſenſchaftliche Unterſuchung wird aufklären können. Die Hauptſache aber war vorläufig eine neue Beobachtung. Der Erfolg, das Idonengeſpinſt durch beſondere Beleuchtung ſichtbar zu machen, ließ ſich auch ſubjektiv erreichen bei Betrachtung mittels eines farbigen Glaſes und eines Nicolſchen Prismas. Wenn man durch ein Glas ſah, das mit Ausnahme der Blattgrünſtrahlen alle andern Farben ſtark, aber nicht völlig, abblendete, ſo gelang es, bei einer beſtimmten Stellung des Nicols auf dem matten Hintergrunde der Umgebung das Idonengeſpinſt als eine dunkelrötliche Zeichnung zu erkennen. Zu dieſem Zwecke hatte ſich Eynitz von dem geſchickten Wiesberger Optiker einen einfachen Apparat konſtruieren laſſen, ein Nicolſches Prisma mit paſſender Blendung vor einem guten Opernglaſe. Sollte es nun nicht vielleicht auch möglich ſein, Idonen im Tageslicht auf dieſe Weiſe ſichtbar zu machen? Ja, wenn man es nur probieren könnte! Aber Idonen hatten ſich nirgends mehr gezeigt. Was der Bau auf Hardas Hut für die Idonen bedeutete, war den Menſchen nicht bekannt. Doch darauf kam es auch nicht an. In Wirklichkeit war es nicht ein Wohnhaus, wie Eynitz glaubte, ſondern eine Konſtruktion zu techniſchen Zwecken, zu deren Unterbau die Idonen in Ermangelung eines andern geeigneten Materials Hardas Hut benutzt hatten. So war denn Eynitz ſehr erfreut, als ihm Harda die Nachricht brachte, daß der alte Gelimer Geſpenſter geſehen habe. Er entſchloß ſich, ſogleich ſeinen Apparat auf dem Friedhof zu probieren, ob es ihm gelänge, vielleicht Idonen auf dieſe Weiſe zu bemerken. Freilich, wer konnte ſagen, ob die Idonen ſich überhaupt noch am Schauplatz ihrer nächtlichen Verſammlung befanden? Aber es war doch die Hoffnung dazu vorhanden. Gern hätte ihn Harda begleitet und ſich an dem Verſuche beteiligt. Indeſſen ſchien es beiden zu auffallend, zuſammen nach dem Friedhofe zu gehen und ſich dort längere Zeit aufzuhalten; denn man mußte darauf rechnen, daß man ſtundenlang auf gut Glück zu warten haben würde. Es war Eynitz ſehr peinlich, daß er ſich Hardas Vater gegenüber noch nicht erklärt hatte und ſo beide zur Verheimlichung ihrer Liebe gezwungen waren. Aber Harda hatte ſich bis jetzt nicht entſchließen können, zu ihm von ihren häuslichen Verhältniſſen zu ſprechen, bis nicht irgend eine Klärung inbezug auf des Vaters häusliche Verhältniſſe eingetreten wäre. Und ſo nahm ſie das Glück ihrer Liebe als ein Geſchenk, wie es sich bot, und wartete vertrauensvoll auf den Augenblick, der ihr die Möglichkeit geben würde, es zu offenbaren. Harda hatte, etwas zurück im Zimmer ſtehend, Werner nachgeblickt, als er zu ſeiner Expedition nach dem Friedhof ging, und verharrte ſo noch eine Weile nachdenklich. Da ſah ſie ihren Vater in eifrigem Geſpräch mit Doktor Emmeyer vom chemiſchen Laboratorium her auf das Kontor zuſchreiten. Schnell war ſie die Treppe hinabgehuſcht. „Darf ich mit?“ rief ſie dem Vater zu und hängte ſich an ſeinen Arm. Die dunklen Augen des Vaters leuchteten fröhlich, als er zu ihr aufblickte. „Du kommſt ſchon zu ſpät,“ ſagte er ſcherzend. „Es war ſehenswert, was mir eben Herr Emmeyer gezeigt, erklärt und bewieſen hat. Und — Harda —“ er blieb ſtehen und nickte ein paar mal langſam mit dem Kopfe — „alle Achtung! Eine großartige Sache. Es handelt ſich auch um dich, um deinen Sternentau.“ Harda blickte zu Emmeyer hinüber. „Haben Sie etwas mit dem Rorin herausgebracht, Herr Doktor?“ fragte ſie. „Ich muß es dem Herrn Direktor überlaſſen, zu beſtimmen, was ich darüber mitteilen darf,“ ſagte Emmeyer lächelnd. „Dann ſteht's gut, das ſeh' ich dir an, Vater!“ rief Harda fröhlich. „Natürlich muß ich alles wiſſen.“ „Ich ginge gern noch einmal mit dir, um mich mit dir zu freuen, Herzel. Aber meine Zeit drängt. Die Poſt wartet ſchon. Vielleicht iſt Herr Emmeyer ſo freundlich, dir die nötigen Erklärungen zu geben. Sagen Sie ihr nur alles. Und das will ich dir ſchon jetzt verraten, Kind. Wir kaufen dir jede Quantität Rorin ab, d. h. wir nehmen das Vorkaufsrecht für ſämtliche Sternentaupflanzen in Anſpruch. Überlege dir deinen Preis.“ Über Hardas Geſicht blitzte es übermütig. „Ich weiß ihn ſchon! Leb wohl, Vater. Kommen Sie nur, Herr Doktor, ich bin furchtbar neugierig.“ Sie traten in das Gebäude. Vorſichtig nahm Harda ihre Kleider zuſammen und ſchlüpfte zwiſchen den Apparaten und Bottichen hindurch. Emmeyer legte die Proben von Reſinit vor, große Stücke in rohem Zuſtande und in gehärtetem, ſowie in verſchiedene gebrauchsfähige Formen gebracht. Er erklärte: „Zunächſt darf ich daran erinnern, daß ſich unſer Reſinit vom Kautſchuk in einem weſentlichen Punkte unterſcheidet. Der Kautſchuk erhält ſeine Feſtigkeit und Elaſtizität erſt durch das Vulkaniſieren, wenn er zugleich in die Form gebracht wird, in der er zur Verwendung kommen ſoll. Unſer Reſinit aber, deſſen Grundſtoff ja mit den Gummiſäften gar nichts zu tun hat, beſitzt alle ſeine Vorzüge ſchon als Rohmaterial, ſo daß es als ſolches zur Verſendung kommen kann, und verliert dieſe bei der Formgebung nicht, die durch einfaches Preſſen bei ſehr mäßiger Erwärmung geſchieht. Das hier nun iſt unſer bisheriges Fabrikat, Sie kennen es ja. Und dieſes hier iſt das neue, gewonnen durch Zuſatz von Rorin. Den Unterſchied im Gewicht fühlen Sie ſchon mit der Hand.“ Harda wägte die beiden gleichgroßen Stücke, die Emmeyer ihr gab, in beiden Händen und ſagte überraſcht: „Das neue iſt ja nur halb ſo ſchwer.“ „Ja,“ ſagte Emmeyer mit freudeſtrahlendem Geſicht. „Aber es hat noch andre Eigenſchaften.“ Sie gingen weiter. Emmeyer erläuterte die Prüfungen auf Härte, auf Elaſtizität, auf Inanſpruchnahme durch Druck, durch Zug, durch Torſion. Hier der Widerſtand gegen Abreiben und Abſchleifen, hier die Ausdehnung bei Temperaturerhöhungen, hier die iſolierende Wirkung bei elektriſchen Strömen. Alles hatte ſich bedeutend vorteilhafter erwieſen als bei dem früheren Produkt, vor allem aber übertraf die Elaſtizität alle Anforderungen, die man nur an das Reſinit ſtellen konnte. Harda ſtaunte. „Aber das iſt ja glänzend, Herr Doktor!“ rief ſie. „Wenn das nur im Großen nicht etwa wieder verſagt?“ „Das iſt ausgeſchloſſen dieſmal. Denn — der Verſuch iſt ſchon gemacht und gelungen. Da“ — ſie traten in einen neuen Raum — „da ſind die drei Blöcke im Großen, von denen die Proben, die Sie geſehen haben, abgeſchnitten ſind. Das iſt eine Überraſchung, gelt?“ Harda ſah ganz verwundert von den Reſinitblöcken auf den Chemiker und wieder zurück. Sie wußte nicht, was ſie denken ſollte. „Ich verſtehe nicht, Herr Doktor — wo kommen die Blöcke her? Sie konnten doch nicht heimlich die Kocher in Tätigkeit ſetzen.“ „Nein,“ lachte Emmeyer. „Das ging freilich nicht. Dies hier iſt ein Teil von dem alten, verunglückten Produkt, drei Doppelzentner; die habe ich in der üblichen Weiſe nochmals verflüſſigt und dann mit einem Zuſatz von Rorin verſehen und ſo weiter. Nach der Härtung haben ſie faſt das doppelte Volumen bekommen und alle die Eigenſchaften, die wir erprobt haben. Wir können alſo unſer bisheriges Fabrikat ohne weiteres veredeln.“ Harda ſchlug die Hände zuſammen. „Das wäre ja — nein, iſt es wirklich wahr? So ein Glück! Da gratuliere ich. Aber wie iſt das möglich? Woher hatten Sie ſoviel Rorin?“ „Wirklich verbraucht habe ich von dem angewendeten nur drei Gramm, auf den Doppelzentner ein Gramm, auf das Kilo ein Zentigramm. Aber es iſt kein Zweifel, daß wir ſpäter auch davon noch einen Teil werden ſparen können.“ „Das iſt ja unglaublich.“ „Die mikroſkopiſche Unterſuchung erklärt das Rätſel. Die Maſſe iſt nämlich von zahlloſen mikroſkopiſchen Hohlräumen durchſetzt, die jene günſtigen Veränderungen der Eigenſchaften bedingen, ſowohl die Verminderung des ſpezifiſchen Gewichts als die Elaſtizität.“ „Aber wie kommt es, daß unſere erſten Proben auch ſo gut ausfielen, und dann doch der Verſuch im Großen nicht gelang?