Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 24. Abſchnitt Leo, der faſt nie Gelegenheit fand, mit irgend jemandem außer mit Lotte und ſeiner Aufwartefrau zu ſprechen, hatte in der letzten Zeit zwei Bekanntſchaften gemacht, die ihm wichtig dünkten. Die eine beſtand in der Perſon des Nationalrates Wenzel Krötzl, die andere war der Inhaber des großen Modehauſes in der Kärntnerſtraße, Herr Habietnik. Mit Krötzl war Leo auf folgende Weiſe bekannt geworden: Als er einmal ſpät nachts aus dem Kaffeehaus, in dem er die Zeitungen und Zeitſchriften zu leſen pflegte, nach Hauſe gekommen war, fand er auf dem letzten Treppenabſatz einen ſtockbeſoffenen Mann liegen, der jämmerlich weinte und ſich vergeblich bemühte, aufzuſtehen. Leo half ihm in die Wohnung, die unterhalb ſeines Ateliers gelegen war und erfuhr bei dieſer Gelegenheit, daß er den ehrſamen Nationalrat Wenzel Krötzl vor ſich hatte, ſeines Zeichens im Nebenberuf Häuſerſchieber. Nicht nur, daß dies auf dem Türſchild vermerkt ſtand, Herr Krötzl ſchrie auch, während er hin- und hertaumelte, immerzu: „Wann aner ſagt, daß i b'ſoffen bin, ſo is er a jüdiſcher Gauner! I bin a g'wählter Nationalrat, an Abgeordneter und hab' fufzich Häuſer zum verkaufen, die was früher denen Saujuden g'hört ham!“ Leo hatte dann im Laufe der Zeit Gelegenheit, zu erfahren, daß Herr Krötzl nicht nur einer der wütendſten Antiſemiten ſei, ſondern auch ein notoriſcher Trunkenbold, der ſich gewöhnlich ſchon am Büfett des Parlaments ſeinen Frühſtücksrauſch kaufte. Nebenbei hatte er eine gewiſſe Beredſamkeit und genoß infolge ſeiner derben Ausdrucksweiſe viel Popularität unter ſeinen Wählern. Er war Witwer und beherbergte von Zeit zu Zeit eine angebliche Wirtſchafterin bei ſich, mitunter ſolche, die knapp das ſtraffreie Alter von vierzehn Jahren beſaßen. Die Bekanntſchaft des Herrn Habietnik hatte Leo auf weſentlich bürgerlichere Art gemacht. Leo pflegte ſeinen Bedarf an Krawatten und Wäſcheſtücken in dem Modehaus zu decken, das trotz ſeiner „Verloderung“ noch immer die beſten Waren führte, und bei ſolcher Gelegenheit war er einmal mit Herrn Habietnik ins Geſpräch gekommen. Herr Habietnik war entzückt, einen Franzoſen von Distinktion zu bedienen, der ſich tadellos trug und genau wußte, daß zu einem blauen Cheviotanzug eine perlengraue Seidenkrawatte am beſten paßte, es kam zu einem angeregten Geſpräch, im Verlaufe deſſen Leo erkannte, wie ſehr der intelligente Kaufmann unter den herrſchenden Verhältniſſen litt, und von da an trafen ſich die beiden öfters in dem Laden, ſchließlich vereinbarten ſie ſogar hie und da eine Zuſammenkunft im Graben-Café. Nach der Auflöſung der Nationalverſammlung beeilte ſich Leo, mit Herrn Habietnik wieder in Fühlung zu kommen, und im Laufe der Unterhaltung fragte er ihn um ſeine Meinung über die künftige Entwicklung. Herr Habietnik ſchüttelte ſorgenvoll das Haupt: „Alſo die Sozis arbeiten wieder mit Volldampf und werden die Stimmen, die ſie das letztemal verloren hatten, zurückgewinnen. Die Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen haben den Kopf verloren, ſind mit ihrem Programm noch nicht herausgekommen, aber ſchließlich wird jeder, der nicht Sozialdemokrat iſt, doch für eine der beiden Parteien ſtimmen müſſen.“ „So daß alſo vielleicht gar das Judengeſetz in Kraft bleiben wird?“ „Kann ſein, wenn die Sozialiſten nicht die Zweidrittelmehrheit, die zu jeder Verfaſſungsänderung notwendig iſt, bekommen. Denn ich fürchte, daß die Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen doch nicht den Mut haben werden, das Ausnahmsgeſetz gegen die Juden aufzuheben. Das heißt, eigentlich müßte ich ſagen, ich hoffe, denn wenn die Juden wieder kommen, ſo wird man mir am Ende gar das Geſchäft wieder nehmen_—_—.