Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 20. Abſchnitt Traurigere Weihnachten hatte Wien noch nie erlebt. Der ungeheuerlichen Teuerung ſtand der vollſtändige Stillſtand des Lebens gegenüber. Die Teuerung allein hätte die guten Phäaken nicht anfechten können. Sie waren ſie ja ſchon ſeit einem Dezennium gewöhnt, und ob das Viertel Wein nun zehntauſend oder fünftauſend Kronen koſtete, war ſchließlich egal, wenn man genug verdiente, wenn der Arbeiter hohen Lohn bekam und der Kaufmann abends die Kaſſe voll mit Zehntauſendern hatte. Jetzt war das aber nicht mehr der Fall. Die enormen Banknotenmaſſen blieben bei den Bauern liegen, in den Städten herrſchte vollſtändige Kaufunluſt, ein großer Teil der Arbeiter feierte und war auf die ſtaatliche Unterſtützung angewieſen, und in der Weihnachtsnummer veröffentlichten die Zeitungen Statiſtiken, aus denen hervorging, daß ſeit zwei Jahren allein in Wien an die fünftauſend Bankfilialen, Kaffeehäuſer, Reſtaurants und Geſchäfte geſchloſſen hatten. Neuerdings trat ein Rieſenkrach nach dem anderen in der Induſtrie ein, Aktiengeſellſchaften, die man noch vor kurzem für bombenſicher gehalten hatte, erklärten ſich inſolvent und man ſprach ſogar von dem baldigen Zuſammenbruch zweier Großbanken. Was nutzte es den Wienern unter ſolchen Umſtänden, daß ſie überall Platz hatten, ſogar an den Weihnachtsfeiertagen die Theater nicht ausverkauft waren und man nicht mehr den aufreizenden Judennaſen begegnete? Was nutzte es, daß man zur chriſtlichen Einfachheit zurückgekehrt war und ſich den Vollbart wachſen ließ, wenn die Friſeurgehilfen maſſenhaft entlaſſen werden mußten, weil es keine Arbeit mehr für ſie gab? Am ſchlimmſten waren die Juweliere daran. Die meiſten waren Juden geweſen und hatten auswandern müſſen, und nun führten dieſe Geſchäfte ehemalige kleine Uhrmacher und andere ſicher ſehr ehrenwerte Leute, die aber zum holländiſchen Edelſteinmarkt, der faſt ausſchließlich in jüdiſchen Händen liegt, keinerlei Beziehungen hatten und bei jedem Einkauf über die Ohren gehauen wurden. Schließlich hatte der Einkauf im Ausland ganz aufgehört, weil niemand mehr Schmuck wollte, wohl aber der Andrang derer, die verkaufen mußten, immer ſtärker wurde. Langſam aber ſicher wanderte ein großer Teil des inländiſchen Juwelenbeſitzes in die Nachbarſtaaten, nach England, Frankreich und Amerika, und auch dabei waren die Juweliere, die dieſen Export betrieben, die Leidtragenden. Wenn ein Juwelier heute eine Perlenſchnur für zehn Millionen aus privatem Beſitz kaufte und ſie bald darauf für dreißig Millionen einem Amerikaner anhängte, ſo bildete er ſich ein, ein glänzendes Geſchäft gemacht zu haben und begoß ſeine Freude mit Wein, lobte den Doktor Schwertfeger und kaufte eine Fettgans, die nun nicht mehr das Privilegium der Juden war. Bevor er aber noch die ſchwere Gansleber verdauen hatte können, waren ſeine dreißig Millionen nicht einmal die zehn wert, die er ausgegeben und er beſaß kein Geld mehr zu neuen Ankäufen. So war es wahrhaftig kein Wunder, wenn zu Weihnachten eine Welle der Erbitterung und Unzufriedenheit durch Wien ging und die Silveſternacht nicht mit Jubel und Radau wie ſonſt, ſondern in Verdroſſenheit und Mutloſigkeit gefeiert wurde. Und wenn der Bundeskanzler das Geſpräch mitangehört hätte, das in der Weihnachtswoche der Herr Habietnik, Beſitzer des großen Modehauſes in der Kärntnerſtraße, und der Herr Mauler, Inhaber des großen Juweliergeſchäftes am Graben, miteinander führten, ſo wäre ſein Ingrimm noch größer geweſen, als er es ohnedies war. Herr Habietnik und Herr Mauler ſaßen im Grabenkaffee und klagten beide über das elende Weihnachtsgeſchäft, das den Ruin Tauſender von Geſchäftsleuten beſiegeln mußte. Plötzlich beugte ſich Herr Habietnik zu Herrn Mauler und erzählte ihm von einem Traum, den er in der vergangenen Nacht gehabt. „Stellen Sie ſich vor, Herr Mauler, i hab' g'träumt, daß plötzlich zu mir ins Geſchäft lauter Juden und Jüdinnen gekommen ſan. Alle waren hochelegant und haben Banknotenbündel in den Händen gehalten und es iſt ein Rieſenwirbel entſtanden. Die Madeln konnten die Pelze und Stoffe, die Mäntel und Koſtüme gar nicht ſchnell genug herbeibringen und die ganze Modeabteilung war von Seide und Samt, von Spitzen und Stickereien gefüllt. Und nichts war den Jüdinnen gut genug und eine ſehr eine feſche jüdiſche Dame hat immer geſchrien: ‚Das iſt gar nichts! Wir kommen aus Paris und Paläſtina, wo die neueſten Moden ſind, zeigen Sie das Beſte, was Sie haben.‘ Und da hat meine erſte Verkäuferin plötzlich eine Barchenthoſe gebracht und hat geſagt: ‚Aber meine verehrte gnädige Israelitin, das iſt doch das Neueſte aus Paris!‘ Und da iſt ein furchtbares Gelächter entſtanden, ſo daß ich aufgewacht bin! Glauben S' nicht, Herr Mauler, daß der Traum was zu bedeuten hat?“ Herr Mauler aber meinte grinſend: „Ja, er hat zu bedeuten, daß bald die ganze Welt über uns lachen wird und wir uns in Flanell und Barchent einwickeln werden, bevor wir begraben werden. Aber das eine weiß ich, Herr Habietnik, wenn ſo plötzlich vor meinem Laden ein Automobil vorfahren würde mit einem jüdiſchen Ehepaar, ſo tät ich ſie beide abküſſen und hätt' noch einmal eine Freude am Leben! Wiſſen Sie, Herr Habietnik, wie ich früher noch Kommis beim Herrn Zwirner war, der mein Geſchäft gehabt hat, da hab' ich mir oft gedacht, daß es eigentlich eine Schand' iſt, daß faſt nur die Juden Geld genug haben, um Brillanten und Perlen zu kaufen. Und einmal habe ich das auch laut geſagt. Da hat mich der Herr Zwirner angelacht und geſagt: ‚Herr Mauler, ſein Sie kein Narr, ſondern froh darüber, daß die Juden kaufen und das Geld unter die Leute bringen. Oder möchten Sie es lieber haben, daß auch die Juden ihr Geld vergraben und verſtecken wie die Bauern? Sie werden ſehen, wenn das mit dem Antiſemitismus ſo weitergeht, ſo werden die reichen Juden auswandern und dann können die Geſchäftsleute ſperren!‘ Na und jetzt ſind nicht nur die reichen, ſondern auch die armen Juden ausgewandert und wir ſind richtig alle kapores!“ 21. Abſchnitt