“ „Dieſe erſten Proben zeigten, wie wir erſt ſpäter unter dem Mikroſkop erkannten, auch die poröſe Grundſtruktur. Aber niemand konnte wiſſen, welcher Nebenumſtand ſie hervorgebracht hat. Auch jetzt war es ja nur ein Verſuch aufs Ungewiſſe, den ich mit dem minimalen Zuſatz von Rorin machte, und ein Glücksfall, daß ich das Richtige traf. Nunmehr iſt mir erſt klar geworden, warum wahrſcheinlich die erſten Proben ſo günſtig ausfielen — es befanden ſich auch einige weniger gute dabei, doch konnten wir uns das damals nicht erklären. Ich erinnerte mich nämlich, daß ich in denſelben Räumen den Saft von Sternentaupflanzen eingekocht hatte, und ich darf wohl annehmen, daß die Spuren von Rorin, die dadurch ohne unſer Wiſſen gegenwärtig waren, ſchon den erſten Erfolg hervorgerufen hatten.“ „Wie können aber ſolche geringe Zuſätze ſo gewaltige Änderungen erzeugen? Ich verſtehe nicht —“ „Wir nennen das eine katalytiſche Wirkung. Das Rorin tritt gar nicht in die Verbindung des Stoffes, des Reſinits, dauernd ein. Es beſchleunigt nur den chemiſchen Prozeß der Verbindung der übrigen Beſtandteile, und durch dieſe Beſchleunigung bildet ſich die poröſe Struktur. Ein Vergleich: Eine Maſchine will nicht in Gang kommen, die Reibung der einzelnen Teile an einander iſt zu groß. Da bringen wir eine Kleinigkeit Öl dazwiſchen, und das Schmiermittel, obgleich es kein Teil der Maſchine wird, ermöglicht doch erſt ihren Gebrauch. Ein ſolches Schmiermittel iſt das Rorin für den Gang der chemiſchen Maſchinerie. Es iſt eben Glücksſache, wenn man's findet.“ „Auf die Weiſe iſt alles Glücksſache. Machen Sie Ihr Verdienſt nicht kleiner, als es iſt, Herr Doktor! Ich freue mich ja ſo ſehr!“ „Laſſen wir das Verdienſt, der Verdienſt iſt die Hauptſache! Denken Sie, die Herſtellungszeit des Reſinits wird nun auf die Hälfte herabgeſetzt. Was das allein für eine Erſparnis bedeutet!“ „Aber nun kommt noch der Preis des Rorins dazu, den kennen Sie doch gar nicht,“ ſagte Harda lächelnd. „Ja, da ſind wir freilich auf Sie angewieſen, gnädiges Fräulein. Aber hübſch iſt es, daß Ihr Sternentau, da mit ſeinen unſichtbaren zerfließenden Früchten nichts anzufangen war, uns dafür ſeinen Milchſaft beſchert hat. Wir werden es nun wohl gar nicht mehr zur Fruchtentwicklung kommen laſſen?“ „Nein,“ antwortete Harda nachdenklich, „damit wird's nun freilich wohl nichts werden. Na, ich will ſchon den Rorinpreis ſo ſtellen, daß die Hellbornwerke beſtehen können und Sie auch.“ Ein junger Mann kam herein und trat eilig auf Emmeyer zu. „Herr Direktor Kern iſt am Telephon,“ ſagte er, „und läßt das gnädige Fräulein bitten, möglichſt bald zu ihm ins Privatbüro zu kommen.“ „Ich komme ſchon,“ rief Harda. „Alſo adieu, Herr Doktor, grüßen Sie Ihre liebe Frau. Die wird ſich auch ſchön freuen, daß Sie einen ſo großartigen Erfolg erzielt haben.“ „Die darf noch nichts wiſſen, noch niemand, ohne Einwilligung der Direktion. Aber daß mir Ihr Herr Vater bereits eine erhebliche Zulage verſprochen hat, das darf ich ſchon ſagen. Und daß ſie ſich heute noch das Koſtüm zum Sommerfeſt —“ „Das blaue, das ihr zu teuer war? Ja, ja, das ſoll ſie nur nehmen!“ „Ich will's ihr ſagen! Vielen Dank, gnädiges Fräulein.“ Harda ſchüttelte Emmeyer die Hand und lief zum Vater hinüber. Als ſie eintrat, ſaß er nachdenklich vor ſeinem Tiſche. Jugendlich friſch ſprang er auf, ging ihr entgegen und zog ſie dann neben ſich auf das Sofa. „Mädel,“ ſagte er, ſich die feinen Hände reibend, „heute iſt ein Glückstag. Da liegt das Aktenſtück. Es iſt alles fix und fertig, ſie kann mir nichts mehr anhaben. Der Juſtizrat hat's durchgeſetzt. Aber —“ Er zog die Augenbrauen in die Höhe und ſtrich ſich das Haar mit beiden Händen von hinten über die kahlen Schläfen. „Geld koſtet es — Harda — 's iſt ſchauerlich. Ich weiß wirklich nicht, ob ich's tun durfte.“ „Selbſtverſtändlich, Vater! Das ging nicht anders. Ich habe dich ja ſo gebeten — was es auch koſte, die Breslauer Geſchichte muß aus der Welt.“ Er ſeufzte und ſagte darauf. „Ich freu' mich ja auch, daß es ſo weit iſt. Sie will heiraten, dazu braucht ſie ſo viel, meint ſie — — Und es iſt mir jetzt wirklich recht ſchwer. Ich werde von meinen Hellbornaktien verkaufen müſſen, gerade jetzt, wo ſie binnen kurzem hinaufſchießen müſſen. Denn nach dem neuen Verfahren — Ich bin überzeugt, wir werden nächſtes Jahr dreißig Prozent Dividende geben können.“ „Verkaufen ſollſt du nicht, Vater. Ich kann ja frei über meine Staatspapiere verfügen. Die nimmſt du. Wird es reichen?“ „Das ſchon, jedoch — ſicher iſt ſicher —“ „Ich will's aber. Ich will nämlich ſelbſt ſpekulieren. Wir werden uns ſchon verſtändigen. Was du dadurch gewinnſt, wird halbiert. Ich vertraue auf meinen Sternentau.“ „Ja, Herzel, ich glaube, das kannſt du. Das iſt eine tolle Geſchichte. Es iſt mir ja nicht recht, dich in Anſpruch zu nehmen. Und doch iſt es wohl das Vorteilhafteſte für uns alle. Nun, wir werden uns ſchon einigen, ich will mir die Sache noch berechnen. Ich muß ja doch an Sigi denken. Als deine Großmutter ſtarb, lebte Sigi noch nicht, ſie hat nichts Eigenes, ich muß für ſie ſorgen.“ „Eben darum ſollſt du alles von mir nehmen. Ich würde mich ſchon durchſchlagen, auch wenn 's verloren ginge. Aber wie's heute ſteht, ſo mache ich zweifellos ein gutes Geſchäft. Und nun laß dich mal küſſen, Vater! Ich bin ja ſo glücklich. Nun wird alles gut werden.“ „Du biſt mein braves Mädel.“ Er ſah mit Stolz zu ihr empor, die vor ihm ſtand. „Und du biſt nicht mehr böſe, daß ich — daß ich den Brief an Frickhoff —“ „Ach Kind, da wollen wir gar nicht mehr davon ſprechen. Sorge du nur dafür, daß dein Sternentau richtig Rorin produziert. Wir werden ihn maſſenhaft brauchen. Das Wunderzeug muß methodiſch angepflanzt werden.“ „Hm,“ ſagte Harda wichtig. „Was denkſt du von unſrer Sternentau-Kommiſſion? Wir mußten doch auf Material für die Zukunft denken, falls wirklich etwas Brauchbares aus dem Ros stellarius herauskommen ſollte. Gleich in der erſten Woche haben wir Kulturen angelegt, hinten bei den Warmhäuſern und im Walde, d. h. wo der Park an den Wald ſtößt. Da haben wir ſchon ganze Reihen von jungen Pflanzen gezogen, die im Herbſt ausgeſetzt werden können. Ich weiß von der Anpflanzung in meinem Zimmer, daß ſie dann ſchon im Frühjahr — blühen — na ja, — natürlich muß Efeu dabei ſein, ſonſt gedeiht der Sternentau nicht. Aber da werden wir wohl ſpäter andre Aushilfe finden.“ „Das iſt prachtvoll. Wir haben ja noch ein großes Waldgebiet.“ „Übrigens, der Sternentau, von dem das erſte Rorin ſtammt, gehört eigentlich Onkel Geo. Und wie die Brutknoſpen gelöſt und verpflanzt werden müſſen, das hat Herr Doktor Eynitz erſt richtig herausbekommen. Überhaupt, die ganze Idee zu den Anpflanzungen geht von ihm aus —“ „Hm, ja, mit Onkel Geo und dem Doktor müſſen wir uns einigen. Dabei rechne ich mit auf dich. Überhaupt, Kind, ich bin dir ſo zu Dank verpflichtet.“ „Vater!“ „Wir müſſen auch an dich denken. Du ſollſt froh und glücklich ſein, du wünſcheſt dir Freiheit. Bis jetzt ging's eben nicht anders. Aber nun wird doch wohl Minna ſich beruhigen. Wenn es ihr beſſer geht, dann ließe ſich vielleicht bald dein Wunſch erfüllen. Es wäre mir natürlich ſehr ſchwer, dich nicht mehr hier zu haben; aber — wenn du den Kommerzienrat genommen hätteſt, wärſt du ja zum Winter auch fortgegangen. Wenn du alſo wirklich noch auf die Univerſität willſt — zum nächſten Semeſter — ja, dann hätte ich eigentlich kein Recht mehr, dich hier zu halten. Du haſt dir doch deine Freiheit verdient.“ Harda ſaß ſtill auf ihrem Platze mit niedergeſchlagenen Augen. Sie hielt die Hände auf dem Schoße gefaltet. Beide ſchwiegen. Nach einiger Zeit begann Harda: „Ich gehe nicht fort, bis wir nicht ſicher ſind, daß die Anfälle der Tante aufgehört haben — oder — bis Sigi aus dem Hauſe iſt. Allein laſſe ich ſie nicht, ſie ſoll nicht erleben, was ich erlebt habe.“ Kern zog ſie an ſich. „Du armes, liebes Kind,“ ſagte er, „das wird ja beſſer werden. Ich werde das Meinige dazu tun.“ „Du kannſt es,“ ſagte ſie, den Vater mit großen Augen anſehend. „Du meinſt —?“ „Wir ſind nun beide erwachſen. Wir haben ja ſo oft davon geſprochen. Wenn wir beide fortgingen, ſo wäre es doch das Beſte — nicht? Ihr habt Euch doch ſo lieb, eigentlich. Es würde ſich dann auch niemand wundern. Ich ſehe keinen Grund, warum du nicht dein Verſprechen einlöſen ſollteſt?