“ „Unſinn“, erklärte Leo energiſch. „Was Sie haben, kann man Ihnen nicht mehr nehmen! Vielleicht, daß man es Ihnen abkaufen oder daß der frühere Firmeninhaber ſich mit Ihnen zu einer Teilhaberſchaft bequemen würde. Die Hauptſache iſt aber doch wohl, daß Sie die Jagerhütln und die Lodenröcke wieder hinausſchmeißen und Ihre Auslagen ſo arrangieren können, wie ſie einſt waren.“ Begeiſterung glomm in den Augen Habietniks auf und mit warmem, ehrlichem Ton erwiderte er: „Jawohl! Das iſt die Hauptſache! Wenn ich daran denke, daß hier wieder einmal Leben und Luxus herrſchen könnte, wie einſt — nein, das iſt ein zu ſchöner Traum, um wahr zu ſein.“ „Hören Sie, Herr Habietnik,“ ſagte Leo, indem er ſeine Hand auf den Arm des Kaufmannes legte, „Sie ſind der Mann, um den Traum wahr zu machen! Noch trennen uns Wochen von den Neuwahlen. Das genügt, um eine bürgerliche Partei, beſtehend aus den fortgeſchrittenen Elementen, den angeſehenen Kaufleuten, den Gelehrten, Rechtsanwälten, Künſtlern und Fabrikanten zu bilden, mit der offenen und ungeſchminkten Parole: Aufhebung des Ausnahmegeſetzes gegen die Juden! Nehmen Sie das heute noch in Angriff, bilden Sie ein zwölfgliedriges Komitee, in dem drei Kaufleute, drei Induſtrielle, drei Feſtangeſtellte und drei Leute mit freiem, akademiſchem Beruf ſitzen, laſſen Sie, da Sie noch keine Zeitung zur Verfügung haben, zehntauſend Plakate drucken, gründen Sie dann Bezirkskomitees, betreiben Sie Propaganda von Straße zu Straße, von Haus zu Haus und der Erfolg kann nicht ausbleiben. Ich bin ein Fremder, kenne die Verhältniſſe nicht ſo genau wie Sie, aber dafür bin ich objektiver und ich weiß ganz ſicher, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung die neue Partei ſtürmiſch begrüßen wird.“ Herr Habietnik war Feuer und Flamme. Am ſelben Abend noch trommelte er ein halbes Hundert Kaufleute aus der Inneren Stadt, Fabrikanten, Rechtsanwälte zuſammen, und um ein Uhr morgens war das Komitee konſtituiert, dem ein gemeinſam gezeichnetes Millionenkapital zur Verfügung ſtand. Die neue Partei hieß „Partei der tätigen Bürger Oeſterreichs“, ſtellte ſich auf ein abſolut bürgerlich-freiſinniges Programm und begann mit einer lebhaften und temperamentvollen Agitation. Daß der Franzoſe Dufresne die Flugzettel und Aufrufe verfaßte, das wußte niemand als Herr Habietnik. Der Erfolg übertraf die kühnſten Erwartungen. Früher war die Bevölkerung jedem Verſuch, eine demokratiſche Bürgerpartei zu gründen, mit größtem Mißtrauen entgegengetreten, weil ſich in ſolcher Partei immer wieder die Juden vordrängten. Diesmal war das eine rein chriſtliche Angelegenheit, die Namen der Parteiführer bürgten dafür, daß es ſich nicht um eine von auswärtigen Juden angezettelte Verſchwörung handelte, und alle die Leute, die durch das Judengeſetz geſchädigt worden waren, drängten ſich in die Komiteelokale, um Mitglieder der neuen Partei zu werden. In hellen Scharen kamen die Kaufleute, die Juweliere, die Stückmeiſter der großen Schneider, die brotlos gewordenen Chauffeure, ſie brachten ihre Frauen mit, immer größer wurde der Anſturm, trotz des Zeter- und Mordiogeſchreies der chriſtlichſozialen Blätter. Die „Arbeiter-Zeitung“ verhielt ſich zurückhaltend und durchaus nicht aggreſſiv. Man ſagte ſich dort, daß zweifellos die Partei der tätigen Bürger den Sozialdemokraten Tauſende von Stimmen entziehen würde, andererſeits aber dorthin alle jene Stimmen ſtrömen würden, die ſonſt ſich der Wahl enthielten oder doch wieder den Chriſtlichſozialen oder Großdeutſchen zuliefen. Alſo beſchränkte ſie ſich darauf, hier und dort gegen das Programm der Bürgerlichen zu polemiſieren, im geheimen aber wurden in zweifelhaften Bezirken ſogar Vereinbarungen geſchloſſen. Und der Tag der Wahlen, die auf den 3. April feſtgeſetzt worden waren, rückte näher und näher, die ganze Welt begann ſich für ſie zu intereſſieren, die fremden Börſen nahmen eine abwartende Haltung ein und ließen die Krone auf ihrem Tiefſtand ruhen, und Wiens bemächtigte ſich zunehmende Aufregung, die wiederholt zu Exzeſſen und bösartigen Tumulten führte. Denn alle Parteien arbeiteten mit jedem verfügbaren Mittel: die antiſemitiſchen ſchrien „Verrat!