In den nächſten Tagen ereignete ſich noch etwas, was in den ſtramm-chriſtlichſozialen Kreiſen große Beſtürzung erregte. Der Bürgermeiſter von Wien, nach Schwertfeger der mächtigſte Mann im Reiche, Herr Karl Maria Laberl, fiel ſozuſagen um. Nicht aus eigenem Willen allerdings, ſondern weil ihm ſein Präſidialiſt Herr Kallop ein Bein ſtellte. Von dieſem Herrn Kallop wußte man längſt im Rathauſe, daß er eigentlich umgekehrt, das heißt Pollak, heißen müßte, weil dies der Name ſeines Großvaters war. Und als die Juden noch in Wien geweſen, erzählte man in ihren Kreiſen, daß der alte Pollak ein aus Galizien eingewanderter Getreidehändler wäre, der eine Chriſtin geheiratet habe und ſich deshalb taufen ließ. Sein Sohn habe ſchon den Namen Kallop angenommen, war ein in chriſtlichen Kreiſen angeſehener Advokat, der wieder eine Chriſtin heiratete, ſo daß die Enkelkinder des alten Pollak nach dem Schwertfegerſchen Geſetz als Vollarier anzuſehen waren. Joſef Kallop, der Sohn des Advokaten, taugte in ſeiner Jugend nichts, konnte ſeine juriſtiſchen Studien nicht beenden und wurde daher mit Erfolg Magiſtratsbeamter. An Schlauheit den meiſten ſeiner Kollegen turmhoch überlegen, brachte er es bald zum Präſidialiſten und ſeit geraumer Zeit war er die rechte Hand des Bürgermeiſters Laberl.
Herr Kallop alſo war es, der den Bürgermeiſter zum Umfallen brachte. Er machte ihm klar, daß ein großer Umſchwung bevorſtehe.
„So geht es nicht weiter, Herr Laberl, das iſt Ihnen doch ganz klar. Es wird demnächſt Unruhen geben, ernſte Unruhen ſogar, und eines Tages wird die Regierung ſozuſagen flötengehen. Wenn Sie nicht mit flötengehen wollen, ſo müſſen Sie ſich beizeiten ein wenig umdrehen. Rücken Sie von Schwertfeger ab, geben Sie zu, daß man bei der Judenausweiſung zu weit gegangen iſt, und ganz Wien wird plötzlich inmitten des Rummels, der kommen muß und wird, ſagen: Unſer Bürgermeiſter, das iſt ein Geſcheiter, der lenkt ein und wird uns noch herausreißen.“
Herr Karl Maria Laberl nickte, ſtrich ſich den ſchönen, weißen Bart, war von ſeinem überlegenen Verſtand ſchon ganz durchdrungen, fragte aber einigermaßen ängſtlich:
„Lieber Kallop, das iſt ja ganz richtig, was Sie da ſagen und entſpricht dem, was ich mir ſchon längſt gedacht habe. Aber wie ſoll ich denn das machen?“
„Sehr einfach, Herr Bürgermeiſter. Wir berufen eine Verſammlung der chriſtlichſozialen Bürgervereinigung des, na, ſagen wir erſten Bezirkes ein, weil dort unter den Geſchäftsleuten geradezu eine Panikſtimmung herrſcht. Und dann halten Sie eben eine Rede, die wir zuſammen ausarbeiten werden.“
Und ſo geſchah es, nur daß das „Zuſammenausarbeiten“ darin beſtand, daß Herr Laberl die Rede, die ſein Präſidialiſt niederſchrieb, auswendig lernen mußte. Als dann die Verſammlung der Bürgervereinigung abgehalten wurde, begrüßte ſie Herr Laberl ſehr feierlich, ſprach von dem Ernſt der Zeiten, von den Zuſtänden, die man nicht mehr ertragen könne und ſagte ſchließlich:
„Der Ruf nach Neuwahlen wird immer ungeſtümer und ich bin der letzte, der den Ruf nicht hören will. Im Gegenteil, ich perſönlich bin dafür, daß man tut, was das Volk will und durch Neuwahlen feſtſtellt, ob die Bevölkerung Oeſterreichs auch jetzt noch gutheißt, was die Regierung vor mehr als zwei Jahren getan, oder ob ſie eine radikale Aenderung wünſcht. Ich und wohl mit mir Sie alle, meine Herren, haben nur ein Ziel vor Augen: Den Wiederaufbau möglich zu machen, das unglückliche Volk aus dem Labyrinth, in das die Entente aber vielleicht auch ſchwerwiegende eigene Irrtümer es geſtoßen haben, wieder ans Licht des Tages zu führen. Keine Dogmatik, kein Fanatismus, keine perſönliche Antipathie oder Sympathie darf uns leiten, meine Herren, ſondern lediglich der Nützlichkeitsgedanke!“
Kallop ſorgte dafür, daß die Rathauskorrespondenz noch in derſelben Nacht die Rede des Bürgermeiſters im Wortlaut den Zeitungen übermittelte, und am nächſten Tag wußte es ſogar der dümmſte Kerl von Wien, daß Karl Maria Laberl den Bundeskanzler im geeigneten Moment im Stich laſſen werde.
Als Doktor Schwertfeger in den Morgenblättern die nur von der „Arbeiter-Zeitung“ entſprechend kommentierte Rede des Bürgermeiſters las, ſtieg ihm gallbitterer Speichel in den Mund und er ſpie aus. Dann warf er einen langen, verlorenen, glanzloſen Blick vom Fenſter über den Volksgarten, den jetzt ein weißes Leichentuch bedeckte.
Herr Kallop aber rieb ſich im Rathaus vergnügt die Hände. Und nachdem er ſich vergewiſſert, daß weder ein Kollege noch ein Amtsdiener im Zimmer war, ſagte er laut und vernehmlich: „Maſeltoff!“ und klopfte dreimal unter den Tiſch. Wobei zu bemerken iſt, daß Herr Kallop eine üppige, zwar ſchon zweimal geſchiedene, aber dafür mit zahlreichen Millionen geſegnete Jüdin verehrte, die in Prag im Exil lebte. Und er wünſchte nichts ſehnlicher, als ihre und ihrer Millionen Rückkehr ins teure Vaterland, ſchon deshalb, weil er mit ſeinem Gehalt als Präſidialchef unmöglich die Teuerung länger aushalten konnte und außerdem falſch in polniſcher Mark ſpekuliert hatte.