“ Kern ſchwieg und ſagte dann: „Laß mir nur Zeit, Herzel. Erſt denken wir einmal an dich. Du ſollſt nicht hier gefeſſelt ſein. Jetzt ſind ja wohl die Sternentau-Studien im Weſentlichen zu Ende. Da wird dir hier das Getriebe bald wieder zu viel werden, du wirſt dich in deiner Weiſe beſchäftigen wollen, und du ſollſt frei ſein. Dafür zu ſorgen, bin ich dir ſchuldig. Wegen Sigi werde ich dann ſchon einen Ausweg treffen. Vielleicht hat ſie ſelbſt Luſt, einmal auf ein Jahr anderswohin zu gehen —“ „Vater,“ unterbrach ihn Harda mit plötzlichem Entſchluß, „mach dir keine Sorgen. Ich gehe nicht fort— dieſen Winter noch nicht — freilich, was dann ſein wird — das werden wir ja ſehen —“ „Du willſt nicht mehr ſtudieren?“ „Doch, aber anders. Erſt noch hier.“ „Hier. Wie? Bei Doktor Eynitz vielleicht?“ Harda ſprang auf und legte dem Vater ihre Hände auf die Schultern. Sie beugte den Kopf zu ihm herab und ſprach halblaut. „Vater, ich will dir was ſagen. Fall' nicht aus den Wolken. Ich hab' mich mit Werner Eynitz heimlich verlobt. Nun iſt es heraus! Wir lieben uns. Heute ſchick' ich ihn dir noch her. Bis jetzt wollte ich's nicht, weil ich nicht konnte — weil ich's nicht übers Herz bringen konnte, von dem häuslichen — Jammer — zu ſprechen.“ Sie ſchluchzte. Er ſtreichelte ihre Wange. „Aber jetzt — braucht man ja davon nichts mehr zu ſagen. Jetzt bleib' ich nur wegen Sigi, aber das kann ich doch auch, wenn wir öffentlich verlobt ſind. Und dazu ſollſt du mir deine Einwilligung geben.“ Sie trocknete ihre Augen. Und da Kern noch ſchwieg, fuhr ſie fort: „Weißt du Vater, er iſt ja doch mein Sozius beim Sternentau, er iſt doch beteiligt, es iſt ja eigentlich eine Geſchäftsſache. Die Geſchichte mit dem Sternentau iſt noch gar nicht zu Ende — ich weiß nicht, was ich rede —“ Kern faßte ſie in ſeine Arme. Er war wirklich wie aus den Wolken gefallen. Dann ſagte er: „So ſteht die Sache? O du —“ er küßte ſie — „nun, da iſt freilich nicht viel zu ſagen. Wer weiß denn davon?“ „Niemand — doch einer, Onkel Geo — weißt du, du warſt doch verreiſt — ſonſt —“ „Sonſt hätteſt du mir's auch nicht geſagt? Ich kenne dich doch! Nun begreife ich auch die Abſage. Ei, ei! Aber das geht nicht ſo! Schick mir nur gleich den Doktor her —“ „Vater, du biſt nicht ungehalten? Er wollte durchaus zu dir gehen, aber ich hab's ihm verboten.“ „Und er mußte folgen? Na, der wird's gut haben. Alſo, ich laſſe ihn zu Tiſche bitten, verſtanden? Aber, wie willſt du ihn denn jetzt auftreiben?“ „Ich weiß, wo er iſt. Adieu, Vater!“ Harda fiel dem Vater wieder um den Hals und drückte ihn an ſich. Dann riß ſie ſich los und war im Augenblick aus der Tür. Sie ſtürmte aus dem Hauſe, mit wirrem Haar. Die Comptoiriſten ſahen ihr neugierig durchs Fenſter nach, als ſie über den Platz eilte. Ohne Hut, wie ſie aus dem Laboratorium dem Vater entgegengeſprungen war, lief ſie jetzt durch die Fabrik, an der Portiersloge vorüber, die breite Straße entlang, dem Friedhofe zu. Er mußte ja noch dort ſein, er mußte! Sie war ſchon an der Villa vorüber und hatte den Park zur Rechten. Wo die Straße eine Biegung nach links machte, begegnete ihr auf einmal Leutnant von Tielen. Er ſchien es ſehr eilig zu haben und grüßte etwas verlegen, ohne ſie anzuſprechen. Auch Harda hatte keine Luſt ſich aufzuhalten. Sie mäßigte ihre Schritte nicht und dachte nur, wo kommt der jetzt her? Vielleicht von den Schießſtänden? Dann hat er freilich einen Umweg gemacht. Das helle Kleid, das eben im Park hinter dem Gebüſch verſchwand, hatte ſie gar nicht bemerkt. Erſt als ſie das Tor des Friedhofs erreicht hatte, blieb ſie ſtehen und ſtrich ihr Haar zurecht. Einen Augenblick dachte ſie. „Habe ich mich nicht übereilt? Hätte ich nicht noch warten ſollen? Oder es ihm zuerſt ſagen, daß ich mit dem Vater ſprechen will? Muß er ſich nicht wundern, daß ich plötzlich ſelbſt getan habe, woran ich ihn ſo dringend hindern wollte?“ Aber ſie ſuchte ſich ſogleich ſelbſt ihren raſchen Entſchluß zu begründen. Ihr Verhältnis zum Vater, ihre ganze Situation hatte ſich ja heute plötzlich verändert. Und ſelbſt wenn die Tante in ihrem nervöſen Zuſtande beharrte, ſo war doch der Anlaß fortgefallen, der ihr des Vaters wegen den Mund verſchloß. Minna war dann einfach eine Kranke, und darüber konnte ſie mit Werner ſprechen, er war ja Arzt. Das alles flog ihr blitzſchnell durch den Sinn, aber eigentlich klar wurde ſie ſich nicht. Sie überließ ſich ganz ihrem Gefühl. Und auf einmal überfiel ſie wieder die Angſt — wenn er die Idonen gefunden hatte, wenn ſie doch gegen ihn feindlich vorgegangen wären — — Mit Herzklopfen eilte ſie durch die verwachſenen Gänge des Friedhofs nach der bekannten Stelle. Aber immer langſamer wurde ihr Schritt. Jetzt ſah ſie hinter dem Geſträuch eine Geſtalt. Sie erkannte Werner. Vorſichtig ſchlich ſie näher. Sie mußte lächeln. Er ſaß auf der Bank, auf der ſie ſo oft geruht hatte. Neben ihm lag ſein Strohhut und einige in Holz gefaßte bunte Glastafeln. Mit der rechten Hand hielt er ſein Opernglas auf einen beſtimmten Punkt gerichtet, während er mit der linken an der Einſtellung des Nicols drehte. Sie folgte ſeinem Blicke. Dieſer wies auf die Spitze eines Grabſteines in etwa zehn Schritt Entfernung. Dort konnte ſie nichts erblicken. Leiſe trat ſie noch einen Schritt vor. Da knackte ein Zweig unter ihrem Fuße. Werner nahm langſam die Hände mit dem Inſtrumente herab und drehte ſich vorſichtig um. Er erkannte Harda und winkte ihr mit einer Kopfbewegung, zu ſchweigen. Sie ſchlich ſich neben ihn. Er gab ihr das Glas in die Hand. „Vorſichtig!“ flüſterte er. „Auf dem Borningſchen Grabſtein.“ Sie blickte durch das Inſtrument. „Siehſt du?“ fragte er leiſe. „Noch nicht,“ antwortete ſie ebenſo. „Doch — jetzt — deutlich. Wie ein Schattenriß, eine zierliche Figur, rötlich hebt ſie ſich gegen die Baumwand ab.“ Eynitz nickte mit dem Kopf. „Viel heller, merkwürdiger Weiſe, als ich erwartet hatte.“ „Reizend,“ bemerkte Harda. „Ich ſehe nicht bloß den Schleier, ich ſehe den ganzen Kopf. Sie bewegt die feinen Fühler. Darunter zwei dunkle Kreiſe.“ „Die Augen.“ „Dann kommt das Schleierkleid. Oh — ich glaube, ſie ſieht mich an —“ Harda ſchwieg, aber ſie hielt noch immer das Inſtrument vor ihre Augen. „Ja, ja —“ ſagte ſie jetzt wie geiſtesabweſend. „Ganz ſicher. Du hebſt die Arme. Nein, nein. Sage es Ebah. Wir wollen die Pflanzen lieben —“ Die Hände ſanken ihr herab. Eynitz griff raſch zu. „Was iſt dir, Liebſte?“ fragte er erſchrocken. „Nichts, nichts. Ich ſah eine Idone. Sie ſprach zu mir. Ich weiß nicht, wie das möglich iſt. Sie fragte mich, ob ich ſie ſähe und was ſie jetzt täte. Dann fragte ſie weiter, ob wir die Idonen verfolgten. Ich weiß nicht genau, was ich ſagte, aber ich dachte, daß ich mit dem Efeu ſprechen möchte und daß ich wohl weiß, die Pflanzen ſind auch fühlende Weſen. Dann konnte ich das Glas nicht mehr halten.“ Eynitz hatte noch, während Harda ſprach, wieder durch das Inſtrument nach dem Platze geblickt. „Es iſt nichts mehr zu ſehen. Nirgends. Sie ſind fort. Aber ich habe vorher wenigſtens fünf oder ſechs Idonen beobachtet. Kein Zweifel, wir können ſie jetzt wahrnehmen, wenn wir wollen. Du brauchſt dich nicht mehr zu ängſtigen. Aber nun laß dich zuerſt einmal begrüßen, Herzblatt. Fühlſt du dich auch wohl?“ „Ganz wohl, wohler wie je. Ich bin ja ſo glücklich. Darum komm' ich hergelaufen.“ Sie ſchmiegte ſich an ihn. „Aber daß ſie zu dir ſprechen konnte —“ begann Eynitz. „Ach du,“ ſchmeichelte Harda, „davon nachher. Du weißt ja noch gar nicht, warum ich hier bin.“ Sie wartete ſeine Frage nicht ab. „Ich habe mit dem Vater geſprochen. Du möchteſt gleich zu ihm kommen. Du ſollſt bei uns zu Tiſch ſein. Jetzt weg mit den Dingern, das hat nachher Zeit. Und das Rorin — na, du wirſt ſtaunen. Komm, komm! Ich erzähle dir unterwegs.“ Sie ergriff das Käſtchen mit den Gläſern und zog den völlig Überraſchten mit ſich fort. 25. Elfen-Erbe Der Blick von Geos Häuschen lief über grünende Wieſenflächen, weiterhin war er zum großen Teil von bewaldeten Hügelköpfen beſchränkt. Nach Oſten aber ſchweifte er weit hinein in das Wiesberger Tal mit ſeinen Dörfern, und im Süden ragte der Höhenkamm des Gebirges mit kühn geſchwungenen, luftgetönten Formen herüber. Geo Solves begleitete Eynitz vom Hauſe bis zur Tür ſeines Gärtchens, die nach dem ſchmalen, ländlichen Fahrwege ſich öffnete. „Nochmals meinen herzlichſten Dank,“ ſagte Eynitz. „Und nicht wahr, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich mir erlaubte, Sie zu ſtören, um aus Ihrem eigenen Munde zu hören, was Sie meiner Braut ſchon geſagt haben. Ich war ja doch nicht ſicher, ob Sie nicht, um ſie zu ſchonen und vor jeder Aufregung zu behüten, ſich vorſichtiger ausgedrückt haben, als mir gegenüber nötig iſt.