Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 18. Abſchnitt Als der Sommer vorüber war und der Herbſt die Blätter färbte, begann in faſt ſchon gewohnter Weiſe die Krone neuerlich zu fallen und die Teuerung anzuſteigen. Die Preiſe wurden phantaſtiſch, ſelbſt reiche Leute ſcheuten die Anſchaffung eines neuen Kleidungsſtückes, die Arbeiter, die Angeſtellten, ja auch die Arbeitsloſen ſtellten neue Forderungen, eine Fahrt auf der Straßenbahn koſtete ſchon tauſend Kronen und ein Kilogramm Butter fünfzigtauſend. Unter allgemeiner Verbitterung, Nervoſität und Unruhe trat im Oktober die Nationalverſammlung zuſammen, und das Geſicht des Kanzlers Doktor Schwertfeger ſah zerklüftet, durchfurcht, vergrämt aus. Als er ſprach, herrſchte nicht jene weihevolle Ruhe wie früher, ſondern es wurden Rufe, Zwiſchenbemerkungen laut, ſogar die Galerie machte ſich durch Oho-Rufe bemerkbar und die kleine Oppoſition der Sozialdemokraten ließ ſich nicht mehr einſchüchtern, ſondern griff immer wieder in die Debatte ein. Schwertfeger gab einen Ueberblick über die troſtloſe finanzielle Lage des Landes und fuhr dann fort: „Ich muß es rund herausſagen: Große und ſchwere Opfer ſtehen der chriſtlichen Bevölkerung Oeſterreichs bevor. (Zwiſchenruf von der Galerie: Natürlich nur den Chriſten, da wir ja die Juden hinausgeſchmiſſen haben!) Opfer, die mit Mannesmut und Bürgertreue geleiſtet werden müſſen! Die Regierung braucht zur Fortführung der Geſchäfte Geld, und da wir vom Auslande keine weiteren Kredite bekommen können, müſſen wir die Unſummen, die die Verwaltung, die Verzinſung der Schulden und die Unterſtützung der Arbeitsloſen verſchlingt, durch neue Steuern, direkte und indirekte, hereinbringen. (Große Unruhe im ganzen Hauſe.) Meine Herren und Damen, ich weiß, daß die Bevölkerung ſchwer enttäuſcht iſt und ich bin es mit ihr. Wir alle haben eben die Schwierigkeit der Uebergangswirtſchaft unterſchätzt, wir alle dachten, daß die chriſtlichen Bürger ſich beſſer auf die Beherrſchung der Finanzen und des Geſchäftslebens einſtellen würden, die ganz in Händen der Juden waren. Aber was ſind ſolche Enttäuſchungen gegenüber dem ungeheuren Ziel, das wir uns geſteckt haben, dem Ziel, Oeſterreich ſeiner ariſchen Bevölkerung wiederzugeben, ein Land aufzurichten, das frei von Wuchergeiſt, frei von jüdiſchem Skeptizismus, frei von jenen zerſetzenden Eigenſchaften und Elementen iſt, die das Judentum repräſentieren!“ Zum Schluß ſtellte der Kanzler mit erhobener Stimme die Vertrauensfrage. Im Namen der kleinen ſozialiſtiſchen Fraktion ſprach Doktor Wolters gegen die Kreditgewährung, gegen die Gutheißung der Regierungspläne, gegen das Vertrauensvotum. In kraſſen Farben ſchilderte er die zunehmende Verelendung, die Gefahr des unmittelbar bevorſtehenden Staatsbankerottes, die Verödung des wirtſchaftlichen und geiſtigen Lebens. Er ſagte unter anderem: „Der Herr Bundeskanzler hat vor mehr als zwei Jahren, als er ſein Antijudengeſetz begründete, unſere Bevölkerung bieder, einfältig und ehrlich genannt und behauptet, daß ſie der Konkurrenz der überlegenen Juden nicht gewachſen ſei. Er hat nur eines überſehen: Daß wir biederen, ehrlichen und einfachen Oeſterreicher auch ohne Juden von Völkern umgeben ſein werden, die uns jetzt, wo wir die Juden nicht mehr haben, erſt recht überlegen ſind. Wo iſt der mitteleuropäiſche Handel hingekommen, ſeitdem die Juden weg ſind? Wir haben ihn verloren, denn die Juden haben ihn nach Prag und Budapeſt mitgenommen. Was iſt aus der blühenden Konfektions-, Galanterie- und Mode-Induſtrie geworden? Sie iſt faſt ſpurlos verſchwunden, weil ſie von der Biederkeit und Ehrlichkeit allein nicht leben kann, ſondern den jüdiſchen Konſumenten aus aller Herren Länder braucht, der das leicht verdiente Geld auch leicht wieder ausgibt. Heute zeigt es ſich, daß wir der Juden nicht entraten können_—_—.“ Stürmiſche Rufe unterbrachen den ſozialiſtiſchen Führer. Die Chriſtlichſozialen und Deutſchnationalen tobten, ſchrien „Hinaus mit dem gekauften Judenknecht“ und der Tumult wurde ſo groß, daß der Präſident, der Tiroler mit dem roten Bart, die Sitzung unterbrechen mußte. Als er ſie wieder eröffnete, erteilte er dem Doktor Wolters eine Rüge, weil er durch ſeine Worte das chriſtliche Gefühl der Abgeordneten ſchwer verletzt und den Verſuch gemacht habe, die Grundfeſten des neuen Staates zu erſchüttern. Schließlich wurden alle Regierungsanträge gegen die Stimmen der Sozialiſten angenommen. Aber viele Abgeordnete hatten ſich vor der Abſtimmung entfernt und Schwertfeger ſagte ſpäter ſeinem Präſidialiſten mit grimmigem Lächeln: „Diesmal ſind ſie davongelaufen, das nächſtemal werden ſie gegen mich ſtimmen, die Erfolghaſcher, Konjunkturiſten, die geſtern Hoſianna ſchrieen und morgen [crucifige] rufen werden!“ 19. Abſchnitt