“ und erzählten Schauergeſchichten von der Verſchwörung des internationalen Judentums; die Sozialdemokraten hetzten gegen die Bauern, die die arbeitende Stadtbevölkerung auſplündern und gegen die chriſtliche Demagogie, die ſich nur ſelbſt durch die Ausweiſung der Juden hatte bereichern wollen; die neue Bürgerpartei aber führte immer wieder auf rieſengroßen Plakaten Ziffern auf, die bewieſen, wie furchtbar die Verelendung Wiens ſeit der Ausweiſung der Juden, wie Wien tatſächlich zu einem Rieſendorf geworden, wie jeder Schwung und Zug ins Große geſchwunden. Und immer wieder verſicherte ſie in allen Variationen und Tonarten: „Das Ausnahmsgeſetz gegen die Juden muß aufgehoben werden, aber gleichzeitig wird es Sache einer klugen, gewiſſenhaften Regierung ſein, alle jene Elemente, die nicht ſchon vor dem Weltkrieg in Wien ſeßhaft waren, fern zu halten, es ſei denn, ſie können vor einem zuſtändigen, aus Bürgern und Arbeitern zuſammengeſetzten Gerichtshof nachweiſen, daß ſie willens und fähig ſind, in Oeſterreich nutzbringende, produktive, werterzeugende, dem Geſamtwohl notwendige Arbeit zu leiſten.“ Beim Bundeskanzler fanden täglich bis in die Nacht währende Sitzungen ſtatt, in denen beraten wurde, wie man am beſten der neuen Partei und dem wieder erſtarkten Sozialismus entgegenarbeiten könnte. Schwertfeger hatte die richtige Empfindung gehabt. Es mußte ein neuer, mächtiger Geldkredit aufgebracht werden, die Krone mußte ſteigen, die Bevölkerung erfahren, daß das Chriſtentum der ganzen Welt mit ihr ſolidariſch ſei — dann würde die Regierung den Sieg erringen. Und der Finanzminiſter Profeſſor Trumm hatte ſich gleich nach der Auflöſung des Hauſes auf die Beine gemacht und war nach Berlin, Paris und London gefahren, um zu betteln und zu beſchwören. Vergebens! Die großen chriſtlichen Vereinigungen im Ausland, die franzöſiſchen Antiſemiten, die holländiſchen Chriſten — ſie alle hatten Worte des Mitempfindens und der Sympathie, erkundigten ſich lebhaft nach dem Schickſal der vielen Millionen, die ſie der guten Sache ſchon geopfert, und hielten die Taſchen feſt zu. Die größte Enttäuſchung bildete das Verhalten des amerikaniſchen Billionärs Miſter Huxtable, auf den man am ſicherſten gerechnet hatte. Er ließ alle Telegramme und Bittſchriften unbeantwortet, und zehn Tage vor den Wahlen kam ein Kabeltelegramm des Vertrauensmannes der öſterreichiſchen Regierung in Newyork, das folgenden niederſchmetternden Wortlaut hatte: „Huxtable unnahbar. Hat ſich heimlich mit einer jungen Jüdin aus Chicago vermählt. Beabſichtigt, den der öſterreichiſchen Regierung vor drei Jahren eingeräumten Kredit der jüdiſchen Großbank ‚Kuhn und Loeb‘ um ein Viertel zu verkaufen.“ Schwertfeger begann in Düſterkeit zu erſtarren, die antiſemitiſchen Häuptlinge verloren vollends den Kopf. Bürgermeiſter Laberl aber tat etwas, was die ungeheuerſte Senſation erregte. Drei Tage vor den Wahlen trat er aus dem chriſtlichſozialen Bürgerklub aus und der Partei der tätigen Bürger bei. Und ſeinem Beiſpiel folgte mehr als die Hälfte der Gemeinderäte. An dieſem Tage wehte ein warmer Wind die letzten Schneemaſſen von den Abhängen der Wiener Berge fort und oben im Atelier in der Billrothſtraße hielten ſich zwei junge Menſchenkinder heiß und ſehnſuchtsvoll umfangen. Und er flüſterte: „Oh, wärſt du ſchon mein!“ Und ſie erwiderte traumverloren: „Wenn du dir ſchon den Knebelbart abnehmen könnteſt; er kitzelt ſo arg!“ 25. Abſchnitt