“ „Dies nehme ich Ihnen gar nicht übel, im Gegenteil, es freut mich, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, die ganze Frage mit Ihnen zu erörtern. Dieſes plötzliche Verſchwinden aller Idonen aus Ihrem Geſichtskreiſe, nachdem ſie durch Ihre Gläſerkombination für unſre Augen wahrnehmbar gemacht worden waren, mußte ja Bedenken erregen. Ich kam deswegen ſofort her, als mir Harda die Nachricht telephoniſch mitteilte, und habe hier bereits zwei Tage beobachtet, ehe ich mich unten in der Villa offiziell meldete. Und — ich ſagte Ihnen ja ſchon — ich muß den Elfen als ein beſonders günſtiges Verſuchsobjekt erſcheinen, denn ſie haben mich oft beſucht, und, ich möchte ſagen, direkt ausgefragt.“ Im Eifer des Geſprächs blieben beide an der Pforte ſtehen. „Das war mir eben ſo ganz beſonders intereſſant,“ ſagte Eynitz. „Ich konnte mir gar nicht erklären, daß ſich dort auf dem Friedhof eine Idone offenbar mit Harda in Verbindung geſetzt hatte, ohne daß ſie, wie das ſonſt der Fall war, ihren Kopf berührte. Sie nannten das Zerebralſtrahlung.“ „Ja, ſo hat ſich mir der Begriff in meinem Sprachzentrum geſtaltet. Die Erregung geht von den Idonen aus, und ſie haben mir dadurch mancherlei mitgeteilt. Um es nochmals kurz zuſammenzufaſſen — dieſe merkwürdigen Weſen wiſſen jetzt, daß wir ſie ſehen können, und verſichern, daß ſie ſich ganz von uns zurückziehen wollen. Wann und wie? Ob ich das erfahren werde, weiß ich noch nicht, aber ich zweifle nicht daran, daß es geſchieht.“ „Alſo bleiben für uns zwei Hauptpunkte als Folgerungen. Erſtens, wir haben keine neuen Angriffe von ihnen zu befürchten. Zweitens, wir können keine neuen Studien an ihnen machen. Das erſtere iſt erfreulich, das zweite iſt ſchmerzlich.“ Geo bewegte zuſtimmend den Kopf. „Und dennoch müſſen wir froh ſein, daß ſich dieſe Vernunftweſen ſo entſchloſſen haben. Denn der Kampf mit ihnen hätte zu ſchweren Kriſen führen können und für uns zu unerträglichen Situationen.“ „Nun aber bleibt die Frage,“ fuhr Eynitz fort, „wie verhalte ich mich der Öffentlichkeit gegenüber? Ich habe doch noch einige Photographien und mikroſkopiſche Präparate, ich habe das ſogenannte Neſt, und vor allem, ich habe an Ihren Beobachtungen einen Zeugen von zweifelloſer Autorität.“ „Mein lieber Herr Doktor,“ bemerkte Geo lächelnd, „darauf bauen Sie beſſer nicht. Beſtehen Sie darauf, ſo würde ich mich ja verpflichtet fühlen, für Sie einzutreten, aber, glauben Sie mir, das würde Ihnen auch nicht viel nützen. Man würde eine achtungsvolle Verbeugung machen und mit Achſelzucken ſagen, na ja, der alte Solves fängt nun auch an, Geſpenſter zu ſehen. Da hat ihm wohl ſeine Phantaſie einen Streich geſpielt.“ „So ſollte die Menſchheit von dieſer folgereichen Tatſache nichts erfahren?“ „Die Menſchheit — warum nicht? Aber in der Form des wiſſenſchaftlichen Beweiſes — von dieſem Verſuche möchte ich Ihnen abraten. Sie werden zugeben, es hat einen eigentümlichen Beigeſchmack, wenn Sie darlegen, es gibt eine Pflanze mit einem Generationswechſel, deren zweite Generation intelligent Weſen ſind, und wenn Sie dann auf das Verlangen, dieſe vorzuzeigen, ſagen müſſen: Ja, die ſind verſchwunden. Statt ihrer ſondert die Pflanze jetzt einen Milchſaft ab, der für die Induſtrie von größter Bedeutung iſt. Insbeſondere verdienen die Hellbornwerke daran Millionen.“ „Sie haben recht. Es iſt alles ſo einfach, ſo klar, ſo natürlich — aber dem Außenſtehenden, der das nicht mit erlebt hat, wird es immer phantaſtiſch erſcheinen. Und aus Rückſicht auf die Reſinitfabrikation muß ich zurückhaltend ſein.“ „Auch aus Rückſicht auf Harda. Die Konkurrenz würde eine etwaige Veröffentlichung bei Ihrer Stellung zu Kern als eine unerhörte Reklame herabwürdigen. Warum ſollen Sie ſich ohne Not zum Märtyrer einer Überzeugung machen, indem Ihre Motive falſch und höhniſch gedeutet werden? Da eben die Rolle der Idonen auf der Erde ausgeſpielt zu ſein ſcheint, ſo liegt auch kein aktuelles Intereſſe zur Veröffentlichung vor. Vervollſtändigen Sie Ihren Bericht, aber deponieren Sie ihn bis auf weiteres an ſicherer Stelle.“ „Es wird wohl das Beſte ſein. In der Tatſache jedoch, daß es, wenngleich nicht auf der Erde, eine derartige biologiſche Entwicklung gibt, und daß den Pflanzen ein unter Umſtänden mitteilbares Vorſtellungsvermögen zukommt, darin liegen Beweismittel von ſo überzeugender Kraft für die Beſeelung der Pflanzen vor, daß dieſe zur Geltung gebracht werden ſollten.“ „Die Beweismittel würden aber nur dann erfolgreich ſein, wenn ſie Ihnen jederzeit zur Verfügung ſtänden, wenn Sie lebende Idonen auf der Naturforſcherverſammlung vorführen könnten. Falls aber die Idonen von der Erde verſchwinden, ſo ſind wir auf den guten Glauben angewieſen.“ „Leider,“ ſeufzte Eynitz. „Wir wollen darum nicht zu ſehr klagen,“ ſagte Geo. „Die Wiſſenſchaft geht ihren Weg langſam, zuletzt werden ſich immer Beweiſe für das finden, was wir zu verſtehen reif ſind. Für diejenigen aber, deren Neigung ſich ſchon dem tiefen Gedanken von der Einheit des Erdbewußtſeins entgegen drängt, für die kann das nicht verloren ſein, was wir davon erlebt haben. Und da wird es früher oder ſpäter einmal gelingen, unſrer Zeit zum Bewußtſein zu bringen, nicht bloß, daß es eine Pflanzenſeele gibt, ſondern daß es ſelbſt bei einer Mitteilung der Pflanzenſeele an die Menſchenſeele mit natürlichen Dingen zugehen kann. Und die Hauptſache iſt doch immer, daß wir Erdenweſen alle uns verſtehen lernen im gemeinſamen großen Bewußtſein des Göttlichen.“ „Sie werden den Weg finden,“ bemerkte Eynitz nach einer Pauſe beſcheiden. „Der Dichter vermag ihn zu wandeln.“ Geo blickte ſinnend weit in die Landſchaft und bewegte leicht das weiße Haupt. „Wir wollen uns nicht mißverſtehen,“ ſagte er. „Der Dichter hat keine Tendenz. Der Dichter kann nur eine Form finden für das, was ſeine Seele im Innern bewegt, um es lebendig zu machen in dem ſchönen Schein, der Wahrheit iſt und Leben für alle, die daran teilnehmen. Aber wohl kann in einem Dichter das Erlebnis jenes Zuſammenhangs von Pflanze und Menſch ſo mächtig werden, daß er es darzuſtellen verſucht; ſelbſtverſtändlich nicht um zu lehren, nein, ſondern um einem Gefühle Dauer zu verleihen, das nach Form verlangt. Solche Verſuche ſind berechtigt.“ „Ja,“ entgegnete Eynitz, „aber es iſt immer noch etwas anderes, ob der Dichter nur der Pflanze ſeinen Mund leiht, wie das Märchen von je getan hat, oder ob ſein Werk uns zwingt, die Pflanze ſelbſt zu hören als Kind der Mutter Erde, entſprechend unſerm gegenwärtigen Wiſſen über die Natur.“ „Na,“ ſagte Geo lächelnd, „zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Nehmen Sie jetzt die Sache zunächſt praktiſch und freuen Sie ſich des Gewonnenen. Alſo heute ſoll endlich das große Waldfeſt werden. Nun, Sie haben prächtiges Wetter.“ „Harda und ich wollen uns erſt am Abend einfinden, wenn alles bereits im Gange iſt. Die näheren Bekannten wiſſen ja ſchon, wie es mit uns ſteht, alſo inzwiſchen wohl auch die ferneren. Morgen früh erhalten ſie dann die Verlobungskarten. Werden Sie auch zum Feſte kommen?“ „Nein, lieber Doktor. Für mich iſt das nichts. Und nun — leben Sie wohl. Viel Vergnügen.“ Er ſchüttelte Eynitz die Hand und ſah ihm mit ſtillem Lächeln nach, wie er rüſtig den Landweg hinabeilte. Dann ſchritt er langſam in das Haus. * Am ſpäten Nachmittage, als die Schatten der Bäume ſich über die Wieſen hinzuſtrecken begannen, wandele Geo Solves von ſeinem Hauſe dem Platze unter der Buche zu. Er ließ ſich auf der Bank nieder, labte ſein Auge am grünen Lichtſpiel des Laubes und folgte ausruhend ſeinen Gedanken, die in der Stille des Waldes umherwanderten. Wie oft hatte er hier geſeſſen und gelauſcht der befreienden Stille, bis ein noch holderes Lachen aus dem Walde grüßte und das Glück der Jugend ſelig erneute. Ach, wenn nur ſie das Glück fand, das ſie verdiente! Ihr geheimnisvollen Elfen, wenn ihr um Menſchenſchickſal euch kümmert, ſegnet ſie mit dem heiteren Frieden eurer Freiheit! In ſeine Träume verſunken fragte Geo ſich gar nicht, was ihm aus der eignen Seele emporſtieg, oder was ihm vielleicht eine freundliche Elfe zuſtrahlte. Wie ein Teil der lebendigen Natur atmete er mit dem erfriſchenden Abendhauch des Waldes und verſtand ſein Geflüſter. Lag wirklich der Rieſe im Felſengrab? Regte er ſich unwillig, geſtört in ſeiner Ruhe? Oder war es der alte Gott, auf deſſen Erwachen die Pflanzen hofften? Warum zog und ſchwebte es ſo ſeltſam durch die Luft um den Höhleneingang, flüſterte rings im Dämmer der Schatten bei Buche und Pflanzen? Worauf wartete der Wald? Unberührt von der geheimnisvollen Erregung türmte ſich der verwitterte Steinhaufen des Rieſengrabes. Feſter Granit war's ja freilich, aber doch nur ein Trümmerberg. Droben vom Felswall des Gebirges war er herabgeſtürzt, als noch ein längſt entſchwundener Gletſcher das Helletal erfüllte. Fortgeſchoben hatte ihn das Eis talabwärts mit dem hohen Steinwall, den es vor ſich auftürmte. Das Eis war fortgeſchmolzen, die Stirnmoräne des Gletſchers war liegen geblieben, durch ſie hatte ſich die Helle die ſchäumende Bahn gebrochen. Pflanze auf Pflanze wanderte zu und ſiedelte ſich an. Mit ihnen waren die Tiere gekommen und der Menſch. In der Höhle flammte das neue Licht auf, das der Menſch entzündet hatte, das heilige Feuer. Und die hohe Eiche war gewachſen, die knorrige, und Menſchen hatten ſich unter ihr gelagert. Aus jener Zeit war eine Sage gegangen durch die Geſchlechter der Eichen und von ihnen vererbt zu den Buchen, als ſie die Herrſchaft im Walde antraten. Eng ſchmiegte ſich der Efeu an die Äſte der Schattenden, als ſie an dieſem erwartungsvoll heranziehenden Abend zu Ebah von der Hoffnung der Pflanzen ſprach, von der Hoffnung der Pflanzen auf ihren ſchlummernden Gott. Denn ſie erzählte der Lauſchenden die Sage vom mächtigen Erdengott, der einſt hier herrſchte und lebendig war, der die Maſſen der Geſteine hob und zertrümmerte, der die Waſſer rauſchen ließ und im Sturmwind einherjagte, der im Donnerſtrahl hinzuckte und leiſe, leiſe webte und baute in den zahlloſen winzigen Tröpfchen des geſtaltenden Lebensſtoffes. Er waltete in den kleinen grünen Körnchen der Pflanzen, die es verſtanden, die Luft zu zerſpalten, und in den beweglichen Zellen, die das Erdreich nach Lebensnahrung durchwühlten. Sein Atem durchwehte den rauſchenden Wald, und alles vernahm ihn, was darin wurzelte und wuchs und blühte, was darin kroch und ſummte und heulte von huſchenden Tieren. Ihn verſtand auch der Menſch, dem ſelbſt die züngelnde Flamme gehorchte; und er verehrte in heiligem Schauer das göttliche Leben, das da flutete durch Stein und Pflanze und Tier wie durch Weib und Mann und die ruhmvollen Seelen der Helden. Das war das große Reich des Kampfes und der Liebe, darin alles zuſammenwirkte, ſich bedrängte, ergänzte, verzehrte und gebar und immer neu ſich emporhob zur Welt des Lebens; das war das Reich der ewig werdenden Natur, die Gemeinſamkeit des Lebens im Heimatsſtern, in der Erde, das Reich Urd. Schwache und Starke gab's, Geringe und Mächtige, Kleine und Große in dieſer umfaſſenden Einheit, aber in ihnen allen lebte die eine, dauernde Seele des Heimatsſternes, der ſie zeugte, nährte und zu ſich nahm. Das eben fühlten ſie alle als ihres Lebens Gemeinſamkeit. Die Pflanzen umtaſteten mit ihren Wurzeln den ſchaffenden Gott, die Menſchen riefen ihn an, im Vertrauen ſtammelnd unter der Eiche, worin ſie ſeine Wohnung ſahen. Menſch und Tier und Pflanze, ſie alle fühlten ſich eins mit der nährenden Erde und dem wärmenden Himmelslicht im Zuſammenhang des Gottes, der ſie in ſich faßt; ſtill, gelaſſen und tief das ſproſſende Pflanzenreich, dunkel und flüchtig das Tier, und in unklarem Schauer der Menſch, in Furcht und Hoffnung. Es kamen aber fremde Menſchen ins Land und verkündeten einen fremden Gott. Von dem ſagten ſie, er wolle nicht im Walde wohnen und nicht in der Eiche und wolle nichts wiſſen vom Reiche Urd, dem ewig werdenden; denn er ſelbſt habe die Erde und die Pflanzen und die Tiere geſchaffen, damit ſie dem Menſchen dienen ſollten. Nur zu den Menſchen rede er. In einem neuen Geiſte ſollten ſie ſich verbinden, daß ſie ſich verſtehen in einem gewaltigen Reiche des Glückes und der Liebe. Denn jenes Reich ſei über der Erde, dahin könne nicht gelangen der wüſte Wald und das heulende Tier, ſondern nur der Menſch. Ihm allein glühe das Licht der Seele in ewiger Dauer und reinem Scheine; die Erde aber und ihre Geſchöpfe ſeien ſeelenlos und tot. Hier im Reiche des Gewordenen müſſe alles zugrunde gehen; unendlich walte das Leben nur da drüben, da droben. Und die Menſchen glaubten ihm. Nicht mehr genügten ihnen ihre Brüder in Wald und Buſch; ſie begannen zu verachten, was da wächſt und leuchtet und ſich freut und hofft im Scheine der Sonne und im Leben des ſchaffenden Planeten. Da verleugneten ſie den Gott der Erde und legten die Axt an ſeine Eiche. So fielen die Menſchen ab vom Reiche Urd und ſuchten nach einer neuen Seele, deren Nahrung, wie ſie glaubten, ſich nur finden laſſe in jenem Reiche jenſeits der Muttererde. Da wurden ſie gelöſt von Tier und Pflanze und der heiligen Einheit der Werdewelt. Die Eiche ſtürzte, der Gott aber ſtieg hervor als Wetterwolke auf die Höhe des Gebirgs und ſchleuderte zürnend den Blitzſtrahl in das Tal hinab und fluchte den Menſchen, die ihn verleugneten. Dann zog er ſich zurück tief in die Schluchten der Erde und harrte beſſerer Zeiten. Und weiter ſprach die Buche zur lauſchenden Ebah: „Wir Pflanzen aber blieben treu dem Gotte der Eiche. Darum zürnt uns der Seelengott jenſeits der Erde und machte die Menſchen taub für unſre Rede. Einſt aber kommt die Zeit, da wird der Erdengott wieder erwachen und einziehen in ſein altes Reich des ewig Lebendigen. Dann werden auch die Menſchen uns wieder verſtehen, dann werden ſie ſich mit uns vereinen als Brüder und mit uns leben als Kinder der großen Muttererde und fühlen in ihrer heiligen Dauerſeele. Das aber iſt es, was die Pflanzen erflehen vom Schickſal des Planeten, daß bald der Gott erwache, der im Berge ſchlummert, und von ihnen nehme das Leid, verkannt zu ſein von den Menſchen als ſeelenlos und ſtumm. Und ſo hoffen ſie auf ihn, und lebhafter zittert es durch alle ihre Faſern, wenn in der Nacht geheimnisvoll ein Leuchten zieht ums Rieſengrab.“ Als die Buche geendet hatte, ſchwieg Ebah lange in ſtillem Nachdenken. Dann ſprach ſie beſcheiden: „Hätteſt du mir die alte Kunde geraunt, Schattende, als ich zum erſten Male dich bat, da hätte ich wohl gläubig mit dir gehofft, daß der Gott uns erretten könne. Denn das iſt ja unſer Wunſch, daß er Einheit bringe mit den Menſchen. Nun aber hat die neue Pflanze bei uns ihre Kapſeln entfaltet und das Geſchlecht der Idonen iſt herausgeſtiegen, erleuchtet von einem Geiſte, der noch größer iſt als Menſchenweisheit, und hat uns neue Einſichten eröffnet in die Seele der Menſchen. Du weißt ja ſelbſt, wieviel wir durch Bios Vermittlung erfahren haben von dem, was die Idonen über die Menſchen erforſchen konnten. Und wenn auch wir Pflanzen nicht alles zu erfaſſen vermögen von dem großen Zuſammenhange, in welchem die Lebeweſen der Erde ſtehen, ſo habe ich doch begriffen, daß wir uns von den Menſchen eine falſche Vorſtellung gemacht haben.“ „Willſt du damit zweifeln an der ehrwürdigen Sage, die wir Buchen erhielten von den Eichen jener Zeit, da der Gott noch wachte?“ „Ich glaube gern, daß die Sage wahr berichtet von einem Vorgang, der in der Menſchen Seelen eine Wandlung hervorbrachte. Aber der Gott, der in der Eiche wohnte und der jetzt im Berge ſchlummern ſoll, und der Seelengott, der ihn vertrieben hat, das können doch nicht wirkliche Lebewesen ſein wie Pflanzen, Tiere oder Menſchen oder wie die Planeten ſelbſt. Das ſind doch nur Bilder für jene Art zu denken, die in den Lebeweſen mächtig iſt. Und wenn du vom Erwachen des Gottes ſprichſt, ſo iſt damit bloß gemeint, daß eine gewiſſe Anſchauungsweiſe allmählich durch eine andre erſetzt werden wird; ich meine, daß in den Menſchenſeelen die Vorſtellung von der Einheit der Erde wieder Macht gewinnt. Alſo ſagt uns die alte Kunde auch nichts andres, als was wir hoffen, nämlich daß zwiſchen den Lebeweſen der Erde ſich ein beſſeres Verſtändnis vorbereitet. Und wenn ich recht verſtanden habe, was Bio von den Forſchungen der Idonen berichtete, ſo haben eben die Menſchen den richtigen Weg eingeſchlagen, von ihrer Seite her unſer Pflanzenweſen beſſer zu verſtehen.“ „Du ſelbſt aber, Ebah, die jetzt ſo weiſe redet, haſt ja die Menſchen belehren wollen, was ſie ſollen.“ „Ja, Schattende, doch ich habe jetzt eingeſehen, daß ich es wohl gut meinte, aber Unmögliches mir erdachte. Ich habe es eingeſehen, ſeitdem ich mit Harda ſelbſt ſprechen durfte und nun lange unſer Geſpräch nachträglich erwog. Hat doch auch Harda meiner Tochter Hedo geſagt, daß ſie um unſre Seele wiſſe, als die Idone Adu ihre Gedanken vermittelte. Schon viele Menſchen mag es geben, die uns unſern Seelenanteil am Pflanzengeiſte nicht mehr abſprechen. Aber ich weiß auch, daß wir Pflanzen in dieſer Sache nichts tun können. Du haſt mir die Geduld geprieſen als der Pflanzen höchſten Vorzug. Geduld zu gewinnen, darin will ich dir folgen. Wir müſſen es abwarten, daß uns die Menſchen unſer Recht gewähren. Aber wir dürfen jetzt froh darauf vertrauen, daß der Planet uns wieder reicheren Seelenanteil ſchenken wird. Harda habe ich verſtanden, beſſer als ich die Idonen verſtehe, wenn ſie ſagte, daß die Menſchen von der Einzelſeele zur Allſeele kommen. Dahin ſtreben ſie, und da müſſen ſie die Pflanzen treffen. Ich aber will ausharrend fortſchreiten auf meinem Wege und dem Herbſte vertrauen, der mir die Blüte bringt. Dankbar bin ich den weiſen Idonen, daß ich reden durfte mit einem Menſchen, und daß ich nun weiß, auch er hat mich lieb, den ich für den beſten und liebſten halte.“ „Weißt du,“ ſagte die Buche gemütlich, „ich ſehe ein, daß du eigentlich meiner Erziehung gar nicht mehr bedarfſt. Dein Umgang mit den Menſchen hat dich ſo klug gemacht; vielleicht biſt du nächſtens auch ſtark genug, deine Äſte ohne meine Hilfe zu tragen.“ „Spotte nicht, Schattende. Ich bin freilich etwas klüger geworden, weil ich über den engſten Kreis der Pflanzenſeele hinausſchauen durfte. Ich glaube nicht mehr blindlings an alles, was das weiſe Moos uns lehren will; ich weiß, daß Menſchen andre Aufgaben haben als Pflanzen. Aber eben darum bleib' ich beſcheiden. Denn klug ſein heißt ſeine Grenzen erkennen. So weiß ich wohl, daß mein Blick zwar hinausreichen kann über die Dunkelgrenze deines Buchenlaubes, daß aber mein Stamm deiner Stärke bedarf, du Gute, mich zu ſchützen und zu tragen. Und ſo erkenne ich auch der Pflanzen Beſtimmung. Eine andere mag ſie ſein drüben auf dem Idonenſtern, wo die Generationen wechſeln zwiſchen wurzelnden Pflanzen und ſchwebenden Hütern der Vernunft. Bei uns auf Erden iſt es unſre Sache, in Stille zu dienen dem Leben des Planeten; des Menſchen Pflicht aber iſt es, in Mühe und Haſt ſich weiter und weiter hinaufzuarbeiten, damit er die Ruhe wiedergewinne in der Einſicht, in dem Wiſſen um das Leben des Planeten. Und ich weiß nicht, was ſchöner iſt: Gezwungen ſein zu herrſchen wie der Menſch, oder freiwillig zu dienen dem Ganzen wie wir.“ „Das Schönſte aber iſt,“ ſagte eine Stimme, „zu verſtehen, daß zwei Streitende beide recht haben können.“ „Oh, du biſt es, Bio, die da ſpricht?“ rief der Efeu. „Das iſt ſchön, denn du warſt ſo ſtill in der letzten Zeit, daß ich gar nicht gewagt habe, dich zu fragen, was dieſe Bewegung am Rieſengrab bedeutet.“ „Ihr werdet es erfahren, wenn es geſchehen iſt. Die Idonen berieten mit mir, und ihrem letzten Entſchluſſe werdet ihr beiwohnen dürfen durch meine Vermittlung.“ „Warum nahmen ſie dir alle deine Kapſeln? Warum weinſt du dieſe Tränen des Harzes, das aus deinen Wunden quillt?“ „Weil ich das Opfer bringen muß dem Planeten, auf den wir verſchlagen wurden. Wo wir nicht umgeſtalten können, müſſen wir uns anpaſſen. Wir ſind nicht mehr auf dem Sterne der ſchönen Freiheit, wo wir gedeihen zur Eigenfreude. Wir ſind auf dem Planeten der ausnutzenden Arbeit. Nun werden wir ihm dienen wie alle ſeine Pflanzen. Nicht mehr die ſchwebenden, leuchtenden, ihr Leben dichtenden Idonen werden wir erzeugen, ſondern den ſchweren Saft zum Vorteil des ſchaffenden Menſchen, daß er ihn verwerte. Uns bleiben nur die Brutknoſpen zur Fortpflanzung in jüngeren Geſchlechtern. Auch vom Schutze deiner Blätter werde ich dann unabhängig werden. Und wie ihr alle, ſo werden auch wir an unſerm Teil mitarbeiten, daß es den Menſchen gelinge, Herr zu werden über die Erde durch ſeine Mittel der Arbeit und des Denkens, damit er ſich dem Verſtändnis nähere ſeiner eigenen Beſtimmung zum Ganzen.“ „Aber die Idonen?“ „Sie wiſſen, was ſie tun, und wollen es.“ * Von ferne wehte ein leichter Oſtwind von Zeit zu Zeit leiſe Klänge herüber, muntere Weiſen vom Tale her. „Was iſt das für ein beharrliches Gewackel in der Luft,“ ſagte der Waldmeiſter ärgerlich, denn ſeine kleinen Klettchen begannen borſtig zu werden. „Es verdrießt mich ſchon lange.“ „Eine Rückſichtsloſigkeit von den Tretern iſt es,“ antwortete der Sauerklee. „Jetzt, wann ſich ein vernünftiges Weſen zur Ruhe faltet, da fangen ſie an unten am Waldrand, wo die große Wieſe iſt, ein allgemeines Gezittre zu veranſtalten.“ „Eine Rückſichtsloſigkeit?“ riefen die Gräſer. „Eine Gemeinheit iſt's. Wenn ſie's noch in ihren Häuſern täten! Aber auf der Wieſe treten ſie herum und ſtampfen mit ihren Beinen, unſern Brüdern und Schweſtern zertreten ſie Halme und Wurzeln. Schon klagen es uns die Genoſſen.“ „Ruhe doch!“ gebot die Buche. „Die hat gut reden, auf der können ſie nicht tanzen,“ murrte das Gras. „Es ſchwebt in der Luft, es ſtreift an meinen Blättern, es drängt ſich um Bio,“ flüſterte Ebah. Idonen nahten ſich, mehr und mehr zogen heran, von den verborgenen Stellen, wo ſie ihre Wohnungen aufgeſchlagen hatten, kamen ſie, um ſich zu entſcheidender Beratung bei der Stammutter zu verſammeln. Alle ſtellten ſich ein, beide Geſchlechter, eifrig verhandelten ſie untereinander, Lis mit Stefu, Gret mit Elſu und die andern alle, bis Ildu um Gehör bat. „Die Stunde iſt gekommen, liebe Freunde,“ begann Ildu, „daß wir uns entſchließen über unſre Zukunft. Eines habt ihr alle ſchon erfahren. Unſrer größten Vorzüge einen, der uns das Übergewicht über die Bewohner dieſes Planeten ſicherte, haben wir eingebüßt. Wir können den Menſchen nicht immer unſichtbar bleiben, wann wir wollen. Sie haben ein Mittel gefunden, uns wahrzunehmen im Licht. Selbſt wenn es dunkel iſt und wir unſer Leuchten unterdrücken wollten, würden ſie durch ihre ſtarken Farbenſtrahlen uns ſichtbar machen können. Schon dadurch alſo iſt es ausgeſchloſſen, daß wir im Kampfe mit den Menſchen uns auf dieſem Planeten behaupten können, der ihnen gehört. Ob in Freundſchaft es möglich ſei? Weiſe Menſchen, die wir beſtrahlend fragten, wußten uns nichts zu ſagen; denn wir durften ihnen nicht zu viel von unſerm Weſen enthüllen, und das Wenige verſtanden ſie nicht. Einer aber, — ihr wißt wohl, daß er dort unter der Buche ruht, der zu den wenigen gehört, die um unſre Exiſtenz wiſſen, iſt der Meinung, daß wir uns den Menſchen nicht offenbaren ſollten. Denn ſie dulden keinen andere Herrn auf der Erde als ihresgleichen. Wie aber könnte ein freier Idone andern Weſen ſich unterordnen? Doch dies alles tritt zurück gegen die Hauptfrage, die nun zu ſtellen iſt: Kann unſer Geſchlecht dauern auf der Erde im Wechſel mit dem Rankenbaum? Und ſo frage ich heute: Sind Freunde unter uns, die ſich vermählt haben?“ Niemand antwortete. „So frage ich dich, ehrwürdige Mutter Bio, kam niemand zu dir, den Rankenſchleier ſich zu fordern zum Feſtgewande? Schwebte niemand um dich zum Seelenreigen im Frohgefühl?“ „Niemand kam, niemand ſah ich,“ ſprach Bio feierlich. Die Idonen ſchwiegen. Endlich begann Lis: „So iſt es denn klar. Wir ſind nicht die lebensmächtigen Idonen, wie ſie auf unſerm Heimatsſtern herrſchen. Verſagt iſt uns das Heil der werbenden Sehnſucht, verſagt der Trieb und die Macht uns zu einen im höchſten Blütenglück. Keiner von uns und keine hat ſich den Genoſſen zugewandt anders als im freundſchaftlichen Sinne der Hilfsbereitſchaft, und kein neues Geſchlecht befruchteter Rankenbäume wird aus Sporen auf dieſer Erde entſprießen. Sollen Idonen kommen ſtets nur aus den alten Pflanzen, um immer ſchwächer und ſchwächer hinzuwelken auf der ſchweren Erde? Das haben wir ſchon abgelehnt. Sollen wir ſelbſt noch weiter dauern ohne Hoffnung für die Zukunft? Nein, ihr Freunde, ich habe meinen Entſchluß gefaßt. Ich will nicht leben auf einem Sterne, wo es für den Idonen keine Liebe gibt. Auch auf dem Heimatsſtern kommt es vor, daß dem einzelnen erhoffte Liebe ſich verſagt. Aber dort fließt ſein Leben dahin im ſchönen Scheine, und Entbehrung wandelt ſich zur Fülle des Traumes. Hier aber ſchwindet die Eigenmacht des Glückes. Selbſt die Sehnſucht lebt nicht auf, dumpf wandeln Tag und Nacht ihren öden Taktſchritt und kein inneres Feuer entzündet Gluten im eigenen Herzen oder in anderen. So iſt mir würdiger zu ſcheiden vom Sonderleben zur Freiheit, die ich wähle im Werden des Unendlichen.“ „Recht ſprachſt du,“ rief Stefu. „Ich auch will nicht weilen, wo ich nicht blühen kann, ja wo blühen oder nicht blühen mir weder Freude noch Leid iſt. Ich will mit dir ſcheiden aus eigner Wahl und dieſen Leib löſen im Bade der ewig neuen Geſtaltung.“ „Wir auch, wir wollen es,“ riefen die Idonen. „Laßt uns zerfallen durch unſern Willen ins Unſichtbare.“ „Wohl, ihr Freunde,“ erklang Ildus Wort, „auch ich denke ſo. Doch ihr wißt, ein jeder iſt frei in ſeinem eignen Entſchluß. Eines nur hindert mir die Freiheit der Entſcheidung. Sollen wir ſchwinden von dieſem Planeten, ohne daß unſer kurzer Beſuch ſeinen Bewohnern ein dauerndes Gaſtgeſchenk bringt, eine Hilfe ihnen, die im Zwange des Verſtandes hinleben ohne unſre Freiheit? Soll nichts für die Erde bleiben, um auf die Zeit zu deuten, wo Planet und Planet ſich helfen werden? Gibt es keine Möglichkeit, ihnen wenigſtens ein Zeichen zu geben, daß die Boten hier waren jener großen Einheit, die im Leben der ganzen Welt beſteht, die Planet mit Planet, Organismus mit Organismus verbindend den unendlichen Gott ſelbſtſchaffend lebt?“ Da begann Bio, die Pflanze, langſam: „Ein Zeichen laßt ihr hier, wie ſie es ſelbſt verſtehen und ihnen am beſten iſt. Das iſt mein Saft, der ihnen quillt, daß ſie ihn nützen zu den Zwecken, die ihnen Erdenmacht verleihen.“ „Bio hat recht,“ ſagte Elfu. „Denn Erdenmacht allein führt ſie zur Freiheit, die ſie der Gottwelt eint. Jener Saft wird ſie den Stoff bereiten lehren, woraus ſie einſt die Fahrzeuge des Höhenfluges bauen, um ſelbſt ſich zu verbinden zu einer Menſchheit, die in der Natur ihre eigne Göttlichkeit erkennt.“ „So mag es ſein,“ ſchloß Ildu. „Menſchliches dem Menſchen! Denn Götterboten verſtehen ſie nicht. Wir aber mögen uns bereiten, einzugehen zur Freiheit des Geſetzes, das wir wollen.“ Das leiſe Rauſchen in den Baumblättern hörte auf, auch die ferne Muſik ſchwieg mit dem Winde. Ganz ſtill war's. Schräg fielen die Sonnenſtrahlen durch das Laub und berührten die Stirn des Mannes, der auf der Bank ruhte. Wie aus einem Traume erwachend blickte er um ſich. Jetzt ſtützte er den Kopf in die Hand und ſammelte ſeine Gedanken. „Was hört' ich doch vom Erwachen des Gottes, vom Verſtande der Menſchen, von der Idonen Liebe und Freiheit? Was fehlt den Menſchen? Warum haben ſie die Freiheit des dauernden Lebens noch nicht gewonnen? Hört ihr mich, weiſe Idonen? Wißt ihr denn, was den Menſchen den Blick trübt, wenn ſie ihren Gott ſuchen? Ja, ſie ſuchen ihn, aber ſie töten ihn durch ihre Rede. Daß ſie ſich noch nicht befreien konnten vom Zwange des Bekennens, das iſt es, was ſie darnieder hält. Denn dieſer Zwang iſt der Feind der Freiheit für immerdar. Die unendliche Einheit des lebendigen Seins läßt ſich nicht faſſen in das Geſetz des Verſtandes allein. Sie flutet zugleich in dem Unſagbaren, in dem Unausdenklichen, in dem, was nur in dem Ich erwacht, das ſich miterlebt in der ganzen Welt, in der Liebe. Aber ſprich es nicht aus, was dich durchdringt, denn dann mußt du es denken, und was du denkſt, mußt du beſtimmen, beſchränken. Darum iſt jedes Bekenntnis eine Beſchränkung, iſt eine Minderung der unendlichen Gottheit, eine Verſtümmelung des religiöſen Gefühls. Weil ſie den Gott noch nicht miterleben in ſeiner unendlichen Seele der Welt, ſo müſſen ſie noch immer ihn ſuchen jenſeits des Geſetzes als einen Schöpfer der Natur. Darum gibt es gar ſo viele, die da glauben, den Gott zu beſtimmen mit ihrem Bekenntnis, und Göttermacht zu zwingen und zu nützen für das Werden der Wirklichkeit. Für ſie alle ſchläft noch der lebendige Gott in harter Steingruft. Ihr aber, ihr Idonen, habt durch die Stimme, die ihr der Pflanze lieht, einen Weckruf erſchallen laſſen dem ſchlummernden Gotte, den die Menſchen wohl vernehmen können. Und das iſt das Gaſtgeſchenk eures Geiſtes. Wenn die Menſchen verſtehen werden, daß ihre Seelen zuſammen fühlen und empfinden mit denen der Pflanzen als Teile des lebendigen Planeten, ſo wie alle Körper zuſammenwirken als geſetzliche Teile der räumlichen Einheit, dann wird der ſchlummernde Gott erwachen und herausſteigen aus ſeiner ſteinernen Gruft in das Himmelslicht und machtvoll leben hier auf Erden wie in allen Welten, die im Raume kreiſen. Nicht mehr als der alte Naturgott, als der Geiſt der Berge und Haine und geängſteten Menſchen, den man anflehen kann mit Opfern und Gebeten; nicht als der Zauberer, der Willkür übt und den Sprüche zwingen. Nicht als der große Himmelsgott, ob er liebe oder zürne, den man bekennen muß als Schöpfer und Lenker, der im Diesſeits herrſcht und aufs Jenſeits verweiſt und dem man dienen muß nach der Vorſchrift der Mächtigen oder der Maſſen. Nicht als der dunkle Gefühlsgott, der das Geſetz verſchmäht und die notwendige Ordnung des Kosmos, der den Verſtand tötet, um leben zu können im Schwärmerwahn. Sondern als das lebendige Geſetz, als der Gott, deſſen Allgewalt verſtanden wird in der Wandlung des Räumlichen, und der zugleich ſich erlebt als fühlendes Ich in Zellen und Planeten, in Pflanzen und Menſchen, als die unerſchöpfliche Einheit werdender Wirklichkeit und ſchaffenden Scheines, deren Macht wir vertrauen. Dann ſind Menſch und Natur nicht feind, nicht Herr noch Diener, ſie ſind Freunde im gleichen Gefühle als Teile des lebendigen Alls und Ichs. Die Natur wächſt hinauf im Menſchen zum Bewußtſein der Freiheit, die Werden und Wollen in eins ſchafft. Der Menſch verſteht und erlebt ſich in der Natur als das unſterbliche Ich, das im Wandel der Formen liebend und lebend aufwärts ringt. Dann waltet lebendig der Gott, der die Berge türmt und in Wolken wettert, bauend im grünen Körnchen der Pflanzenzelle, ebenſo aber im Menſchenhirn, das die ſauſenden Werke ſchafft drüben am Waldrand und den Sturz des rauſchenden Fluſſes umwandelt in Licht und Arbeit. Und es beugt ſich der Menſch demütig vor der Größe des gemeinſamen Wirkens, eins ſich fühlend mit dem lebendigen Zuſammenhang, darin das Fäſerchen der Pflanzenwurzel am Marke des Erdballs ſaugt. Denn ſie ſind Teile desſelben Gottes, lieben mit ihm und herrſchen mit ihm durch Kleinſtes und Größtes. Und der Gott verlangt keine Sprache, denn er lebt. Und ſie ſuchen keine Sprache, denn ſie leben.“ Durch die Stille des Abends zog es wieder wie ein leiſes Huſchen und Rauſchen von unſichtbarer Gegenwart. Die Idonen ſchwebten den Abſchiedsreigen um Bio. Die Mutter vernahm ihre Worte. „Wie auf dem weiten Waſſer des Sees im leichten Windesſpiel die Welle ſchwingt, ſo tauchen wir auf im unendlichen Meere des Werdenden, ein Gedanke des Planeten, aufgeregt vom Hauche des ewig Wollenden. Der Strahl der Sonne ſpiegelt und bricht die Welle, daß ringsum leuchtet und farbig glitzert die nährende Luft. In uns beſchaut ſich in neuen Geſtalten, in wechſelnden Zeiten der dauernde Gott. Es ruht der Hauch und langſam glättet ſich die Welle zur ebenen Fläche. Was tauſendfach ſchillernd die einzelnen freute, ſteht in klarem Bilde als Ganzes vor der Seele der Welt. Wir aber leben im vergleichenden Auge des Ewigen. Leben iſt Schein und Schein iſt Leben. Freut euch, Idonen! Im goldenen Schein ſchwinden wir ſelig und ſcheinen weiter dem höheren Auge zu höherem Leben. Freut euch, Idonen, im ewigen Schein!“ Höher ſtiegen die Idonen bis über den Felſen und umkreiſten langſam ſchwebend den Wipfel der Buche. Sie winkten hinab und Ildu ſprach: „Bio, wir ſchwinden. Sage uns, Mutter, den Segen des Scheidens!“ Und es klang von unten: „Fließet hin, fließet hin in die Fülle des Alls! Diesmal nicht ſtreut ihr die Zellchen des Lebens ins Ungewiſſe, ob ſie gedeihen zur grünenden Pflanze, künftiger Idonen Mutter. Euch ſelbſt löſt ihr auf vom Scheine zum Werden in neuer Geſtaltung, die wir nicht wiſſen. Das Ich vergehe mit freiem Willen im ewigen Ich. Denn nimmer grüßt euch auf dieſem Sterne die eigene Freiheit. Ihr aber wählt die unendliche Mutter im weiten Raume. Von Sonnen zu Sonnen wandern die Strahlen, in neuen Welten glühen die Seelen, und nimmer vergeht, was ſich ſelbſt gewollt nach freiem Geſetze. Fließet hin, fließet hin in die Fülle des Alls! Ich aber ſegne, die fröhlich ſcheiden, und heiterer Seele ſpend' ich den Gruß.“ Ein heiliges Schweigen lag im Walde. Blau glänzte der Himmel durchs Buchengrün. Des ewigen Werdens Frieden und Freude ſegnete die Erde im Abſchiedsgruße der zerfließenden Boten der Freiheit. Da klang es drüben vom Tal herüber lauter in heiteren Tönen. Ein ferner Schall kündete freudigen Reigen der Menſchen. Im Graſe rauſchte es leiſe. Sinnend erhob Geo das Haupt. Zwei weiche Arme umſchlangen den Überraſchten, zwei leuchtende braune Augen blickten ihm ins Antlitz. „Harda!“ rief er. „Da bin ich! Leb wohl, du Guter. Denkſt du, ich werde hinabgehen ohne Gruß von dir? Ich wußte, wo ich dich finde.“ „Hab' Dank, du Liebe, hab innigen Dank! Und Freude ſei dir bei den Menſchen, zu denen du heute trittſt als glückliche Braut. Weißt du, was hier geſchah? Die Idonen ſind geſchieden von der Erde in freiem Entſchluſſe. Du aber magſt nun ſorglos ſchreiten, nichts mehr haſt du zu fürchten von den Unſichtbaren.“ „Die Armen!“ „Die Glücklichen, ſage. Sie wählten willig ihr Scheiden. Dir aber gehört ihr Erbe.“ „Und dir mein Dank. Du lehrteſt mich ihre Freiheit.“ „Weil du ſelbſt frei warſt in innerſter Seele. Und nun leb' wohl, dein wartet das Glück. Auf Wiederſehen am Tage bei den Menſchen in lebendiger Freude.“ „Auf Wiederſehen!“ Hinter den Büſchen verſchwand das weiße Kleid. Geo richtete ſich auf. Noch einmal klang es von der Ferne. „Auf Wiederſehen!“ 26. Schluß Nicht lange Zeit nach dem glänzend verlaufenen Waldfeſte der Erholungsgeſellſchaft war Sigi eines Tages unerwartet vor den Vater getreten und hatte ihn mit einem Geſtändnis überraſcht. Unter Küſſen und Tränen erklärte ſie ihm, daß ſie und Konrad Tielen ſich liebten und daß ſie ſich unbedingt heiraten würden. Vergeblich ſetzte ihr Kern auseinander, warum das nicht anginge; daran könnten ſie vor vielen Jahren nicht denken, denn der Leutnant hatte nichts, und er ſelbſt ſei durchaus nicht in der Lage, das nötige Vermögen herzugeben. Sigi blieb bei ihrem Vorſatz. Dann würden ſie eben warten. Und außerdem, behauptete ſie in ihrer entſchiedenen Weiſe, hätte der Vater neulich ſelbſt erklärt, daß er bei dem Aufſchwung, den die Hellbornwerke infolge der Reſinitfabrikation nähmen, vorausſichtlich in drei Jahren ein reicher Mann ſein werde. Das müſſe man abwarten, meinte der Vater. Nun gab es lange Familienkonferenzen mit Harda und der Tante, zu denen auch Hardas Bräutigam zugezogen wurde. Dieſe führten wieder dazu, daß zwiſchen Kern und Minna vertrauliche Ausſprachen ſtattfanden. Seit der definitiven Erledigung der Breslauer Angelegenheit, die zeitlich mit Hardas Verlobung zuſammenfiel, war in Minnas Geſundheitszuſtand eine erfreuliche Beſſerung eingetreten. Sie war ruhiger und gleichmäßiger geworden, ihre natürliche Liebenswürdigkeit wurde nicht mehr durch plötzliche Verſtimmung unterbrochen, ihr ganzes Weſen verjüngte ſich. Harda ſtand jetzt ausgezeichnet mit ihr, zumal ſeit feſtgeſetzt war, daß Hardas Vermählung mit Eynitz im Herbſt ſchon ſtattfinden ſolle. Es hatte ſich durch Kerns und Solves' Verbindungen Gelegenheit geboten, daß Eynitz in der Hauptſtadt der Provinz, die zugleich Univerſitätsſtadt war, eine ſehr günſtige Stellung übernehmen konnte. Schließlich kam es zu einem wohlüberlegten Entſchluſſe, der für alle Beteiligten eine glückliche Löſung verſprach. Kern und Minna einigten ſich endgültig, ihre Verbindung zu vollziehen. Wenn die Töchter nicht mehr im Hauſe waren, ſo fielen alle die übrigen Rückſichten fort, die Kern bisher in dieſer Beziehung zurückgehalten hatten. Sigi und Tielen ſahen ein, daß es berechtigt war, wenn der Vater von den jungen Leuten noch eine Probezeit für ihre Liebe verlangte, ehe ihre Verlobung öffentlich anerkannt wurde. Zunächſt verließ Sigi mit Minna zuſammen das Haus und begleitete die Tante in ein Bad, wo dieſe bis zum Herbſt lediglich ihrer Erholung lebte. Im September reiſte dann, nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, Kern von Harda begleitet nach dem Aufenthaltsorte Minnas, und ſeine Vermählung mit ihr wurde in aller Stille vollzogen. Hierauf kehrte Harda mit Sigi nach Hauſe zurück, und nach einer Woche etwa wollten die Eltern nachkommen, um Hardas Hochzeit in Wiesberg zu feiern, wozu in der Fabrik ſchon die eifrigſten Vorbereitungen ſtattfanden. * Leichte Herbſtnebel liegen über Park und Wald. Vom Gebirge ſind ſie herabgeſunken, immer tiefer und tiefer ins Tal. Der Waldrand ſchimmert zwiſchen den dunkeln Fichten in bunten Farben der Laubbäume, noch ruht ein geheimnisvoller Schleier darüber. Aber mehr und mehr hellt er ſich auf, wie die ſteigende Sonne die Nebel über der Wieſe verzehrt. Dort, vor dem Walde, flammt ein noch vollbelaubter Ahorn mit ſeiner gelben Krone wie leuchtendes Gold, ein Freudenfeuer der Siegerin Sonne. Da rollt der Wagen in raſcher Fahrt vom Bahnhofe durchs Gartentor auf die Villa Kern zu. Das Fräulein und die Köchin ſtehen vor der Tür und winken mit Tüchern, der alte Gelimer grinſt vergnüglich und verbirgt ſeine Flaſche ſorgfältig in der Taſche. In Freudenſprüngen umkreiſt Diana den Wagen, aus dem Harda und Sigi herabſpringen. Mit dem Frühzug waren ſie in Wiesberg angelangt. Am Nachmittag ſtieg Harda den Weg zur Buche am Rieſengrab empor. Sie ſetzte ſich auf die Bank. Heute brauchte ſie keine Störung durch die Idonen zu fürchten. Freilich, auch keiner mehr vermittelte ihr die Rede des Efeus. Ob er wohl nun blühen mochte? Da oben hinauf in die Krone der Buche reichen ihre Blicke nicht. Aber der Wald ſpricht jetzt noch ganz anders zu ihr als vor der Ankunft der Elfen. Harda kann ihnen nicht zürnen, daß ſie feindlich geweſen waren, hatten ſie ſich doch nur ſelbſt verteidigt. Ja, ſie waren holde Weſen, die Boten einer lichten Welt, wo die Freiheit wohnt. Dieſe Freiheit hatte ſie nun auch ſelbſt gefunden mitten im haſtenden Treiben der Menſchheit, die ſich ihr verlorenes Erbe in rüſtiger Arbeit erkämpft, die wieder mitfühlen will mit der heiligen Mutter Natur, wieder mitleben in ihrer großen Einheit. Überall begegnet ihr der Gruß der Genoſſen, die ſich in immer höheren und reiferen Formen heraufringen zum gleichen Verſtändnis. Und leiſe ſagt ſie ſich die Worte des Dichters: „Du führſt die Reihe der Lebendigen // Vor mir vorbei und lehrſt mich meine Brüder // Im ſtillen Buſch, in Luft und Waſſer kennen.“ Hoch oben aber im Buchengipfel rührt der Efeu zärtlich an die Zweige und flüſtert in ſeiner Sprache: „Schattende, ich blühe, blühe!“ Es waren nicht mehr die breiten, fünflappigen, tief ausgebuchteten Blätter, ſondern eine längliche Eiform hatten die Blätter des Lichttriebs angenommen, die ſich hier zum freien Lichte ſtreckten. Zwiſchen ihnen ſproßten in Dolden grüne Sternchen hervor, die Blüten des Efeus. Und eine Weſpe flog eilig im Sonnenſchein und trug die Boten der Liebe von Blüte zu Blüte. „Schattende, ich blühe, und die Weſpe fliegt! Wie ein ſeliges Heil wächſt es in mir. Ich bin bei dir, ich bin mit euch allen, ich bin im Walde! Aber ich ganz allein bin noch einmal für mich, für mich ſelbſt. Ich bin die Welt, darin der Gott erwacht iſt; jetzt weiß ich es, denn ich blühe.“ Unten am Stamme der Buche erhebt ſich Harda. Ein Leuchten des Glückes verklärt ihr Auge. Sie löſt eine Ranke des Sternentaus vom Efeu und ſchlingt ſie in ihr Haar.